Grundwissen Geistigbehindertenpädagogik - Barbara Fornefeld - E-Book

Grundwissen Geistigbehindertenpädagogik E-Book

Barbara Fornefeld

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Beschreibung

„Grundwissen Geistigbehindertenpädagogik“ führt anschaulich in das komplexe Gebiet der Geistigbehindertenpädagogik ein. Es gibt einen Einblick in die zentralen Themen und die vielfältigen Aufgabenfelder der Geistigbehindertenpädagogik, die von der Frühförderung über schulische und nachschulische Erziehung, Arbeit, Wohnen und Freizeit bis hin zur Begleitung im Alter reichen. Der didaktische Aufbau des Buches mit Marginalienspalte und Glossar erleichtert Studierenden das Lernen. Übungsfragen dienen der unmittelbaren Lernzielkontrolle und regen zur weiterführenden Diskussion in Arbeitsgruppen an. Nützliche Hinweise zu ausgewählten Fachzeitschriften und Adressen im ausführlichen Anhang weisen auf zusätzliche Informationsquellen hin.

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Seitenzahl: 403

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Prof. Dr. Barbara Fornefeld (em.), Lehrstuhl für Pädagogik und Rehabilitation bei geistiger und schwerer Behinderung an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln, Department Heilpädagogik und Rehabilitation.

Dieses Buch erschien bis zur 3. Auflage unter dem Titel „Einführung in die Geistigbehindertenpädagogik“.

Ebenfalls von der Autorin im Ernst Reinhardt Verlag erschienen:Menschen mit Komplexer Behinderung. Selbstverständnis und Aufgaben der BehindertenpädagogikISBN: 9783497019847

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.dnb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 8431ISBN 9783825287757 (Print)ISBN 9783838587752 (PDF-E-Book)ISBN 9783846387757 (EPUB)6. Auflage

© 2020 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EUEinbandgestaltung: Atelier Reichert, StuttgartSatz: ew print & medien service gmbh, Würzburg

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D80639 MünchenNet: www.reinhardtverlag.de EMail: [email protected]

Inhalt

Vorwort zur 5. Auflage

Vorwort zur 1. Auflage

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

1Geistigbehindertenpädagogik – ein komplexes System von Hilfen und Maßnahmen

1.1Terminologische Klärung

1.2Geistigbehindertenpädagogik – eine Pädagogik mit vielfältigenAufgaben

1.3Brückenfunktion der Geistigbehindertenpädagogik

1.4Interdisziplinarität

2Historische Wurzeln der Geistigbehindertenpädagogik

2.1Das Leben von Menschen mit geistiger Behinderung vonden Anfängen bis zum 19. Jahrhundert

2.2Beginn der Geistigbehindertenpädagogik – Anstaltsgründungen im 19. Jahrhundert

2.3Sozialdarwinismus und Nationalsozialismus – Konsequenzen für Menschen mit geistiger Behinderung

2.4Die Entwicklung der Geistigbehindertenpädagogik von 1945 bis 1989 in beiden deutschen Staaten

2.4.1Entwicklung in der BRD

2.4.2Entwicklung in der DDR

2.5Geistigbehindertenpädagogik im Umbruch

3Personenkreis: Menschen mit geistiger Behinderung

3.1Behinderung – geistige Behinderung – Definitionen

3.2Klassifikation von geistiger Behinderung

3.3Ätiologie der geistigen Behinderung

3.4Epidemiologische Daten

3.5Geistige Behinderung unter pädagogischen Gesichtspunkten

3.6Geistige Behinderung unter soziologischen Gesichtspunkten – Randgruppenphänome

3.6.1Menschen mit Komplexer Behinderung

3.6.2Alte Menschen mit geistiger Behinderung

3.6.3Geistige Behinderung und Migration

3.7Zusammenfassung: Anthropologische Impulse

4Aufgabenfelder der Pädagogik und Rehabilitation für Menschen mit geistiger Behinderung

4.1Frühförderung und Früherziehung

4.1.1Frühförderung – Zielgruppe

4.1.2Entwicklung der Frühförderung und rechtliche Grundlagen

4.1.3Frühförderung als System

4.1.4Zielsetzung und Aufgaben der Frühförderung

4.2Schulische Erziehung und Bildung

4.2.1Bildungsanspruch

4.2.2Bildungsorte – Förderorte

4.2.3Förderschule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung –Zielsetzung, Aufbau und Organisation

4.2.4Ziele für Schüler mit schwerer Behinderung

4.3Erwachsenenbildung

4.3.1Zielgruppe und Institutionen der Erwachsenenbildung

4.3.2Aufgaben der Erwachsenenbildung und ihre Umsetzung

4.3.3Grundprinzipien der Erwachsenenbildung

4.4Berufliche Bildung

4.4.1Entwicklung der beruflichen Bildung für Menschen mit geistiger Behinderung

4.4.2Die Werkstatt für behinderte Menschen

4.4.3Integrationsdienste und Integrationsprojekte

4.4.4Berufliche Bildung für Menschen mit Komplexer Behinderung

4.5Wohnen

4.5.1Bedeutung des Wohnens

4.5.2Reform des Wohnens für Menschen mit geistiger Behinderung

4.5.3Rechtliche Grundlagen

4.5.4Wohnformen im Wandel

4.5.5Wohnen als Bildungsaufgabe

5Geistigbehindertenpädagogik als Wissenschaft

5.1Pädagogische Erfahrung – wissenschaftliche Erkenntnis

5.2Erkenntnistheoretische Bezüge

5.3Zusammenfassung

Glossar

Anhang

Ergänzung zu Kapitel 2.4: Entwicklung der Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung zwischen 1945 und 1989

Ergänzung zu Kapitel 3.5: Disability Studies

Ergänzung zu Kapitel 3.6.2: Entwurf zum Leitbild der Seniorenbetreuung

Ergänzung zu Kapitel 4.2: Recht auf Bildung – Verpflichtung zu einem inklusiven Bildungssystem

Ergänzung zu Kapitel 4.2.2: Aussagen wichtiger Vertreter der Integrations-/Inklusionsforschung zum integrativen/inklusiven Unterricht

Ergänzung zu Kapitel 4.3.1: Kölner Erklärung

Lösungshinweise zu den Übungsaufgaben

Ausgewählte Fachzeitschriften

Adressen von ausgewählten Institutionen und Verbänden

Internetadressen zu ausgewählten Syndromen

Bildnachweis

Literatur

Sachregister

Vorwort zur 5. Auflage

Bei der Erstauflage des Buches im Jahr 2000 waren paradigmatische Veränderungen in der Erziehung, Bildung und Rehabilitation von Menschen mit geistigerBehinderung, die sich durch die Einführung der Sozialgesetzbücher verwirklichenließen, nicht absehbar. Sozialrechtliche, behinderungspolitische und ökonomischeVeränderungen in Deutschland zeigen heute ihre Auswirkungen auf das Lebenund die Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung. Sie ermöglichenauf der einen Seite mehr soziale und kulturelle Teilhabe, bedingen andererseitsaber auch neue Formen der Diskriminierung. Angesichts dieser Entwicklungdanke ich dem Verlag für die Möglichkeit der grundlegenden Überarbeitung desBuches im Zuge der vierten Auflage. Für die fünfte Auflage wurde das Buch vorallem im Hinblick auf Literatur und Adressen aktualisiert.

Die Geistigbehindertenpädagogik ist eine relativ junge Disziplin mit einer abwechslungsreichen Geschichte, deren systematische wissenschaftliche Aufarbeitung erst jetzt beginnt. Neu zu erforschen und zu bewerten sind vor allem die nach 1945 entstandenen Entwicklungen in den beiden deutschen Staaten. Es handelt sich hierbei um spezifische Entwicklungen, die die Geistigbehindertenpädagogik von anderen heil- oder sonderpädagogischen Fachrichtungen unterscheidet. Sie sind in das Buch aufgenommen worden.

Das wissenschaftliche Verständnis von Behinderung und damit auch von geistiger Behinderung hat sich verändert. Stärker als zuvor werden die individuellen Lebensbedingungen in das Verständnis von Behinderung einbezogen. Neben den Schädigungen und Beeinträchtigungen spielen die individuellen und sozialen Kontextfaktoren bei der Erfassung des Förder-, Unterstützungs- und Hilfebedarfes eine wichtige Rolle. Die Konsequenzen dieses veränderten Verständnisses von geistiger Behinderung für die Institutionen und Professionen werden seit der vierten Auflage des Buches thematisiert. Dabei steht die Realisation von Bildung in den verschiedenen Lebensphasen und Lebensräumen von Menschen mit geistiger Behinderung im Vordergrund.

Eine weitere Veränderung zwingt zur Auseinandersetzung:

Trotz Aufnahme des Diskriminierungsverbotes in das Grundgesetz und obwohl Integration, Inklusion, Selbstbestimmung und Teilhabe heute zu den Leitprinzipien moderner Behindertenpolitik gehören, sind Tendenzen des Ausschlusses einer spezifischen Gruppe von Menschen mit geistiger Behinderung zu beobachten. Ursachen für diese Exklusion liegen in der Umgestaltung des Sozialstaates infolge ökonomischer Veränderungen in Deutschland. Die Folge ist die Bildung einer neuen ‚Restgruppe‘, der sogenannten Menschen mit Komplexer Behinderung. Die Anerkennung ihrer Bildungsbedarfe wird zur pädagogischen und gesellschaftlichen Aufgabe.

Um zu zeigen, dass die Geistigbehindertenpädagogik nicht nur erzieherische Praxis, sondern auch erziehungswissenschaftliche und bildungstheoretische Disziplin ist, werden im fünften Kapitel ihre aktuellen Denkrichtungen dargestellt.

Vieles hat sich für Menschen mit geistiger Behinderung seit der Erstauflage verändert. Ihre Selbstvertretung und Mitbestimmung wird heute ernst genommen. Durch eine Reihe von Originalaussagen wird die Sichtweise der betroffenen Menschen in die wissenschaftliche Darstellung einbezogen.

Anmerkung: Aus stilistischen Gründen wird auf die konsequente Verwendung beider Geschlechter verzichtet. Es sind aber stets beide gemeint.

Köln, im Januar 2013Barbara Fornefeld

Vorwort zur 1. Auflage

„Ich wünsche mir, dass wir behindertenMenschen nie mehr ausgelacht oderbenachteiligt werden.“

(Bobby Brederlow)

Für seine Hauptrolle im ARD-Vierteiler „Liebe und weitere Katastrophen“ hat Bobby Brederlow 1999 den ersten Medienpreis der Bundesvereinigung für Menschen mit geistiger Behinderung e.V. erhalten. Sein Wunsch verdeutlicht eindrücklich das Spannungsfeld, in dem Menschen mit geistiger Behinderung in unserer Gesellschaft leben. Sie wollen so akzeptiert werden wie sie sind. Sie wollen als normal begriffen werden, weil sie trotz aller Aufklärung heute immer noch auf Ablehnung und Diskriminierung stoßen.

In seiner Schlichtheit weist das einführende Zitat damit auch auf ein zentrales Problem der Geistigbehindertenpädagogik. Menschen wie Herr Brederlow erscheinen auf den ersten Blick anders und doch sind sie wie die anderen, die Menschen ohne Behinderung, mit demselben Anspruch auf Achtung ihrer Menschenwürde und -rechte. Die Geistigbehindertenpädagogik wendet sich ihren individuellen Bedürfnissen zu, mit dem Ziel, ihnen durch angemessene Erziehung, Bildung und Betreuung gerecht zu werden.

Die organischen Schädigungen und deren Folgen prägen die individuelle Lebenssituation von Menschen mit geistiger Behinderung und verlangen nach einer adäquaten Lebensgestaltung und -begleitung. Zur Durchsetzung ihrer Bedürfnisse benötigen Menschen mit geistiger Behinderung meist lebenslang Unterstützung, die in jeder Lebensphase spezifisch zu gestalten ist: In der frühen Kindheit sind andere Erziehungs- und Betreuungsmaßnahmen notwendig als im Jugend-, Erwachsenen- oder gar im Greisenalter. Wieder andere Maßnahmen sind in der Schule und im Bereich von Arbeit, Wohnen oder Freizeit erforderlich.

Vor dem Hintergrund des spezifischen Erziehungs- und Unterstützungsbedarfes hat sich die Geistigbehindertenpädagogik heute zu einem komplexen System pädagogischer, therapeutischer und rehabilitativer Maßnahmen entwickelt, die in unterschiedlichen Institutionen und von verschiedenen Fachkräften durchgeführt werden. Trotz Breite und Unterschieden in den Zugangsweisen verfolgen alle Institutionen und Professionen ein gemeinsames Ziel, nämlich

die Verringerung von Beeinträchtigungen und Benachteiligungen,

die größtmögliche Selbstbestimmung und

die Integration von Menschen mit geistiger Behinderung in die Gesellschaft.

Unterstützt wird dieser Prozess von der wissenschaftlichen Geistigbehindertenpädagogik, die Erziehungstheorien und -methoden entwickelt und durch die Erforschung der Lebenssituation von Menschen mit geistiger Behinderung diese verbessernd zu beeinflussen versucht. Der Geistigbehindertenpädagogik geht es, in der Praxis wie in der Theorie, um die Verwirklichung der individuellen Erziehungs- und Lebensbedürfnisse von Menschen mit Behinderung in einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. Damit verfolgt sie immer auch einen ethischen und gesellschaftspolitischen Auftrag, wie beispielsweise die Durchsetzung und Realisation des Lebens- und Bildungsrechtes der ihr anvertrauten Menschen.

Charakteristikum der aktuellen Geistigbehindertenpädagogik ist ihr Denken und Handeln vom Menschen aus, von seinen spezifischen Bedürfnissen, individuellen Einschränkungen, aber auch von seinen Möglichkeiten aus. Darum sollen in diesem Buch die Menschen mit geistiger Behinderung – ihre Lebensräume, ihre Erziehungs- und Betreuungsbedürfnisse – im Mittelpunkt stehen. Von hier aus werden Ziele und Aufgaben der Geistigbehindertenpädagogik in verschiedenen Institutionen (z. B. Schule, Werkstatt oder Wohnheim) dargestellt. Hierbei sollen Charakteristika des geistigbehindertenpädagogischen Denkens deutlich werden; der Überblick wird aus einem pädagogischen Blickwinkel gegeben.

Den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Seminars für Geistigbehindertenpädagogik in Köln, insbesondere Frau Ilm, Frau Foede und Frau Harwick, danke ich für ihre Unterstützung bei der Literaturrecherche, dem Ehepaar Ullmann und Herrn Gödecke für ihre Mitwirkung bei grafisch-technischen Fragen, Herrn Brederlow, Herrn T. und der Theatergruppe SinnFlut für ihre Zustimmung zum Druck ihrer Fotos. Besonders danken möchte ich Frau Wehler und Frau Landersdorfer vom Ernst Reinhardt Verlag für ihre wohlwollende Unterstützung und die Realisation dieses Buches.

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

Das vorliegende Buch will Studienanfängern der Heil- und Sonderpädagogik, der Rehabilitationswissenschaften sowie interessierten Studierenden verwandter Studienfächer (Pädagogik, Psychologie, Gerontologie, Sozialpädagogik und Sozialarbeit) einen Einblick in die vielfältigen Aufgaben- und Handlungsfelder der Geistigbehindertenpädagogik geben. Es eignet sich für Studierende in Bachelor- und Masterstudiengängen. Nicht die vertiefte Auseinandersetzung mit dem Phänomen der geistigen Behinderung oder mit Einzelaspekten der Geistigbehindertenpädagogik ist intendiert, sondern die Vermittlung eines Überblickes über ein Fach, das sich als ein komplexes Teilgebiet der Pädagogik versteht. Der beabsichtigte Überblickscharakter des Buches macht inhaltliche Raffungen unvermeidbar, will aber gerade hierdurch Studienanfänger zu weiterführender Auseinandersetzung mit Einzelfragen des Faches motivieren. Die formale Gestaltung des Buches soll das Selbststudium erleichtern. Die in den Randspalten gegebenen Hinweise und Piktogramme dienen der schnellen Orientierung. Beispiele veranschaulichen die theoretischen Aussagen. Als Schlüsselbegriffe gekennzeichnete Termini weisen auf die Fachsprache, die im Studium anzueignen ist. Gezielte Fragen am Ende eines Kapitels dienen der Reflexion des Gelesenen. Denkanstöße und spezifische Literaturhinweise sollen zur weiterführenden Vertiefung von Einzelaspekten anregen. Das Glossar am Ende des Buches klärt zentrale Fachbegriffe. Angaben zu weiteren Informationsquellen sind im Anhang aufgeführt.

Definition

Literaturempfehlung, weiterführende Literatur

Beispiel

Denkanstöße

Fachbegriffe der Disziplin

Übungsaufgaben am Ende der Kapitel

1Geistigbehindertenpädagogik – ein komplexes System von Hilfen und Maßnahmen

Der nachfolgende Überblick vermittelt einen ersten Eindruck von der Breite eines Faches, das sich als Praxis, Theorie und Forschung der Erziehung, Bildung und Rehabilitation von Menschen mit geistiger Behinderung versteht. Die Übersicht will die spätere Einordnung der thematisierten Frage- und Aufgabenstellungen in das Gesamtsystem der Geistigbehindertenpädagogik erleichtern. Dazu sollen zunächst einige zentrale Begriffe geklärt werden.

1.1Terminologische Klärung

Die Geistigbehindertenpädagogik ist ein Teilgebiet des größeren Systems der Heiloder Sonderpädagogik, auch Behinderten-, Rehabilitations- oder Spezielle Pädagogik genannt. Obwohl sich alle Begriffe auf das Behindertenerziehungswesenbeziehen und häufig synonym verwendet werden, meinen sie dennoch nicht dasselbe. Darum sollen sie hier kurz charakterisiert und von einander abgegrenzt werden.

Heilpädagogik

Der Begriff der Heilpädagogik wurde im 19. Jahrhundert von den Pädagogen Georgens und Deinhardt eingeführt und bezog sich zunächst auf die Versorgung und Erziehung von Menschen mit geistiger Behinderung („Schwachsinnige“). Die beiden Autoren verstanden die Heilpädagogik als Kritik an der bestehenden Pädagogik; einer Pädagogik, die Kinder und Jugendliche mit Behinderungen nicht berücksichtigte. Aufgrund der schlechten medizinischen Versorgung dieser Menschen und der unzureichenden Erziehung bestimmte die Heilpädagogik ihren Standpunkt anfangs zwischen Allgemeiner Pädagogik und Medizin.

Abb. 1: Terminologische Vielfalt

In der Folgezeit wurde die Heilpädagogik immer wieder neu interpretiert und definiert, was sie zu einem Sammelbegriff unterschiedlichster Bedeutungen machte. Diese begriffliche Uneindeutigkeit führte zu Kritik vor allem seitens anderer behindertenpädagogischer Arbeitsbereiche wie der Sinnesgeschädigten- oder Körperbehindertenpädagogik, die der Heilpädagogik unter anderem ihre starke medizinische Anbindung vorwarfen: Die Heilpädagogik sei nicht eindeutig pädagogisch bestimmt und werde aufgrund ihrer starken Orientierung an der Medizin zu einer Heilbehandlung krankhafter Zustände durch pädagogische Mittel.

Kritik fand auch eine andere, die theologische, eher auf die Vermittlung des Seelenheils ausgerichtete, Interpretation der Heilpädagogik, weil sie diese in den Augen der Kritiker zu einer Heils-Pädagogik machte; einer Pädagogik, deren Erziehungsziel das selbstständige Erstreben des Heils im theologischen Sinne war. Trotz der Beanstandungen hat sich der Begriff der Heilpädagogik bis heute gehalten und dies vor allem in Österreich und der Schweiz. Wenn Speck von „System Heilpädagogik“ (2008) spricht, meint er damit das komplexe Zusammenwirken aller Institutionen und Maßnahmen zur Bildung, Erziehung, Förderung und Betreuung von Menschen mit Behinderung.

Sonderpädagogik

Die inhaltliche Ungenauigkeit des Begriffs der Heilpädagogik einerseits und der intensive Ausbau des Sonderschulwesens andererseits führten dazu, dass in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts der Begriff der Sonderpädagogik favorisiert wurde. Er bezieht sich auf die Theorie, Forschung und Praxis der Erziehung von Menschen mit Behinderung. Die Ausweitung und Differenzierung des Sonderschulwesens in den alten Bundesländern verlangte entsprechende Sonder-Pädagogiken wie z. B. die Sehgeschädigten-, Sprachbehinderten-, Körperbehinderten- oder Geistigbehindertenpädagogik. Die ‚Besonderheit‘ oder ‚Andersartigkeit‘ behinderter Menschen trat stärker in den Vordergrund. Die Sonderpädagogik verstand sich als ‚Besonderung‘ der Allgemeinen Pädagogik. Was zur Folge hatte, dass sich das Gesamtgebiet der Sonderpädagogik auseinander entwickelte und zwar in neun verschiedene Sonderpädagogiken oder sonderpädagogische Fachrichtungen, wovon eine die Geistigbehindertenpädagogik ist. Im Begriff der „Sonderpädagogik“ wurde der Teilinhalt des Separierens dominant. „Der Begriff Sonderpädagogik ist zwar unter dem dominanten Einfluss des Sonderschulsystems der in Deutschland am meisten verbreitete Begriff, wird aber aus diesem Grunde, d. h. wegen seiner unleugbaren Gleichsetzung mit institutioneller Besonderung, am stärksten abgelehnt“ (Speck 2008, 55). Heute findet der Terminus der Sonderpädagogik vordringlich in Bezug auf das differenzierte Sonderschulwesen Anwendung und wird zunehmend durch den Begriff der Förderpädagogik bzw. der Sonderpädagogischen Förderung ersetzt.

Förderpädagogik/Sonderpädagogische Förderung

1994 hat die Ständige Konferenz der Kultusminister (KMK) den Sonderpädagogischen Förderbedarf und den Begriff der Förderung zu neuen Schlüsselkategorien der Pädagogik für Menschen mit Behinderung erhoben, obwohl der Begriff der Förderung kein originär pädagogischer Fachbegriff ist. Ihm wird dennoch „eine übergeordnete Bedeutung quer zu den erziehungswissenschaftlichen Grundbegriffen von Erziehung, Bildung und Unterricht zugeschrieben“ (Schuck 2006, 84). In den KMK-Empfehlungen ist der Förderbedarf als personale Kategorie gedacht, die den individuellen pädagogischen Unterstützungs- und Lernbedarf wiedergibt. Doch im alltäglichen Gebrauch hat er sich zu einer institutionellen und verwaltungstechnischen Kategorie entwickelt. Er ist damit uneindeutig.

Behinderte, Behindertenpädagogik

Der Begriff der Behindertenpädagogik bzw. Pädagogik der Behindertenwurde in den 1970er Jahren in den alten Bundesländern eingeführt. Die Bezeichnung ergibt sich zum einen aus dem Oberbegriff „Behinderung“ für alleSchädigungen und Beeinträchtigungen und zum anderen als Ersatz für das missverständliche Wort „Heilpädagogik“ und das formale und segregierende Wort„Sonderpädagogik“. Der Behindertenpädagogik liegt ein pädagogisches Verständnis von Behinderung zugrunde. Als Behinderte im pädagogischen Sinnegelten für Bleidick „Kinder, Jugendliche und Erwachsene, deren Lernen undsoziale Eingliederung erschwert sind. Gegenstand der Behindertenpädagogiksind somit der besondere Bildungsvorgang und der besondere Erziehungsprozess angesichts der durch Behinderung beeinträchtigten Bildsamkeit und Erziehbarkeit“ (1992b, 69).

Aber auch dieser Begriff ist kritisch zu sehen, weil er die Gefahr der Verabsolutierung von Behinderung, der Zuschreibung des Behinderten-Status, enthält und damit zu Diskriminierung und Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung führt. Heute versucht man stärker das Spezifische ihrer Erziehung im Allgemeinpädagogischen zu entdecken, um so der Besonderung von Menschen mit Behinderung zu begegnen und zur Integration zu gelangen.

Rehabilitationspädagogik

Der Begriff der Rehabilitationspädagogik wurde in der ehemaligen DDR (Becker et al. 1979) in Abhebung von der Heil- und Sonderpädagogik verwendet. Sie versteht sich als Zweig der pädagogischen Wissenschaft, der Theorie und Praxis der sozialistischen Erziehung physisch-psychisch geschädigter Kinder und Erwachsener unter dem Aspekt der Rehabilitation. Unter Rehabilitation verstand man in den sozialistischen Ländern „die zweckgerichtete Tätigkeit eines Kollektivs in medizinischer, pädagogischer, sozialer und ökonomischer Hinsicht zur Erhaltung, Wiederherstellung und Pflege der Fähigkeit geschädigter Menschen, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen“ (Becker et al. 1979, 159). Der Begriff der Rehabilitation findet in den alten Bundesländern seit den 1960er Jahren Anwendung, und zwar vor allem im medizinischen, berufsbildenden, sozialpädagogischen und sozialrechtlichen Bereich. Rehabilitation verbindet heute alle medizinischen, pädagogischen und sozialrechtlichen Maßnahmen, die die soziale Eingliederung oder Wiedereingliederung zum Ziel haben.

BSHG 1961

Ihre erste gesetzliche Grundlegung erfuhr die Rehabilitation 1961 im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) („Eingliederungshilfe für Behinderte“). Heute versteht man unter Rehabilitation „das System und die Gesamtheit der Maßnahmen, die Menschen mit Behinderungen angeboten werden können, um sie beruflich und sozial in die Gemeinschaft einzugliedern. Ziele sind dabei ein Höchstmaß an Lebenstüchtigkeit und Lebensqualität, Teilnahme am Berufs- und Arbeitsleben, Selbstbestimmung und Selbständigkeit im Leben, Wohnen und in der Freizeitgestaltung“ (Stadler 1998, 22).

Neuntes Sozialgesetzbuch (SGB IX)

Das ‚Wie‘ der Rehabilitation wird seit 2001 im Neunten Sozialgesetzbuch (SGB IX) geregelt, während an die Stelle des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) das Zwölfte Sozialgesetzbuch (SGB XII) trat. Unzureichend bleibt der Begriff der Rehabilitation im Kontext schulischer Erziehung, weil Förderung und Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen eine erstmalige Befähigung, also „Habilitation“ und nicht „Rehabilitation“ ist.

Neben den zuvor genannten findet eine Reihe anderer Begriffe Anwendung. So spricht man beispielsweise in den osteuropäischen Ländern von Spezialpädagogik, Sonderpsychopädagogik oder Defektologie, in den anglo-amerikanischen Ländern von Special Education oder in den Benelux-Staaten von Orthopädagogik; Bezeichnungen, die zwar Ähnliches intendieren, die aber wegen der jeweiligen Landesspezifika nicht als Synonyme zur deutschen Terminologie gelten.

Integrationspädagogik

Gegen diese Oberbegriffe wendet sich die Integrationspädagogik. Ihre Vertreter fordern die Überwindung einer besonderen Pädagogik und fordern für alle Kinder und Jugendlichen einen gemeinsamen Lernort. Eine Integrationspädagogik vertritt eine neue Sichtweise von Erziehung an sich (vgl. Eberwein 1999), die alle unabhängig von Behinderung einschließt. „Die Integrationspädagogik beinhaltet vor allem gesellschaftspolitische Implikationen mit programmatischem Charakter, nämlich die Nichtaussonderung von Behinderten als sozial- und schulpolitisches Ziel“ (Speck 2008, 56f).

Die Begriffsvielfalt ist also groß und verlangt eine Eingrenzung. Obwohl jeder der hier genannten Bezeichnungen eine gewisse Unzulänglichkeit anhaftet, werde ich, vor allem der besseren Lesbarkeit wegen, den Begriff der Heilpädagogik verwenden. In seiner heutigen Interpretation ist er pädagogisch bestimmt, ohne die notwendigen (sonder)schulischen und rehabilitativen Maßnahmen auszuschließen.

„Unter Heilpädagogik wird der Theorie- und Praxisbereich verstanden, der sich auf die Erziehung, Unterrichtung und Therapie von Menschen bezieht, die wegen individueller und sozialer Lern- und Entwicklungshindernisse einer besonderen Unterstützung und Hilfe bedürfen, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können“ (Speck 2006, 92).

Die Heilpädagogik ist eine „spezialisierte Pädagogik, die von einer Bedrohung durch personale und soziale Desintegration ausgeht“ (Speck 2008, 56). Sie stellt dem Menschen mit Behinderung pädagogische Mittel zum Erwerb von Kompetenzen, zur Selbstverwirklichung wie zum Erlangen sozialer und kultureller Teilhabe zur Verfügung.

Ziel der Heilpädagogik

Ziel der Heilpädagogik ist es, den Menschen mit Behinderung als Person in seiner spezifischen Lebenssituation zu erfassen, um ihm vor diesem Hintergrund zu größtmöglicher Selbstverwirklichung in der Gemeinschaft mit anderen zu verhelfen. Die Heilpädagogik befasst sich mit den Belangen von Menschen, die sich in ihren Benachteiligungen, Beeinträchtigungen und Behinderungen stark von einander unterscheiden. Sie umfasst somit eine Disziplin, die sich in unterschiedliche Fachrichtungen gliedert und die sich ihrerseits auf spezifische Behinderungsformen beziehen:

geistige Behinderung

Körperbehinderung

Lernbehinderung

Sprachbehinderung

Hörschädigung (Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit)

Sehschädigung (Sehbehinderung und Blindheit)

Taubblindheit

Autismus-Spektrum-Störungen

Schwerste Behinderung (Mehrfachbehinderung)

Krankheit (Unterricht bei langer Krankheit)

Straffälligkeit (Strafvollzugspädagogik)

Verhaltensstörungen

Jüngstes Teilgebiet der Heilpädagogik ist die so genannte Schwerstbehindertenpädagogik. Sie widmet sich der Erziehung von Menschen, deren Leben durch eine schwere geistige und körperliche Behinderung sowie durch gravierende Wahrnehmungsbeeinträchtigungen geprägt ist. Aufgrund der Häufung von Beeinträchtigungen muss die Schwerstbehindertenpädagogik verschiedene Behinderungsformen gleichzeitig in den Blick nehmen und bewegt sich darum zwischen verschiedenen heilpädagogischen Fachrichtungen. Infolge aktueller sozialpolitischer Veränderungen, die zu einem Abbau sozialstaatlicher Verantwortung führen, entsteht innerhalb der Population der Menschen mit geistiger Behinderung eine Randgruppe, die ‚Menschen mit Komplexer Behinderung‘ (Fornefeld 2008). Die Gruppe der Menschen mit Komplexer Behinderung geht, wie in Kapitel 3.6 noch gezeigt wird, über die der Menschen mit schwerer Behinderung hinaus. Eine Pädagogik für Menschen mit Komplexer Behinderung muss Erkenntnisse aus verschiedenen Fachrichtungen berücksichtigen, darum wird sie in der nachfolgenden Graphik ins Zentrum gerückt.

Die verschiedenen Fachdisziplinen machen die Heilpädagogik zu einem vielschichtigen System von Maßnahmen. Auf der wissenschaftlichen Ebene verbindet die so genannte Allgemeine Heilpädagogik die Fachrichtungen miteinander, die zusammenwirken müssen, um den verschiedenen Beeinträchtigungen von Menschen mit Komplexer Behinderung gerecht zu werden.

Abb. 2: Teilbereiche der Allgemeinen Heilpädagogik

Allgemeine Heilpädagogik als Wissenschaft

Sie erforscht die eigene Geschichte und theoretischen Grundannahmen, ebenso die der Fachrichtungen. Sie setzt sich mit der internationalen Heilpädagogik, der so genannten ‚Vergleichenden Sonderpädagogik‘ auseinander und beteiligt sich an aktuellen ethischen Fragen, wie dem Lebens- und Bildungsrecht von Menschen mit Behinderungen. Ihre praxis- wie theoriebezogenen Aufgaben thematisiert die Allgemeine Heilpädagogik heute stärker im integrativen und interdisziplinären Kontext, wodurch es zu einer deutlichen Annäherung an die Allgemeine Pädagogik und die Bezugswissenschaften (Medizin, Soziologie, Philosophie, Psychologie, Rechtswissenschaften) kommt.

Bleidick, U. (1999): Bausteine einer Theoriebildung der Behindertenpädagogik. In: Bleidick, U.: Behinderung als pädagogische Aufgabe. Behinderungsbegriff und behindertenpädagogische Theorie. Stuttgart, 91–116

Gröschke, D. (1989): Heilpädagogik? – Heilpädagogik! Plädoyer für einen Begriff. In: Gröschke, D.: Praxiskonzepte der Heilpädagogik. München/Basel, 15–32

Haeberlin, U. (1996): Heilpädagogik als parteinehmende Pädagogik. In: Haeberlin, U.: Heilpädagogik als wertgeleitete Wissenschaft. Bern, 13–68

Lindmeier, Ch. (1997): Heilpädagogik als konstitutives Moment jeglicher Pädagogik. Pädagogische Rundschau 51. Jg., 3, 289–306

Speck, O. (2008): Die historische Entwicklung heilpädagogischer Theoriebildung. In: Speck, O.: System Heilpädagogik. Eine ökologisch reflexive Grundlegung. 6. Aufl. München/Basel, 44–60

1.2Geistigbehindertenpädagogik – eine Pädagogik mit vielfältigen Aufgaben

Als eine der heilpädagogischen Fachrichtungen versteht sich die Geistigbehindertenpädagogik vordringlich als Pädagogik.

Pädagogik

Pädagogik meint sowohl das konkrete Zusammensein von Pädagogen mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen als auch das Nachdenken über dieses Zusammensein sowie über die notwendige inhaltliche und methodische Gestaltung eben dieses Zusammenseins. Das heißt, der Begriff der Pädagogik umschließt Praxis und Theorie von Erziehung und Bildung, bezieht sich auf beides und betrachtet beides in Wechselwirkung zueinander. In diesem Grundverständnis unterscheidet sich die Geistigbehindertenpädagogik nicht von der Allgemeinen Pädagogik.

Geistigbehindertenpädagogik

Der Geistigbehindertenpädagogik geht es zum einen um das konkrete Leben von Menschen mit geistiger Behinderung und um das Zusammenleben mit ihnen. Zum andern geht es ihr um das Nachdenken darüber, wie dieses Leben zu gestalten und durch Erziehung und Bildung zu entfalten ist. Indem sie das Leben dieser Menschen erforscht und pädagogische Konzepte entwirft, ist sie auch Erziehungs- und Bildungswissenschaft (Kap. 5).

Worin sie sich allerdings von der Allgemeinen Pädagogik unterscheidet, sind die Kernthemen (Paradigma Kap. 5) und die Breite ihrer Frage- und Aufgabenstellungen sowie die Notwendigkeit, Erkenntnisse aus anderen Wissenschaftsbereichen, vor allem den Neurowissenschaften, der Medizin, Soziologie und Psychologie stärker in ihr pädagogisches Denken zu integrieren. Die Geistigbehindertenpädagogik hinterfragt aktuelle Bildungstheorien, pädagogische Konzepte und Methoden in Bezug auf ihre Relevanz für Menschen mit Behinderungen, zeigt Unzulänglichkeiten auf und entwickelt neue Zugänge, die die individuellen Beeinträchtigungen und Möglichkeiten stärker berücksichtigen. Darum kommen im Erziehungsalltag von Menschen mit geistiger Behinderung, stärker als in anderen pädagogischen Feldern, unterschiedliche pädagogische, aber auch therapeutische Konzepte und Methoden zum Tragen. Bei all diesen Entwürfen bildet immer der Mensch mit seinen spezifischen Bedürfnissen den Ausgangspunkt der Konzeptentwicklung.

Pädagogik vom Menschen aus

Wie einleitend bereits erwähnt, zeichnet sich die Geistigbehindertenpädagogik also dadurch aus, dass sie ihre Erziehungstheorien und -praktiken vom Menschen aus entwickelt, also eine ‚Wissenschaft vom Menschen aus‘ ist.

Die Geistigbehindertenpädagogik vertritt eine Form von Bildung und Erziehung, die dem Lebensalter und den Fähigkeiten der zu Erziehenden angepasst ist und die darum in konzeptioneller wie didaktischer Hinsicht subjektorientiertist. Zudem verbindet sie medizinische und psychotherapeutische sowie sozialrehabilitative Erkenntnisse und Praktiken in ihren Konzeptentwicklungen miteinander. Sie schafft adäquate Lebens-, Erziehungs- und Arbeitsräume für Menschen mit geistiger Behinderung (Kap. 4) und bildet das darin tätige Fachpersonal aus. Im schulischen Bereich kooperiert die Geistigbehindertenpädagogik mit der Integrationspädagogik. Selbstbestimmung und soziale Teilhabe sind ebenso Ziele der pädagogischen und rehabilitativen Maßnahmen für Erwachsene in verschiedenen Lebensbereichen (Arbeit, Wohnen, Erwachsenenbildung, Freizeit).

Die Geistigbehindertenpädagogik muss sich den neuen gesellschaftlich-ökonomischen Veränderungen stellen, weil hierdurch nämlich das gesamte Versorgungssystem für Menschen mit Behinderung unter Druck gerät. Es besteht die Gefahr, dass Menschen mit gravierenden Beeinträchtigungen unter wirtschaftlichen Erwägungen schlechter versorgt oder gar ausgeschlossen werden (vgl. Dederich 2008). Zudem muss die Geistigbehindertenpädagogik die Auswirkungen der modernen Humangenetik, von Hirnforschung und Biotechnologie im Auge behalten und sich zu Wort melden, wenn Würde und Rechte von Menschen mit geistiger Behinderung hierdurch verletzt werden. Da die Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung dank des medizinischen Fortschritts inzwischen derer nicht behinderter Menschen entspricht, entstehen mit der Altersforschung (Gerontologie) und Behindertenpflege neue Forschungs- und Handlungsbereiche (Kap. 3.6).

Das Aufgabenspektrum der Geistigbehindertenpädagogik ist vielfältig und geht weit über das ausschließlich Pädagogische hinaus. Als heilpädagogische Fachrichtung hat sie alle Problem- und Lebensbereiche von Menschen mit geistiger Behinderung – von der Geburt bis zum Tode – zu berücksichtigen:

Humangenetische Beratung / Pränatale Diagnostik

Berufsvorbereitung / Arbeit

Hilfen zur Freizeitgestaltung

Weiter- und Erwachsenenbildung

Wohnen in unterschiedlichen Institutionen

Behindertenpflege / Assistenz im Alter

Schulische Erziehung und Bildung

Psychologische Hilfen

Soziale Hilfen / Hilfen zur Eingliederung

Juristische Hilfen (Behindertenrecht)

Medizinische Therapien und Versorgung

Frühdiagnose und -therapie

Und dies geschieht, weil die geistige Behinderung keine Krankheit ist, die irgendwann geheilt werden kann, sondern weil Geistigbehindert-Sein ein lebenslanger Prozess ist.

Geistigbehindert-Sein als lebenslanger Prozess

Die geistige Behinderung kann durch eine organische Schädigung vor, während oder nach der Geburt verursacht werden und führt in der Regel zu einer lebenslangen Beeinträchtigung. Behinderung kann aber auch durch gravierende Benachteiligung entstehen. Bei der geistigen Behinderung handelt es sich, wie später in Kapitel 3.3 noch genauer gezeigt wird, nicht um ein einheitliches Krankheitsbild. Die Schädigungen wie auch die sich hieraus ergebenden Beeinträchtigungen für das Leben des geschädigten Menschen sind vielfältig und bedürfen in jeder Lebensphase besonderer pädagogischer Zuwendung; diese ist im Säuglings- und Kleinkindalter eine andere als im Schul- und Jugendlichenalter und wiederum eine andere bei jüngeren Erwachsenen oder bei alten Menschen. Die Geistigbehindertenpädagogik thematisiert alle Lebensbereiche und hat damit in allen Lebensräumen von Menschen mit Behinderung ihre spezifischen Aufgaben.

Abb. 3: Institutionen der Erziehung und Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung

Die Lebensräume reichen von der Familie über Kliniken, Frühfördereinrichtungen (Spezielle Frühförderzentren, Kinder- und Sonderkindergärten), Sonderschulen und integrative Schulen, Werkstätten für behinderte Menschen, Freizeiteinrichtungen, Rehabilitationszentren, psychiatrische Institutionen bis zu ambulanten, gemeindeintegrierten oder stationären Wohneinrichtungen, Paarwohnen und Leben in Alten- oder Pflegeheimen.

Trotz ihrer zwangsläufig unterschiedlichen Zielsetzung dienen die Institutionen dazu, den Menschen mit geistiger Behinderung bei der Erfüllung ihrer Bedürfnisse nach Spielen, Lernen, Arbeiten, nach Freizeit, Ferien und Urlaub, nach Freunden, Liebe und Sexualität, nach Hilfe, Fürsorge und Schutz oder nach Angenommen- und Akzeptiert-Sein behilflich zu sein.

Geistigbehindertenpädagogik als ‚Pädagogik vom Menschen aus‘ heißt also Akzeptieren des Menschen mit Behinderung als Menschen, Erkennen seiner individuellen Einschränkungen und Möglichkeiten und größtmögliche Entfaltung seiner Fähigkeiten durch adäquate Bildung, Erziehung und Rehabilitation (Kap. 3 und Kapitel 4). Eine zentrale Aufgabe der Geistigbehindertenpädagogik ist es demzufolge, die Wünsche und Bedürfnisse von Menschen mit geistiger Behinderung im Sinne der Assistenz in der Gesellschaft zu vertreten. Dies gestaltet sich aber immer noch schwierig, weil Schädigungen und Beeinträchtigungen den behinderten Menschen als ‚anders‘ erscheinen lassen und die Gesellschaft wiederum auf Anderssein, auf Abweichungen von der Norm mit Abwertung und Diskriminierung reagiert.

Grundgesetz

Und sie tut dies trotz des gesetzlich verankerten Benachteiligungsverbotes. In Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland heißt es ausdrücklich: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Ein Gleichheitsgebot bzw. die Wahrung der Menschenrechte wurde international bereits 1948 durch die Vereinten Nationen in der „Universal Declaration of Human Rights“ festgelegt, die die Gleichheit aller Menschen (Artikel 1 und 2) und das Recht auf Bildung (Artikel 26/1 und 2) betont. „Seit den 50er Jahren haben sich in wirtschaftlich entwickelten Ländern, vorab auch denjenigen Europas, einige Grundauffassungen und Konzepte bezüglich Behinderung und Behindertenförderung entscheidend verändert. Dazu gehören das Recht behinderter Menschen auf Bildung und Chancengleichheit, das Verständnis von Behinderung, die Prinzipien der Kontinuität und der Flexibilität, der Normalisierung und der Integration“ (Bürli 1997, 48).

WHO, UN

Es waren vor allem die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) und die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization, UNESCO) die sich für die Belange behinderter Menschen eingesetzt haben. Auf ihren weltweiten Kongressen und Tagungen vertritt die Internationale Liga von Vereinigungen zugunsten geistig behinderter Menschen (International League of Societies for the Mentally Handicapped, ILSMH) deren Interesse und setzt sich für ihre Rechte ein. Die WHO hat 1980 auf die notwendige Differenzierung von Schädigung (impairment), Beeinträchtigung (disability) und Behinderung (handicap) aufmerksam gemacht, worauf ich in Kapitel 3.2 noch genauer eingehen werde. Zu den Aufgaben der UNESCO gehört neben der Durchsetzung der Menschenrechte auch die Förderung der internationalen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Erziehung, Wissenschaft und Information sowie die Erschließung von Bildung und Kultur für alle Menschen. Seit Mitte der 1980er Jahre wendete sie sich behindertenpädagogischen Belangen zu. Sie hat Ende der 1980er Jahre eine Erhebung zur weltweiten Situation der Sonderpädagogik und eine internationale Umfrage zur behindertenpädagogischen Gesetzgebung in Auftrag gegeben,die 1994 auf ihrem Weltkongress in Salamanca vorgestellt wurde. Wichtige Impulse, vor allem für die schulische Integration, gingen von diesem Kongress aus.

Mit Bürli lassen sich die internationalen Entwicklungen der vergangenen 30 Jahre folgendermaßen zusammenfassen:

„In den 70er Jahren wurde das Behinderungskonzept durch die Umfelddimension erweitert. Durch die Forderung nach Einbezug der Umwelt wurde die Behindertenfrage zu einer politisch-gesellschaftlichen Aufgabe. Dies fand u.a. seinen Niederschlag im Jahr des Behinderten (1981) mit dem anschließenden weltweiten UN-Aktionsprogramm (1983), in der Dekade des Behinderten (1983–1992) und vor kurzem in der UN-Deklaration der Standardregeln über Chancengleichheit behinderter Personen (1993). Erstmals wurde Behindertenpolitik in drei Bereiche, nämlich Prävention, Rehabilitation und Chancengleichheit unterteilt und mit der Menschenrechtsfrage in Verbindung gebracht … Im Anschluss an die verschiedenen Deklarationen und Aktionen zugunsten behinderter Menschen haben zahlreiche Staaten Gesetze und Richtlinien erlassen“ (1997, 48f).

Im Mai 2007 haben die Vereinten Nationen (UN) in New York die „Konvention zum Schutz der Rechte behinderter Menschen“ verabschiedet. Sie setzt sich für eine stärkere Integration von Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen ein. Die Unterzeichnerstaaten, zu denen seit Dezember 2008 auch Deutschland gehört, verpflichten sich, die Vorgaben der Konvention in nationales Recht umzusetzen (Kap. 2.6).

1.3Brückenfunktion der Geistigbehindertenpädagogik

Subjekt der Pädagogik ist der zu erziehende Mensch. Subjekt der Geistigbehindertenpädagogik ist der Mensch mit geistiger Behinderung. Seine Funktionsstörungen haben Auswirkungen auf seine Entwicklung, auf sein ganzes Leben. Der Schweregrad der Auswirkungen bzw. Beeinträchtigungen ist bei jedem Menschen anders. Zum einen gibt es unterschiedliche Formen von Funktionsstörungen, zum anderen reagieren der Mensch und sein Umfeld, z.B. seine Familie, individuell verschieden auf die Störungen. Das heißt, der Mensch mit geistiger Behinderung muss immer auch aus dem Kontext seiner sozialen Umgebung heraus betrachtet werden.

Gegenstand von Pädagogik ist also nicht nur der zu erziehende Mensch, sondern ebenso die Gesellschaft mit ihren Erwartungen an ihn. Die Gesellschaft legt Normen und Werte, z. B. Gesundheit, Produktivität, Leistungsfähigkeit, Interaktionsfähigkeit, Teilhabe und Mitgestaltung des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens und vieles mehr fest. Dies sind Werte, die das familiäre wie das außer-der Geistigbehinfamiliäre Zusammenleben in all seinen Bereichen prägen. Die Pädagogik ist mit dertenpädagogikihren Erziehungs- und Bildungszielen daran interessiert, dass diese Normen und Werte vermittelt werden.

Abb. 4: Brückenfunktion der Geistigbehindertenpädagogik

Es ist unbestritten, dass die Gruppe der Menschen mit geistiger Behinderung eine gesellschaftliche Randgruppe ist. Zwischen Menschen mit geistiger Behinderung und nichtbehinderten Menschen besteht eine Kluft, die überwunden werden muss.

Die Hauptaufgabe der Geistigbehindertenpädagogik ist es nun, zwischen dem Individuum, dem behinderten Menschen mit all seinen Schwierigkeiten und Fähigkeiten auf der einen Seite und den gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderungen auf der anderen Seite zu vermitteln. Die Geistigbehindertenpädagogik nimmt also eine Brückenfunktion ein. Sie will verbinden, Gräben überwinden, den Anschluss halten, den gegenseitigen Austausch sicherstellen und damit gemeinsame Entwicklungen gewährleisten. Sie strebt die Inklusion an. Die Brücke wird von der interdisziplinären Behindertenhilfe gestützt. Gleichzeitig wird die allgemeine Betreuung und Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung von der Geistigbehindertenpädagogik beeinflusst (siehe Abb. 4).

1.4Interdisziplinarität

Um Antworten auf die Fülle der behindertenrelevanten Fragen geben zu können und Lösungen für individuelle Probleme zu finden, ist die Geistigbehindertenpädagogik auf den Dialog mit anderen Wissenschaften angewiesen.

Abb. 5: Geistigbehindertenpädagogik im Dialog mit anderen Wissenschaften

Medizin

Die Medizin mit ihren verschiedenen Teilgebieten (Pädiatrie, Neurologie, Neurophysiologie, Orthopädie, Psychiatrie u.a. ), Institutionen und Fachkräften gibt Antworten auf behindertenspezifische medizinische Fragen, z.B. Ursachen von Hirnschädigungen und ihre Folgen. Sie ist des Weiteren verantwortlich für die Diagnose von Behinderungen und deren Therapie, die Verordnung von Medikamenten und Hilfsmitteln, von erforderlicher Physio- oder Psychotherapie. Sie erforscht neue Krankheitsbilder, die zu geistiger Behinderung führen, und entwickelt notwendige Behandlungsmethoden.

Psychologie

Die Psychologie erklärt innerpsychische und zwischenmenschliche Prozesse. Sie fragt nach Wahrnehmung, Denken und Handeln des Menschen, nach seinen Emotionen und Stimmungen, und diagnostiziert Störungen in diesen Bereichen. So thematisiert sie den Zusammenhang von geistiger Behinderung und psychischen Erkrankungen, entwickelt Therapien, z.B. zur Behebung von Lern- und Entwicklungsstörungen, oder beschäftigt sich mit der Rolle der Eltern und der professionellen Helfer und vieles andere mehr.

Soziologie

In der Soziologie steht der wechselseitige Zusammenhang von geistiger Behinderung und Gesellschaft im Vordergrund, vor allem die gesellschaftliche Einstellung zu Menschen mit geistiger Behinderung. Behinderungsrelevante Themen der Soziologie sind z. B. Integration, das Problem der Stigmatisierung, der Institutionalisierung, gesellschaftliche Rollen und Veränderungsprozesse u.a. m.

Philosophie

Die Philosophie betrachtet die Bedeutung des Behindert-Seins unter ethischen Aspekten. Sie stellt in diesem Zusammenhang existenzielle Fragen wie etwa nach dem Sinn und Wert des Lebens. Sie erörtert moralische Fragen von Erziehung und beteiligt sich an der anthropologischen Grundlegung der Allgemeinen Pädagogik, der Sonder- und Integrationspädagogik. Zudem liefert die Philosophie erkenntnistheoretische Grundlagen zur Begründung der Geistigbehindertenpädagogik als Wissenschaft.

Rechtswissenschaften

Die Rechtswissenschaften befassen sich mit der gesetzlichen und rechtlichen Situation der Menschen mit geistiger Behinderung, d.h. vor allem mit Gesetzen, Rechten, Pflichten und Regeln zum Schutz und zur Fürsorge für Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft. Dazu gehören auch Fragen der gesetzlichen Betreuung.

Neurowissenschaften

Neurowissenschaftliche Erkenntnisse sind für die Geistigbehindertenpädagogik insofern von Bedeutung, als sie zu klären versuchen, wie sich bei Kindern neue Denk- und Interaktionsstrukturen entwickeln (Zimpel 2008). Neurobiologische Forschungsbefunde werden heute genutzt, um sie auf Lehr- und Lernprozesse im Sinne einer Neurodidaktik zu übertragen (Münch 2008).

Allgemeine Pädagogik

Die Allgemeine Pädagogik ist eng mit der Geistigbehindertenpädagogik verknüpft, weil beide zum Bereich der Erziehungs- und Bildungswissenschaft gehören. Ihre Theorien und Konzeptentwürfe sind nicht nur in der Integrationsdiskussion von Bedeutung. Nach einer Zeit der Abgrenzung voneinander ist seit den 1990er Jahren eine starke Annäherung und eine Rückbesinnung auf gemeinsame Wurzeln zu beobachten. Weil Menschen mit geistiger Behinderung allgemeine Erziehungs- und Bildungsnormen nicht erfüllen können, verwirklicht die Geistigbehindertenpädagogik mit ihren Konzeptentwicklungen eine basale Form von Erziehung. Durch ihr stärkeres Hinterfragen gebräuchlicher oder vertrauter Erziehungsmethoden und durch ihre Elementarisierung von Lehr- und Lernprozessen stellt sie die Pädagogik gleichsam auf ein breiteres Fundament. Das heißt, sie gibt den anderen heilpädagogischen Fachrichtungen und der Allgemeinen Pädagogik wichtige Anregungen für eine individualisierte und differenzierte Erziehung.

Zusammenfassung

Der Dialog der Geistigbehindertenpädagogik mit den Nachbarwissenschaften ist in mehrfacher Weise wirkungsvoll. Zum einen entwickeln sich gemeinsame interdisziplinäre Handlungsfelder wie z. B. in der Frühförderung oder auch im Bereich sozialer Integration von Arbeit und Freizeit; Handlungsfelder, in denen MitarbeiterInnen aus unterschiedlichen Bereichen miteinander arbeiten, z. B. Mediziner, Psychologen, Heilpädagogen, Therapeuten und So zialarbeiter.

Zum anderen bewirkt der interdisziplinäre Dialog auch den notwendigen Wissenstransfer, der heutzutage notwendig ist, um Menschen mit geistiger Behinderung ein Leben lang adäquat zu begleiten. Das heißt, die Geistigbehindertenpädagogik greift bei ihrer Konzept- und Theoriebildung auf Forschungsergebnisse und Erkenntnisse anderer Wissenschaftsbereiche, vornehmlich aus der Medizin, den Neurowissenschaften, der Psychologie, Soziologie und Philosophie zurück und verbindet sie mit pädagogischem Denken. Der interdisziplinäre Dialog mit der Geistigbehindertenpädagogik ist aber auch für die Bezugswissenschaften von Bedeutung, wenn sie Fragen von Behinderung klären wollen.

1.Wie unterscheiden sich die Begriffe Heil-, Sonder-, Förder- Behinderten- und Rehabilitationspädagogik voneinander?

2.Was zählt zu den Aufgaben der Heilpädagogik?

3.Welche Stellung nimmt die Geistigbehindertenpädagogik innerhalb der Heilpädagogik ein?

4.Wie würden Sie die Situation von Menschen mit geistiger Behinderung in unserer Gesellschaft beurteilen? Geben Sie Ihre Antwort auch vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Erfahrungen und Einstellungen zu diesem Thema.

5.Fassen Sie noch einmal zusammen, von wo aus das geistigbehindertenpädagogische Denken seinen Ursprung nimmt, welche Aufgabenfelder das Fach umschließt und mit welchen Wissenschaften es im Dialog steht.

2Historische Wurzeln der Geistigbehindertenpädagogik

Um die Zuwendung zu Menschen mit geistiger Behinderung, die Konzepte und Methoden ihrer Erziehung in ihrem Gewordensein besser verstehen zu können, ist es sinnvoll, auf das Leben und die Betreuung dieser Menschen vor unserer Zeit zurückzuschauen. Frühere Einstellungen und Sichtweisen, die Art ihrer sozialen Akzeptanz bleiben bis heute prägend für das Verständnis von geistiger Behinderung. Die Auffassung von Behinderung bestimmt letztlich die Maßnahmen, d.h. die Weise der Behandlung, der Betreuung oder der Erziehung. Erfahrungen früherer Generationen im Umgang mit behinderten Menschen zeigen also heute noch ihre Wirkung und sind für die Standortbestimmung der aktuellen Geistigbehindertenpädagogik von informativem Wert.

Historische Quellen über Menschen mit geistiger Behinderung lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. Die Art der Behandlung – ob diese Menschen nun Pflege und Versorgung erhielten oder im Gegenteil umgebracht wurden – war im Verlauf der Jahrhunderte bestimmt vom jeweiligen menschenachtenden oder -verachtenden Zeitgeist, von sozioökonomischen und gesellschaftspolitischen Bedingungen, von staatlichen Machtstrukturen, von Staats- und Gesellschaftsideologien, die wiederum stark von theologischen Ethiken geprägt waren. Die Motive der Hinwendung reichten von gottesähnlicher Verehrung der Behinderten im Altertum, über exorzistische Vernichtung im mythischen Mittelalter, über pseudo-karitative Mildtätigkeit bis hin zu systematischer Pflege aus christlicher Nächstenliebe in den aufkeimenden Anstalten des 19. Jahrhunderts. Die fürsorgerische und pädagogische Hinwendung zu Menschen mit geistiger Behinderung hat sich im Verlauf der Geschichte stark verändert:

„Die Erziehung von Kindern mit geistiger Behinderung ist – historisch gesehen – ein junges Gebiet. Es ist bewundernswert, welche Höhe sie im 19. Jahrhundert in einigen Anstalten erreichte. Es ruft Entsetzen hervor, daß im 20. Jahrhundert eine sturzflutartige Abwärtsbewegung begann, die mit der Ermordung von etwa 80.000 geistig behinderten und psychisch kranken Menschen während des Krieges endete“ (Möckel et al. 1997, 10).

Der nachfolgende Rückblick beleuchtet schlaglichtartig wesentliche Aspekte dieses Wandlungsprozesses und zeigt begünstigende wie hemmende Bedingungen der Entwicklung einer speziellen Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung auf.

Eine systematisch aufgearbeitete „Geschichte der Erziehung von Menschen mit geistiger Behinderung“ gibt es nicht. Zwar hatte Max Krimsee (1877–1946), Lehrer und späterer Leiter der Anstaltsschule am Kalmenhof in Idstein/Taunus, in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts mit der historischen Aufarbeitung begonnen, doch seine Arbeiten sind Stückwerk geblieben. Er hinterließ eine Sammlung von heilpädagogischen Originaltexten aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die nach dem Zweiten Weltkrieg, bezogen auf die Gruppe der Menschen mit geistiger Behinderung, analysiert wurden. Die Realisation des Vorhabens erwies sich aber als schwierig, weil verschiedene Termini zur Kennzeichnung der geistig Schwachen verwendet worden sind, „so daß es nicht möglich ist, stets genau auszumachen, ob auch wirklich dieser Personenkreis gemeint ist, der heute als geistig behindert bezeichnet wird“ (Speck 1979, 57).

Seit den 1970er Jahren erschien eine Reihe von Monographien. Sie thematisieren entweder die Geschichte einzelner Anstalten, wie z.B. die des Wittekindshofs bei Bad Oeynhausen (Klevingshaus 1970) oder die Geschichte der Erziehungs- und Pflegeanstalt für Geistesschwache Mosbach/Schwarzacher Hof (Scheuing 1997) oder sie widmen sich den Werken einzelner früher Heilpädagogen (z.B. Selbmann 1982 zu dem Werk von Jan Daniel Georgens). Beispiele für die Beschäftigung mit einzelnen Epochen sind u.a. die Untersuchung der Zeit vor der Aufklärung (Bachmann 1985) oder die „Erforschung und Therapie der Oligrophrenie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ (Meyer 1973).

Als Untersuchungen im Sinne historischer Überblicke sind zu nennen: Meyer (1973), Speck (1979, 1999), Höhn (1982), Schröder (1983), Möckel (1984, 1988, 2007), Mühl (1991) oder Merkens (1988), Hahn 2008 u. v. a. m. Beachtenswert und zum vertiefenden Selbststudium zu empfehlen sind die jüngst erschienenen beiden Quellenbände des Herausgeberteams Möckel, Adam und Adam (1997 und 1999), Lindmeier, Lindmeier (2002). Hierin sind die wichtigsten heilpädagogischen Quellen (Texte) aus der Zeit der Anstaltsgründungen im 19. Jahrhundert bis heute zusammengetragen und in Bezug zueinander gestellt. Schriften der Klassiker wie Itard, Séguin, Guggenbühl, Rösch, Saegert, Georgens und Deinhardt, aber auch von Gegnern der Erziehung geistig behinderter Kinder während der Zeit des Nationalsozialismus wie z.B. Binding und Hoche sind hier zu finden.

Zusammenfassung

Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung auf Einzelinitiativen von Philanthropen, i. d. R. an pädagogischen Fragen interessierten Ärzten und Theologen, später auch Pädagogen zurückgeht. Sie haben durch ihr soziales Engagement gezeigt, dass sich der Zustand so genannter ‚schwachsinniger‘ Kinder durch erzieherische Maßnahmen verbesserte. Die staatliche Unterstützung in finanzieller wie juristischer Hinsicht, d. h. das Recht auf Versorgung und Erziehung sowie die Errichtung von Anstalten und Schulen, war erst ein zweiter und schwer durchsetzbarer Schritt, der bezogen auf den Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung erst im 19. Jahrhundert begann. Über die Zeit davor gibt es keine systematische Aufarbeitung, dennoch lassen sich im Sinne historischer Orientierungsdaten einige Aussagen zum Leben der Menschen mit geistiger Behinderung machen. „Die Geschichte dieser Menschen war über Jahrhunderte hinweg die Geschichte ihrer Verfolgung und Mißachtung“ (Speck 1997, 13).

2.1Das Leben von Menschen mit geistiger Behinderung von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert

Es ist anzunehmen, dass in den „Anfängen der Menschheitsgeschichte wenig Rücksicht auf gebrechliche, kranke, auch geschädigte Gruppen- oder Stammesmitglieder genommen werden konnte, wollte man das Überleben sichern“ (Mühl 1991, 9). Erst mit dem Sesshaftwerden in der jüngeren Stein- und Bronzezeit wurde eine grundsätzliche Betreuung geschädigter Mitmenschen möglich. Ob diese aber auch wirklich erfolgte, „hing auch von den magischen, mythologischen und normativen Vorstellungen der jeweiligen Gruppe oder Gesellschaft ab“ (9). Unter den Menschen mit Behinderungen nahmen die mit einer geistigen Behinderung, die sog. Schwachsinnigen oder Idioten, eine Sonderstellung ein, weil angenommen wurde, dass sie unter Einfluss von Dämonen oder Geistern stünden. Man konnte sich das Anderssein dieser Menschen nicht erklären, zu „naturwidrig war ihr Bild“ (Speck 1999, 11).

Verstoßen und getötet

Während blinde oder leicht körperlich beeinträchtigte Menschen wegen ihrer Intelligenz bzw. ihres Vermögens zu sprechen in alten Hochkulturen (Sumerer, Babylonier oder Ägypter) Achtung erfuhren, wurden geistig behinderte in der Regel verstoßen oder getötet. Bei den Römern und Griechen war die Sitte des Aussetzens und des Kindesmordes verbreitet, ebenso bei den Germanen. Einzelne Spuren dieser Praxis lassen sich verfolgen bzw. belegen und sind z.B. bei Merkens (1988) nachzulesen.

Irrationale Abwehr

Mythologische Erklärungen für die Ursache des Schwachsinns hielten sich bis über das Mittelalter hinaus. „Man glaubte an die Einwirkung von Dämonen, an den Kindertausch durch den Satan (,Wechselbalg‘), auch an die ,Strafe Gottes‘ für Sünden der Vorfahren“ (Speck 1979, 57). Man griff zu Beschwörung und Zauberei; Maßnahmen, die aber keineswegs dem geschädigten Menschen oder gar seiner Integration in die Gemeinschaft dienten, sondern ausschließlich dem Schutz der Mitmenschen vor dem als Bedrohung erlebten „Schwachsinnigen“. Die Praktiken waren demzufolge mystisch-religiöse Abwehrmechanismen. Separation, Ausgrenzung und Vernichtung waren soziale Antworten auf das Unbegreifliche des Andersseins. „Es gab keine Anerkennung ihres Lebensrechtes und ihrer Menschenwürde“ (Speck 1999, 11).

„Schwachsinnige“ Menschen behielten auch in der Neuzeit ihre soziale Sonderstellung und erfuhren unterschiedliche Wertschätzung. Sie wurden auf Jahrmärkten zur Schau gestellt, als Narr zum Spielzeug und Gespött, als Dämon gefürchtet, aber auch als schwaches Wesen unter den besonderen Schutz Gottes gestellt. In den Alpenländern wurden diese Menschen zeitweise als Heilige verehrt. Meist aber fristeten sie ihr Leben elend am Rande der Gesellschaft, angewiesen auf Almosen und abgeschoben in Klöster, Armenhäuser, Hospitäler, Irrenanstalten, Zucht- und Tollhäuser, oder blieben in den Familien. Sie waren dem Gespött und der Willkür anderer ausgesetzt. Das Motiv ihrer Unterbringung in öffentlichen Häusern war nicht medizinischer oder pädagogischer Natur. Nicht die Verbesserung ihres Zustandes war Ziel, sondern allein die Abschirmung, der Schutz der Öffentlichkeit vor dem Anblick dieser Menschen.

„Mit der Auflösung der Klöster während der Reformationszeit ging ihre Umwandlung in Waisenhäuser, Asyle, Zucht- und Aufbewahrungsanstalten einher, in denen Behinderte, Arme, Kranke und Kriminelle gemeinsam untergebracht wurden. Die Bevölkerung sollte vor dem Anblick dieser Personen verschont werden“, damit ihre Bewohner „der Umwelt nicht zu Ekel und Abscheu gereichten“ (Merkens 1988, 44).

In welch heterogen zusammengewürfelten Gruppen früher geistig behinderte Menschen untergebracht waren, wird in einer 1588 erschienenen Schrift über das in eine psychiatrische Einrichtung umgewandelte Kloster Haina beschrieben:

„… das das grosse gewaltige Closter Heina durch auß mit Armen leuten als Blinden, Lamen, Stummen, Tauben, Wanwitzigen, Monsichtigen, Sinnverrückten, Besessenen, Mißgestalten, Aussetzigen und dergleichen bresthafftiger Armer menschen heuffig und völlig besetzet wardt“ (Letzner 1588, 7. Kap., nach Schröder 1983, 17).

Die Lebensbedingungen in diesen Aufbewahrungsanstalten waren aus unserer heutigen Perspektive unmenschlich. So berichtete Chiarugi 1795 in seiner Abhandlung über den Wahnsinn Folgendes:

„Es muß gewiß für jeden Menschenfreund einer der schauderhaftesten Anblicke sein, wenn man in sehr vielen Irrenhäusern die unglücklichen Opfer dieser schrecklichen Krankheit in finstern, feuchten Löchern, wo die frische Luft nie hineingebracht werden kann, auf unreinem, selten gewechseltem Stroh, mitten in ihrem eigenen Kote, und mit Ketten gefesselt, oft ganz nackend legen sieht. In solchen Wohnungen des Schreckens könnte der Vernünftigste wohl eher wahnsinnig, als ein Wahnsinniger wieder zur Vernunft gebracht werden“ (nach Schröder 1983, 27).

Die Menschen, die in diesen Tollhäusern arbeiteten, charakterisierte Reil 1803 folgendermaßen:

„Die Zuchtknechte, Stockmeister und Diebeswärter sind meistens rohe Menschen, bei denen Barbarey an der Tagesordnung steht, und welche obendrein diese Unglücklichen als eine lästige Bürde ihrer Amtspflichten betrachten, die sie, um sie auf die kürzeste Art zu besorgen, in feuchte Gewölbe, Gefängnisse und in die Kellergeschosse ihrer Anstalten einsperren. Das nächtliche Gebrüll der Rasenden und das Geklirre der Ketten hallt Tag und Nacht in den langen Gassen wider, in welchen Käfig an Käfig stößt, und bringt jeden neuen Ankömmling bald um das Bischen Verstand, das ihm etwan noch übrig ist“ (nach Schröder 1983, 28).

Von gesellschaftlichem Zusammenleben und erzieherischer Fürsorge ausgeschlossen, konnten geistig behinderte Menschen keine Kommunikations- und Verhaltensweisen entwickeln, d.h. sie entsprachen mit ihrem Verhalten dem Bild, das sich die Umgebung von ihnen machte. Menschen mit geistigen und schwereren körperlichen Gebrechen befanden sich demnach in einem Teufelskreis, der nur schwer zu durchbrechen war.

Ambivalenter christlicher Einfluss

Auch das Christentum konnte oder wollte dieser Praxis anfänglich nicht wirkungsvoll begegnen, weil es zwar teilweise der Dämonisierung entgegenzuwirken versuchte, aber mit der Einführung der Schuldfrage nichts zur Anerkennung behinderter Menschen beitrug. Die Verquickung von Schuld- und Ursachenfrage sowie die Interpretation von Behinderung als Strafe Gottes für die Eltern oder die Gesellschaft verstärkten noch die Praxis der Isolierung.

Die historischen Quellen lassen erkennen, dass schon früh ein Unterschied im Umgang mit behinderten Menschen gemacht wurde, also eine gewisse Hierarchie der Behinderungsformen bestand. Obwohl auch sinnesgeschädigte, blinde oder gehörlose Menschen sozial kaum integriert waren, genossen sie aufgrund ihrer kompensatorischen Fähigkeiten höhere öffentliche Anerkennung als schwachsinnige Menschen. Schon früh konnte die Nützlichkeit und Brauchbarkeit Sinnesgeschädigter von der Taubstummenpädagogik des 18. Jahrhunderts unter Beweis gestellt werden. Menschen mit geistiger Behinderung „blieben von den Erfolgsmeldungen ausgeschlossen“ (Merkens 1988, 55), zumal sich die frühe Heilpädagogik ihrer nicht annahm. Sinnesgeschädigte hingegen galten als bildungsfähig,ihnen sprach man ihr Menschsein nicht ab, anders als den sog. Schwachsinnigen.

2.2Beginn der Geistigbehindertenpädagogik – Anstaltsgründungen im 19. Jahrhundert

Menschen mit geistiger Behinderung wurde erst im 19. Jahrhundert pädagogische Aufmerksamkeit geschenkt. Begünstigend wirkten die zunehmende Industrialisierung mit ihren gesellschaftlichen Veränderungen sowie vor allem das Gedankengut der Aufklärung, „in deren Gefolge man sich für die Befreiung bzw. Behandlung von Sklaven, Gefangenen, Kranken, Blinden und Tauben engagierte“ (Mühl 1991, 10). Das Recht auf Bildung sollte nicht länger nur den privilegierten Bevölkerungsschichten vorbehalten bleiben. Alle Kinder sollten durch staatliche Erziehung zu Sittlichkeit und bürgerlicher Nützlichkeit gebracht werden; eine Forderung, die man auch für geschädigte Kinder erhob, weil die ersten Erziehungsversuche tauber und blinder Kinder, Mitte des 18. Jahrhunderts, deren Bildbarkeit und damit ihre gesellschaftliche Nützlichkeit belegten. Ihre menschliche Würde sollte ihnen darum nicht länger abgesprochen werden. „Vom Almosenempfänger zum Steuerzahler“ war der Leitgedanke der frühen Heilpädagogik, mit dem man glaubte, das Menschen- und Lebensrecht für Menschen mit Behinderung durchsetzen und wahren zu können.