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Cosy-Krimi mit einem Schuss Ostalgie und Augenzwinkern. Als ein beliebter Gemüsehändler tot in einem Gurkenfass aufgefunden wird, steht Bernburg Kopf. Der Täter ist zwar schnell dingfest gemacht, doch die verträumte Hutmacherin Josefine Bach glaubt nicht an dessen Schuld. Zusammen mit einem ehemaligen Polizisten beginnt sie Ermittlungen auf eigene Faust. Sie ahnt nicht, worauf sie sich einlässt. Josefines ersten Fall muss man nicht kennen, um hier Spaß zu haben.
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Sämtliche Figuren und ihre Namen sind frei erfunden, jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig. Die im Buch genannten Orte existieren allerdings tatsächlich. Die Geschichte spielt im Sommer 2020. Corona habe ich außen vor gelassen. Ich wollte nicht auch noch in meiner Fantasie davon belästigt werden. Vielleicht geht es dir ja auch so.
Lenny Löwenstern hat nichts als Sterne im Kopf. Er träumt vom Fliegen ohne Flügel und weil er das selbst nicht hinbekommt, schickt er seine Helden auf die Reise. Lenny liebt schöne und alte Wörter und ist ebenso sternverrückt, wie mondbeschimmert, himmelsstürmend und traumvergessen.
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Achte die Träume!
Ihre erste Leiche wäre es nicht gewesen. Doch Josefine war nicht vor Ort, als der Tote auf dem Marktplatz entdeckt wurde. Sie hatte ihn knapp verfehlt.
Henni setzte sie ins Bild. Ihre beste Freundin war völlig aufgelöst. Das arme Ding. Die blonden Locken an den Kopf geklatscht. Henni Kuschel schwitzte. Sie trug nicht einmal einen Hut. Was sie sonst immer tat, wenn sie zu Besuch kam. Schon aus Respekt der vielen Hutgeschenke wegen, die sie über die Jahre erhalten hatte. Heute war alles anders.
»Das kann doch nicht wahr sein, Fienchen«, brachte Henni heraus.
»Lass dir Zeit, liebe Henni. Beruhige dich erst mal. Dann erzählst du mir alles, ja?«
Henni, deren vertraute Sitzkuhle im Sofa sich leer und nutzlos fühlen musste, wenn ihr Hintern sie nicht ausfüllte, redete sich umgehend in Fahrt. Nicht dass es dazu einen allzu langen Anlauf gebraucht hätte, denn Abwarten war nicht ihre Sache. Auch am Telefon konnte sie umstandslos losplappern.
Die beiden hockten in der Werkstatt beieinander, die Josefine zugleich auch als Wohnung diente. Hier fand sie Geborgenheit zwischen Wunderplunder und Firlefanz. Inmitten von Glitzerkissen, umgeben von exotischen Stoffen, raren Filzen und Türmen unvermeidlicher Hutschachteln.
Die Hutmacherin kuschelte sich in ihren Sessel, als könnte sie dort Schutz vor den Unbilden der Welt finden. Als sie mit ihrer Sitzposition zufrieden war, hob sie die langen Beine auf den Tisch. Den Kopf in den Wolken und dennoch mit beiden Füßen auf dem Boden, das kann nur klappen, wenn man lange Beine hat. Und die besaß Josefine. Immer noch ahnte sie nicht, was eigentlich passiert war.
»Ach zum Kuckuck auch. Das kann man sich gar nicht ausmalen, Herzchen. Die halbe Stadt hat’s gesehen. So kommt mir das vor. Was da los war. Nicht so wie du damals mit dem Sommermörder, den du für dich ganz allein hattest.«
»Na danke Henni, ein bisschen Gesellschaft hätte ich in der Situation schon gern gehabt.«
»War nur Spaß.« Henni war für gewöhnlich die gute Laune in Person. Von ihrem lachfröhlichen Wesen war an diesem Morgen allerdings nur wenig zu spüren.
»Erzähl es mir von Anfang an. Lass dir Zeit. Aber ich muss alles wissen.«
Henni schüttelte sich. Sie war ein wenig adipös, was man ihr auch ansah. Zugegeben, sie war nicht nur ein wenig adipös, Henni hatte deutlich zu viel auf den Rippen.
»In einem großen Gurkenfass haben sie ihn gefunden. Kannst du dir das vorstellen? Wie der da drin hockte in dieser trüben milchigen Lake. Und die Gurken schwammen ihm unter der Nase herum.«
»Das ist gruselig, Henni. Hast du ein Foto gemacht?«
»Natürlich nicht. Erstens war ich viel zu aufgeregt und zweitens macht man das nicht. Kindchen, du hättest mal mein Herz hören sollen. Wie das protestierte. Man sieht ja nicht alle Tage eine Leiche. Und dann so direkt vor einem. Und dann das Gedränge da. Aber die Beamten waren schnell vor Ort und haben alles abgesperrt.«
»Das denk ich mir.«
Henni musste sich der frischen Erinnerungen wegen schütteln. »Du kanntest ihn ja auch.«
»Wen denn? Wen hab ich gekannt? Du sagst ja nichts.«
»Den Gerken, den Gemüsemann. Der hat doch die Gurken immer aus dem Fass verkauft. Und dann stirbt er da drin. Das kann man sich nicht ausmalen.«
Josefine schockierte das, aber es wunderte sie nicht. Auch in Klein- und Mittelstädten lauern mehr Gefahren, als den Menschen bewusst ist.
»Du weißt doch, wie gurkenvernarrt der Gunnar immer war. Gurken waren dem sein Ein und Alles. Aber das hat er doch nicht verdient, dass er so enden musste. In Salzlake vergoren. Du glaubst nicht, was für ein Entsetzen das war. Und dann in dieses schreckliche schwarze Fass, nein, nein.«
Henni ließ sich drücken, bis ihr Zittern endlich erlahmte.
»Ich bin gleich hergeeilt. Du bist ja so was wie die Expertin.«
»Ich?«
»Wer sonst?« Henni zwinkerte. Nicht mehr lange und sie würde ihr Lachen wiederentdecken. Leiche hin, Leiche her.
Josefine hatte den Toten nur flüchtig gekannt. Er war Landwirt und belieferte einen Marktstand. Gurkengünni wurde er von allen genannt. Damit war ihr Wissen aber auch schon erschöpft. Im Verkauf war er nicht tätig gewesen. Aber manchmal stellte er sich zu seinen Verkäuferinnen und prahlte. Seine Leute kümmerten sich um das Gemüse und er bot Salzgurken feil. Ein stattlicher Typ war das, dem man die jahrelange harte Arbeit allerdings ansah. Keine vierzig, aber schon angeschlagen, der Rücken …
Henni wusste schmerzliche Lieder drüber zu singen. Ihre nächste OP stand im September an. Es war die vierte in diesem Jahr. Sie kam gar nicht mehr raus aus den Operationssälen. Gerüchtehalber duzte sie inzwischen sogar einige der Chirurgen. Von den Krankenschwestern musste man gar nicht erst reden. Es hatte sich bereits ein regelmäßiges Kaffeekränzchen etabliert, zu dem man Röntgenbilder, Ultraschallfotos, Mammographie-Aufnahmen oder seine MRTs mitbrachte.
Henni räusperte sich, ein Kloß im Hals angesichts der Umstände, aber nichts weiter.
»Was du auch noch nicht weißt. Sie haben schon einen Verdächtigen. Oh ja. Den haben sie gleich auf dem Markt einkassiert.«
»Was denn, die haben einen gleich verhaftet?«
»Jedenfalls haben sie ihn mitgenommen aufs Revier. Und zwar den Gehilfen. Den kennst du auch vom Sehen. Er heißt Ronny. Der ist erst neunzehn.«
»Der mit den Bärenkräften?«
»Genau der.«
»Heißt es nicht, der sei ein bisschen bekloppt? Und dann bringt der seinen Chef um?«
»Nein, niemals. Der Ronny war so ein lieber Kerl. Der kann das gar nicht gewesen sein. Wie der mit den Leuten war, das war einmalig.«
»Vielleicht hatte er ja einen Anfall oder der Chef hat ihn wütend gemacht. Das kann alles vorkommen beim Menschen. Man sieht nicht, was in einem Gegenüber drinsteckt. Selbst du könntest zur Mörderin werden.«
»Also ich muss doch bitten, Josefine Bach. Niemals könnte ich …«
»Weiß ich doch, Henni, weiß ich. Obwohl …«
Henni schaute ihre beste Freundin böse an.
»Im ernst, Fienchen, Gunnar Gerken war mein Kollege. Wenn ich daran denke … Oh mein Gott. Es ist ein paar Jährchen her, aber wir sind super miteinander ausgekommen. Klar, er war ein bisschen älter als ich. Was mir damals aber recht war. Ein Raufbold vor dem Herrn. Hatte ziemliche Kraft in den Armen. Was der alles heben konnte. Da hat sich manch eine beeindruckt gezeigt. Und ein Temperament … Brüllen konnte der, darin war er noch besser, wie gemacht für den Markt. Ein Mann, den man nicht ignorieren konnte. Und im Herzen gut.«
»Das ist das Wichtigste.«
»Du sagst es.«
»Und du hast ihn natürlich nicht übersehen.«
»Wie hätte ich …«
»Ich schenk uns jetzt erst mal einen ein. Auf den Schreck«, meinte Josefine und war schon am Kühlschrank. Mit ihren langen Beinen hatte sie für die fünf Meter nur zwei oder drei Schritte benötigt.
»Wodka oder Limes?« Das mit Zetteln beklebte Gerät stand in einer Ecke. Sie musste sich bücken, denn sie war beinahe zwei Meter hoch. Kühlschränke schüchterte das nicht ein, aber so manchen Kerl. Dazu kam ein weiterer Umstand, im Freien war sie nie ohne Hut unterwegs. Und ein Hut ließ sie noch länger erscheinen, als sie ohnehin schon war. Erst recht, wenn es sich um eine ihrer gewagteren Kreationen handelte. Eine Frau wird zur Riesin, wenn ihr Hut es so will. In Bernburg war sie deshalb gut bekannt, auch ihrer Eskapaden und einer früheren, ihrer ersten Mordermittlung wegen.
»Ist es nicht zu warm dafür? Ich mein, jetzt schon?« Henni zeigte Bedenken, da es auch um ihren Kreislauf nicht zum Besten stand.
»Papperlapapp. Auf den Schrecken muss das sein. Nur den einen, du sollst mir hier ja nicht umkippen.« Josefine griff zum Wodka.
»Na dann Prost!«
Die beiden schüttelten sich.
In dem Raum roch es nach Bügelhitze und Klebstoff. Das Licht war trübfarbig und schummerig, da Josefine die Fenster zugezogen hatte. In ihrer Werkstatt hatte der Sommer nichts zu suchen. Sie hatte ihn im Kopf und vor der Haustür, das genügte.
»Ach Mensch, Henni, dass ausgerechnet dir das passieren muss. Ich meine, so eine Leiche, die kriegt man nie wieder aus dem Kopf.«
»Na herrlich«, rief Henni. »Das kann ich wirklich gebrauchen. Wo ich doch so schon auf der Kippe stehe.«
»Tut mir leid. In ein paar Jahren kannst du bestimmt drüber lachen.«
»Wenn es mich dann noch gibt. Also weißt du … Das ist wirklich nicht leicht in so einem Körper.«
Josefine wollte Henni ein bisschen aufmuntern, sie ablenken. Doch ausgerechnet in diesem Moment fiel ihr nichts ein. So kam sie wieder auf die Tat zu sprechen.
»Was war das denn mit diesem Ronny? Woher kannten die sich denn?«
»Den hatte Gunnar seit zwei Jahren. Hat ihn aus einem Heim geholt. Der ist noch ziemlich jung, der Bursche. Ronny Zart heißt er. Und ein Riesenbaby ist das.« Henni kicherte matt. Der Alkohol konnte nichts dafür. Henni lachte gern und viel, nur eben heute noch nicht. Doch das Lachen stand schon bereit. Es würde sich trotz der Ereignisse Bahn brechen. Noch fehlte der passende Moment. Henni schwärmte jetzt ein bisschen:
»Den Ronny hat Gunnar gut behandelt. Das haben die Leute auch gesehen, und die Kollegen. Auf den Jungen ließ er nichts kommen, auf den passte er auf und brachte ihm alles bei. Man merkte das ja, die Entwicklung, die er nahm. Vielleicht war er nicht so blöd, wie alle denken.«
»Klingt, als hättest du den Gunnar insgeheim immer noch geliebt?«
»Ach, wo denkst du hin. Das ist zwanzig Jahre her mit dem. Dazwischen liegt die halbe Bernburger Männerwelt.«
»Du übertreibst.«
»Ich mache mir Mut.«
Josefine legte ihre Hand auf Hennis. Ihre Besitzerin wusste aber nicht, was zu tun war, außer Streicheleinheiten zu verteilen. Diesen Gunnar kannte sie nur vom Sehen, Henni hatte nie etwas Persönliches von ihm erzählt. Deshalb war er für sie nur ein Landwirt, der Gemüse auf den Markt lieferte und einen Gurkentick hatte.
»Gunnars Ehefrau kenne ich flüchtig. Die war schon zu meiner Zeit nicht mehr am Stand. Die hat auf dem Gerkenhof, wo Ronny übrigens wohnt, das Zepter geschwungen. Jedenfalls, was ich gehört habe. Mit der ist wohl nicht gut Kirschen essen. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Ronny den Gunnar umgebracht haben soll. Der doch nicht. Nie. Nee. Nie.«
»In den Menschen steckt manchmal ganz was anderes«, sagte Josefine, die nur zu gut wusste, wovon sie sprach. »Hinterher ist man auch schon mal schockiert.«
»Ja, das bin ich wirklich. Ich hab einen echten Schock. Vielleicht kann der Wodka noch etwas helfen.«
»Verträgt sich das mit deinen Pillen?«
Henni machte ein ärgerliches Gesicht, dann hatte sie die Sache schon vergessen. »Vor allem muss man jetzt dem Ronny helfen, der ist doch ganz allein. Also wirklich, ich hätte nie gedacht, dass so was mal in unserem schönen Bernburg passiert.«
»So selten ist das nicht.«
»Aber in der Öffentlichkeit? Das hat es bestimmt seit dem Krieg nicht mehr gegeben.«
Jemand unterbrach die Freundinnen. Es war Sandra, die aus dem Ladenbereich kam.
»Frau Gerlebogk ist zur Anprobe da«, sagte sie mit glockenschöner Stimme.
Sandra Kaulbarsch war Josefines größte geschäftliche Veränderung dieses Sommers. Die Dreiundzwanzigjährige war als Verkäuferin eingestellt worden. Sandra wohnte im nahen Biendorf, hatte eine Schneiderlehre gemacht und war ein echtes Landei mit rosigem Teint und fester Haut. Sandra war bereits drauf und dran, zu einem Mauerblümchen zu reifen, was unbedingt verhindert werden musste. Die Stadt würde ihr guttun.
Sandra war in allen Dingen stets höflich und zu Diensten. Die Kunden, meist waren es Kundinnen, schätzten das. Sandra hatte sich schnell eingearbeitet und jetzt schon unverzichtbar gemacht. Die Hutmacherin und Geschäftsinhaberin war begeistert. Sandra sei Dank hatte sie mehr Zeit für sich. Für Josefine bedeutete das vor allem mehr träumen und mehr bummeln. Und was das Wichtigste war, sie konnte sich wieder auf das Handwerk konzentrieren.
Möglich war das alles überhaupt nur, weil nach den Ereignissen um den mörderischen Modezaren Kleon von Üyr das wohlwollende Licht öffentlicher Anteilnahme auf Josefine und ihren kleinen Betrieb gefallen war. Das Geschäftsaufkommen hatte sich nicht weniger als verdoppelt. Die Modefirma aus Berlin ließ sich von ihr auch weiterhin ausgefallene Designs entwerfen. Und das, obwohl oder gerade weil der Gründer im Gefängnis brummte und sich dort ausgedehnten Fantasien über adrette Knastkleidung widmete.
Josefine fragte sich, wie Sandra es wohl fand, dass ihre Chefin mit ihrer besten Freundin Kuchen aß, während sie im Laden bedienen musste. Und das bei der Hitze. Womöglich hatte sie schon bemerkt, dass etwas vor sich ging und hielt deshalb die Klappe. Oder sie dachte sich nichts weiter dabei. Wahrscheinlicher war, dass sie keine Zeit zum Grübeln hatte. Die Ladenklingel bimmelte immer wieder. Sandra war schon mit der nächsten Kundin zugange und hob einen riesigen Flamingohut auf deren Kopf.
Und wieder die Klingel. Josefine lugte um die Ecke, sah eine Stammkundin und eilte nach vorn.
»Henni, du musst ein paar Minuten ohne mich auskommen. Ich bin gleich wieder bei dir. Tu dir in der Zwischenzeit bitte nichts an. Wo der Wodka steht, weißt du ja.«
Aber Henni fand es viel zu beschwerlich, den Weg zum Kühlschrank zurückzulegen. In ihrer Kuhle auf dem Sofa fühlte sie sich wohl, warm und geborgen. Heute würde sie nicht mehr aufstehen, so viel war sicher. Wenn nur die Hitze nicht wäre. Und diese Leiche, die in ihrem Kopf umging.
Frau Gerlebogk sah mit einem Gläschen Rotkäppchen-Sekt in der Hand ihrer Anprobe entgegen. Die alte Dame schnaufte vor Aufregung. Von den Vorfällen auf dem Markt hatte sie noch nichts mitbekommen, sonst hätte sie davon gesprochen. Josefine beschloss, daran auch nichts zu ändern. Das war gegen ihre Gewohnheiten. Es war für Henni.
Die Hutmacherin umkreiste ihre Kundin, strich hier etwas glatt, nickte da, fand nichts mehr auszusetzen, rückte den Spiegel vor und ließ den Hut sein übliches Wunder tun. Weinte Frau Gerlebogk?
Der Flamingohut in der anderen Ladenecke stieß zur selben Zeit einen Schrei der Entzückung aus.
Henni hatte es sich inzwischen anders überlegt. Die Hitze war das eine, der schwere Körper das andere, doch da war eine Sache, die sie zum Aufstehen drängte. Das war der Hunger. Sie schlich gerade vom Kühlschrank zurück. Mit reichlich Bernburger Baisertorte auf einem verdächtig tiefen Teller.
»Bevor der schlecht wird …«
»Mein Kühlschrank ist dein Kühlschrank, liebste Henni.«
»Danke. Aber du hast es wirklich verdient, Herzchen«, lenkte Henni von dem vollen Teller ab.
»Was denn?«
»Na, den Erfolg. Jetzt läuft es bei dir. Und was du nun für Kunden hast, richtig mondän ist es hier geworden. Nicht so wie bei uns Marktweibern. Bald brauchst du eine schickere Inneneinrichtung und ziehst in ein größeres Atelier in der Lindenstraße. Oder gleich nach Berlin.«
»Das wüsste ich aber.«
»Du wirst Berühmtheiten und Politikerinnen ausstaffieren.«
»Du willst mich wohl loswerden?«
»Keineswegs.« Henni tat vornehm, was ihr aber nicht recht gelingen wollte. Marktfrau bleibt eben Marktfrau. »Ich hab’s nur gut gemeint.«
»Ich weiß schon, aber sag mal, Henni«, meinte Josefine, um wieder auf das Thema des Tages zurückzukommen, das sie nicht ruhen ließ. »Dieser Ronny, der Gehilfe, warum hat der die Tonne auf den Markt gefahren, wenn er doch wusste, dass da eine Leiche drin ist? Noch dazu von jemandem, den er selbst umgebracht haben soll?«
»Na, weil er doch unterbelichtet ist. Der hatte das vergessen. Oder gedacht … Ach, ich weiß nicht, was er gedacht hat, ich kann nicht wie ein Bekloppter denken, dann wird mir nämlich blümerant. Irgendwas Verdrehtes vielleicht. Aber das glaube ich nicht, die Polizei hat bestimmt den Falschen festgenommen. Der Ronny doch nicht.«
»Aber da sie ihn mitgenommen haben … Ein gutes Zeichen ist das nicht.«
»Meinst du?«
»Ich weiß nicht.«
»Was mache ich nun?«
»Na, du bist ja nicht verhaftet.«
»Stimmt auch wieder.«
»Ich wette, der war’s nicht«, zeigte sich Josefine überzeugt.
»Genau!« Henni lachte und klatschte vor Begeisterung in die Hände. »Und dann, Fienchen, kommst wieder du zum Einsatz. Du kannst den Fall lösen. Die Damen und Herren Kriminalräte wissen eben nicht alles und machen Fehler. Für uns Leute vom Markt wäre das die beste Nachricht. Für das Verbrechen allerdings eine schlechte. Josefine Bach ermittelt wieder. Oh, oh, wie das klingt. Das ist keine Feststellung, das ist eine Drohung! Und zwar eine handfeste. Du musst das machen, Fienchen. Du kennst dich doch aus. Hast es schon mal geschafft.«
»Ach, Henni. Henni, Henni.«
Ich wäre fast dran gestorben, dachte die Hutmacherin. Aber ich kenne mich aus. Lacht da jemand? Ich weiß, wie es ist als Ermittlerin, die niemand haben will. Du liebe Zeit, das muss ich nicht noch mal haben. Alles viel zu gefährlich. Es sei denn, ich bekomme Hilfe.
Dieser Gedanke war nicht einfach so dahingedacht. Josefine hatte schon jemanden im Auge. Nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass ihr Einsatz gefragt sein sollte. Man wusste nie … Natürlich. Und auch nur dann. Vielleicht würde die Polizei sie im Laufe des Falles als Expertin hinzuziehen, wenn man auf dem Revier nicht weiterkam. Wusste man es? Sie jedenfalls fühlte sich dem Kommenden gewachsen. Was immer es auch sei …
»Und dieser Gunnar, der war reich?«
»Zu meiner Zeit war er’s noch nicht. Was glaubst denn du. Fast hätte ich den geheiratet. Gott, wenn ich mir das heute vorstelle. Ich mit dem, also nee.« Henni lachte laut mit krächzender Stimme.
»Und warum hast du es nicht? Kalte Füße gekriegt?«
»Der Mistkerl hatte es sich anders überlegt und sich für eine andere entschieden. Für die reiche kalte Katrin, so haben sie alle genannt. Bei der war mehr zu holen als bei mir. Ich hatte ja nur mein Herz und mein Lachen.«
Ach, Henni, dachte Josefine und hätte sich gern eine schönere Erinnerung für ihre Freundin erträumt. Doch Henni war noch nicht fertig.
»Aber die Katrin, die kam nicht mit auf den Markt. Da war sie sich nämlich zu fein für. Die machte lieber die Bücher, kommandierte Leute rum und schmiss den Hof, wenn Gunnar draußen auf dem Feld war oder die Märkte beschickte.«
»Also hat er sich gegen das Lachen und für das Geld entschieden.«
»So ist es, Herzchen. Und wohin hat ihn das am Ende gebracht?« Henni seufzte schwer.
»In ein Fass.«
Jetzt lachten beide. Ein fast verzweifeltes Lachen, bei dem einem zum Weinen zumute werden konnte.
»Der Ronny war’s nicht«, brachte Henni noch mal hervor. »Er kann das nicht gemacht haben. Die Katrin war das. Und du wirst es für mich beweisen.«
Wenn eines klar war, dann, dass Josefine ihrer besten Freundin helfen würde. Sie wusste nur noch nicht, was sie dafür alles würde anstellen müssen.
Wenn Störche Hüte trügen, wäre die Welt eine andere. Der Gedanke kam Josefine in den Sinn, als sie Meister Adebar am Fenster vorbeifliegen sah. Ein Storchenhut müsste äußerst hoch und dünn sein, dann sähe er gut aus. Aber beim Fliegen würde er stören.
Neunundzwanzig Grad im Schatten dürfen zu Recht als perfekt für ein zünftiges Hutvergnügen gelten. Josefine hatte sich für ein ziegelfarbenes Stück aus Weizenstroh entschieden. Eine extrabreite Krempe würde sie vor der Sonne schützen und das hohe versteifte Kopfteil ihr renitentes Haar zu bändigen wissen. In diesem Putz konnte man sich wohl sehen lassen, dachte sie zufrieden. Dazu trug sie ein helles Kleid mit dezenten Blumenornamenten. Einzig die Luise hob sie von den anderen sommerlich gekleideten Damen ab.
Die Luise war ein hölzerner Kasten, den sie an einem Gurt trug. So baumelte er einem Bauchladen ähnlich an ihr herunter. Weil das in der Praxis oft unpraktisch war, trug sie die Luise immer seltener. Früher hatte das Gebilde ihre Siebensachen parat gehalten. Der Kasten war ihre einzigartige Wunderkammer. Es gab selten eine Situation, in der Josefine nicht etwas Passendes vorweisen konnte. Die Luise bestand aus grundgrauem Treibholz, sie war das Abschiedsgeschenk ihres zweiten Freundes Georg gewesen, der als Seemann standesgemäß (und hoffentlich tapfer) im Meer ertrunken war. Das war nun über vier Jahre her, nie vergessen, aber verdaut. Tatsächlich steckte der Mann längst in der Besenkammer ihrer Träume.
Josefine hatte vor, sich umzuhören. Die Neugier trieb sie regelrecht aus dem Haus. Bei einem Mord konnte man nicht in der Werkstatt hocken bleiben. Wichtige Aufträge standen nicht an und den Laden würde Sandra schmeißen. So konnte man sich Zeit lassen. Im Radio brachten sie nichts über den Fall. Jetzt rächte sich, dass Bernburg keinen eigenen Sender hatte und von den Metropolen abhängig war. Mit dem Handy suchte sie bei Twitter, fand aber nur einen steifen nichtssagenden Tweet der Polizei, den offensichtlich kaum jemand zur Kenntnis nahm. Also dann …
»Liebe Sandra, der Laden gehört dir. Ich geh mir mal die Beine vertreten.«
»Oh, danke, Chefin.«
»Aber nur bis ich wieder da bin, hörst du. Ich will mich nur mal umhören für ein paar Stunden. Wenn du Fragen hast, ruf mich an. Ich hab den Zauberkasten dabei.«
Das heißt, wenn ich das Handy auch eingeschaltet habe und nicht von irgendetwas abgelenkt bin. Sandra kannte das schon, ihre Chefin war häufig unterwegs. Dafür ackerte sie an manchen Tagen aber auch bis zweiundzwanzig Uhr oder länger in der Werkstatt. In Auftrag gegebene Hüte wurden immer pünktlich fertig, da biss die Maus keinen Faden ab. Das war Handwerkerehre.
Die Hutmacherin war fast zwei Meter groß. Einer derart hohen Dame sah man es nach, wenn sie gelegentlich mit dem Kopf in den Wolken weilte und dort, wie es schien, sogar Wurzeln schlug. Wer in den Wolken lebt, der betrachtet die Dinge entspannt von oben. Das sorgt außerdem für Übersicht. Man muss natürlich auch runtergucken und nicht noch weiter nach oben sehen oder gar mit den Wolken flirten. Wer das Pech hat, unten zu sein, der guckt auf Käsefüße und Krümel. Sollte man sich in einer solchen Lage wiederfinden, lohnt es, darüber nachzudenken, die Position zu wechseln.
Jeder wusste: Wer so geht, der kann auch Frösche fangen. Der storchenhafte Gang war ihr eigen. Sie stakste, stelzte und schritt auf ihren langen Beinen aus. Gelegentlich knackte ein Gelenk. Josefine bummelte nicht, sie lustwandelte. Schließlich wollte sie gesehen werden. Sie wollte bestaunt werden (vor allem ihre Hüte) und hoffte, das ein oder andere Gespräch führen zu können.
Da sie aber auch heute in den Wolken unterwegs war, übersah sie erst ihre Kundin Lederbogen und dann die dicke Gerbig von der Bernburger Zeitung. Die rollte auf der anderen Straßenseite vorüber und schnaufte dabei, als sei sie die mit Kindern voll besetzte Parkeisenbahn.
Einem Mord nachzuspüren war keine ganz leichte Sache. Man musste nüchtern bleiben, die Dinge aus der Entfernung betrachten. Ständig war man unterwegs, befragte oder beobachtete Menschen und das, was sie taten. Observierungen konnten sich stundenlang hinziehen und zu Langeweile führen. Man konnte in die ungünstigsten Umstände und Peinlichkeiten geraten. Ja, sogar gefährlich konnte es werden.
Der Ruhm, der sich ernten ließ, war hingegen bescheiden. Den Sommermörder gefasst zu haben, noch vor der Polizei, was hatte ihr das eingetragen? Ja, der Laden lief besser als zuvor, aber das wäre vielleicht ohnehin passiert (der guten Hüte wegen). Viele Bernburger kannten ihr Gesicht aus der Zeitung, wo es definitiv nichts zu suchen hatte, wie sie fand. Abgesehen von dem Werbeeffekt, der nicht ungelegen kam, war ihr die Sache eher peinlich. Ständig erkannt zu werden, war ihre Sache nicht. Man sollte doch auf ihre Hüte sehen.
Dazu kam noch etwas. Josefine war derart verträumt, dass sie manchmal gar nicht mitbekam, wenn Leute sie ansahen, ansprachen oder etwas von ihr wollten. Man sprach laut über sie, Menschen standen neben ihr, nur sie kriegte nichts davon mit. Sie hatte Wichtigeres im Kopf oder da war etwas, das ihre Aufmerksamkeit vollständig beanspruchte. Ein interessantes Insekt vielleicht, eine schön geformte Wolke. Ein Schatten konnte genügen und sie war nicht mehr in dieser Welt.
Wie dem auch sei, sommersonnenschön ausgerüstet ließ es sich angenehm durch die Straßen flanieren. Ein leichter Wind erfrischte und trug einen süßen Geruch heran. Die floristischen Zauberkräfte des Blumenladens an der Ecke hatten das bewirkt. Nur ein paar Schritte später gesellte sich ein würziger Hauch von Bratwurst dazu. Der Geruch ihrer Stadt. Josefine liebte ihn.
Der Himmel schien ganz ähnlich zu denken, sofern er etwas von Gerüchen verstanden hätte, was nicht sehr wahrscheinlich war. Jedenfalls hatte er zur Stunde eine ordentliche Laune und sich zum allseitigen Himmelblau ein paar Schäfchenwolken gegönnt. Auch ein Himmel mag es ab und an weich haben. Und etwas Unterhaltung schätzte er wohl auch.
Der Wochenmarkt fand zweimal in der Woche auf dem Karlsplatz statt. Heute passierte in dieser Hinsicht nichts, dennoch hatten sich die Bernburger auf den zahlreichen Bänken eingefunden und diskutierten aufgeregt über die gestrige Sensation. Hochbetrieb herrschte vor der Eisdiele (Sommerwetter) und an der Weltzeituhr. Es gab nur ein Thema. Gunnar, Gurken und der Gehilfe. Das hing alles zusammen und hätte so auch einen passablen Romantitel ergeben.
»Jetzt stellen Sie sich das mal vor«, horchte die Hutmacherin in eine aufgeheizte Unterhaltung hinein. »Der Ronny, dieses Riesenbaby, der soll noch in der Nacht den Mord gestanden haben.«
Das kam Josefine ungelegen, war sie doch gerade noch überzeugt gewesen, dass der Gehilfe unschuldig sein müsse. Schließlich hatte Henni ihr das nahegelegt. Und plötzlich sollte er die Tat zugegeben haben? Oh, Henni.
»Das hätte ich nie von ihm gedacht«, versetzte eine alte Schachtel, die nur deshalb so alt wirkte, weil sie keinen Hut trug. Ein Hut hätte noch etwas herausholen können. Aber wenn man das nicht weiß …
»Stark genug dafür war er ja, der hat ihn bestimmt erwürgt.«
»Oder ihn in dem Fass ersaufen lassen, wie schrecklich.«
Den Urheber dieses Satzes kannte die Josefine aus der Schule. Der konnte selbst nicht mal schwimmen. Lass du dich mal in ein Fass einsperren, schimpfte sie in Gedanken, dann wollen wir sehen.
»Da wäre Gurkengünni doch nicht böse drüber gewesen, zwischen seinen geliebten Gurken«, gab ein bierbäuchiger Dosentrinker zum Besten.
Die Leute wussten viel zu erzählen. Stimmen musste davon aber nichts. Gunnar Gerkens Gurkenliebe war in der Region bekannt. Er war einfach ein gurkenverrückter Kerl gewesen. Zu ihm ging man, weil es Spaß machte. Der Gerken hatte gute Laune und immer einen lustigen Spruch für seine Kunden auf Lager. Und teuer war eine Salzgurke auch nicht.
Kollegen, die von seiner Leidenschaft wussten, verspotteten ihn als Gurke oder Gurkengünni. Wer nicht frotzelte, der zog ihn auf. Auch weil er stets mit einer bedruckten Schürze unterwegs war. Darauf waren einige Prachtexemplare aus dem Reich der Gurken zu sehen. Wenig Wunder nahm, dass er und Ronny gemeinsam als Gurkentruppe bekannt gewesen waren.
»Da kommt die Gurkentruppe.«
»Na guck, Gurk und Gürkchen.«
Gunnar ließ das nicht an sich heran. Das Gewitzel der Kollegen gehörte für ihn dazu. Für ihn waren das Neckereien. Wer Erfolg hatte, wer sich einen Namen gemacht hatte, musste das aushalten. Die Welt der Marktbeschicker war nicht selten derb und barsch. Die Frauen waren da keine Ausnahme. Sollten sie reden, er war eben er. Und schon ging die Begeisterung für das grünste und beste aller Gemüse mit ihm durch.
»Nun schauen Sie sich dieses Exemplar einmal an. Grünes Gold, möchte man meinen.«
»Oder hier, eine wahre Gurkenschönheit, der Herr. Nehmen Sie ein Kilo? Oder zwei? Bessere werden sie nirgendwo finden.«
»Und Sie, junge Dame. Alle Diäten versagen, nur die Gurke nicht. Probieren Sie mal.«
So hatte Josefine ihn selbst erlebt. Ein donnernd lauter, stämmiger Kerl, der seine Macken gehabt haben mochte und der eine große Liebe hatte. Doch irgendjemand hatte ein Problem mit ihm gehabt. Ein tödliches Problem. Und die Hutmacherin hatte nicht die geringste Ahnung, wer das hatte sein können. Vorerst war jeder verdächtig. Kollegen, Kunden. Ein wenig zu horchen, würde nicht genügen. Sie würde tiefer in die Sache einsteigen müssen. Nachforschen, bohren, den Dingen auf den Grund gehen. In ihr reifte ein Plan.
So schön war der Sonnenaufgang noch nie gewesen. Ein einziger himmlisch schöner Himmelsommerrosenschein. Um ihn zu sehen, musste man früh aufstehen, was wegen der Temperaturen nicht allzu schwer fiel. Was einem der Sommer sagen will, ist Folgendes: Kommt raus aus den Federn und genießt mich. Wofür bin ich da? Nehmt mich, sonst brat ich euch. Das ist keine leere Drohung, Sommer sind so. Sommer verstrahlen sich, ob man will oder nicht.
Es hatte noch eine weitere Veränderung gegeben. Da Josefine sich entschieden hatte, das Haus zu behalten, Laden und Werkstatt weiter zu betreiben, musste ein Mieter für die einzige noch leer stehende Wohnung gefunden werden. Sie hatte ihren Mieter und Polizeianwärter Maik Peißen aufgefordert, die Ohren aufzusperren und sich nach einem wohnungssuchenden Kollegen umzuhören. Die Mühe hatte sich letztlich gelohnt. Ein weiterer Ordnungshüter wurde zwar nicht gefunden, dafür aber ein Pensionär.
Adalbert Abendscheu war neunundfünfzig Jahre alt und wegen Dienstunfähigkeit nach einem letzten Einsatz in den Ruhestand gegangen. Josefine fühlte sich beschützt mit zwei Polizisten im Haus, auch wenn der eine nur Anwärter war und der andere seine aktive Zeit hinter sich hatte. Zudem ist ein Pensionär eine sichere Sache, was den Mietzins angeht, arbeitslos kann so einer nicht mehr werden. Womöglich besteht ein erhöhtes Risiko, zu sterben, schlussfolgerte Josefine angesichts der neunundfünfzig Jahre und eines sicher anstrengend gewesenen Berufslebens.
Seine ruhige Art gefiel ihr. Hektik verstummte in seiner Gegenwart. Was sie weniger an ihm mochte, war seine strikte Weigerung, einen Hut zu tragen. Dabei hätte der gut zu ihm gepasst. Aber der Mann war eigen. Ihr Mieter trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd mit Manschettenknöpfen (wenn das nicht altmodisch war) und Krawatte.
Eine millimeterexakte Bügelfalte verlieh ihm militärische Strenge. Später sollte sie erfahren, dass der Mann ein Bügelbrett besaß und es täglich verwendete. Sie hätte niemals gedacht, dass es solche Männer geben könnte, obwohl man gerüchteweise von ihnen gehört hatte. Das Bügeln gehörte zu Abendscheus Morgenritual.
Ansonsten ein typischer Altersaufzug, wie Josefine fand. Ohne Pfiff. Und bei dem Wetter auch ziemlich unpassend. Immerhin hatte er die Krawatte gelockert und den obersten Knopf gelöst. So lebt es sich um die sechzig, da musste es wohl so sein.
Sein Alter kannte sie ebenso genau wie seinen Hintergrund. Abendscheu war Witwer. Als Vermieterin prüfte man auf das Genaueste. Der ehemalige Polizist war selbst die Akribie in Person. Er machte für alles einen Plan, wahrscheinlich auch für das morgendliche Brötchenholen. Er war stets gut vorbereitet oder wenigstens darum bemüht. Er verbrachte Stunden vor dem Computer bei Recherchen allerlei Art. Und Webseiten kannte der … von denen hatte Josefine nie gehört.
Einen Tick hatte er auch. Eine silberne Taschenuhr. Die zog er regelmäßig hervor. Wahrscheinlich kannte er die Uhrzeit schon, bevor er die analogen Zeiger ablas, sein polizeilich-kriminologisches Gehirn war auf so etwas trainiert. Vielleicht überprüfte er nur die Uhr, ob sie noch richtig ging. Könnte ja ein altes Modell sein. Es sah jedenfalls danach aus. Aber Josefine interessierte sich nicht für Uhren. Ein Handy und ein gutes Zeitgefühl genügten ihr. Nach der Überprüfung holte er ein abgewetztes Ledertuch aus der Tasche und polierte sein Lieblingsstück.
»Wo haben Sie Ihren Hut gelassen, Herr Abendscheu?«
»Mein Kopf braucht keinen Deckel«, entschuldigte er sich. »Meine Gedanken sollen frei bleiben.«
Was für Unfug, dachte Josefine, ein guter Hut hält die Gedanken doch zusammen, er sperrt sie nicht ein. Und hat dabei noch manch anderen Vorteil. Eine imposante Liste positiver Aspekte, fand sie. Aber den würde sie schon noch überzeugen. Und wenn nicht, war er eben wie viele andere. Da konnte man dann nichts machen.
Sie trafen sich auf einen Kaffee in der Talstadt. Um 15:32 Uhr, auf diesen exakten Zeitpunkt hatte Herr Abendscheu bestanden. Er hatte für genau diese Zeit einen Tisch reserviert. Alte Schule, da war nichts zu meckern. Die Bedienung fand das Pärchen kauzig, womöglich sogar verdächtig, hatte mit dem erhaltenen Trinkgeld aber sämtliche Bedenken umstandslos vergessen. Zuvor hatte diese Unterhaltung stattgefunden:
»Wie geht man vor, wenn man richtig ermittelt?«
»Da ist vieles zu tun. Polizeiarbeit ist Teamarbeit. Beweise sichern, Zeugen und Verdächtige befragen und dann der Papierkram. Kommt für uns alles nicht infrage. Wenn wir ermitteln würden …«
»Ja?«
»Also nur einmal angenommen, wir täten es. Was auch immer uns dazu veranlassen sollte. Ich meine …«
»Henni sagt, die Katrin war’s«, platzte sie heraus.
»Und Henni ist …?«
»Meine beste Freundin.«
»Hat diese Henni einen Grund, die Katrin nicht zu mögen?«
»Oh ja, den hat sie allerdings.«
»Dann ist das keine Sache, der man Glauben schenkt, sondern mehr Wunschdenken, ein Gefühl oder schiere Boshaftigkeit, eventuell Rivalität. Sie verstehen? Das gibt es oft. So geht man an die Dinge nicht heran. Obwohl es natürlich auch etwas aussagt über Ihre Freundin.«
»Was denn?«
»Vielleicht gehört sie selbst zum Kreis der Verdächtigen.«
»Quatsch. Henni ist zu einer solchen Tat körperlich nicht im Geringsten mehr in der Lage. Bestenfalls mit Gift ginge da noch was.«
»Wie Sie meinen, Frau Bach. Ich zähle nur Möglichkeiten auf.«
Abendscheu ließ nicht erkennen, was er wirklich von der Sache hielt. An die eigentümliche Art seiner Vermieterin musste er sich erst gewöhnen. Genau deshalb half er ihr. Ein gutes Verhältnis würde seinem Mieterdasein nicht abträglich sein.
»Nun mal raus mit der Sprache, Herr Polizeikommissar in Rente.«
»Pension.«
»Von mir aus.«
»Ich lege Wert auf Exaktheit, Frau Bach. Manche Dinge sollte man nicht durcheinanderbringen. Bei anderen scheint es mir lässlich.« Er räusperte sich künstlich. »Zur Polizeiarbeit also. Das Motiv steht an zentraler Stelle. Man würde versuchen, herauszufinden, warum der Mann überhaupt Opfer eines Verbrechens wurde.