Grundlagen der Psychologie - Franz J. Schermer - E-Book

Grundlagen der Psychologie E-Book

Franz J. Schermer

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Beschreibung

Professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit verlangt fundierte Kenntnisse der Psychologie für die Analyse von Problemlagen und kontrolliertes methodisches Handeln. Das Lehrbuch führt systematisch in die Allgemeine Psychologie ein. Modellvorstellungen zu kognitiven, behavioralen und emotional-motivationalen Funktionsbereichen werden dargestellt. Großer Wert wird auf die praktische Anwendung gelegt. Beobachtung, Intervention, Emotionsbewältigung sowie Mitarbeitermotivation dienen dabei als Beispiele. Für die 4. Auflage wurden Kapitel über lernpsychologisch fundierte Methoden für die Handlungsfelder Rückfallprävention und Rollenspiel hinzugefügt.

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Psychologie in der Sozialen Arbeit

Herausgegeben von Franz J. Schermer

 

Der Vermittlung psychologischer Kenntnisse kommt im Studium der Sozialpädagogik und Sozialarbeit/Soziale Arbeit eine grundlegende Bedeutung zu. Es werden erstmals die dabei relevanten Inhalte der verschiedenen psychologischen Teildisziplinen dargestellt.

Die Auswahl der Theorien und Befunde orientiert sich systematisch an den Zielsetzungen des Fachhochschulstudiums. Wissenschaftliche Fundierung, Praxistauglichkeit und Praxisbewährung bilden die entscheidenden inhaltlichen Auswahlkriterien.

 

Die einzelnen Bände behandeln die Themen:

Band 1 Grundlagen der Psychologie

Band 2 Klinische Psychologie

Band 3 Sozialpsychologie

Band 4 Entwicklungspsychologie

 

Sie führen systematisch und voraussetzungsfrei in die verschiedenen Teildisziplinen ein. Der Studierende erhält eine klare Orientierung über Begrifflichkeiten, Theorien und deren Anwendungsmöglichkeiten. Neben dem notwendigen Grund- und Anwendungswissen erwirbt er ein Verständnis für die Rolle und Bedeutung der Psychologie im Praxisfeld der Sozialen Arbeit. Die Bände sind hervorragend zur Einarbeitung und zur Prüfungsvorbereitung geeignet.

 

Die Autoren lehren Psychologie in den Fachbereichen Sozialwesen und Sozialpädagogik verschiedener Fachhochschulen und sind in Lehre, Forschung und Praxis ausgewiesen. Der Herausgeber lehrte Allgemeine Psychologie und Klinische Psychologie im Studiengang Soziale Arbeit der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt (Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften).

Franz J. Schermer Arno Drinkmann

Grundlagen der Psychologie

4., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

4., erweiterte und überarbeitete Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-031066-7

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-031067-4

epub:   ISBN 978-3-17-031068-1

mobi:   ISBN 978-3-17-031069-8

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

 

Inhalt

 

 

 

Vorwort zur ersten Auflage

Vorwort zur vierten Auflage

1 Psychologie als Erfahrungswissenschaft

1.1 Gegenstandsbestimmung in Vergangenheit und Gegenwart

1.2 Rezeption der Psychologie in der Sozialen Arbeit

1.2.1 Psychoanalyse

1.2.2 Humanistische Psychologie

1.3 Methodologische Voraussetzungen und Ziele der empirischen Psychologie

1.3.1 Alltagsurteil und Urteilen in der Wissenschaft

1.3.2 Beschreiben: Begriffliche Präzision

1.3.3 Erklärung erster Ordnung: Gesetze

1.3.4 Erklärung zweiter Ordnung: Theorie

1.3.5 Vorhersagen und Verändern

1.3.6 Einwände gegen eine empirisch ausgerichtete Psychologie

1.4 Funktionsorientierung: Allgemeine Psychologie

2 Wahrnehmung, Gedächtnis und Beobachtung

2.1 Datensteuerung: Empfindung

2.1.1 Physiologisch-anatomische Grundlagen

2.1.2 Organisationsprozesse

2.1.2.1 Gruppierungs- und Gestaltgesetze

2.1.2.2 Konstanzphänomene

2.2 Konzeptsteuerung: Erkennen

2.2.1 Molares Gedächtnismodell

2.2.2 Semantisches Gedächtnis

2.2.2.1 Begriffe als Bausteine des semantischen Gedächtnisses

2.2.2.2 Semantische Netze, Schemata und Skripts

2.2.3 Vergessen und falsche Erinnerung

2.2.3.1 Formen des Vergessens

2.2.3.2 Formen falscher Erinnerung (false memory)

2.2.3.3 False Memory: Erklärung und praktische Bedeutung

2.2.4 Wahrnehmung und Erwartung

2.3 Verhaltens- und Handlungssteuerung

2.3.1 Wahrnehmung und Aufmerksamkeit

2.3.2 Wahrnehmung und Motivation

2.4 Beobachtung als kontrollierte Form der Wahrnehmung

2.4.1 Konstituierende Merkmale und Formen der wissenschaftlichen Beobachtung

2.4.2 Beobachtungsfehler

2.4.3 Systematische Beobachtung in der Praxis

3 Lernen und Modifikation

3.1 Respondentes Lernen

3.1.1 Empirische Befunde

3.1.1.1 Standardprozedur

3.1.1.2 Ausweitung

3.1.1.3 Differenzierung, Blockierung und Rückbildung

3.1.2 Erklärungsversuche

3.1.3 Modifikation auf der Grundlage respondenten Lernens

3.1.3.1 Enuresis nocturna

3.1.3.2 Angst

3.2 Operantes Lernen

3.2.1 Grundlegende Lern- und Modifikationsprinzipien

3.2.2 Positive Verstärkung

3.2.2.1 Klassifikation positiver Verstärker

3.2.2.2 Verstärkungspläne

3.2.2.3 Wirkungskontrolle

3.2.3 Negative Verstärkung

3.2.3.1 Flucht

3.2.3.2 Vermeidung

3.2.4 Bestrafung durch Darbietung eines aversiven Reizes

3.2.5 Bestrafung durch Verstärkerentzug

3.2.6 Modifikation auf der Grundlage operanten Lernens

3.3 Soziales Lernen

3.3.1 Beobachtungslernen

3.3.2 Selbstregulation

3.3.3 Selbstwirksamkeit

3.3.4 Intervention auf der Grundlage der sozialen Lerntheorie: Rollenspiel

3.3.4.1 Indikation

3.3.4.2 Methodisches Vorgehen

3.3.4.3 Einordnung und Bewertung des Rollenspiels

4 Emotion und Emotionsbewältigung

4.1 Emotion und Erleben: Gefühl

4.1.1 Merkmale nach Ulich

4.1.2 Strukturierungsversuche

4.1.3 Validitätsprobleme

4.2 Emotion und Physiologie: Körperliche Veränderungen

4.3 Emotion und Kognition: Bewertung

4.3.1 Kognition und Emotionsqualität

4.3.2 Kognition und Emotionsintensität

4.3.3 Validitätsprobleme: Zur Kognitions-Emotions- Debatte

4.4 Emotion und Verhalten: Ausdruck

4.4.1 Gesichtsausdruck (Mimik)

4.4.2 Stimme (Vokalisation) und Körperbewegungen

4.4.3 Validitätsprobleme des Gefühlsausdrucks

4.5 Bewältigung (Coping)

4.5.1 Begriffsbestimmung

4.5.2 Transaktionales Bewältigungsmodell

4.5.3 Rückfallprävention

4.5.3.1 Problemstellung

4.5.3.2 Rückfallursachen und Risikofaktoren

4.5.3.3 Rückfallprävention

4.6 Emotion und Bewältigung am Beispiel des Ärgers

4.6.1 Regulation der Emotionskomponenten

4.6.2 Regulation von Situation, Selbst und Interaktion

4.6.3 Wirksamkeit von Ärgerbewältigung: Effektivitätskriterien

5 Motivation und Mitarbeit

5.1 Traditionelle Sichtweisen: Druck und Zug

5.1.1 Motivation als Ausdruck innerer Kräfte

5.1.2 Motivation als Folge spezifischer Anreize

5.2 Moderne Sichtweisen: Handlungsorientierung

5.2.1 Erweitertes kognitives Motivationsmodell von Heckhausen

5.2.2 Motivation und Wille (Volition)

5.2.2.1 Handlungskontrolle

5.2.2.2 Rubikon-Modell

5.3 Mitarbeitsmotivation

5.3.1 Facetten und Indikatoren der Mitarbeitsmotivation

5.3.2 Aufsuchen professioneller Hilfe

5.3.3 Entwicklung von Anreizen und Zielen

5.3.4 Motivationsprobleme auf dem Weg zum Ziel

Literaturverzeichnis

Sachregister

 

Vorwort zur ersten Auflage

 

 

 

Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit beschäftigen sich mit individuellen und sozialen Problemlagen. In der Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand sind für den Sozialpädagogen fundierte psychologische Kenntnissen unverzichtbar. Dementsprechend zählen Lehrveranstaltungen zu den verschiedenen psychologischen Disziplinen an den meisten Fachhochschulen zu den Pflichtveranstaltungen des Studiums.

Mit der Reihe »Psychologie in der Sozialen Arbeit« wird erstmals der Versuch unternommen, die für das Studium der Sozialen Arbeit relevanten Erkenntnisse und Befunde der verschiedenen Teildisziplinen der empirischen Psychologie systematisch und umfassend darzustellen.

Dem Bildungsauftrag der Fachhochschule als »Universitiy of applied sciences« folgend, sind dabei andere didaktische Akzente zu setzen, als dies bei den für das traditionelle Universitätsstudium eingesetzten Lehrtexten üblich ist. Gelten dort enzyklopädische Vollständigkeit und Aktualität in theoretischer sowie experimenteller Hinsicht als wesentliche Gütekriterien, müssen sich Lehrbücher für das Fachhochschulstudium m. E. daran messen lassen, inwieweit es ihnen gelingt, die Praxisbewährung bzw. Praxistauglichkeit der mitgeteilten Theorien und Befunde aufzuzeigen. Selbstverständlich muß der Begriff »Praxis« im Rahmen einer auf wissenschaftlicher Grundlage stehenden Profession als kontrollierte, d. h. theoretisch abgeleitete und empirisch überprüfte Praxis verstanden werden.

Für die Konzeptualisierung eines Lehrbuchs ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer an den Bedürfnissen der Zielgruppe ausgerichteten Themenauswahl im Sinne eines exemplarischen Vorgehens. Akzentuierung und Selektivität bestimmen deshalb das didaktische Konzept.

Der erste Band der Reihe ist den Grundlagen der Psychologie – also der Allgemeinen Psychologie – gewidmet. Er beginnt mit einer Gegenstandsbestimmung und der Darlegung der von diesem Fach verfolgten Aufgaben und Ziele. Letztere werden in ihrer für die empirische Psychologie verbindlichen methodologischen Einbettung aufgezeigt. Die folgenden Kapitel behandeln – entsprechend der üblichen allgemeinpsychologischen Systematik – ausgewählte und für die Praxis der Sozialen Arbeit als relevant eingeschätzte Modelle zur Beschreibung und Erklärung der grundlegenden Funktionsbereiche »Wahrnehmung«, »Lernen«, »Emotion« und »Motivation«. Eine gewisse Sonderstellung nimmt dabei das Kapitel zur Wahrnehmung ein, da es gleichzeitig als Hinführung zu den weiteren erkenntnisbezogenen (kognitiven) Funktionsbereichen des Gedächtnisses sowie der Begriffsbildung als einem Aspekt des Denkens dient. Die Vernetztheit der als Kognition bezeichneten Aspekte des psychischen Systems soll auf diese Weise zum Ausdruck kommen. Ein eigenes Kapitel der in der allgemeinpsychologischen Grundlagenforschung etablierten Themen »Denken und Problemlösen« wurde vor allem deshalb nicht aufgenommen, weil m. E. die in diesem Forschungsbereich bislang vorliegenden Befunde in einem so komplexen Feld wie der Praxis der Sozialen Arbeit noch nicht instrumentalisierbar sind. Sie scheinen mir entweder noch zu sehr an die künstliche Situation des Labors gebunden oder aber – im Falle der Analyse komplexer Alltagssituationen – noch nicht ausreichend empirisch abgesichert.

Den für das Fachhochschulstudium konstituierenden Anwendunsgsbezug der dargestellten Themen versuche ich anhand ausgewählter Aspekte sozialpädagogischer Handlungskompetenzen deutlich zu machen. In diesem Sinn wird jedem Funktionsbereich eine Handlungsmodalität zugeordnet und an ihr gezeigt, wie das theoretische Wissen in die Praxis des eigenen professionellen Handelns eingeht. Als »Demonstrationsbereiche« habe ich dabei exemplarisch die Handlungsmodalitäten der »Beobachtung«, »Modifikation«, »Bewältigung« und Motivierung« herausgegriffen.

Lediglich der besseren Lesbarkeit wegen habe ich mich zu folgenden zwei Vorgehensweisen entschlossen. Soweit für englischsprachige Originalquellen deutsche Übersetzungen vorliegen, habe ich mich bemüht, aus der Übersetzung zu zitieren, wo dies nicht möglich war, wurden die übernommenen Textstellen von mir übersetzt. Der Konflikt zwischen »political correctness« beim geschlechtsbezogenen Sprachgebrauch und der leichteren Lesbarkeit des Textes wurde ebenfalls zugunsten der Lesbarkeit entschieden: Anstatt ständig weibliche und männliche Personenbeschreibungen zu benützen oder in eine sprachandrogyne Form zu verfallen und z. B. von StudentInnen zu sprechen, wird im Text nur die männliche Personenbezeichnung benutzt. Es erübrigt sich zu betonen, daß die weibliche Form immer mitgemeint ist.

Zum Schluß ein Wort des Dankes an Herrn Dr. H. Beyer vom Kohlhammer Verlag, der mit großem Wohlwollen und tatkräftiger Unterstützung diesen Band und die Reihe »Psychologie in der Sozialen Arbeit« begleitete.

 

Würzburg, im Sommer 1999

Franz J. Schermer

 

Vorwort zur vierten Auflage

 

 

 

Nachdem das vorliegende Lehrbuch sich über Jahre vor allem in der Lehre bewährt hat, wird es ab dieser vierten Auflage von zwei Autoren verantwortet: Neben Franz J. Schermer ist Arno Drinkmann (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Fakultät für Soziale Arbeit) als Co-Autor hinzugekommen. Inhaltlich gibt es neben einer Überarbeitung und Aktualisierung vor allem zwei neue anwendungsbezogene Schwerpunkte: das Rollenspiel als Interventionsmethode auf der Grundlage der Sozialen Lerntheorie und die Rückfallprävention als exemplarische Anwendung innerhalb eines stresstheoretisch begründeten Modells der Belastungsbewältigung. Beide spielen in vielen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit bereits eine wichtige praktische Rolle. Damit soll auch die Fruchtbarkeit einer psychologischen Fundierung für sozialarbeiterisches Handeln unterstrichen und erweitert werden. Sie gewinnt gerade innerhalb einer sich an wissenschaftlichen Evidenzen orientierenden Sozialarbeit denn auch zunehmend an Bedeutung.

 

Würzburg und Eichstätt, im Herbst 2017

Franz J. Schermer und Arno Drinkmann

 

1          Psychologie als Erfahrungswissenschaft

 

 

 

Psychologie gilt gemeinhin als ein interessantes Gebiet, dem wir in unserem Alltag ständig begegnen können. Konzepte wie Motivation, Stress, Beziehung etc. werden unaufhaltsam bemüht, um uns das Alltagsgeschehen plausibel zu machen. Ungleich zu anderen Bereichen, die wissenschaftlich untersucht werden, wie etwa durch Medizin oder Physik, besitzen wir zu psychischen Sachverhalten offenbar nicht die dort übliche und vielleicht auch notwendige Distanz. Körperliche Funktionen beschäftigen uns meist erst im Falle des Vorliegens von körperlicher Einschränkung, Behinderung oder Krankheit. Im Normalfall schenken wir unserem körperlichen Befinden jedoch nicht viel Aufmerksamkeit. Ähnlich verhält es sich mit den uns ständig umgebenden physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Wir kommen im Allgemeinen ganz gut ohne genauere Kenntnisse in diesem Bereich aus und vertrauen im Bedarfsfall auf den Spezialisten. Ganz anders gestaltet sich aber der Umgang mit psychischen Sachverhalten. Hier fühlen wir uns schnell als Experten, vielleicht deshalb, weil sich unsere Lebenswirklichkeit hier sehr deutlich widerspiegelt. Wahrnehmen, Entscheiden, Empfinden, Handeln oder Planen – um nur einige psychologische Funktionen zu nennen – gehören konstitutiv zu unserem Leben und verlangen – und hierin liegt der Unterschied zu den anderen Disziplinen wie z. B. der Medizin – eine aktive und häufig bewusste Auseinandersetzung. Wie verlässlich ist aber das auf Intuition und Lebenserfahrung basierende psychologische Alltagsurteil? Seine Güte können Sie anhand folgender aus dem Fragebogen zur Prüfung »psychologischen Wissens« von Sarris (1990, S. 262–263) stammenden Aussagen leicht selbst überprüfen. In der einen oder anderen Form kann jede dieser Behauptungen im praktischen Alltag des Sozialpädagogen einmal eine Rolle spielen:

•  »Die Pubertät als ein biopsychologisches menschliches Phänomen ist von universeller Natur, d. h. sie kommt zu allen Zeiten und an allen Orten gleichsam naturnotwendig vor.«

•  »Die zu einem großen Teil erblich vorgegebene Intelligenz eines Menschen verändert sich nach der Geburt nur unter besonderen sozialen Umweltbedingungen.«

•  »Gesichtsausdruck und Charakter weisen einige gesicherte Zusammenhänge (Korrelationen) auf.«

•  »Kinder lernen im allgemeinen schneller als Erwachsene.«

•  »Das Schachspielen als Sport erhöht die allgemeine Konzentrationsfähigkeit.«

•  »Aufgrund von hypnotischen Einwirkungen kann in der Regel ein Mensch sogar zu kriminellen Handlungen veranlasst werden.«

•  »Während beim Menschen die psychischen Schäden von sozialer Deprivation gerade beim Kleinkind aufgezeigt worden sind, konnten analoge Schäden beim Tier zumindest nicht experimentell nachgewiesen werden.«

Im Allgemeinen finden die aufgeführten Aussagen bei Laien jeweils in etwa das gleiche Ausmaß an Zustimmung wie an Ablehnung. Aber bei welchen der Aussagen handelt es sich um wissenschaftlich bestätigte Fakten? Leider ist keine Behauptung in dieser Form haltbar, wenngleich alle Feststellungen plausibel klingen. Eine der Hauptaufgaben des Faches »Psychologie« in der Ausbildung von Sozialpädagogen besteht deshalb in der Entwicklung und der Bereitstellung von Kriterien zur Beurteilung von Aussagen über psychische Phänomene. Was ist nun unter der Wissenschaft »Psychologie« zu verstehen? Worin besteht ihr Gegenstand, wie setzt sie sich mit diesem auseinander, und welche Ziele verfolgt sie dabei? Auf diese Fragen versucht dieses Kapitel eine Antwort zu geben.

1.1       Gegenstandsbestimmung in Vergangenheit und Gegenwart

Eine Befragung von Studierenden der Sozialen Arbeit zu Beginn ihres Studiums über den Gegenstand der psychologischen Wissenschaft ergab die in Abbildung 1 wiedergegebene Antwortverteilung. Interessanterweise zeigen die Antworten der Studierenden eine sehr hohe Übereinstimmung mit den in der Psychologiegeschichte entwickelten Definitionsvorschlägen.

Wir wollen deshalb den Gegenstandsbereich der Psychologie anhand der im Verlauf der Geschichte dieses Fachs gegebenen inhaltlichen Bestimmungsversuchen präzisieren (siehe hierzu z. B. Lück, 2015; Lück & Guski-Leinwand, 2014; Pongratz, 1984; Schönpflug, 2013). Psychologie wurde dabei als Wissenschaft von der Seele, dem Bewusstsein, dem Erleben, dem Unbewussten und dem Verhalten definiert.

Über 2000 Jahre galt Psychologie als die Wissenschaft von der Seele, beginnend mit den Seelenlehren der Antike, deren Rezeption im Mittelalter und der Untersuchung der verschiedenen Facetten des Seelenlebens in der Neuzeit. Von besonderer Bedeutung waren dabei die Positionen von Platon (427–347) und Aristoteles (384–323), welche (fast) alle nachfolgenden Überlegungen in der einen oder anderen Form beeinflussten und bis in die Gegenwart wirkten.

Für Platon, den Schüler des Sokrates, ist es ein Teil der Seele, der den Menschen mit der Welt der Ideen und des Geistes, d. h. der Welt des Wahren, Guten und Schönen, verbindet. Nur mit seiner Hilfe lässt sich Wahrheit erschließen. Die irdische – durch unsere Sinneserfahrungen wahrnehmbare – Wirklichkeit

gilt Platon lediglich als ein schlechtes Abbild der Welt des Geistes. Die aus ihr gewonnenen Einsichten sind deshalb trügerisch, nicht verlässlich oder gar irreführend. Im Gegensatz zur Seinswirklichkeit der Ideen ist sie eine Scheinwirklichkeit. Der dieser Scheinwirklichkeit verhaftete Körper wird damit zum Kerker der Seele. Gültiges Wissen und Verständnis gewinnt der Mensch deshalb nicht über seine Sinneseindrücke, sondern nur durch die Bewusstmachung von Bildern aus dem Sein der Ideen. Da der denkende Teil der Seele schon vor seiner irdischen Verwirklichung im Reich der Ideen gelebt hat, stellt er ein mögliches Bindeglied zum Wahren, Schönen und Guten her. Neben dem denkenden Teil unterscheidet Platon noch einen begehrenden und einen mutartigen Seelenteil und veranschaulicht seine Vorstellung in dem Bild des Wagenlenkers, der ein aus einem gehorsamen und einem widerspenstigen Pferd bestehendes Gespann führen muss. Der Wagenlenker steht dabei für den denkenden, das gehorsame Pferd für den mutartigen und das widerspenstige Pferd für den begehrenden Seelenaspekt. In dem Ausmaß, in dem es dem Wagenlenker gelingt, den Bezug zur Ideenwelt herzustellen, bzw. zu halten, wird seine Fahrt erfolgreich sein, d. h., er kann Bedürfnisse und Triebe zügeln.

Platons Seelenbegriff ist metaphysisch fundiert, er weist über die sinnesmäßig erfahrbare Wirklichkeit hinaus und wird in enger Verbindung zur Erkenntnisfähigkeit des Menschen thematisiert. Die vorgenommene Polarisierung von Geist und Trieb, d. h. von erkenntnisbezogenen (kognitiven) und triebbezogenen (emotionalen) Aspekten findet sich z. B. noch im 20. Jahrhundert in der von der psychoanalytischen Instanzenlehre postulierten konflikthaften Beziehung zwischen Es und Ich bzw. Über-Ich (Kap. 1.2.1).

Der heutigen Auffassung vom Gegenstandsbereich der Psychologie kam Aristoteles (384–322 v. Chr.), der Erzieher Alexanders des Großen, bereits recht nahe. Von ihm stammt die erste aus der Sicht des Naturforschers formulierte systematische Schrift zur Psychologie, die den Titel »De anima« (lateinisch: Von der Seele) trägt. Darin definiert er die Seele als das Prinzip des Lebendigen. Aristoteles geht deshalb in seiner Untersuchung von der Frage nach dem Unterschied zwischen Beseeltem und Unbeseeltem aus und sieht diesen in den Eigenschaften der Wahrnehmung und Bewegung, welche nur im Bereich des Lebendigen, d. h. Beseelten, anzutreffen sind. Die Seele wird dabei nicht als eine einheitliche Größe verstanden, sondern in verschiedene Bereiche differenziert, denen jeweils spezifische Funktionen entsprechen. In ihrer einfachsten Form, der vegetativen Seele oder Vitalseele, welche auch den Pflanzen zukommt, verfügt die Seele über die Eigenschaften der Ernährung, des Wachstums und der Fortpflanzung. Auf der nächsten Stufe, der animalischen Seele, kommen die Merkmale der Wahrnehmung, des Fühlens, der Bewegung und des Begehrens hinzu. Diese Form entspricht dem Bereich des Lebens in der Tierwelt. Nur der Mensch besitzt schließlich die rationale (denkende) Seele. Sie wird durch die Funktionen des Erkennens, des Denkens und des Wollens charakterisiert. Körper und Seele stehen für Aristoteles in einem Ergänzungsverhältnis. Die Seele ermöglicht und reguliert die genannten Funktionen und ist dabei auf den Körper – ihr Werkzeug – bezogen und angewiesen. Mit der Benennung und Unterscheidung verschiedener psychischer Grundfunktionen im erkenntnis-, emotions- und körperbezogenen Bereich eröffnete Aristoteles den naturwissenschaftlich-empirischen Zugang zur Psychologie.

Während die Untersuchung psychischer Funktionen noch heute zum zentralen Gegenstand der Psychologie zählt, wird der Begriff »Seele« heute nicht mehr verwendet. Ursache hierfür waren vor allem Entdeckungen aus dem Bereich der Medizin, speziell der Anatomie und Physiologie, die seit Ende des vorletzten Jahrhunderts den Nachweis erbrachten, dass die der Seele zugesprochene Steuerungsinstanz in den Funktionen des zentralen Nervensystems und des Gehirns zu sehen ist. Damit wurde die Verwendung des Seelebegriffs überflüssig. Neben diesem physiologischen Argument führen Schönpflug und Schönpflug (1997) noch ein erkenntnistheoretisches Argument an. Der Nachweis der Existenz einer Seele entzieht sich den Untersuchungsmöglichkeiten einer Erfahrungswissenschaft, wie das Beispiel des Seeleverständnisses von Platon deutlich zeigt. Dieser Fragestellung kann deshalb nur in einem anderen Rahmen, wie zum Beispiel auf theologischer oder philosophischer Ebene, nachgegangen werden. Da die Psychologie als Wissenschaft empirisch ausgerichtet ist, d. h. sich auf Erfahrungstatsachen bezieht, ergibt sich aus dem Verzicht auf den Seelenbegriff für sie kein Nachteil.

Mit der Gründung des ersten psychologischen Laboratoriums im Jahre 1879 in Leipzig durch Wilhelm Wundt (1832–1920) wird häufig der Beginn der Psychologie als eigenständige Disziplin datiert. Sie wird nun als Wissenschaft vom Bewusstsein verstanden. In etwa zur gleichen Zeit gab es aber auch Institutsgründungen an der Harvard Universität in den Vereinigten Staaten und der Universität Sorbonne in Frankreich. Damit einher geht nun die Festlegung des Faches auf einen eigenständigen, nur ihm zukommenden Gegenstandsbereich. In Abhebung von ihrer philosophischen »Vorgeschichte« versteht man unter Psychologie nun eine Erfahrungswissenschaft und zieht damit einen endgültigen Trennstrich zur bisherigen Bestimmung als Wissenschaft von der Seele. Erfahrungswissenschaften haben Sachverhalte zum Gegenstand, deren Existenz in der Wirklichkeit – bei Einhaltung bestimmter methodischer Regeln – überprüft und nachgewiesen werden kann. Da sich aber auch andere Wissenschaften mit Erfahrungstatsachen beschäftigen, stand Wundt vor der Aufgabe, eine nur der Psychologie zukommende Perspektive zu entwickeln. Diese sah er im Gegenstand des individuellen Bewusstseins, d. h. der unmittelbaren Erfahrung eines Subjekts, gegeben. So verstandene Psychologie beschäftigt sich mit »einfachen« Phänomenen wie Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühlen etc., aber auch »komplexen« wie z. B. Handlungen und Selbstbewusstheit, welche den Strom unserer Erfahrung kennzeichnen. Der Bewusstseinsbegriff berücksichtigt also sowohl Inhalte (z. B. Gedanken, Wahrnehmungen) als auch den Zustand der Bewusstheit. Damit war eine Abgrenzung zu den Naturwissenschaften erreicht, die sich als Erfahrungswissenschaften mit der mittelbaren Erfahrung auseinandersetzen, und der Psychologie ein eigenständiger Weg gebahnt. Als Bausteine unserer Erfahrung betrachtete Wundt die Empfindungen, welche durch Reizung der Sinnesorgane entstehen und komplexere psychische Phänomene durch das Prinzip der Assoziation ermöglichen. Inhaltlich dominieren deshalb bei der bewusstseinspsychologischen Betrachtung die erkenntnisbezogenen psychischen Funktionen wie Wahrnehmung und Gedächtnis, also die kognitiven Aspekte.

Eine weitere wichtige inhaltliche Bestimmung des Gegenstandsbereiches der Psychologie wurde in Deutschland mit dem Begriff des Erlebens versucht. Anders als in den angelsächsischen Ländern, in denen die Begriffe Erleben und Bewusstsein synonym verwendet werden, gilt in dieser Perspektive das Erleben als eine eigenständige Kategorie. Diese Strömung geht vor allem auf Wilhelm Dilthey (1833–1911) zurück und wurde später als »geisteswissenschaftliche« bzw. »verstehende Psychologie« bezeichnet. Mit dem Erlebensbegriff werden hier konstitutiv drei Aspekte verbunden, nämlich Zeitlichkeit, Ganzheitlichkeit und Unmittelbarkeit. Zeitlichkeit bezieht sich auf den Sachverhalt, dass das Erleben ständig im Flusse ist, d. h. auf der Zeitachse kontinuierlich anhält, seine Inhalte bewahrt und modifiziert. Die Beurteilung des Zeitaspektes erfolgt dabei nicht aus physikalischer Sicht, sondern aus der Perspektive der erlebenden Person. Für sie kann eine Stunde »wie im Flug vergehen«, aber auch »zur Ewigkeit werden«! Für den Menschen manifestiert sich Zeit als individuelle oder gesellschaftliche Geschichtlichkeit. In der Biographie, d. h. der individuell ausgefüllten Zeit, erhält das Erleben seine lebensgeschichtliche Bedeutung. Das Moment der Ganzheitlichkeit hat vor allem Christian v. Ehrenfels (1859–1932) untersucht. Er konnte an räumlich-zeitlichen Strukturen, wie z. B. einer Melodie, nachweisen, dass das Ganze (die Melodie) mehr ist als die Summe seiner Teile (die einzelnen Töne). Neben dieser Übersummativität genannten Eigenschaft sah er in dem Merkmal der Transponierbarkeit ein weiteres wichtiges Prinzip der Ganzheit. So bleibt das Wesentliche einer Melodie auch dann erhalten, wenn sie in eine andere Tonlage gesetzt wird. Im Bereich des Erlebens kommt Ganzheitlichkeit durch Bedeutungs- und Sinnstiftung zustande. Das wichtigste psychologische Bestimmungsstück des Erlebens stellt die Unmittelbarkeit dar. Mit Pongratz (1984, S. 252) können an diesem Merkmal drei Bedeutungsvarianten unterschieden werden. Zum einen ist Unmittelbarkeit im Sinne von Ursprünglichkeit und Natürlichkeit zu verstehen. Am Erleben wird damit das Moment des Unwillkürlichen und Unbearbeiteten hervorgehoben. Zum anderen ist mit Unmittelbarkeit der Selbstbezug des Erlebens gemeint. Es handelt sich immer um von der Person selbst Erlebtes und selbst Erfahrenes, das nur ihr unmittelbar zugänglich ist. Schließlich zielt Unmittelbarkeit auf den psychologischen Inhalt ab und betont den emotionalen Aspekt des Erlebens. Damit wird eine in der Bewusstseinspsychologie bestehende inhaltliche Lücke geschlossen.

Das Verständnis von Psychologie als der Wissenschaft vom Unbewussten entwickelte sich in der psychotherapeutischen Alltagsarbeit ebenfalls um die vorletzte Jahrhundertwende und fand in den verschiedenen tiefenpsychologischen Richtungen seinen Niederschlag. Anders als die anderen Bestimmungsversuche, die allesamt an den universitären Lehrstühlen – also im akademischen Lehr- und Forschungsbetrieb – erarbeitet wurden, entstand dieser Zugang im unmittelbaren Umgang mit Patienten, die an neurotischen Beschwerden wie Angst oder Hysterie litten. Da die damalige psychosoziale Versorgung im klinischen Bereich ausschließlich in den Händen von Ärzten lag, wird verständlich, dass lange Zeit alle Befürworter dieser Definition psychotherapeutisch tätige Mediziner waren. Pongratz (1973) charakterisiert den von ihnen eingeführten Gegenstandsbereich folgendermaßen: »Es gibt psychische Zustände und Vorgänge, die dem registrierenden Ich (Bewusstsein) verborgen (latent, unbewusst) sind« (S. 243). Unbewusstes steht somit in Kontrast zum Bewusstsein. Es ist diesem vorgelagert, andererseits aber mit ihm auch funktional verbunden. In den Bereich des Unbewussten werden die für das menschliche Verhalten und Handeln entscheidenden Verursachungsmomente gelegt. Die Interpretation des Unbewussten erfährt in den verschiedenen Strömungen der Tiefenpsychologie eine unterschiedliche Ausgestaltung (Pongratz, 1983). Während Sigmund Freud (1856–1939) in der Psychoanalyse das Unbewusste primär unter dem Aspekt des individuell Verdrängten untersucht (Kap. 1.2.1), interessiert sich Carl Gustav Jung (1875–1961) für das nicht aus dem persönlichen Erfahrungsbereich stammende, sondern als angeboren betrachtete kollektive Unbewusste. Alfred Adler (1880–1937) spricht in seiner Individualpsychologie schließlich dem Unbewussten nur noch eine randständige Bedeutung bei der Verwirklichung des von ihm als zentral angesehenen Machtstrebens zu.

Alle bislang genannten Bestimmungsversuche sind sich darüber einig, den Gegenstand der Psychologie in die Innenwelt des Menschen zu verlagern. Seele, Bewusstsein, Erleben und Unbewusstes sind als innerorganismische Sachverhalte und Phänomene gedacht, die nur der betroffenen Person selbst zugänglich sind. Wir können weder die Gedanken anderer lesen, noch ihre Gefühle unmittelbar erleben, noch kennen wir ihre Wünsche und Absichten. Wollen wir über die genannten Aspekte etwas in Erfahrung bringen, sind wir im Regelfall auf die Mitteilung der betroffenen Person angewiesen. Gesetzt nun aber den Fall, sie teilt uns ihre Gedanken, Gefühle, Wünsche und Absichten mit: Woher wissen wir, dass eine solche Mitteilung der Wirklichkeit entspricht? Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob die Person tatsächlich die Wahrheit sagt, bzw. sagen will, sondern z. B. auch darum, ob sie überhaupt dazu in der Lage ist. Dieses Dilemma führte in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts zu einer neuen Betrachtungsweise. Psychologie wurde nun als eine Naturwissenschaft aufgefasst und als die Wissenschaft vom Verhalten definiert. Unter Verhalten verstand man anfangs alles, was einer externen Wahrnehmung zugänglich ist, also durch unsere verschiedenen Sinnesorgane unmittelbar erfasst werden kann. Damit sollte alles Subjektive, nicht unmittelbar Nachprüfbare aus der Psychologie verbannt werden. J. B. Watson (1878–1956), der Hauptverfechter einer derartigen Position, stellte in diesem Sinne fest: »Es ist möglich, eine Psychologie zu schreiben … und … niemals die Begriffe Bewusstsein, seelischer Zustand, Geist, Inhalt, Wille, Phantasie und dgl. zu benutzen« (1914, S. 9). Natürlich wurden innerorganismische Phänomene, wie z. B. Gedanken und Gefühle, nicht geleugnet, aber als Gegenstand der Psychologie wurden sie nur betrachtet, wenn es gelang, sie »objektiv« zu studieren. Die bislang eingesetzte Selbstbeobachtung war dabei als Methode nicht zugelassen. Um Gefühle zu analysieren, bezog man sich deshalb auf das Ausdrucksverhalten, oder physiologische Parameter, und Gedanken versuchte man durch die Aufzeichnung von Kehlkopfbewegungen nachzuweisen. Das Studium von Verhaltensweisen und Aktivitäten erwies sich – trotz der diese Position kennzeichnenden Einschränkung des Gegenstandsbereichs – als äußerst fruchtbar. Es ergänzt die auf den Innenaspekt abhebenden Betrachtungsweisen um den ebenfalls relevanten Außenaspekt psychischer Phänomene. Zentraler Forschungsinhalt war dabei die Psychologie des Lernens, welche bis in die ausgehenden sechziger Jahre den vorrangigen Untersuchungsbereich darstellte. Von Anfang an war die verhaltenspsychologische Position mit dem Bemühen verbunden, psychologische Erkenntnisse für das Alltagsleben nutzbar zu machen. Im Unterschied zur zuvor genannten Tiefenpsychologie gingen nun die Anregungen von den psychologischen Instituten aus.

Diese kurzen Ausführungen zeigen, dass der unter die Disziplin »Psychologie« subsumierte Gegenstandsbereich im Laufe der Zeit einem kontinuierlichen Wandel unterworfen war. Die Dimensionen des Bewusstseins, Erlebens, Unbewussten und Verhaltens standen dabei für jeweils unterschiedliche Facetten dieses Gegenstandsbereiches. Obwohl die genannten Strömungen jeweils nur eine der Facetten untersuchten, gehören sie alle zum inhaltlichen Gegenstand der Psychologie. Mit den Begriffen »Bewusstsein«, »Unbewusstes« und »Erleben« wurde dabei der Innenaspekt psychischer Sachverhalte, mit dem Begriff »Verhalten« dagegen deren Außenaspekt angesprochen. In der gegenwärtigen psychologischen Fachsprache werden die skizzierten Leitbegriffe nur noch zum Teil in der referierten Bedeutung benutzt. Heute besteht weitgehende Übereinstimmung darin, Psychologie inhaltlich als die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten zu definieren. Unter Verhalten versteht man dabei jede objektivierbare Form psychischer Aktivität, unter Erleben alle in der Person liegenden Aspekte, also sowohl gefühlsbezogene (emotionale), motivationale als auch erkenntnisbezogene (kognitive) Phänomene. Der Bewusstseinsbegriff als auch sein Komplementärbegriff »Unbewusstes« kennzeichnen in der heutigen Psychologie vor allem das Ausmaß an Deutlichkeit und Klarheit, mit dem psychische Sachverhalte dem Individuum zugänglich sind. Die Zustände des Bewussten und Unbewussten kann man dabei als Endpunkte einer bipolaren Dimension verstehen. So können die meisten Formen des Erlebens und Verhaltens auf der Dimension »bewusst-unbewusst« unterschiedlich ausgeprägt sein. Routiniert und automatisiert ablaufende Prozesse sind dabei eher am Pol »unbewusst« zu lokalisieren, Konzentration und Aufmerksamkeit verlangende psychische Prozesse dagegen eher am Pol »bewusst«. Zimbardo (1995) fasst die aufgeführten Aspekte in folgender Definition zusammen: »Gegenstand der Psychologie sind Verhalten, Erleben und Bewusstsein des Menschen … und deren innere (im Individuum angesiedelte) und äußere (in der Umwelt lokalisierte) Bedingungen und Ursachen« (S. 4).

Neben dieser Festlegung des spezifischen Inhaltsbereiches gehört zur Definition einer akademischen Disziplin auch die Festlegung der in der Auseinandersetzung mit ihrem Inhaltsbereich einzuhaltenden methodischen Regeln. In diesem Sinne schreibt Bürgy (1995): »Nicht der Gegenstand wissenschaftlichen Interesses bestimmt die jeweilige Einzelwissenschaft, sondern die Wechselwirkung zwischen Gegenstand und wissenschaftlichem Zugang« (S. 30). Für die empirische Psychologie sind dabei die verschiedenen Methoden der empirischen Sozialforschung, die im Rahmen des Studiums der Sozialen Arbeit in fast allen Studienordnungen als eigenes Fach aufgeführt sind, grundlegend. Wie andere Sozialwissenschaften gelangt auch die Psychologie über die empirischen Forschungsmethoden der Datenerhebung (z. B. Befragen, Testen, Urteilen und Beobachten) sowie der Datenauswertung (deskriptive und inferenzbezogenene Statistik) zu ihren Befunden (vgl. z. B. Blanz, 2015; Bortz & Döring, 1995; Sedlmeier & Renkewitz, 2008). Bevor im übernächsten Abschnitt einige allgemeine methodologische bzw. wissenschaftstheoretische Grundprinzipien erfahrungswissenschaftlichen Vorgehens und die damit verfolgten Ziele skizziert werden, soll noch ein Blick auf die bisherige Psychologierezeption im Bereich der Sozialen Arbeit erfolgen.

1.2       Rezeption der Psychologie in der Sozialen Arbeit

Entsprechend ihrer Orientierung an (sozialen) Problemlagen wurden Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit vor allem von solchen psychologischen Strömungen angeregt, die eine therapeutische Ausrichtung vertraten. Besondere Bedeutung hatten dabei die Tiefenpsychologie und die Humanistische Psychologie. Die Ursachen hierfür sind zum einen in wissenschaftshistorischen Gründen und zum anderen in der Favorisierung eines bestimmten Menschenbildes zu sehen. Bis in die 60er Jahre stellte die Tiefenpsychologie – insbesondere in ihrer psychoanalytischen Variante – das einzige für die Praxis tragfähige Modell abweichenden Verhaltens dar. Im Alltag der Sozialen Arbeit war sie deshalb lange Zeit unverzichtbar und konkurrenzlos. Nur sie bot damals das notwendige Handlungs- und Methodenwissen im Umgang mit individuellen und sozialen Problemlagen, dessen die Soziale Arbeit bedarf. Die Präferenz für die Ideen der Humanistischen Psychologie hat unseres Erachtens darüber hinaus noch einen weiteren Grund. Die von Carl Rogers (1902–1987) entwickelte »Gesprächspsychotherapie« stellte zwar eine der ersten Richtungen dar, welche die Dominanz tiefenpsychologischer Fundierung der praktischen (Sozial-)Arbeit in Frage stellte, an ihr imponierte unseres Erachtens aber vor allem das mit den Zielen der Sozialen Arbeit sehr verträgliche Menschenbild.

Befunde aus der empirischen Psychologie werden erst in jüngerer Zeit berücksichtigt, ein Sachverhalt, der vor allem darin begründet liegt, dass die in der akademischen Psychologie untersuchten Fragestellungen und gewonnenen Befunde lange Zeit der praktischen Anwendungsmöglichkeit entbehrten. Aufzuzeigen, dass sich diese Situation mittlerweile geändert hat und es sich lohnt, Erkenntnisse der empirischen Psychologie in der Sozialen Arbeit zu berücksichtigen, ist unter anderem ein Anliegen dieses Lehrbuches. Bevor aber auf die empirische Perspektive eingegangen wird, sollen einige wesentliche Grundgedanken von tiefenpsychologischer und humanistischer Psychologie exemplarisch an den Modellen von Freud und Rogers verdeutlicht werden.

Beide Positionen unterscheiden sich wenigstens in dreierlei Hinsicht von der später dargestellten Sichtweise. Zum einen nehmen sie eine molare Haltung ein und analysieren psychisches Geschehen eher ziel- und persönlichkeitsbezogen. Man interessiert sich hier z. B. nicht für die grundlegenden und invarianten Aspekte des Wahrnehmungsgeschehens an und für sich, sondern der Wahrnehmung werden bestimmte Aufgaben für die im jeweiligen Modell definierte optimale Persönlichkeitsentfaltung zugesprochen bzw. unterstellt. Zum anderen werden die dabei angestrebten Ziele als die wesentlichen Triebfedern für das Erleben und Verhalten inhaltlich fixiert, d. h., diese Ansätze führen jedes menschliche Erleben und Verhalten auf die gleichen inhaltlichen Grundlagen zurück. Dabei halten die einzelnen Positionen unterschiedliche Inhalte und Ziele für bedeutungsvoll (z. B. betont die Psychoanalyse die Bedeutung der Sexualität, der humanistische Ansatz stellt dagegen die Selbstverwirklichung in den Mittelpunkt). Das hat in positivem Sinn zur Folge, dass der vertretene anthropologische Standpunkt klar expliziert wird. Da es sich dabei aber um empirisch nicht ableit- und legitimierbare Fragen der Wert- und Normorientierung handelt, ist der von diesen Ansätzen postulierte allgemeine Verbindlichkeitsanspruch problematisch. So bleibt dem Individuum nur die Möglichkeit, sich im Rahmen der jeweiligen Wert- und Normorientierung zu interpretieren. Schließlich kennzeichnet der weitgehende Verzicht auf eine experimentelle Fundierung der jeweils postulierten Zusammenhänge diese Betrachtungsweisen. Die wesentlichen Methoden der Erkenntnisgewinnung stellen hier Interpretation und Deutung dar.

1.2.1     Psychoanalyse

Obwohl außerhalb der Universitätspsychologie und ohne direkte Berücksichtigung von deren Erkenntnissen entstanden und weiterentwickelt, hat die tiefenpsychologische Betrachtung in einigen Bereichen der akademischen Psychologie wie der Persönlichkeitspsychologie und Klinischen Psychologie starke Beachtung gefunden. Während sie in der Öffentlichkeit zumeist mit der Psychologie schlechthin gleichgesetzt wird, ist ihr Beitrag im akademischen Feld jedoch lediglich einer unter vielen. So urteilt Wertheimer (1971): »Aber die Psychologie als akademische Disziplin ist von Freudianischem Gedankengut … verhältnismäßig wenig beeinflusst« (S. 181). Die Praxis der Sozialen Arbeit hat sich von der psychoanalytischen Lehre häufig inspirieren lassen (vgl. z. B. Günter & Bruns, 2010; Müller, 1991, Kapitel 3.3). Mit Elhardt (2011) kann man an der psychoanalytischen Theorie u. a. einen dynamischen, topographischen, strukturellen, genetischen und energetisch-ökonomischen Aspekt unterscheiden.

Für ein Verständnis der Psychoanalyse ist der dynamische Aspekt grundlegend. Er postuliert die Bedeutung von angeborenen Trieben, welche psychische Energie bereitstellen und auf diese Weise die treibende Kraft für menschliches Verhalten und Handeln darstellen. Freud hat seine Überlegungen zu den triebbezogenen Grundlagen mehrfach geändert. So nahm er ursprünglich neben dem Sexualtrieb (Eros) noch die Existenz eines Selbsterhaltungstriebes an, später führte er den auf Destruktion ausgerichteten Todestrieb (Thanatos) als eigenständigen Trieb in seine Lehre ein. Zentrale Bedeutung behält aber immer der Sexualtrieb, dessen Libido genannte Energie wesentlich die Entwicklung des Menschen beeinflussen soll. Einen Trieb kennzeichnen nach Freud vor allem die Aspekte des Dranghaften und des konstant Wiederkehrenden, d. h., Triebe drängen nach Befriedigung und versiegen nicht in ihrer energetischen Substanz.

Unter dem topographischen Aspekt versteht man die Annahme unbewusster, bewusster und vorbewusster psychischer Vorgänge und Qualitäten. Wir haben die Begriffe »bewusst« und »unbewusst« bereits kennengelernt. Das Unbewusste gilt demnach als ein System, zu dem wir keinen direkten Zugang haben. Es ist für Freud der wichtigste Bereich der psychischen Wirklichkeit, d. h., die wesentlichen psychischen Vorgänge sind seiner Überzeugung nach unbewusst. Unter Bewusstsein ist das der Person im jeweiligen Augenblick gegenwärtige Erleben zu verstehen. Bewusstsein und Unbewusstes unterliegen jeweils anderen Regulationsmechanismen. Während das Bewusstsein raum-zeitlich ausgerichtet und realitätsbezogen orientiert ist, geht es dem Unbewussten nur um die Befriedigung von Bedürfnissen, d. h., es zielt auf Maximierung des Lustgewinns. Mit dem Begriff »vorbewusst« kennzeichnet Freud schließlich solche Inhalte, die im aktuellen Bewusstsein der Person nicht enthalten sind, grundsätzlich aber durch Aufmerksamkeitszuwendung jederzeit bewusst gemacht werden können.

Im strukturellen Modell, der sog. Instanzenlehre, differenzierte Freud (1923) drei Bereiche der Persönlichkeit nämlich Es, Ich und Über-Ich. Diese Differenzierung schien ihm nötig, um der Komplexität und Dynamik der im Unbewussten angenommenen Inhalte gerecht zu werden. Die strukturelle Annahme kann deshalb als eine Weiterführung des topographischen Aspektes gesehen werden. Das Es ist im Unbewussten angesiedelt und umfasst die psychische Repräsentanz der Triebe. Im Unterschied zu Ich und Über-Ich bildet es sich nicht erst im Laufe der Entwicklung, sondern ist von Geburt an vorhanden. Die Regulation des Es folgt dem sog. Primärprozess, der – ohne Rücksicht auf moralische, ethische oder soziale Forderungen – nach unmittelbarer Triebbefriedigung drängt und in seiner Flexibilität auch ein Ersatzobjekt zur Befriedigung akzeptiert. Er ist nach Freud nicht an die in der Realität herrschenden Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge der raumzeitlichen Orientierung gebunden, sondern kann völlig a-logisch verlaufen. Als Beleg für primärprozesshafte Steuerung sieht die Psychoanalyse u. a. das Traumgeschehen an, in dem uns der Realität widersprechende Erfahrungen häufig begegnen. So können wir im Traum fliegen oder uns gleichzeitig an weit voneinander entfernten Orten aufhalten. Der Begriff »Über-Ich« steht für die Gebote und Verbote, Werte und Moralvorstellungen der Person. Das Über-Ich beinhaltet sowohl das Gewissen als auch die Idealvorstellung von sich selbst (Ich-Ideal). Dem Ich kommt die schwierige Aufgabe zu, zwischen den Ansprüchen des Es, des Über-Ich und der Realität zu vermitteln. Es ist nach dem Sekundärprozess strukturiert, der sich erst im Laufe der Entwicklung herausbildet. Im Unterschied zum Primärprozess ist der Sekundärprozess auf Befriedigungsaufschub ausgerichtet und gehorcht den Regeln der Logik. Das Ich folgt damit dem Realitätsprinzip, d. h., es sucht nach vernünftigen von der Umwelt und dem Über-Ich gebilligten Lösungen. Die aus dem Es stammenden Triebwünsche werden von ihm dabei nur in dem Maße zugelassen, als sie von den normativen Vorstellungen akzeptiert werden und in der Wirklichkeit umgesetzt werden können. Während also Es und Über-Ich zueinander antagonistisch stehen, kommt dem Ich die Aufgabe der Kompromissbildung zwischen beiden zu.

Der genetische Aspekt beinhaltet die Vorstellungen zur Persönlichkeitsentwicklung, die an die unterschiedlichen Stadien der Entwicklung des Sexualtriebes gebunden ist und deshalb auch als psychosexuelle Entwicklung bezeichnet wird. In Abhängigkeit von dem jeweils mit Triebbefriedigung assoziierten Körperbereich formulierte Freud verschiedene Phasen der Libidoentwicklung. In der das erste Lebensjahr bestimmenden oralen Phase soll die Befriedigung vor allem durch Mundkontakt (z. B. Saugen an Finger oder Spielzeug) erfolgen. Es schließt sich im zweiten Lebensjahr die anale Phase an. Sie ist für die Psychoanalyse durch Ausscheidung und Zurückhaltung der Exkremente bestimmt. Ab dem Alter von drei Jahren sollen die Sexualorgane selbst im Mittelpunkt der Triebbefriedigung stehen, weshalb Freud nun von der phallischen Phase spricht. Mit etwa sechs Jahren beginnt eine Zeit, die durch eine bis zur Pubertät reichende Beruhigung des Sexualinteresses gekennzeichnet ist, die sog. Latenzphase. Wesentlich für die spätere Entwicklung ist nach Freud das Ausmaß an Befriedigung, das der Libido auf dem geschilderten Weg zuteil wird. Als ungünstig gilt ihm dabei sowohl ein mit Verwöhnung verbundenes »Zuviel« als auch ein mit Frustration verbundenes »Zuwenig« an Libidobefriedigung. In beiden Fällen soll es zu einem zu langen Verweilen in der jeweiligen Phase, der sog. Fixierung, kommen.

Im energetisch-dynamischen Modell der Psychoanalyse geht es um die Überlegungen zur Verarbeitung psychischer Energien. In Anlehnung an die physikalische Vorstellung von der Erhaltung der Energie geht Freud davon aus, dass auch im psychischen Energiehaushalt Triebenergie nicht verlorengehen kann. Die von den Trieben ausgehende Energie muss deshalb innerhalb des psychischen Systems verarbeitet werden. Können die Triebansprüche des Es in der Wirklichkeit nicht unmittelbar befriedigt werden, weil sich z. B. entweder die Realität oder das Über-Ich ihrer Realisierung entgegenstellen, müssen die mit ihnen verbundenen Triebenergien zurückgedrängt werden. Auf einen solchen – von Freud äußere Versagung genannten – Fall kann das Individuum auf zweierlei Art reagieren (Abb. 2). Entweder es verändert die Umweltbedingungen (sog. alloplastisches Handeln) oder sich selbst (sog. autoplastisches Handeln). So kann in letzterem Fall der Triebwunsch z. B. in der Phantasie befriedigt werden. Hält die äußere Versagung jedoch länger an, verstärkt sich der Triebstau. Dies kann dazu führen, dass sich die libidinöse Energie den früheren Befriedigungsformen, wie sie für die orale, anale oder genitale Stufe typisch sind, zuwendet (sog. Regression). Wird den dabei ausgelösten Triebwünschen wegen ihrer Auslösung von Scham und Selbstabwertung vom Ich jedoch der Zutritt in das Bewusstsein verwehrt, sieht Freud den Zustand der inneren Versagung gegeben. Innere Versagung zieht die Verdrängung der Triebwünsche in das Es nach sich. Sie sind nun aus dem Bewusstsein verbannt, ihre Energie drängt aber weiterhin nach Befriedigung. Die verdrängten Triebimpulse entwickeln im Es ein »Eigenleben«. Sie heften sich – nun dem Primärprozess unterworfen – an andere Inhalte und Objekte und verschaffen sich auf diesem »verschleierten« Weg auf weniger anstößige Weise Zugang zum Bewusstsein und damit zur Befriedigung. Ergebnis dieses misslungenen Kompromisses stellt das neurotische bzw. symptomatische Verhalten dar, das nun als Ersatzbefriedigung der verdrängten Impulse interpretiert wird. Symptome verweisen damit in diesem Ansatz auf unbewusste Konflikte und müssen vom Analytiker in ihrem Symbolgehalt verstehbar gemacht werden.

Das Beispiel der Phobie des »kleinen Hans«, einer sehr bekannt gewordenen Studie von Freud (1909), soll dies verdeutlichen. Der fünfjährige Hans litt unter einer sehr starken Angst vor Pferden. Er fürchtete vor allem, von einem Pferd gebissen zu werden, und traute sich deshalb nicht auf die Straße, wenn er erwartete, dabei einem Pferd begegnen zu können. In der psychoanalytischen Interpretation dieser Phobie geht Freud davon aus, dass das Pferd den Vater des Jungen symbolisiere, zu dem der kleine Hans eine ambivalente Haltung haben sollte. Einerseits sei er dem Vater liebevoll zugetan gewesen, andererseits habe er ihm gegenüber auch Anzeichen von Eifersucht und Feindseligkeit gezeigt. Letztere führt Freud darauf zurück, dass der Junge mit dem Vater um die Gunst der Mutter rivalisierte (Ödipuskonflikt). Freud nimmt an, dass die Feindseligkeit dem Vater gegenüber von Hans verdrängt wurde und in der Angst vor dem Pferd ins Gegenteil gewandt wieder zum Ausdruck kam. Die Verdrängung soll stattgefunden haben, weil Hans fürchtete, für seine unerlaubten Wünsche bestraft (kastriert) zu werden.

Abb. 2: Energetisch-dynamischer Aspekt der Psychoanalyse (mod. nach Mertens, 1990, S. 137)

An der Tiefenpsychologie Freuds wurde in verschiedener Hinsicht Kritik geübt (vgl. z. B. Selg, 2002). Die theoriebezogenen Einwände setzen sowohl an wissenschaftstheoretischen (formalen) als auch an inhaltlichen Aspekten an.

Aus wissenschaftstheoretischer Sicht besteht ein Hauptproblem des psychoanalytischen Ansatzes in der Unschärfe der verwendeten Begrifflichkeiten (vgl. z. B. Perrez, 1972). Freud bedient sich in der Darstellung seiner Annahmen häufig des Analogisierens und des metaphorischen Denkens. Die zentralen Begriffe des Modells werden dabei vage und vieldeutig verwendet, so dass es häufig dem Leser überlassen bleibt, in welcher Weise er sie versteht. Da die Aussagen jedoch plausibel und einleuchtend erscheinen, wird die begriffliche Ungenauigkeit in aller Regel nicht sofort wahrgenommen. Die begriffliche Unschärfe hat wenigstens zwei negative Folgen. Zum einen führt sie dazu, dass psychoanalytische Annahmen nicht, bzw. nur sehr schwer, überprüft werden können. So bleibt unklar, was die Konzepte »Es«, »Libido«, »Fixierung« etc. genau bedeuten und an welchem Verhalten sie sich eindeutig erkennen lassen. Zum anderen können keine präzisen und gültigen Voraussagen über zukünftiges Verhalten und Handeln gemacht werden. Zwar gelingt es im psychoanalytischen Rahmen meist, bereits stattgefundenes Handeln verständlich zu machen (vorausgesetzt man akzeptiert die entwickelte Interpretation; vgl. die Deutung der Phobie des »kleinen Hans«), zukünftige Handlungsweisen können aber kaum vorhergesagt werden. Die Güte und Relevanz wissenschaftlicher Modellvorstellungen wird aber gerade von ihrer Vorhersagekraft abgeleitet. Schließlich sind viele der psychoanalytischen Annahmen grundsätzlich nicht widerlegbar, d. h., das Modell ist gegenüber Falsifizierung immun (Kap. 1.3). Erwartet man beispielsweise in einem konkreten Fall das Auftreten bestimmter Verhaltensweisen (sexueller oder aggressiver Art), so bestätigt auch deren Nichtauftreten das analytische Modell, wenn man nun den Mechanismus der Verdrängung unterstellt. Da jedes Ergebnis von der Theorie »verständlich« gemacht werden kann, besitzt sie keinen prognostischen Erklärungswert. Die heute für Erfahrungswissenschaften relevanten wissenschaftstheoretischen Kriterien (Kap. 1.3) sind in der Psychoanalyse nicht oder nur deutlich eingeschränkt erfüllt.

Aus inhaltlicher Sicht ist die Bedeutung, die Freud der Sexualität zuspricht, zu relativieren. Die von ihm in den Fallanalysen interpretierten sexuellen Bezüge müssen im Kontext der damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse gesehen werden. Sie stammen aus einer Zeit, die zumindest nach außen hin als a-sexuell und sexualfeindlich eingeschätzt werden muss. Zwischenzeitlich ist diese Haltung von einer deutlichen Liberalisierung und Enttabuisierung abgelöst worden. Heute erscheint es deshalb als sehr unwahrscheinlich, dass abgewehrte sexuelle Impulse die Grundlage der Dynamik unseres Verhaltens darstellen sollen.

Neben derartigen theoretischen Überlegungen werden gegen die Psychoanalyse auch methodische Argumente geltend gemacht, welche die Art der Datenerhebung und Datenverarbeitung, derer sich Freud bedient, betreffen. Grundlage der psychoanalytischen Lehre bilden die Falldaten der von Freud behandelten Patienten. Die psychoanalytischen Annahmen stellen Überlegungen dar, die aus der Deutung der vorgetragenen Problemkonstellationen entstanden sind. Diese Deutungen wurden in weiten Teilen aus Erinnerungen der Patienten an ihre Kindheit abgeleitet. Erinnerungsfehler, Verzerrungen der Informationsverarbeitung oder einfaches Vergessen (Kap. 2) wurden dabei nicht systematisch berücksichtigt. Darüber hinaus fehlt eine Überprüfung der angenommenen Zusammenhänge an externen Daten. Die Psychoanalyse ist somit nicht auf beobachtbare Daten gegründet, sie verlässt sich auf die Erinnerung des Erwachsenen und unterzieht die abgeleiteten Deutungen keiner weiteren systematischen empirischen Überprüfung. Obwohl sie eine Theorie zur psychosexuellen Entwicklung vorgelegt hat, führte sie keine Beobachtungen an Kindern durch.

Fragt man nach der Bedeutung der Psychoanalyse für das Studium und die Praxis der Sozialen Arbeit, so kommt man auch bei einer systeminhärenten Betrachtung zu einer recht pessimistischen Einschätzung. Sollen die in der Freud’schen Lehre angesprochenen Deutungen nicht leerformelmäßig benutzt werden, müssen sie im Rahmen der Lehranalyse quasi am eigenen Leib erfahren werden. Eine derartige Ausbildung ist im Rahmen eines Studiums – und zwar nicht nur desjenigen der Sozialpädagogik – nicht leistbar. Sie erfolgt deshalb seit jeher über private Einrichtungen und Institute. Weitere Einschränkungen der Bedeutung resultieren aus der aufwendigen Beratungsarbeit und den Indikationsvoraussetzungen. Psychoanalytisches Vorgehen verlangt in seiner klinischen Variante eine sehr lange, u. U. über mehrere Monate oder gar Jahre reichende kontinuierliche Einzelbetreuung des Klienten. Unter den derzeitigen Bedingungen der psychosozialen Versorgung ist ein solcher Einsatz für den Einzelfall vom Sozialpädagogen nicht zu leisten. Schließlich ist die Psychoanalyse ein Ansatz, der sich vor allem an die Mittelschicht wendet und damit einen nicht unbeträchtlichen Teil der sozialpädagogischen Klientel unberücksichtigt lässt.

1.2.2     Humanistische Psychologie

Dem Pessimismus des psychoanalytischen Menschenbildes, das Erleben und Verhalten des Menschen als das Produkt seiner zu zügelnden Triebe betrachtet, setzt die »Humanistische Psychologie« eine positive Alternative gegenüber. In ihren anthropologischen Grundannahmen (vgl. Völker, 1980) postulieren ihre Vertreter, dass der Mensch nach Autonomie, d. h. nach Unabhängigkeit von äußerer Kontrolle strebe und von Natur aus zum Positiven angelegt sei. So schreibt Carl Rogers:

»Der innerste Kern der menschlichen Natur, die am tiefsten liegenden Schichten seiner Persönlichkeit, die Grundlage seiner tierischen Natur ist von Natur aus positiv – von Grund auf sozial, vorwärtsgerichtet, rational und realistisch« (1976, S. 99–100). Der Mensch wird in diesem Modell aber nicht nur als gut betrachtet, sondern auch als fähig, sich selbst zu verstehen und so zu verwirklichen, dass für ihn ein größeres Wohlbefinden entsteht. Dieses Streben nach zunehmender Selbstverwirklichung soll durch die ihm als innewohnend gedachte Tendenz zur Selbstaktualisierung zustande kommen. Weitere wesentliche Bestimmungsstücke des Menschenbildes der Humanistischen Psychologie sind Ziel- und Sinnorientierung sowie ganzheitliche Betrachtung. Menschliches Handeln gilt als sinn- und zielgerichtet, d. h., es kann nach dieser Perspektive weder aus dem situativen Kontext noch aus inneren Trieben hinreichend verstanden werden. Es ist in Bezug zu Wertvorstellungen wie Freiheit, Würde, Gerechtigkeit etc. zu sehen. Einzelne Verhaltensweisen müssen deshalb immer auf dem Hintergrund dieser übergeordneten Sinn- und Zielgerichtetheit interpretiert werden. In seiner ganzheitlichen Betrachtung sieht dieser Ansatz den »menschlichen Organismus als Gestalt, als organisches, bedeutungsvolles Ganzes und betont die Ganzheitlichkeit von Gefühl und Vernunft, von Leib und Seele« (Völker, 1980, S. 19–20). Die große Akzeptanz, die die Humanistische Psychologie im Bereich der psychosozialen Praxis fand, geht sicherlich zu einem nicht unerheblichen Teil auf diese Annahmen zum Menschenbild zurück (vgl. z. B. Bastine, 1990, S. 64). Betrachten wir das im sozialpädagogischen Feld einflussreiche Modell von Carl Rogers nun etwas genauer. Es soll in seinem persönlichkeits-, störungs- und interventionsbezogenenen Teil skizziert werden.

Den Ausgangspunkt der Persönlichkeitstheorie von Rogers bildet eine Betrachtung, welche von der subjektiven Wahrnehmung des Individuums ihren Ausgang nimmt und deshalb als phänomenologisch-individualistisch bezeichnet werden kann. Die von der Person wahrgenommene Wirklichkeit ist durch die von ihr gemachten Erfahrungen bestimmt, d. h., jede Person lebt in ihrer eigenen, mit niemandem sonst vollständig geteilten Welt. Ihre Wirklichkeit unterliegt einer ständigen Veränderung, die von den neuen Erfahrungen der Person gestaltet wird. Die Realität oder Wirklichkeit bestimmt sich für ein einzelnes Individuum damit nicht durch die vorliegenden »objektiven« Verhältnisse, sondern ausschließlich durch deren subjektive Wahrnehmung. Zwischen den Möglichkeiten der Wahrnehmung und dem tatsächlich Wahrgenommenen ist demnach zu unterscheiden. Den zentralen Begriff der Persönlichkeitstheorie von Rogers stellt derjenige des »Selbst« bzw. »Selbstkonzepts« dar. Darunter versteht man in diesem Zusammenhang die im Verlaufe des Lebens entstandenen Einstellungen und Haltungen der Person sich selbst, der Umwelt und den Wechselwirkungen zwischen beiden Bereichen gegenüber. Nach Rogers (1959) beziehen sich die Konzepte »Selbst«, »Selbst-Konzept« und »Selbst-Struktur« »auf die organisierte, konsistente und begriffliche Gestalt, die sich aus den Wahrnehmungen der Charakteristika des ›Ich‹ oder ›Mich‹ und den Wahrnehmungen der Beziehungen des ›Ich‹ oder ›Mich‹ zu anderen Personen und zu verschiedenen Aspekten des Lebens sowie aus den zu diesen Wahrnehmungen gehörenden Werten zusammensetzt. Es handelt sich um eine Gestalt, die dem Bewusstsein zugänglich ist, obwohl sie nicht notwendigerweise im Bewusstsein ist« (S. 200). Die durch das Selbstkonzept bestimmte Wahrnehmung der Person übt für Rogers einen bedeutenden Einfluss auf das von ihr gezeigte Verhalten aus, da Personen bestrebt sein sollen, sich in Übereinstimmung mit der eigenen Selbstwahrnehmung zu verhalten. Dem Selbstkonzept kommt daneben die wichtige Aufgabe zu, neue Wahrnehmungen zu filtern.

Unter motivationaler Hinsicht sieht Rogers die menschliche Persönlichkeit vor allem von zwei Bedürfnissen bestimmt. Der organismische Bewertungsprozess beurteilt eine Situation im Hinblick auf ihre Ermöglichung von Spannungsreduktion, Wachstum, Weiterentwicklung und Selbstverwirklichung. Er gilt Rogers als angeboren und soll in diese Richtung gehende Erfahrungen positiv, ihr widersprechende dagegen negativ beurteilen. Im organismischen Bewertungsprozess geht es also um die Beurteilung des Ausmaßes an Selbsterhaltung und Selbstaktualisierung in einer konkreten Situation. Ein zweites grundlegendes menschliches Bedürfnis ist für Rogers dasjenige nach positiver Zuwendung. Es bildet sich im Entwicklungsverlauf als Folge der positiven (Gefühls-)Erfahrungen mit anderen Personen. Das Individuum will von anderen anerkannt, geliebt und geachtet werden. In einer konkreten Situation kann ein Konflikt zwischen organismischem Bewertungsprozess und Bedürfnis nach Zuwendung entstehen, den Sieland (1996, S. 125–126) an folgendem Beispiel veranschaulicht: Ein vierjähriges Mädchen wird von seinem dreijährigen Bruder geärgert. Es wird wütend und schubst den Bruder weg. Dieses Verhalten ist für es sehr befriedigend und mit Anspannungsreduktion verbunden. Es wird im organismischen Bewertungsprozess deshalb positiv beurteilt. Das Mädchen will aber auch die Zuwendung der Eltern gewinnen und gerät nun – im Falle, dass diese sein Verhalten dem Bruder gegenüber missbilligen – in einen Konflikt: Das Verhalten des Wegschubsens steht dem Bedürfnis nach elterlicher Zuwendung im Weg. Im Modell des Selbstkonzepts bedeutet dieser Konflikt eine Abweichung von Real- und Idealselbst.

Unter dem Realselbst versteht Rogers dabei die derzeit bestehende tatsächliche Situationseinschätzung (im Beispiel die Genugtuung dem Bruder gegenüber), unter Idealselbst dagegen die Wunsch- oder Zielvorstellung der Person (im Beispiel: von den Eltern geliebt zu werden). Ein derartiger Konflikt kann auf unterschiedliche Art gelöst und im Bewusstsein des Kindes symbolisiert werden. Das Mädchen kann die organismische Bewertung unzensiert und unverzerrt in das Idealselbst übertragen, und sich zugestehen, dass es Spaß macht, den Bruder zu schubsen. Es kann diese Erfahrung aber auch ignorieren, weil sie dem Idealselbst widerspricht und feststellen, dass es nicht seine Absicht war, den Bruder zu schubsen, sondern nur mit ihm zu spielen. Als dritte Möglichkeit sieht Rogers noch die Verzerrung dieser Erfahrung. Hier gesteht sich das Mädchen zwar zu, den Bruder geschubst zu haben, verleugnet aber die damit verbundene positive Gefühlslage. Es kann z. B. den Schluss ziehen, das Schubsen habe ihm keinen Spaß gemacht.

Diese Überlegungen führen zur Störungslehre des klientenzentrierten Ansatzes, in der zwischen einem normalen (flexiblen) und einem gestörten (rigiden) Selbstkonzept unterschieden wird (Abb. 3). Ob gemachte Erfahrungen zu einer Störung führen, hängt davon ab, in welchem Ausmaß von der Person die genannten Verarbeitungsformen »unverzerrte Übernahme«, »Ignorierung« und »Verzerrung« eingesetzt werden. Kennzeichnend für das normale Selbstkonzept ist die Möglichkeit, Erfahrungen angstfrei aufzunehmen und in die bestehende Struktur des Selbstkonzepts ungetrübt zu integrieren. Zwischen Erfahrungsbildung und Selbstkonzept besteht hierbei ein Verhältnis der Übereinstimmung und Kongruenz, d. h., reale (tatsächliche) und ideale (gewünschte) Sichtweise des Selbst entsprechen einander weitgehend. Im Falle des Vorliegens einer Störung nimmt die Person sich und ihre Umwelt in weiten Teilen jedoch nicht kongruent, sondern getrübt wahr. Sie ignoriert oder verzerrt in ihrer bewussten Verarbeitung solche Erfahrungen, die ihre Selbststruktur gefährden. Da jedoch die unmittelbaren organismischen Bewertungen der mit dem Ideal-Selbst diskrepanten und inkongruenten Erfahrungen davon unberührt sind, entsteht ein Widerspruch, Inkongruenz genannt. Während geringere und partielle Ausmaße von Inkongruenz für die Person keine Bedrohung darstellen, kann eine Ausweitung von Inkongruenz zu psychischer Fehlanpassung führen. Schuld, Angst, Depression, verminderte Selbstachtung und weitere Einschränkungen gelten als die möglichen Folgen.

Auf der Ebene der Intervention entwickelte Rogers das gesprächstherapeutische Vorgehen, das sich zum Ziel setzt, die unter ihrer Fehlanpassung leidende Person wieder der »fully functioning person« anzunähern. Es geht dabei in erster Linie um die Reaktivierung der eingeschränkten bzw. blockierten Selbstaktualisierungstendenz und nicht um die Verminderung akuter Beschwerden und Belastungen, wie z. B. Rückgang konkreter phobischer oder zwanghafter Verhaltensweisen. Dies soll mit einer Gesprächsführung angeregt werden, die durch drei Basismerkmale seitens des Beraters bestimmt ist, nämlich Echtheit, positive Wertschätzung und einfühlendes Verstehen. Mit Echtheit ist gemeint, dass der Berater dem Klienten in Übereinstimmung von Verhalten und Überzeugung, selbstaufrichtig und ohne Fassade begegnen soll. Echtheit des Beraters ermöglicht es dem Klienten, Vertrauen zu entwickeln und in die Beziehung einzubringen. Die Verwirklichung von positiver Wertschätzung verlangt vom Berater eine Haltung der Achtung und des Respekts gegenüber dem Klienten. Verhaltensbezogen besteht dieser Aspekt vor allem darin, dem Klienten die Position

Abb. 3: Störungslehre im Ansatz von Rogers (mod. nach Revenstorf, 1993, S. 17)

des Beraters nicht aufzudrängen. Positive Wertschätzung bewirkt für den Klienten eine angstfreie, nicht-bedrohliche Atmosphäre und damit die Möglichkeit, sich mit den eigenen Erfahrungen und Gefühlen auseinanderzusetzen. Einfühlendes Verstehen verlangt schließlich, die Welt und den Klienten aus dessen Sicht wahrzunehmen. Der Berater versucht dies durch die Rückmeldung des (vermuteten) Gefühlsgehaltes des Gesagten zu erreichen. Er prüft deshalb die inhaltliche Aussage des Klienten auf ihren emotionalen Gehalt und verbalisiert die vermuteten Gefühlsaspekte. Auf diese Weise gibt er dem Klienten Anstöße zur Auseinandersetzung mit seinen Erfahrungen und Gefühlen sowie deren Bedeutung für das Selbstkonzept. Der Klient kann so bisher unerkannte Zusammenhänge und Bezüge seines Selbstkonzeptes entdecken und einer Verarbeitung zuführen. Rogers verwendet für diesen Sachverhalt den Begriff »Selbstexploration«. Die Zunahme von Selbstexploration im Gesprächs- und Beratungsverlauf stellt im gesprächspsychotherapeutischen Vorgehen ein wesentliches Kriterium für die Beurteilung des Erfolges dar.

Eine Bewertung des humanistischen Ansatzes von Rogers ergibt – wie auch bereits für die Psychoanalyse festgestellt – eine mangelnde Präzisierung und unzureichende Überprüfbarkeit seiner grundlegenden Begrifflichkeiten (z. B. »Selbst«, »Erfahrung« etc.) und damit das Problem, klare Beziehungen zu Verhaltensdaten herzustellen. So lässt sich die Existenz der in allen humanistischen Ansätzen als wichtig erachteten Tendenz zur Selbstverwirklichung empirisch weder beweisen noch widerlegen (vgl. Sieland, 1996; Zimbardo, 1995). Wie die Psychoanalyse ist auch die Gesprächspsychotherapie das Werk einer einzelnen Forscherpersönlichkeit und damit ein in sich geschlossenes System. Befunde aus dem Bereich der psychologischen Grundlagenforschung, z. B. im Hinblick auf die in diesem Modell so wichtige Funktion der Wahrnehmung (Kap. 2), wurden dabei jedoch so viel wie nicht berücksichtigt. Positiv ist die überprüfbare Definition der Beratermerkmale (Echtheit etc.) hervorzuheben. So konnte deren Bedeutung für die Selbstexploration empirisch belegt werden. Wie Grawe, Caspar und Ambühl (1990) nachweisen, ist dies vor allem bei Personen mit guten sozialen Fertigkeiten und einer hohen Beziehungsfähigkeit der Fall. Problematisch erscheint es allerdings, den Erfolg einer Beratung ausschließlich an dem systemimmanenten Kriterium der Selbstexploration zu messen und nicht an dem vom Klienten vorgetragenen Problem selbst. Bei einer sich als klientenzentriert bezeichnenden Vorgehensweise muss die Vernachlässigung des eigentlichen Anliegens zumindest als Erfolgskriterium verwundern.

Die bereitwillige Aufnahme des Modells von Rogers in das sozialpädagogische Methodenspektrum hat eine Ursache sicherlich in der hohen Affinität beider Richtungen hinsichtlich der Bedeutungseinschätzung von Änderungsmedium und Zielperspektive. Ein Ansatz, der die Beziehung zum wesentlichen Veränderungsvehikel deklariert und für Emanzipation im weitesten Sinne eintritt, kommt der Sozialen Arbeit in grundlegenden Aspekten entgegen. Seine Voraussetzungsfreiheit von anderen Wissensbeständen macht ihn darüber hinaus für das Studium der Sozialen Arbeit interessant. Dessen ungeachtet darf aber nicht übersehen werden, dass die professionelle Einübung der Basisvariablen die in einem Studium gegebenen Möglichkeiten bei weitem überfordert. So erstreckt sich die von der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Gesprächspsychotherapie (GwG) angebotene Beraterausbildung über mehr als ein Jahr. Als »Konzept sozialpädagogischen Handelns« geben Geissler und Hege (2007) folgende Einschätzung: »Die Integration der klientenzentrierten Methode als individuelle psychologische Hilfe sollte jedoch nicht überschätzt werden« (S. 77). Sie begründen diese Beurteilung vor allem mit der Vernachlässigung von relevanten Umweltvariablen und dem Sachgehalt des vom Klienten vorgetragenen Anliegens. Da viele Probleme in der sozialpädagogischen Praxis die Suche nach konkreten Lösungen verlangen und diese im Modell von Rogers unberücksichtigt bleibt, sprechen auch Biermann-Ratjen, Eckert und Schwartz (1996) dem Modell von Rogers als grundlegende Methode der Sozialen Arbeit nur eine begrenzte Bedeutung zu. Dem sich auf diesen Ansatz einlassenden Sozialpädagogen kann es aber sehr wohl für die Definition der eigenen Beraterrolle nützlich sein (zur Weiterentwicklung und Kritik des Therapiekonzeptes von Rogers siehe z. B. Sachse, 2005).

1.3       Methodologische Voraussetzungen und Ziele der empirischen Psychologie

In diesem Abschnitt werden einige wissenschaftstheoretische und methodologische Überlegungen behandelt, die für ein Verständnis der Psychologie als empirischer Wissenschaft notwendig sind. Es geht dabei um die Art und Weise des Umganges mit den im ersten Abschnitt genannten Inhalten.

1.3.1     Alltagsurteil und Urteilen in der Wissenschaft

Ulich und Bösel (2005, S. 44–45) wählen das folgende Beispiel, um auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Psychologie des Alltagslebens und der wissenschaftlichen Psychologie hinzuweisen:

Eine Mutter stellt auf einem Spielplatz fest, dass sich ihr Kind fürchtet, eine Rutsche hinunterzurutschen. Einer Nachbarin erklärt sie, das Kind sei hierfür noch zu klein, aber in etwa einem Jahr werde es ihm nichts mehr ausmachen, die Rutsche zu benützen. Um dem Kind langsam die Furcht zu nehmen, habe sie in Zukunft vor, auch andere Spielplätze aufzusuchen, auf denen sich niedrigere Rutschen befinden.