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***Die ganze Geschichte von Aufstieg und Schicksal der Familie Anne Franks über drei Jahrhunderte, erzählt auf der Grundlage tausender unbekannter Briefe und Dokumente*** Sommerfrische hoch über dem Silser See in den Schweizer Bergen: Alljährlich traf sich hier die Familie Frank, die sonst über ganz Europa verstreut war. Noch Anne Franks Ururgroßvater hatte als kleiner Junge in der engen Frankfurter Judengasse leben müssen, doch schon eine Generation später wurde ein Vorfahr Anne Franks zum ersten jüdischen Professor in Deutschland berufen. Ihre Großmutter Alice führte als Bankiersgattin ein weltoffenes Haus in Frankfurt, bis die Familie nach London, Basel und Amsterdam übersiedelte, das dann zum Schicksalsort der Familie werden sollte. Der letzte lebende Verwandte Anne Franks, der sie persönlich kannte, ihr Cousin Buddy Elias, wurde schließlich berühmt als Eiskunstläufer und Schauspieler. Wie durch ein Wunder haben zahllose Briefe, Dokumente und Fotos der Familie Frank auf dem Dachboden des Hauses in der Baseler Herbstgasse überlebt und wurden dort vor einiger Zeit entdeckt – ein Sensationsfund. Die wunderbare Erzählerin Mirjam Pressler hat daraus die so einzigartige wie exemplarische Geschichte der deutsch-jüdischen Familie Frank zusammengefügt, die sich liest wie ein großer schicksalhafter Familienroman.
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Seitenzahl: 548
Mirjam Pressler
Grüße und Küsse an alle
Die Geschichte der Familie von Anne Frank
FISCHER E-Books
Sils Maria im Oberengadin, an einem Sommertag im Jahre 1935. Ein schlanker, gut gekleideter Mann verlässt das Hotel Waldhaus, wo er einen Leiter der Firma Pomosin getroffen hat, um ihm von den Fortschritten der Vertretung in Amsterdam zu berichten. Der Mann nimmt den Weg, der mitten durch den Wald führt, und erreicht nach wenigen Minuten raschen Gehens die Villa Laret.
Als er zwischen den Bäumen hervortritt, liegt sie vor ihm, eher ein Schlösschen als eine Villa, inmitten eines parkähnlichen Gartens mit vielen Bäumen. Die Fenster sind so blank geputzt, dass sie in der Sonne blinken.
Villa Laret, Sils Maria
Der Mann geht den breiten, gut geharkten Kiesweg entlang. Er lächelt, als sein Blick auf die Schaukel fällt, die zwischen zwei hohen Bäumen hängt, eine breite Schaukel mit einem Geländer und so groß, dass man bequem einen Tisch und ein paar Stühle daraufstellen könnte. Jetzt springen zwei Kinder auf dem Boden der Schaukel hin und her und bringen sie dadurch zum Schwingen. Die Kinder lachen und kreischen, und unter der Schaukel hüpfen zwei Dackel herum, aufgeregt kläffend, aber sosehr sie sich auch bemühen, sie schaffen es nicht, auf die Schaukel zu springen. Manchmal fällt ein Hund bei seinen vergeblichen Versuchen auf den Rücken und zappelt mit seinen kurzen Beinen, bis er sich wieder umgedreht hat und erneut anfängt, in die Höhe zu hüpfen. Dann biegen sich die Kinder vor Lachen. Der Junge ist etwa zehn Jahre alt, das Mädchen sechs.
»Nicht ganz so laut«, ruft der Mann den Kindern zu.
Die beiden halten inne. »Papa, weißt du, was tante O heute Morgen gesagt hat?«, ruft das Mädchen. Er tritt näher, schüttelt den Kopf. »Gestern hat sie ihre Zofe gefragt, wo ihr Waschlappen sei, natürlich auf Französisch, und dann wollte sie von Tante Leni wissen, wie das Wort auf Deutsch heißt. ›Waschlappen‹, hat Tante Leni gesagt. Und heute Morgen hat sie zu ihrer Zofe gesagt: ›Wo ist mein Waschlapin?‹« Die Kleine kichert. »Verstehst du das, Papa? Sie hat gefragt, wo ihr Waschhase ist. Ist das nicht komisch?«
Er nickt. »Ja, wirklich komisch. Aber ihr solltet nicht so viel Lärm machen, damit ihr die Herrschaften nicht stört.«
Die beiden nicken. Dann fassen sie sich wieder an den Händen und setzen, nur unwesentlich leiser, ihr Spiel fort. Die Kinder sind Buddy Elias und seine Cousine Anne Frank, und der Mann ist Otto Frank, der mit seiner jüngeren Tochter die Ferien in der Villa Laret verbringt.
Auf der Terrasse, an mehreren mit Porzellangeschirr gedeckten Tischen, sitzen etwa ein Dutzend Damen und Herren, die Damen mit breitkrempigen Hüten und Sonnenschirmen. Die Herren, die vermutlich trotz des warmen Wetters nicht wagen, ihre Jacken auszuziehen, tragen sommerliche Strohhüte. Allerdings ist hier, mitten im Wald, die Hitze auch erträglicher als an den baumlosen Hängen.
Neben der breiten Flügeltür zum Salon stehen zwei Hausmädchen mit kleinen weißen Schürzen und ebenso weißen Spitzenhäubchen neben Servierwagen mit Tee- und Kaffeekannen, mit Platten voller Petit Fours und Kuchen, bereit, auf ein Winken hin sofort zu einem Gast zu eilen und ihn zu bedienen.
Otto Frank tritt näher. Als die Dame des Hauses ihn sieht und ihm zuwinkt, zieht er den Hut und verneigt sich.
Die Dame des Hauses ist Olga Spitzer, geborene Wolfsohn, eine französische Cousine von Leni Elias und Otto Frank, die jeden Sommer etliche Wochen in ihrer Villa in Sils Maria verbringt, einem großen Haus mit neunzehn Zimmern, und immer lädt sie sich Gäste ein. Meist gehören Leni und ihre Mutter Alice Frank dazu, denn die familiären Beziehungen sind sehr eng. In diesem Jahr ist auch Otto aus Amsterdam gekommen, mit seiner Tochter Anne, aber ohne seine Frau Edith, die mit der älteren Tochter Margot zu ihrer Mutter nach Aachen gefahren ist.
Olga Spitzer reicht ihrem Cousin Otto die Hand, er beugt sich darüber. Dann begrüßt er seine Mutter Alice und seine Schwester Leni mit zärtlichen Küssen auf die Wange, bevor er sich zu ihnen an den Tisch setzt.
»War es ein gutes Gespräch?«, erkundigt sich Leni. Natürlich auf Französisch, denn es wäre unhöflich, Deutsch zu sprechen, eine Sprache, von der Olga Spitzer kaum ein paar Worte versteht.
Otto Frank nickt. »Ja, sehr gut. Wenn Menschen in den Ferien sind, lässt es sich viel leichter mit ihnen verhandeln, er hat sich auf all meine Vorschläge eingelassen.«
Die Kinder sind inzwischen neugierig näher gekommen, aber das Gespräch der Erwachsenen interessiert sie nicht. Sie schnappen sich jedes ein Törtchen.
»Was wollen wir machen?«, fragt Buddy kauend.
»Ich weiß was«, sagt Anne und zieht ihren Cousin hinter sich her ins Haus, durch den Salon und die Halle, die breite Treppe hinauf und ins Zimmer ihrer Großmutter Alice. »Du hast es versprochen«, sagt sie und deutet auf den Kleiderschrank, und als Buddy heftig den Kopf schüttelt, wiederholt sie. »Du hast gesagt, dass du dich traust.«
Buddy zuckt mit den Schultern. Er weiß, dass es sinnlos ist, sich zu wehren. Wenn Anne sich etwas in den Kopf gesetzt hat, lässt sie sich so leicht nicht davon abbringen. Und schließlich hat er die Wette verloren, sie hat sich tatsächlich getraut, auf den Baum zu klettern und ein Vogelei aus dem Nest zu holen, und dabei hat sie noch aufgepasst, dass es in ihrer Rocktasche nicht zerbrach. Dann ist sie trotz seiner Warnung noch einmal hinaufgeklettert und hat das Ei zurückgelegt.
»Los«, sagt Anne, setzt sich in den Sessel und zieht die Beine unter sich.
Buddy wischt sich die klebrigen Hände an der Hose ab, macht zögernd den Schrank auf und nimmt ein schwarzes Kleid heraus. Seine Großmutter Alice trägt immer nur dunkle Kleider, dieses hat einen weißen Spitzeneinsatz. Er zieht es über sein Hemd und seine Hose, nimmt einen Schal, den er sich fest um die Taille wickelt, und stopft dann zwei kleine Sofakissen in den Spitzenausschnitt. Anne kichert anerkennend. Er betrachtet sich in dem großen Spiegel neben dem Schrank. Das Spiel fängt an, ihm Spaß zu machen.
Er nimmt einen Hut mit einem Blumenbouquet aus einer Hutschachtel, setzt ihn auf, zupft vor dem Spiegel an dem Schleier herum, bis er ihm keck über einem Auge hängt. Die Schuhe mit den hohen Absätzen sind zu groß, er stopft sie vorn mit Taschentüchern aus, dann stolziert er vor der vergnügten Anne herum, die so laut lacht, dass sie ein Zimmermädchen herbeilockt. Das Mädchen, selbst noch sehr jung, klatscht Beifall. Buddy, begeistert von der Wirkung, die er erzielt, lässt sich zu immer weiteren Gesten hinreißen, er schiebt vornehm die Lippen vor, spreizt den kleinen Finger ab und führt eine imaginäre Tasse an den Mund, wischt sich mit einer ebenfalls imaginären Serviette den gespitzten Mund ab. Dann reicht er Anne die Hand, genauso elegant, wie Olga Spitzer sie vorhin Otto Frank gereicht hat, und Anne drückt einen schmatzenden Kuss darauf.
»Los, geh runter, zeig’s den anderen«, verlangt sie, aber das ist Buddy zu viel, das wagt er nicht, nicht hier in diesem vornehmen Haus. Daheim in Basel hätte er es sofort getan. Er zieht sich wieder aus und das Zimmermädchen legt die Sachen ordentlich in den Schrank zurück. Die Taschentücher, die er sich in die Schuhe gestopft hat, nimmt sie mit, um sie zu waschen und zu bügeln.
»Und was machen wir jetzt?«, fragt Buddy.
»Verstecken spielen«, schlägt Anne vor, obwohl das zu zweit ein bisschen langweilig ist. Aber sie haben sich andere Regeln ausgedacht, der Sucher muss länger warten, und wenn er den Versteckten nicht findet, hat er verloren und muss eine Strafe bezahlen, zum Beispiel dem Gewinner seinen Nachtisch abgeben.
Sie rennen durch den Garten zum Wald. »Du bist dran«, sagt Anne. »Ich hab gestern gesucht.«
Buddy nickt. Er kauert sich unter einen Baum und versteckt den Kopf in den Armen.
Anne läuft nicht weit, sie weiß schon, wo sie sich verstecken will, sie hat bei dem Spiel gestern in einer Böschung eine Höhle entdeckt, vielleicht eine verlassene Fuchshöhle. Sie reißt ein paar Zweige ab, kriecht in die Öffnung und zieht die Zweige davor. Bald hört sie Buddy rufen. Mehrmals läuft er an ihr vorbei, aber natürlich sieht er sie nicht. Sie hat ja gewusst, dass dieses Versteck großartig ist. Hoffentlich ist es wirklich eine verlassene Höhle, hoffentlich kommt jetzt kein Fuchs und beißt sie in den Po. Oder ist es gar keine Fuchshöhle, sondern die eines Hasen? Eines lapin? Sie unterdrückt ein Lachen, als sie sich daran erinnert, was tante O gesagt hat. Hasen beißen nicht, sie hat jedenfalls noch nie gehört, dass jemand von einem Hasen gebissen wurde, aber Füchse haben spitze Schnauzen und spitze Zähne.
Anne Frank 1935 in Sils Maria
Buddy ist inzwischen schon ganz nervös. Natürlich findet er Anne nicht, sie hat ein Talent, sich zu verstecken. Aber langsam könnte sie herauskommen. »Ich gebe auf«, ruft er laut. »Anne, komm raus!« Sie kommt nicht, er ruft immer lauter, rennt immer schneller. Wenn sie sich verlaufen hat? Wenn ein fremder Mann sie mitgenommen hat? Wie soll er dann seiner Mutter, seiner Großmutter und Onkel Otto erklären, dass er nicht schuld daran ist? Er hört seine Mutter schon sagen: Aber Buddy, du bist doch viel älter als sie, du müsstest doch auch vernünftiger sein.
Er ist verzweifelt und den Tränen nahe, als sie plötzlich hinter ihm auftaucht. »Ich will den Nachtisch, wenn es Eiscreme gibt«, sagt sie.
Buddy würde sie am liebsten verhauen. Oder küssen, weil er so erleichtert ist. Aber er sagt nur: »Wie siehst du denn aus, du bist ja ganz dreckig.«
Das stimmt. Annes helles Sommerkleid ist mit Erde verschmiert, sie versucht, den Schmutz abzuklopfen, aber die Erde ist feucht, die Flecken werden nur noch größer. »Mach dir keine Sorgen«, sagt Buddy und zupft ihr ein paar Zweige aus den Haaren. »Alice ist so froh, dass du da bist, sie wird bestimmt nicht sehr lange schimpfen.«
»Das Kleid ist ganz neu«, sagt Anne.
Bedrückt machen sie sich auf den Rückweg. »Ich könnte ja sagen, ich wäre hingefallen«, schlägt Anne vor.
»Einmal auf den Rücken und einmal auf den Bauch?«, fragt Buddy. Seine Cousine tut ihm leid.
Aber dann ist es doch nicht so schlimm. »Wie siehst du denn aus?«, ruft Alice erschrocken, als sie Anne sieht, und Otto fragt, ob sie sich weh getan hat. Und Leni fährt Buddy an, warum er nicht besser auf die Kleine aufgepasst hat. Buddy steht ganz verdattert da und wird rot unter den neugierigen Blicken der Gäste.
Olga Spitzer, tante O, rettet die Situation, indem sie ihre Zofe ruft und sie anweist, das Mädchen sauberzumachen.
»Aber nicht mit dem Wasch-Fuchs«, sagt Buddy, »sondern mit dem Waschlapin.«
Ein paar Damen ziehen erstaunt die Brauen hoch. Aber Anne lächelt wieder.
Zum Abendessen gibt es tatsächlich Eiscreme als Nachtisch. Anne isst ihren Becher leer und schiebt ihn dann unauffällig zu Buddy, der ihr seinen vollen gibt. Dabei seufzt er, aber nur ganz leise, damit niemand ihn hört.
Die Erwachsenen unterhalten sich über ein Konzert, das morgen hier im Haus stattfinden wird, das ›Trio di Trieste‹ wird auftreten. Immer wieder finden hier Konzerte statt, Olga Spitzer liebt Musik, und sie ist reich genug, um private Aufführungen für sich und ihre Gäste zu bezahlen. Leni hat einmal gesagt, in ihrem Haus werde nie über Geld gesprochen, das Wort existiere nicht in Olgas Wortschatz, und das sei der beste Beweis für ihren Reichtum.
Die Sonne geht hinter den Bergen unter, es wird Nacht. Die Gesellschaft zieht sich in den Salon zurück, die Kinder werden ins Bett geschickt. Und in der Ferne hört man das Läuten von Glocken.
Alice Stern mit ihrer Mutter Cornelia, geb. Cahn, ca. 1872
Basel 1935
Alice lehnt am Fenster zur Straße, die Arme auf die Fensterbank gestützt, und beobachtet durch die Scheiben, wie sich der Abend über die Stadt senkt. Sie liebt die Dämmerung, die blaue Stunde zwischen Tag und Nacht, hat sie schon immer geliebt. Ein Mann biegt um die Ecke, es ist der Italiener, der im Souterrain des Hauses schräg gegenüber wohnt, er schleppt einen Sack, in dem sich Kohlen oder Kartoffeln befinden, das kann sie im Zwielicht nicht mehr erkennen, aber sie sieht, wie die Haustür aufgerissen wird und zwei Kinder herausstürmen, ein Junge und ein Mädchen, und wie der Mann, als er die Kinder bemerkt, den Sack abstellt, die Arme ausbreitet und die Kinder auffängt und herumwirbelt, erst das Mädchen, dann den Jungen. Es gibt ihr einen Stich, als sie das sieht, so hat Michael seine Kinder aufgefangen, wenn er nach Hause kam, und die Kinder haben ebenso vergnügt gekreischt und gejohlt wie diese beiden da unten auf der anderen Straßenseite, deren begeisterte Stimmen sie sogar durch das geschlossene Fenster bis herauf in den zweiten Stock hören kann.
Sie dreht sich um, bleibt, mit dem Rücken ans Fenster gelehnt, stehen, und ihr Blick fällt auf das große, ovale Gemälde in dem schweren vergoldeten Rahmen, das an der gegenüberliegenden Wand hängt. Sie betrachtet das kleine Mädchen, das sie einmal war, und fragt sich, ob sie als Kind ihren Vater je so begrüßt hat. Vermutlich nicht. August Stern war ein ernster, besonnener Mann gewesen, von dem ihr Fräulein immer mit gesenkter Stimme und tiefem Respekt gesprochen hatte. Alice kann sich nicht vorstellen, dass er je ein Kind herumgewirbelt hätte.
Das Mädchen auf dem Bild ist nicht mehr deutlich auszumachen, aber das ist egal, sie kennt es gut genug, um es selbst mit geschlossenen Augen sehen zu können, sie braucht noch kein Licht anzumachen. Sie weiß nicht mehr genau, wie alt sie war, damals, als der Professor Schlesinger in Frankfurt sie gemalt hat, vielleicht vier oder fünf, bestimmt nicht viel älter. Und wenn das Fräulein sie durch die Tür schob, wird er gesagt haben: »Da is ja mei goldisch Mädsche«, weil kleine Mädchen für alle Frankfurter »goldisch« waren. Aber seine schmeichelnde Stimme und sein aufgesetztes Lächeln konnten sie nicht täuschen, sie wusste, wie schnell er böse wurde, wenn sie sich nicht so still hielt, wie er das wollte. Dann verzog sich sein Gesicht mit dem braunen Spitzbart und seine Stimme verlor den schmeichelnden Klang. Alice meint sie jetzt noch zu hören, diese harte Stimme, die sie barsch zurechtwies, meint noch nach fünfundsechzig Jahren den Geruch nach Farbe, Terpentin und Pfeifentabak in der Nase zu spüren, und wie damals packt sie die Sehnsucht nach ihrem Spielzimmer. Ganz deutlich steigt es vor ihren Augen auf, als würde sie es wirklich sehen: die Puppen, die Puppenküche mit einem Herd, in dem man Feuer anmachen konnte, und einem Esstisch, auf dem echtes Porzellangeschirr stand, sie sieht das Regal mit den Märchenbüchern – gab es damals eigentlich schon den Struwwelpeter? Ja, natürlich, sie hört noch die Stimme ihres Fräuleins, das ihr die Geschichte vom Suppenkaspar vorgelesen hat –, sie sieht ihr Himmelbett mit den Tüllwolken, das Fenster mit der weißen Spitzengardine und den grünen Samtvorhängen, die tagsüber mit vergoldeten Kordeln zusammengehalten wurden.
Sie weiß noch, wie das Fräulein hereinkam und sagte: »Komm, Alicechen, es wird Zeit«, wie sie ihr die Schürze abband und das Spielkleid auszog, wie sie ihr die Puppe aus der Hand riss, die sie krampfhaft festzuhalten versuchte, und ihr, als sie anfing zu weinen, den Finger auf die Lippen legte. »Psst, die Mama hat Kopfweh, du willst doch nicht, dass die Mama noch kränker wird, du bist doch schon ein großes Mädchen.«
Alice als Kind, gemalt von dem Frankfurter Maler Professor Schlesinger, ca. 1869
Sogar jetzt erschrickt sie noch, wenn sie daran denkt. Später, als sie selbst Kinder hatte, zuckte sie jedes Mal zusammen, wenn ihr versehentlich die Formulierung »du willst doch nicht, dass« herausrutschte, und dann suchte sie verwirrt nach anderen Worten. »Du willst doch nicht, dass?…« hatte damals, als sie ein Kind war, wie eine Beschwörung gewirkt, die ihren Widerstand brach, wie ein geheimnisvolles Gift, das sie lähmte. Die kleine Alice ließ sich die weiße Unterhose mit dem Volantbesatz anziehen, das rosafarbene Unterkleid, das so steif gestärkt war, dass es raschelte, wenn sie sich bewegte, und darüber das feine Spitzenkleid mit der ebenfalls rosafarbenen Schärpe. Das Kleid hatte sie erst vor ein paar Wochen bekommen, weil ihr das alte Sonntagskleid, das viel bequemer gewesen war, zu klein geworden war, das hübsche himmelblaue Mieder spannte so sehr, dass das Fräulein es nicht mehr zuhaken konnte. Die Mutter hatte Stoffe kommen lassen, sie hatte die Spitzen ausgesucht und die Schneiderin bestellt, die ohnehin oft ins Haus kam. Tagelang hatte die Frau, eine rothaarige, sommersprossige Odenwäldlerin, genäht, bis das neue Kleid endlich fertig war.
Alice lächelt das Bild an, e goldisch Mädsche, und für einen Moment meint sie, die weißen Söckchen zu spüren, die etwas zu fest sitzenden Stiefelchen aus grauem Ziegenleder. Seltsam, wie genau sie sich an alles erinnert, was mit diesem Bild zusammenhängt, vielleicht weil sie es ihr Leben lang gesehen hat, länger als irgend etwas anderes, sogar länger als die Möbelstücke, die sie vor zwei Jahren bei ihrem Umzug aus Frankfurt nach Basel mitgebracht hat. Erst hing das Bild im elterlichen Salon, und dann, nach jenem furchtbaren Tag, an dem sie ihren Vater verloren hatte und sie die vertraute Wohnung aufgeben und in das Haus ihres Großvaters ziehen mussten, im Zimmer Cornelias, ihrer Mutter, und nach deren Tod dann bei ihr, erst in Frankfurt, in der Jordanstraße 4[1] und jetzt hier in Basel, in der Schweizergasse 50. Wenn sie an sich selbst denkt, als Kind, sieht sie immer aus wie auf diesem Bild.
Die kleine Alice hatte diese Wege zum Herrn Professor Schlesinger gehasst. Sie hatte gewusst, dass sie still stehen musste, dass sie die Füße nicht bewegen durfte, auch wenn ihre Beine steif wurden und schmerzten, dass sie den Kopf nicht wenden durfte, um einer Fliege nachzuschauen, und dass ebenfalls verboten war, sich irgendwo zu kratzen, wenn es juckte. Sie hatte immer nach Ausreden gesucht, um nicht zum Professor gehen zu müssen, aber das Fräulein hatte darauf bestanden. »Du willst doch nicht, dass dein Papa das viele Geld umsonst ausgibt? …« Nein, das wollte sie natürlich nicht, der Papa musste schwer für das Geld arbeiten. Jeden Morgen setzte er seinen Hut auf und ging in die Firma, und manchmal, wenn das Wetter so schlecht war, dass man bei so einem Regen oder Sturm keinen Hund aus dem Haus jagen würde, seufzte er.
Die Dämmerung nimmt zu, in den Zimmerecken türmen sich die Schatten, der harte Fenstergriff drückt gegen ihren Rücken, aber Alice bleibt bewegungslos stehen, auch wenn das Bild allmählich vor ihren Augen verschwimmt und nur noch ein paar helle Flecken zu erkennen sind. Je älter sie wird, umso näher rückt ihr die Vergangenheit, umso klarer und deutlicher steigen vergessen geglaubte Bilder aus ihrer Erinnerung auf. Sie denkt an den Satz, den ihr Großvater so oft gesagt hatte: »Je weniger Zukunft der Mensch hat, umso mehr verliert die Gegenwart an Bedeutung«, und sie lächelt bei dem Gedanken, dass sie das früher immer für Geschwätz gehalten hatte, für das Gerede eines alten Mannes, der nicht mehr weiß, was er sagt, denn was bedeutete das Leben ohne Zukunft? Damals hatte alles aus Zukunft bestanden, die ganze Welt, und jeder zweite Gedanke hatte angefangen mit: Wenn ich einmal groß bin? … Aber jetzt?
Das könnte der Moment sein, in dem eine Idee in ihr aufsteigt, erst verschwommen, dann immer klarer, erst ein »Vielleicht«, dann ein »Warum nicht?« und schließlich ein »Ja, das ist gut«. Sie bewegt sich, geht rasch zum Lichtschalter, kneift die Augen zu vor der plötzlichen Helligkeit, dreht sich wieder zum Fenster, zieht die schweren Vorhänge vor und ist mit ein paar raschen Schritten an ihrem Sekretär, den sie ebenfalls aus Frankfurt mitgebracht hat, klappt das Pult hoch, zieht eine Schublade auf, holt ein schwarz eingebundenes Heft heraus, nimmt ihre Brille und setzt sich in den Sessel. Sie weiß jetzt, was sie zu tun hat, und sie ist erleichtert, dass es ihr noch rechtzeitig eingefallen ist. Es ist wie ein Auftrag, der ihr in der Vergangenheit gegeben wurde und den sie jetzt erst versteht. Sie wird ihre Geschichte aufschreiben, für ihre Söhne Robert, Otto und Herbert, und für Leni, die Tochter, sie wird einen Brief schreiben, den sie ihnen nächste Woche geben wird, wenn alle kommen, um mit ihr ihren siebzigsten Geburtstag zu feiern.
Diesmal wird es kein Gedicht sein, nichts Heiteres, keine der üblichen Anspielungen, die bei den Erwachsenen ein verständnisvolles Lächeln hervorrufen und bei den Kindern, die natürlich mit der Familiensprache vertraut sind, ein Kichern, sondern etwas, was ihre Nachkommen an sie erinnern wird, wenn sie einmal nicht mehr ist, etwas, das ihre Kinder mit einer Vergangenheit verbinden soll, die auch die ihre war und die sie durch die Schuld dieser barbarischen Nazis verloren haben. Denn wer weiß, ob sie das, was sie verloren haben, jemals zurückbekommen werden. Manchmal glaubt Alice nicht mehr daran, dass die Welt wieder so sein wird, wie sie war, zu drohend sind die dunklen Wolken am Horizont. Bei diesem Wetter jagt man keinen Hund aus dem Haus, denkt sie, ohne zu lächeln. Sie schraubt das Tintenfass auf, greift nach ihrem Federhalter, taucht ihn ein und fängt an zu schreiben:
Faksimile des Briefes von Alice Frank »Zum 20ten Dezember 1935«
Wenn ich Euch, meine lieben Kinder, die ich nach langer Zeit wieder um mich versammelt sehe, heute an meinem 70ten Geburtstag einen ganz kurzen Einblick & Rückblick in mein Jugendleben geben will, so braucht ihr nicht zu befürchten, dass dies mit einer besonderen Absicht geschieht. Es ist mir nur ein Bedürfnis Euch ein bleibendes Andenken an diesen Tag zu geben. –
Wie wenig wissen doch Kinder im Allgemeinen von der Jugendzeit der Eltern. Die Enkel können sich noch weniger einen Begriff machen, dass wir jung waren, wie sie es jetzt sind. Erst viel später wird ihnen diese Erkenntniss kommen & sie werden dann vieles verstehen und begreifen können. Selbst die erwachsenen Kinder wissen meist nur das, was sie als denkende Menschen vor sich gesehen & mit erlebt haben. –
Euer Vater hat Euch allerdings des öfteren von seiner Kindheit & Jugend in dem grossen Familienkreis in dem lieben alten Haus in Landau erzählt. Dort ist die Verehrung für die Eltern & die geschwisterliche Liebe die erste Bedingung für das schöne & innige Zusammenleben gewesen. Das Schicksal jedes Einzelnen wurde gemeinschaftlich getragen & jede Freude geteilt. –
Ja, das Haus, ein mittelalterliches Gebäude, ist schön, denkt Alice wehmütig, wenn es auf sie auch ein bisschen heruntergekommen gewirkt hat. Früher war es eine Poststation gewesen, eine Herberge für Postkutscher, für die Pferde und die Reisenden, aber seit 1855 die Eisenbahnstrecke Neustadt–Landau eröffnet worden war und kurz darauf die Strecke Landau–Weißenburg, waren die Postkutschen ausgeblieben, und der Besitzer hatte das Haus »Zur Blum« aufgegeben. Deshalb konnte Zacharias Frank, Michaels Vater, es 1870 für seine Familie kaufen. Da war Michael allerdings schon neunzehn Jahre alt gewesen, er hatte nicht mehr lange darin gewohnt. Zacharias Frank, dessen Vater Abraham als Privatlehrer von Fürth nach Niederhochstadt gekommen war, einem Ort etwa zehn Kilometer von Landau entfernt, war 1841 in die Stadt gezogen, nachdem er die Genehmigung für eine Eisenwarenhandlung bekommen hatte. Er hatte gute Geschäfte gemacht, hatte sich auf den Geldverleih verlegt und war »Bankier« geworden. Alice hatte Michaels Vater nicht mehr kennengelernt, er war im Jahr vor ihrer Hochzeit gestorben. Er und seine Frau Babette hatten neun Kinder, vier Söhne und fünf Töchter. Michael war das sechste Kind, und Babette hatte sich schon Sorgen gemacht, weil er mit über dreißig Jahren noch immer nicht verheiratet war. Deshalb war sie überglücklich, als Michael und Alice sich verlobten. Die ganze Familie empfing Alice mit offenen Armen.
Das Frank-Loebsche Haus in Landau in der Pfalz
Anfangs war es Alice unheimlich gewesen, die vielen Leute, die zu laut redeten, zu laut lachten, zu viel von ihr wollten, ihr zu nahe rückten. Sie hätte sich lieber zurückgezogen, wäre allein mit Michael spazieren gegangen, hätte gern mal in Ruhe dagesessen und ihre Gedanken geordnet, aber das war ausgeschlossen. Kaum hatte sie sich mit einer Handarbeit irgendwo hingesetzt – sie nahm immer eine Handarbeit mit, um sich an ihr festzuhalten, wenn sie die Familie in Landau besuchten –, kam schon eine Schwägerin an, eine Tante, eine angeheiratete Cousine, eine Nachbarin oder gar ihre Schwiegermutter, um sie lautstark und mit einem für sie unbegreiflichen Eifer zu irgendeiner Arbeit im Haus oder in der Küche zu verführen, zu einem Gang zum Markt, einem Besuch.
Babette, ihre Schwiegermutter, war eine freundliche, gutartige Frau, die gerne und viel aß, schnell weinte und noch schneller lachte. Aber sie war auch resolut, hatte neun Kinder aufgezogen und hielt trotz ihres Alters das große Haus in Schwung. Dieser Frau, die damals vielleicht noch jünger war als sie heute, war es immer unbegreiflich gewesen, dass Alice nicht kochen konnte, dass sie es nie gelernt hatte und auch keine Anstalten machte, es zu lernen. »Liebe geht durch den Magen«, hatte sie einmal gesagt, noch vor der Hochzeit, und als Alice geantwortet hatte: »Wir hatten immer eine Köchin, die gekocht hat«, hatte sie ungläubig den Kopf geschüttelt und Michael, ihrem Sohn, einen mitleidigen Blick zugeworfen. Und einmal hatte Alice gehört, wie eine der Schwägerinnen einer anderen zuflüsterte: »Michaels Braut ist zu fein, sich die Hände schmutzig zu machen.« Es hatte sie gekränkt, aber sie hatte getan, als hätte sie nichts gehört.
Die Kinder der Familie von Zacharias und Babette Frank
Nein, es war Alice damals nicht leichtgefallen, sich an diese Familie zu gewöhnen, aber sie wusste genau, was von einer guten Schwiegertochter erwartet wurde, und richtete sich danach. Und im Lauf der Jahre hatte sie die freundliche Herzlichkeit der Franks schätzen gelernt und verstanden, dass das, was sie für unkultiviertes Lärmen gehalten hatte, Ausdruck einer lebhaften Zuneigung war, und was ihr anfangs wie aufdringliche Neugier erschien, erwies sich später als herzliche Anteilnahme.
Alice lächelt. Sie taucht die Feder ein, schreibt weiter.
Meine Kindheit bewegte sich in ganz anderen Bahnen. Als einziges Kind meiner Eltern, die Mutter meist leidend, lernte ich schon früh die Schattenseiten des Lebens kennen. Es wäre jedoch nicht der Wahrheit entsprechend wenn ich sagen wollte, dass ich meine Kindheit als eine traurige empfunden hätte, aber allzu freudig ist sie mir nicht im Gedächtnis geblieben. Durch die innige Liebe meiner Mutter wurde ich für viel Trauriges entschädigt. Die schwere Natur & der Hang zum Grübeln ist bis auf den heutigen Tag an mir haften geblieben & liess mich erst in reiferen Jahren erkennen dass ich auch viel Gutes & Schönes zu verzeichnen habe wofür ich dankbar sein muss. –
Dieser Hang zum Grübeln ist eine bedrückende Last, bis heute muss sie gegen eine gewisse Neigung zur Schwermut ankämpfen, die ihr vermutlich angeboren ist, bis heute muss sie sich bemühen, »Gutes & Schönes«, von dem sie schrieb, überhaupt zu erkennen. Nie hat sie das Leben einfach hinnehmen und sich unbeschwert freuen können. Michael war da ganz anders, an seiner Seite hat sie vieles gelernt, viel von der Freude nachgeholt, die ihr als Kind vielleicht gefehlt hatte. Er war nicht nur ein ganzes Stück älter und dadurch reifer und erfahrener gewesen als sie, er besaß auch ein unbeschwertes Naturell und eine Weltoffenheit, die sie immer wieder zum Staunen gebracht hatte. Er war es, der ihr die Freude und das Vergnügen an den leichteren Seiten des Lebens erst beigebracht hatte, und mit ihm, mit seinem Tod, war auch ein Teil ihrer Lebensfreude gestorben.
Die Schrift auf dem Papier verschwimmt. Wischt sie sich jetzt mit einem Taschentuch über die Augen? Sechsundzwanzig Jahre ist es her, dass Michael von ihr ging, seit sechsundzwanzig Jahren ist sie Witwe, doch ganz überwunden hat sie den Schmerz nie. Natürlich ist er nicht mehr so brennend wie am Anfang, aber ein dumpfes Bohren ist ihr geblieben, manchmal ein Aufblitzen, und bis heute wird sie wohl bei jeder Entscheidung denken: Was würde Michael dazu sagen? Was würde er jetzt tun?
Im Hause meines Onkels, des so sehr geschätzten Arztes, Dr. Bernhard Stern, fand ich was ich zu Hause vermisste, stets frohe Laune & durch die Vettern & die Cousine zu denen sich auch die beiden Söhne meiner lieben Tante Lina Steinfeld gesellten, viel liebe Gesellschaft.
In ihrer Kindheit und Jugend hatte der Kontakt zur Familie von Bernhard Stern, dem älteren Bruder ihres Vaters August, eine große Rolle gespielt, und er ist auch später nicht abgerissen. Ihre drei Jahre ältere Cousine Klara, die von allen Klärchen genannt wurde, der gleichaltrige Richard und der um sechs Jahre jüngere Karl hatten ihr ein wenig die Geschwister ersetzt, die sie selbst nicht besaß und nach denen sie sich immer gesehnt hatte, und dazu kamen noch Emil und Paul, die Söhne ihrer Tante Lina, die eine Schwester ihres Onkels und ihres Vaters war. Wie gern war Alice in jenen Jahren jeder Einladung der Sterns gefolgt, und wie glücklich waren die Stunden, die sie dort verbrachte. Dieser Teil der Familie stand ihr gefühlsmäßig näher als der andere, mit dem sie dann, nach dem Tod ihres Vaters, im Haus ihres Großvaters Elkan Juda Cahn zusammenlebte. Bei den Sterns lernte sie ein fröhliches Familienleben kennen, das ihr zu Hause, mit ihrer kränklichen Mutter, versagt blieb.
Durch das dortige Zusammenleben mit meiner lieben Grossmutter, Helene Stern[3], um die sich täglich die sechs Enkel scharten im gemütlichen Stübchen, verbrachten wir die schönsten Stunden. Die tapfere Frau, die durch ihrer Hände Arbeit drei eigenen Kindern & zwei Stiefsöhnen die Gelegenheit gab zu studieren & sich auf eigene Füsse zu stellen, wurde gebührend geehrt & geliebt. Zu ihr flüchteten wir mit unseren kleinen Sorgen & Kümmernissen und fanden bei ihr stets Trost und liebevolles Verstehen. Auch meine Mutter war dort ein sehr gern gesehener Gast. –
Es war diese freundliche Frau, die der dreizehnjährigen Alice nach dem plötzlichen Tod des Vaters, als die Mutter völlig zusammengebrochen war, wieder Mut gemacht hatte. Man müsse sich dem Schicksal beugen, hatte sie gesagt, aber es sei wichtig, sich nach jedem Schlag wieder zu erheben, so wie sich das Gras nach einem Unwetter wieder aufrichtet, und sie hatte von Mut und von Vertrauen in die eigene Kraft gesprochen. Bis heute meint Alice die Stimme der Großmutter zu hören, die gesagt hatte: »Du bist noch so jung. Die Jugend kämpft und überwindet, das Alter duldet und verwindet.«
Alice sieht sie vor sich, die Frau mit dem weißen Haar unter einem schwarzen Häubchen, sie sieht ihr kleines Wohnzimmer, in dem es nie richtig hell wurde, weil es nach hinten hinaus lag, die dunklen Möbel, die Vitrine mit dem Chanukkaleuchter, dem silbernen Kidduschbecher, der nur an den hohen Feiertagen benutzt wurde, und den langstieligen Gläsern, die fast genauso selten in Gebrauch waren. Alice hat Großmutter Helene selten ohne ein Nähzeug in der Hand gesehen, immer musste etwas geflickt, gestopft und wieder hergerichtet werden. »Sich regen bringt Segen« war ein anderer ihrer Sprüche, den Alice nie vergessen hat. Dumme Sprüche erweisen sich oft als Weisheiten, denkt sie jetzt, und manchmal muss man für diese Erkenntnis teuer bezahlen. Sie taucht die Feder ein, schreibt weiter. Außer dem Kratzen der Stahlspitze auf dem Papier und dem Ticken der Uhr ist nichts zu hören.
Nach meinem 13ten Jahre zogen wir in das Haus meines Grossvaters, Elkan Juda Cahn. Vieles änderte sich von dieser Zeit an in meinem Leben. Es wurden wohl oft zu grosse Anforderungen an meine nicht immer vorhandene Vernunft gestellt, die allerdings oft zu wünschen übrig liess. Die Verantwortung die mir von der Familie aufgebürdet wurde meiner Mutter eine Stütze zu sein, war eine schwere für mich. Ich habe dieses Verantwortlichkeitsgefühl ihr gegenüber mein ganzes Leben getragen & gern getragen. –
Vielleicht spürt sie in diesem Moment, dass sie Durst hat. Alice steht auf, holt sich ein Glas Wasser und trinkt es in langen Zügen, dann setzt sie sich wieder an den Schreibtisch, stützt die Arme auf, legt den Kopf in die Hände und gibt sich ihren Erinnerungen hin.
Cornelia Cahn, Alice Franks Mutter, als Kind, ca. 1844
Der Tod ihres Vaters, der aus heiterem Himmel über sie hereingebrochen war, hatte zu einschneidenden Veränderungen geführt. Ihre Mutter Cornelia zog mit Alice in die Hochstraße, in das Haus ihres Vaters Elkan Juda Cahn, dessen Frau Betty schon lange vor Alices Geburt gestorben war. Cornelias angegriffener Gesundheitszustand wurde nach diesem Schicksalsschlag keinesfalls besser. Sie wurde häufig von Migräneanfällen gequält und hatte eine so schwächliche Konstitution, dass sie nicht selten tage- oder wochenlang das Bett hüten musste. Alice litt darunter, und bestimmt gestand sie sich manchmal ein, dass sie gern eine andere Mutter gehabt hätte, eine vitalere, lebhaftere, die sie in der neuen und oft schwierigen Umgebung unterstützt hätte. Eine, die mit ihr Ausflüge in den Taunus gemacht hätte, wie sie es zuweilen von ihren Freundinnen hörte, statt höchstens mal mit ihr in den Palmengarten zu gehen und dort die Enten im Teich zu füttern. Doch sie wird solche Gedanken immer schnell zur Seite geschoben und sich vorgeworfen haben, eine schlechte und undankbare Tochter zu sein. Sie liebte ihre Mutter über alles, und wenn Cornelia sie in den Arm nahm und an sich drückte, hätte sie weinen können vor Glück. Cornelia war eine wunderbare Mutter, was machte es da schon, dass sie keine Ausflüge unternahmen, dass sie selten zu Gesellschaften gingen. Sie hatten ihre eigenen Freuden. Cornelia war es, die ihrer Tochter Sticken und Klöppeln beibrachte, die ihr zeigte, wie man Muster entwarf und kostbare Stickereien herstellte. Cornelia war es auch, die mit ihr Bücher las und ihr Geschichten erzählte.
Alice hebt den Kopf und betrachtet das kleine, ovale Bild, das über ihrem Schreibtisch hängt: eine kolorierte Fotografie von Cornelia als kleines Mädchen, höchstens vier Jahre alt. Ein süßes Kind, noch mit Babyspeck und einem viel zu ernsten Gesicht, ein Kind, das mit misstrauischen Augen in die Welt zu schauen scheint. Diesem Kind, dem der Fotograf eine Efeuranke und ein paar blaue Blüten in die Patschhände gedrückt hat, sieht man an, dass es vor dem Leben zurückschreckt. Erst in späteren Jahren, schon als Großmutter, ist Cornelia kräftiger geworden. Alices Blick wandert zu dem großen Foto, das an der anderen Wand hängt: Cornelia als ältere Frau, in der strengen Kleidung der Witwe. Doch auch auf diesem Bild hat sie noch den gleichen ernsten Blick wie als kleines Mädchen.
Cornelia war eine gute und stolze Großmutter gewesen, die ihre Enkel vergötterte und alles für sie tat, was in ihrer Macht stand. Sie bewunderte die Enkel Robert, Otto und Herbert, aber ihre besondere Liebe galt Leni, der Enkelin, die, ebenso wie Cornelia selbst, großen Wert auf ihr Aussehen legte. Schon früh hatte sich bei Leni eine gewisse Eitelkeit gezeigt, ein fast pedantischer Umgang mit der eigenen Person, in dieser Hinsicht waren sich Großmutter und Enkelin sehr ähnlich gewesen.
Cornelia Stern, geb. Cahn, als ältere Frau
Auch Cornelia war immer perfekt gekleidet, und selbst wenn sie krank im Bett lag, hatte sie darauf geachtet, Rouge aufzulegen und sich nur in einem feinen Nachthemd und mit einem spitzengesäumten Bettjäckchen zu zeigen. Aber im Gegensatz zur eleganten Schönheit und Gepflegtheit ihrer Enkelin hatte Cornelias Aussehen nichts Herausforderndes an sich, nichts Demonstratives. Der Unterschied zu Leni war auffallend. Leni war schon als Kind auf das Leben zugegangen, mit offenem Blick und ausgestreckten Händen, während Cornelia immer zurückgewichen war, wie jemand, der sich nicht traut, durch eine Tür zu gehen, auch wenn sie weit offen steht. Sie hat immer nur geklagt, immer nur drohendes Unglück vorausgesehen. Sie hatte nicht die Begabung zum Glück, die man Leni nicht absprechen kann.
Zehn Schläge der Wanduhr reißen Alice aus ihren Gedanken. Höchste Zeit, um schlafen zu gehen. Sie wischt die Feder am Tintenläppchen ab und schraubt das Tintenfass zu. Während sie aufsteht und sich für die Nacht zurechtmacht, überlegt sie, welche Vorbereitungen noch für das geplante Fest zu treffen sind. Franzi, Köchin und Hausmädchen in einer Person, soll morgen die Gardinen im Wohnzimmer, in der Küche und im Gästezimmer waschen, die in ihrem Schlafzimmer haben es noch nicht nötig. Und sie soll auch gleich das Bett und das Sofa im Gästezimmer beziehen, damit alles bereit ist, wenn Otto mit Margot ankommt.
Anne, die Kleine, werde diesmal leider nicht dabei sein, hat Otto geschrieben, schließlich sei Anne ja im Sommer mit ihm in Sils Maria gewesen und Margot nicht, deshalb bleibe sie jetzt mit Edith in Amsterdam. Schade. Alice hat eine besondere Neigung zu diesem Kind, vielleicht weil es seinem Vater so ähnlich sieht. Und wieder verflucht sie die Nazis, die es geschafft haben, ihre Familie auseinanderzureißen. Leni und Erich sind mit ihren Kindern Stephan und Buddy hier in der Schweiz, Robert ist mit seiner Frau Lotti nach London emigriert, Herbert ist in Paris und Otto lebt mit seiner Frau Edith und den Kindern Margot und Anne in Amsterdam. Ohne die Nazis hätten sie noch in Frankfurt feiern können, in ihrem großen Haus, in dem es genug Platz für alle gab.
Es vergehen zwei Tage, bis Alice abends wieder an ihrem Schreibtisch sitzt, denn am Tag zuvor sind Leni und Erich zu ihr gekommen, um die Einzelheiten für das Fest zu besprechen und um das Menü festzulegen. Sie haben sich auf klare Gemüsesuppe geeinigt, dann eine Forelle blau, die Leni besonders gern isst, danach Kalbsbraten mit Kartoffeln und Rotkraut und zum Nachtisch Pflaumenkompott mit Schlagsahne. Erich wird einen guten Wein besorgen und für die Kinder Apfelsaft. Alice schraubt das Tintenfass auf und legt den Federhalter bereit. Dann liest sie das, was sie bereits geschrieben hat, noch einmal durch, bevor sie sich wieder an die Arbeit macht.
Mit grosser Liebe & Verehrung gepaart mit grossem Respekt trug meine Mutter an dem alten Vater, der ihr eine große Stütze war. Dieser etwas strenge Mann, der seine Jugendzeit noch im Ghetto verlebte, jedoch keineswegs fromm war, verwöhnte mich auf seine Weise & ich gedenke seiner mit großer Anhänglichkeit.
Mein Onkel Julius[4], auch einer der Hausgenossen, hat mir, wie Ihr später selbst ermessen konntet, durch seine Güte manche frohe Stunde bereitet. Durch ihn fand ich Geschmack an guter Musik; die Quartett-Abende, die aber nicht den Beifall meines Grossvaters fanden, waren für mich eine seltene Freude, obgleich ich nur vom Nebenzimmer aus den Tönen lauschen durfte. Mit dem Sohn & der Tochter meines anderen Onkels verknüpften mich wenig gleiche Neigungen, trotzdem wir im gleichen Hause täglich miteinander verkehrten. Es mag wohl auch etwas Eifersucht gewesen sein, dass ich mehr als sie in der Gunst meines Grossvaters stand. Mein Onkel suchte deshalb allerhand an meinem Betragen auszusetzen, es gab oft kleine Reibereien, die meine Mutter bekümmerten, mich aber ziemlich kalt liessen & mich wenig berührten.–
Die Anlässe für die Reibereien hat Alice vergessen, sie waren wohl wirklich so belanglos, dass man sie sich nicht merken konnte oder sollte, doch die Atmosphäre im Haus ist ihr noch gegenwärtig, die anklagende Stimme ihrer Cousine und die vorwurfsvollen und bedrückten Reaktionen ihrer Mutter, die, was ihr aber erst viel später klar wurde, von der Großzügigkeit ihres Vaters und ihrer Verwandten abhängig war. Alices Vater hatte nicht genug hinterlassen, um der Familie ein angemessenes Auskommen zu sichern.
Meine Schulzeit verlief bis zu meinem 15ten Jahr normal, allzu grosse Anforderungen wurden nicht gestellt & als ich wegen der zunehmenden Kränklichkeit meiner Mutter die Schule verlassen musste, war meine Bildung recht mäßig. Es wurde dann mit Privatstunden nachgeholfen, die mich mit meinen Freundinnen, deren ich eine große Anzahl hatte & mit welchen mich heute noch die grösste Anhänglichkeit verknüpft, fast täglich zusammenbrachte. Und welch glückliche Stunden haben wir in unserem »Kränzchen« verlebt! – Meinen Hang zum Träumen konnte ich bei den vielen feinen Handarbeiten, die damals Mode waren, nur zu viel nachhängen. Er führte mich in für mich unerreichbare Fernen & nur zu oft wurde ich nicht gerade sanft in die Wirklichkeit zurückgerufen.
Alice legt den Federhalter hin, streicht mit zärtlichen Fingern über ihren neuen Spitzenkragen, den sie erst kürzlich fertiggestellt und an das dunkle Wollkleid genäht hat. Bis heute sind Handarbeiten ihre Leidenschaft, stundenlang kann sie sich damit beschäftigen und sich immer neue, immer kompliziertere Muster ausdenken, Tiere, Blätter, Ranken. Alles, was sie in ihrer Wohnung an Tischwäsche hat, ist selbst gefertigt, gestickt, gehäkelt, geklöppelt, mit Hohlsäumen versehen, mit Bildern und Monogrammen aus feiner Weißstickerei. Decken und Deckchen, Servietten, Taschentücher, Unterkleider, Kragen und Einsätze – alles hat sie selbst gemacht, sogar einige der Spitzenvorhänge.
Stundenlang kann sie am Fenster sitzen, dann bewegt sie die Finger in einem gleichmäßigen Rhythmus und ist glücklich, wenn unter ihren Händen Tiere entstehen, Hirsche, Schafe, Schwäne und Fabeltiere, Blüten, Zweige, Blätter, Trauben, immer neue Ornamente, und jedes Mal, wenn ein Stück fertig ist, empfindet sie eine große Befriedigung und einen Stolz, der nicht vom Urteil anderer abhängig ist. Es ist ihr ein tiefes Bedürfnis, etwas herzustellen, was nicht nur nützlich ist, sondern auch schön, fast als würde sie mit ihrer Hände Arbeit Schönheit in die Welt bringen und sie dadurch ein bisschen besser machen. Und manchmal denkt sie, was für einen Dichter die Feder sein muss, ist für sie die Nadel, und ihre Tinte ist der Faden. Oder sie vergleicht ihre Arbeit mit der eines Malers. Wäre sie nicht als Frau auf die Welt gekommen, wäre sie vielleicht ein großer Maler geworden. Mit einer Handarbeit dazusitzen und zu träumen, während unter ihren Fingern Schönheit entsteht, ist ihr größtes Vergnügen. Doch während das Träumen sie früher in unerreichbare Fernen geführt hatte, führt es sie heute oft in eine – zumindest vorläufig – nicht mehr erreichbare Vergangenheit.
Wenn ich in späteren Jahren die Länder meiner damaligen Sehnsucht mit eigenen Augen sehen konnte, so hatte ich dieses Glück nur der Güte eures Vaters zu verdanken.
Seine Aufmerksamkeit erregte ich schon in meinem 15ten Jahre, doch war ich viel zu jung & reichlich unerfahren, um viel darüber nachzugrübeln, nahm aber jeden Beweis seines mir erwiesenen Interesses gerne entgegen. – Allerdings gingen zu dieser Zeit meine Gedanken & Gefühle ganz andere Wege, die Eurem Vater wohl bekannt waren, ihn aber nicht verhinderten mir sein Wohlgefallen zu zeigen. – Diese oben erwähnten, für mich unvergesslichen Ereignisse möchte ich unerwähnt lassen, da sie mich nicht allein betreffen & nur schmerzliche Erinnerungen in mir wach rufen, die Euch in keiner Weise betreffen & belasten sollen. –
Handarbeit von Alice Frank
Alice konnte sich nicht erinnern, wann sie Michael kennengelernt hatte, aber er wusste es noch genau, es war bei einer Festlichkeit des Gymnasiums Francofurtanum. Sie habe ihm sofort gefallen, erzählte er ihr später, er habe sogar mit ihr getanzt, einen Galopp, aber sie habe ihn nicht besonders beachtet. Er habe ihr mangelndes Interesse auf ihre Jugend zurückgeführt, sie war fünfzehn und er vierzehn Jahre älter, also fast doppelt so alt. Sie war damals in einen Jungen verliebt gewesen, zum ersten Mal, eine unglückliche Liebe, die ihr viel Herzeleid verursacht hatte. Aber später, als sie Michael bei Gesellschaften und Festlichkeiten bei Freunden und Bekannten immer wieder traf und ihr Interesse an ihm wuchs und sich in Liebe verwandelte, bis sie seinem Werben schließlich nachgab, war sie dem Schicksal dankbar gewesen, dass es sie für diesen Mann aufbewahrt hatte. Einen besseren Ehemann als Michael Frank hätte sie nicht finden können. Seine Liebe und seine Großzügigkeit waren es, die ihr die Welt öffneten.
Dass es mir nicht an Verehrern fehlte, Blumen und Verse in Menge in das so puritanisch geführte Haus flogen, erregte den Unwillen der Familie, um so mehr, als die besagten Courmacher nicht immer aus der so genannten »guten Gesellschaft« stammten & sich deshalb einer strengen Kritik unterziehen mussten. Mich focht dies wenig an. Ich nahm gern jedes Zeichen einer jugendlichen Schwärmerei & der damit verbundenen »Fensterparaden« entgegen. Und wie geeignet waren dazu die Parterrefenster des sonst so trüben Hauses in der Hochstrasse. – Meine erste grosse Reise trat ich, 16jährig, zu meiner inzwischen verheirateten Cousine nach Bern an. Dieses grosse Ereignis wurde gebührend vorbereitet und an wohlgemeinten Ermahnungen & Ratschlägen fehlte es nicht. – Die Fahrt die uns zuerst nach Mannheim brachte, wo ich zu einem herrlichen Konzert des damals so berühmten Florentiner Quartetts in einem Privathaus eingeladen war, bildete den Auftakt für viele schöne & genussreiche Stunden. Im Haus meiner lieben Verwandten verbrachte ich fast 3 Monate in voller Harmonie & lernte dort eine Menge sehr interessanter Menschen kennen. Auch die altertümliche Stadt machte einen gewaltigen Eindruck auf mich & so brachte ich viel Erzählenswertes mit nach Hause. Allerdings hatte ich auch einsehen gelernt, dass mir Vieles an meiner Bildung fehlte, die ich dann durch fleissiges Lesen & Lernen zu verbessern suchte, was mir auch teilweise gelungen ist.
Alice steht auf, reckt sich, lockert die verkrampfte Hand. Klärchen, ihre Lieblingscousine, die Tochter ihres Onkels Bernhard Stern, war damals, 1881, frisch verheiratet, und zwar mit Alfred Stern, einem gemeinsamen Cousin, und lebte mit ihm in Bern. Alfred war schon damals ein bekannter Historiker, Professor an der Universität in Bern. Er und seine junge Frau führten ein großes Haus. Alice erinnert sich noch, dass er gerade ein neues Werk, die »Geschichte der Revolution in England«, abgeschlossen hatte. Alice hatte Alfred bewundert, sie hatte Klärchen sogar ein bisschen um diesen klugen, angesehenen Ehemann beneidet. Überhaupt war die ganze Familie sehr stolz auf ihn. Sein Vater, Dr. Moritz Abraham Stern, ein Bruder von Alices Großvater Emanuel Stern, war bereits früher als erster ungetaufter Jude in Deutschland ordentlicher Professor an der Universität von Göttingen geworden, nachdem er von dem berühmten Mathematiker Carl Friedrich Gauss promoviert worden war.
Alice erinnert sich an ihr letztes Zusammentreffen mit Alfred, das vor zwei Jahren stattgefunden hat, bei Klärchens Beerdigung. Alfred war alt geworden, alt und verschlossen, und zum ersten Mal fehlte ihm die Herzlichkeit, die ihn sonst ausgezeichnet hatte. Als habe er mit dem Tod seiner Frau seine Seele verloren.
Schnell schiebt Alice diesen Gedanken zur Seite und erinnert sich lieber an die junge Klara, den jungen Alfred. Die beiden, die später drei Töchter bekamen, Dora, Emma und Toni, schienen eine gute Ehe geführt zu haben, jedenfalls damals, als sie frisch vermählt waren, waren sie glücklich gewesen. Die vielen Wochen in Bern waren, soweit Alice sich erinnert, geprägt von Lachen und Fröhlichkeit, von Ausflügen und zahlreichen Einladungen. Nur musste sie feststellen, dass es viele Themen gab, bei denen sie nicht mitreden konnte. Wenn in einer Gesellschaft von Büchern gesprochen wurde, kannte sie oft noch nicht einmal den Namen des jeweiligen Verfassers, geschweige denn sein Werk. Alle Menschen, die sie in Bern kennenlernte, wirklich alle, schienen viel gebildeter zu sein als sie, und oft genug war sie rot geworden und hatte beschämt den Kopf gesenkt, wenn jemand sie nach ihrer Meinung zu einem Theaterstück, zu einem Schauspieler oder einer bestimmten Opernaufführung gefragt hatte.
Nach ihrer Rückkehr fing sie an zu lesen, um ihre Bildungslücken zu schließen, und intensivierte auch ihre Sprachstudien. Die Vorstellung, als ungebildete Person dazustehen und sich zum Gespött der Gesellschaft zu machen, war ihr unerträglich. Insofern war es eine bedeutende und folgenreiche Reise gewesen, ganz abgesehen davon, dass sie die Zeit mit Klärchen sehr genossen hatte.
Alice ist müde, sehr müde. Sie schaut auf die Uhr, es ist schon nach zehn, sie war offenbar so in ihre Gedanken vertieft, dass sie das Schlagen der Uhr nicht gehört hat. Sie wird morgen weiterschreiben, morgen ist auch noch ein Tag.
Am nächsten Abend knipst Alice schon um sechs Uhr das Licht an und zieht die Vorhänge vor, denn Franzi hat sich heute freigenommen, um zu ihren Eltern zu fahren, die ihre goldene Hochzeit feiern. Den ganzen Tag hat es geregnet. Hoffentlich wird sich das Wetter noch bessern. Am liebsten hätte Alice zu ihrem Geburtstag eine saubere, weiße Schneedecke, weiß wie ein festlich gedeckter Tisch, und darüber ein klarer, blauer Himmel mit einer kalten Wintersonne. Sie lächelt über diesen kindlichen Wunsch, den sie schon hat, solange sie sich erinnern kann, ein Wunsch, der nur selten Wirklichkeit geworden ist. Sie setzt sich an den Schreibtisch und bereitet alles vor, um weiterzuschreiben.
Nach dem Ableben meines Grossvaters im Jahre 1884 bezog ich mit meiner sehr unglücklichen Mutter eine Wohnung Im Trutz[5]. Auch dieser Wechsel brachte abermals große Veränderungen in mein Leben, war ich doch jetzt viel mehr auf mich selbst angewiesen & auch meine Mutter ein wenig dem Einfluss der Familie entzogen. Durch die innige Freundschaft mit meiner lieben Emma [Steger], die jedoch ein recht unselbstständiger Charakter war & sich an mich die jüngere und energischere anklammerte, wurde mein Selbstgefühl sehr gehoben. So weigerte ich mich mit grösster Entschiedenheit als man mich, gerade 18jährig, zu einer Heirat nach England veranlassen wollte. Nie hätte ich mich zu dieser Trennung von meiner Mutter entschlossen, um so mehr, als ich auch sonst mit allen Fasern an die Heimat gebunden war.
Die Heimat … Ihre Heimat ist Frankfurt, die Stadt ihrer Kindheit, ihrer Jugend, ihrer Jahre als Ehefrau und Mutter. Nie wäre sie freiwillig aus Frankfurt weggezogen, wäre da nicht dieser unselige Österreicher an die Macht gekommen, dieser Schreihals, der ihr aber viel zu viel Angst einjagt, um über ihn lachen zu können.
Und nicht nur ihr! Sie weiß noch, wie sie mit ihren Söhnen Robert und Otto viele, viele Abende lang zusammengesessen und diskutiert hat. Die Situation war immer schwieriger geworden, nachdem die Bank, die Michael gegründet hatte, infolge des großen Börsenkrachs am 25. Oktober 1929 fast ihre gesamten Möglichkeiten verloren hatte. Erich war der Erste, der sehr rasch daraus die Konsequenz zog und eine Stelle in der Schweiz annahm, in Basel, und zwei Jahre später war ihm Leni mit dem kleinen Buddy gefolgt. Stephan, ihren ältesten Sohn, der schon in die Schule ging, hatte Leni vorläufig bei ihr gelassen, der Großmutter. Er sollte seiner Mutter und seinem Bruder nach Schuljahresende folgen.
Die wirtschaftliche Situation war mehr als schwierig. Otto hatte sogar seine Wohnung am Marbachweg kündigen müssen und lebte nun mit seiner Familie wieder bei ihr in der Jordanstraße, die damals schon Mertonstraße hieß. Aber ohne die politische Entwicklung wäre es vermutlich nicht dazu gekommen, dass sie alle auseinandergerissen wurden. Doch als nach der Kommunalwahl im März 1933 der jüdische Oberbürgermeister Ludwig Landmann zum Rücktritt gezwungen und das NSDAP-Mitglied Friedrich Krebs neuer Oberbürgermeister von Frankfurt wurde, sahen sie keine Zukunft mehr in Deutschland. Als dann noch Lenis Mann, der in der Schweiz bei der Firma Pomosin arbeitete, Otto eine Vertretung für diese Firma in den Niederlanden besorgt hatte, stand dessen Entschluss fest, er würde mit Edith und den Mädchen nach Amsterdam ziehen. Robert wollte versuchen, in England einen Kunsthandel aufzuziehen, und Herbert, das Sorgenkind, wollte in Paris bleiben.
Sie hatten auch über Palästina gesprochen, wohin viele Juden nun auswandern wollten, aber das war für sie keine Option. »Was sollen wir in einem Land, in dem es nur Wüste und keine Theater gibt, in dem man eine fremde Sprache spricht, in dem es so heiß ist, dass man nicht auf die Straße gehen kann, falls es überhaupt eine gäbe«, sagte Alice. Und Leni fügte hinzu: »Ein Land, in dem man seine Kinder nicht zu kultivierten Menschen erziehen kann.«
Darin waren sich alle einig. Und Otto meinte: »Wir gehören dort nicht hin. Seit bald zweitausend Jahren leben wir Juden hier, in Deutschland. Wir sind gebildet, wir sind kultiviert, natürlich sind wir Juden, aber doch nicht orthodox. Wir haben nichts gemein mit den ostjüdischen Händlern und Fabrikarbeitern, unter denen es viele Zionisten gibt, weil sie keine andere Wahl haben, und wir haben erst recht nichts mit den ostjüdischen Rabbinern zu tun. Nein, wir können zwar in anderen europäischen Ländern leben, auch in Amerika, aber nicht in Asien.«
Für Alice war es von Anfang an klar, dass sie Leni in die Schweiz folgen würde, eine Mutter gehört in die Nähe ihrer Tochter. Und nun ist sie schon seit zwei Jahren hier in Basel. Aber eine Heimat ist ihr die Stadt nicht geworden, dazu ist sie zu provinziell, das Leben zu gemächlich. Wer könnte schon das Theater, die Oper, das ganze kulturelle und gesellschaftliche Leben hier in Basel mit dem vergleichen, das sie von Frankfurt her kennt? Ganz zu schweigen von diesem schrecklichen Schwyzerdütsch, das sie noch immer kaum versteht, dieses kehlige Krächzen, das so viel unfreundlicher klingt als das vertraute, um vieles weichere Frankfurterisch. Alice seufzt, greift wieder nach dem Federhalter.
Es folgten dann fast 2 Jahre, die ich wohl als die schönsten & sorglosesten bezeichnen möchte. Von allen Seiten wurde mir Liebe & Freundschaft entgegengebracht, die teilweise noch heute besteht & die ich von Herzen erwiderte.
Euer Vater hatte während langer Zeit nicht unterlassen sein Augenmerk auf mich zu richten. Dies hinterbrachte man meiner Mutter & da sie bemerkte, dass auch ich ihm auf das Herzlichste zugetan war, so wurde im Rat der Familie beschlossen, mich für einige Zeit aus dieser angeblich so gefährlichen Umgebung zu entfernen. Obgleich wir eigentlich relativ selten zusammen sein konnten & dies meist nur mit grossen Schwierigkeiten & der Hilfe lieber vertrauter Freunde möglich war, so waren wir doch unserer gegenseitigen Liebe gewiss & entschlossen uns für das Leben zu binden. Zu welchem Zeitpunkt dies möglich sein würde, darüber waren wir uns sehr im Unklaren. – Ich reiste mit meinem Vetter Richard wohlgemut in die Schweiz, fühlte mich dort sehr wohl & keineswegs in der Verbannung und täuschte durch Heiterkeit & gute Stimmung ein Vergessen vor. Dies war aber keineswegs der Fall, wurde aber von allen Seiten mit Befriedigung registriert & der Zweck der Reise als vollständig gelungen bezeichnet.
Kurz nach meiner Rückkehr überraschten wir alle Angehörigen mit der vollendeten Tatsache unserer Verlobung ohne jemand um Rat gefragt zu haben. Diese Tatsache rief natürlich anfänglich grosse Sensation hervor & meine Mutter hatte schwere Stürme von Vorwürfen zu bestehen denen sie sich gar nicht gewachsen fühlte. Wie schwer sie sich an den Gedanken gewöhnte mich von sich lassen zu sollen, könnt Ihr, die Ihr sie doch gut kanntet, ermessen. Und viel Gutes & Schönes hatte sie später Eurem lieben Vater zu verdanken. – Mir wurde es anfänglich ausserordentlich schwer mich an die Pflichten gegen Geschwister, die ich ja nie besessen hatte zu gewöhnen & erst nach geraumer Zeit lernte ich zu verstehen was diese unbedingte Zusammengehörigkeit bedeutete & mit welch grosser Liebe war ich in späteren Jahren allen Lieben zugethan. – Auch Ihr habt ja nur Gutes & Schönes von allen erfahren.
Viel bleibt mir nun nicht mehr was ich Euch aus meiner Jugendzeit berichten & erzählen könnte.
Ihr seid zu denkenden Menschen herangewachsen, habt eine sonnige & frohe Kindheit gehabt. Alles, was in unserer Kraft stand geschah um Euch das Leben & die Jugend schön & freudig zu gestalten. Diese Erinnerung ist Euch bis jetzt geblieben & möge Euch weiter treu im Gedächtnis bleiben, mehr als je, da wir durch den Ernst der Zeit getrennt wurden & Jedes von Euch seine eigenen Wege gehen muss. – Ich kann Euch hoffentlich noch eine Weile begleiten, kann Euch aber weder Hilfe noch Stütze sein. Das Bewusstsein aber, dass meine innigsten Gedanken stets um Euch sind, soll Euch einen Halt geben, den Ihr, trotzdem Ihr selbst reife Menschen seid immer um Euch fühlen sollt. – Wenn Euch auch Länder & Meere trennen, so vergesst nie die gemeinsam verbrachte schöne Jugendzeit, die Euch eine Richtschnur für das ganze Leben geben sollte & gegeben hat. Bewahrt Euch als köstlichstes Gut die Erinnerung an das von Liebe erfüllte Elternhaus & lasst das Bild desselben in Eurem Gedächtnis nicht verblassen.
Eure Mutter
Basel, Dezember 1935
Zwei Tage später sind sie da, Otto und Margot. Franzi hat ein leichtes Abendessen gerichtet und Margot, blass von der langen Eisenbahnfahrt, ist bald schlafen gegangen. Franzi hat die Küche aufgeräumt, bevor sie sich in ihr Mansardenzimmer zurückgezogen hat, und Alice und Otto sitzen noch eine Weile zusammen. Alice betrachtet die neuen Fotos, die ihr Sohn aus Amsterdam mitgebracht hat, vor allem Fotos von Anne.
Otto erzählt auch, dass das Geschäft langsam in Gang komme, die Vertreter hätten im vergangenen halben Jahr deutlich mehr Geliermittel verkauft als im Jahr davor, sie hätten einen wirklich guten Herbst gehabt, die wirtschaftlichen Aussichten würden immer besser und die Kinder machten ihnen viel Freude. Edith falle es allerdings schwerer als ihm, sich in den Niederlanden einzugewöhnen, sie kämpfe mit der fremden Sprache und finde nicht so recht Freunde. Auch nach zwei Jahren leide sie noch immer unter Heimweh. Den Kindern gehe es allerdings sehr gut, es sei wirklich eine Freude, sie heranwachsen zu sehen. Sie sprächen Niederländisch, als wären sie dort geboren, und Anne sei jetzt ein fröhliches Schulkind.
Alice hätte ihm stundenlang zuhören können, doch Otto sieht erschöpft aus, auch für ihn ist die lange Fahrt anstrengend gewesen. Deshalb widerspricht sie nicht, als er sich zurückzieht. Bevor sie schlafen geht, bleibt sie noch kurz an der Tür zum Gästezimmer stehen und lauscht. Nichts ist zu hören, die beiden schlafen. Alice lächelt. Was für ein schönes, kluges Mädchen die neunjährige Margot ist. Morgen wird also das große Geburtstagsfest stattfinden. Alice geht zum Wohnzimmer, nimmt ihren fertiggestellten Brief aus der Schublade und schreibt noch etwas hinzu, einen Nachtrag für ihre Enkel Stephan, Buddy und Margot.
Und jetzt zu meinen Kleinen, bei denen leider unser Annelein fehlt. Euch Allen möchte ich diesen Tag besonders ins Gedächtnis einprägen. Nicht durch äussere Geschenke, sondern durch alle Liebe & Anhänglichkeit, die Ihr heute mit uns Erwachsenen erlebt habt, soll Euch der 20te Dezember ein Tag des Gedenkens sein & bleiben. Ihr sollt überzeugt sein, dass Euch ausser Euren Eltern niemand so sehr liebt als
Eure
Omi
Alice hatte das Glück, in eine Familie hineingeboren worden zu sein, in der viel erzählt und mündlich weitergegeben wurde. In ihrem Brief an ihre Söhne Robert, Otto und Herbert und an die Tochter Leni schrieb sie, ihr Großvater Elkan Juda Cahn habe seine Jugendzeit noch im Ghetto verbracht. Er war es, der in der Familie die Erinnerung an die Judengasse in Frankfurt tradierte.
In seiner Tochter Cornelia und in Alice, seiner Enkelin, müssen die Bilder der Vergangenheit noch lebendig gewesen sein, denn welcher Großvater weist seine Kinder und Enkel nicht darauf hin, wie anders das Leben früher, zu seiner Zeit, gewesen sei, vor allem wenn die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse so weit auseinanderklaffen, wie es bei Elkan Juda Cahn und seinen Nachkommen der Fall war. Erst bei den späteren Generationen verblassen dann die Bilder, die Erzählungen verlieren an Lebendigkeit und am Schluss bleiben vielleicht nur noch ein paar Erinnerungsstücke übrig. So hängt im Haus von Buddy Elias, dem einzigen noch lebenden Cousin von Anne Frank, ein kunstvoll koloriertes Foto von Elkan Juda Cahn und seiner Frau Betty, und im Besitz der Familie befindet sich ein handgeschmiedetes Silberbesteck für vierundzwanzig Personen, das seine Initialen EJC trägt. Das ist von ihm geblieben. Wie er gelebt hat, welche Träume er hatte und was er davon verwirklichen konnte, wird nicht mehr erzählt.
Doch Alice ist bestimmt noch mit den Geschichten von der Judengasse aufgewachsen. Ihr Großvater wird manchmal von früher erzählt haben, er wird gesagt haben: »Mir ist es nicht so gut gegangen wie euch.« Und dann beschrieb er die Gasse, die nur dreihundertdreißig Meter lang war, von Mauern umgeben und so schmal, dass noch nicht einmal ein Fuhrwerk in ihr wenden konnte. Nur nördlich von der Mitte, vor der Synagoge, war sie etwas breiter, aber selbst da nicht breit genug, damit Licht, Luft und Sonne hereindringen konnten.
Ab 1462