Josefine und die dunkle Seite des Sommers - Lenny Löwenstern - E-Book

Josefine und die dunkle Seite des Sommers E-Book

Lenny Löwenstern

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Beschreibung

In Josefines Welt ist immer Sommer. Blumenbunte Gedanken flattern durch ihr Gemüt. Als die Hutmacherin eine geheimnisvolle Nachricht erhält, beginnt sie mit Nachforschungen, die sie auf illegale Partys ebenso wie ins örtliche Pflegeheim führen. Gibt es wieder einen Mord in Bernburg? Die 32-Jährige bleibt neugierig und muss sich bald ihren eigenen Dämonen stellen. Dieser Roman kann unabhängig von den zuvor erschienenen Fällen gelesen werden. Cosy Crime mit höllischem Finale.

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Bücher von Lenny Löwenstern

Gurkentod … Josefine Bachs 2. FallJosefine und der Sommermörder … Josefine Bachs 1. FallSommerfabel (Roman)Regenfabel (Roman)Weihnachtsfabel (Roman)Die Sternenvogelreisen (Roman)Schöne Wörter Vol. 1 & Vol. 2

Alle Figuren und ihre Namen sind frei erfunden, jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre zufällig. Die im Buch genannten Orte und Schauplätze existieren ganz überwiegend tatsächlich. Die Geschichte spielt im Sommer 2021. Und zwar so, als hätte es Corona nie gegeben.

Über den Autor

Lenny Löwenstern hat nichts als Sterne im Kopf. Er träumt vom Fliegen ohne Flügel und weil er das selbst nicht hinbekommt, schickt er seine Helden auf die Reise. Lenny liebt schöne und alte Wörter und ist ebenso sternverrückt, wie mondbeschimmert, himmelsstürmend und traumvergessen.

 

https://lennyloewenstern.de/

»Fliegt der erste MorgenstrahlDurch das stille Nebeltal,Rauscht erwachend Wald und Hügel:Wer da fliegen kann, nimmt Flügel!Und sein Hütlein in die LuftWirft der Mensch vor Lust und ruft:Hat Gesang doch auch noch Schwingen,Nun so will ich fröhlich singen!«

Joseph von Eichendorff:Aus dem Leben eines Taugenichts, 1826

 

»Ach, wenn da nur ein Mond wäre.Aber da war kein Mond.Ach, wenn da nur ein Licht sein könnte.Doch ein Licht gab es nicht.Das Dunkel blieb.«

KAPITEL 26

Eins

Immer wenn Josefine Bach versuchte, sich mal so richtig zu langweilen, wurde nichts daraus. Die Sache war nämlich die: Egal wie monoton ein Tag hätte sein können, ihr fiel garantiert immer etwas ein. Egal, in welcher Lage sie war und wo sie sich befand. In Situationen, wo jeder dachte, langweiliger kann es jetzt nicht mehr kommen, fand sie etwas, mit dem sie sich zu beschäftigen wusste.

Wenn es dann wirklich gar nichts mehr gab, das man noch machen konnte, weil man schon alles gemacht hatte oder weil einfach nichts in Reichweite war, verfiel Josefine auf die Fantasie. Irgendetwas fand immer das Interesse der Hutmacherin. Und wenn sie es selbst war, mit der sie sich beschäftigte. In ihren schönsten Gedanken war eben immer etwas los. Sie dachte, lass mich einen Traum träumen und darin eine Schar übermütiger Hüte hüten. Wenn ich mehr Hüte hätte, hätte ich hundert bestimmt – oder mehr. Daran hatte sie für eine Weile ihren Spaß. Doch ihre Hände wollten nicht mitmachen. Sie langweilten sich auf ihre eigene Weise.

Heute war definitiv so ein Tag, an dem mancher an ihrer Stelle Trübsal geblasen und Langeweile geschoben hätte. Denn das Bach’sche Hutgeschäft war wegen Renovierung geschlossen. Es war nötig geworden. Das Interieur hatte seine beste Zeit hinter sich. Der Raum war unästhetisch aufgeteilt und rief nach einer Verbesserung. Alles schien altbacken, provinziell und in die Jahre gekommen. Das passte so gar nicht mehr zu dem Aufschwung der letzten Jahre und ihrem Hutmacherinnenglück. Alles musste raus und sollte ersetzt werden.

Das hatte auch Auswirkungen auf die Werkstatt. Auch hier musste gemalert und ausgebessert werden. Die Werkbänke waren deshalb unter Plastikplanen verschwunden, und ihr halber Hausstand war abgedeckt. Josefine, die Hutmacherin, wohnte im Arbeitsraum. Eine geräumige Ecke war dafür abgeteilt. Auch eine Kochnische gab es. Nur das Schlafzimmer lag in einem Extraraum, groß war es nicht.

Ihre Verkaufsassistentin Sandra hatte zwei Wochen verdienten Urlaub genommen und würde sich in der nächsten Zeit nicht sehen lassen. Sie hatte sich nach Prerow auf dem Darß an den Ostseestrand locken lassen und versuchte dort, ihr Urlaubsgeld zu verprassen.

Strand, dachte Josefine, wenn etwas in Bernburg fehlt, dann ein Strand, ein Strandbad reicht leider nicht, liebe Stadtväter und -mütter. Ja gut, auch mit einem Meer, an dem sie gelegen wäre, konnte die Stadt nicht dienen. Aber sonst war fast alles da.

Wie sie nun so dasaß, mit kribbelnden Fingern im Drehstuhl an der Werkbank, träumte Josefine von einem Hutautomaten. Den könnte sie jetzt gut gebrauchen, wo das Geschäft dicht war und die Hutnot allerorten anwuchs. Man müsste nur das Hutvergnügen auswählen, das einem am besten gefiel, die Karte zücken, und wäre schon auf das Schönste bedeckt. Eine Riesenklappe müsste die Maschine gar nicht mal haben, viele Hüte lassen sich zusammenlegen, manche sogar knautschen. So etwas käme mir gerade recht.

Oder man eröffnete so etwas wie einen öffentlichen Hutschrank in einer ausgedienten Telefonzelle. So wie man es mit Büchern macht. Unkomplizierter könnte man sich einen passenden Hut für den Tag gar nicht rausfischen und legte einen anderen wieder hinein. Über die Frage, ob das so funktionieren könnte und mit welchen Schwierigkeiten zu rechnen wäre, verlor sich die Zweiunddreißigjährige in den Tag.

Weil die Werkstatt lahmgelegt war, fehlte es entschieden an Arbeit. Dafür roch es nach Lack und Farbe, nach der Arbeit von anderen also. Am liebsten hätte sie die Planen weggerissen und sich ans Werk gemacht. Doch dann wären die Handwerker sauer geworden, die diese Vorbereitungen getroffen hatten. Wenigstens eine kleine Bastelarbeit … Das würde helfen. Nicht einmal Hüte zur Reparatur warteten auf ihre tatkräftigen Hände. Das heißt, mit Ausnahme eines Exemplars.

Dieser Hut war der einzige, den sie gegenwärtig zur Ausbesserung dahatte. Ihre Kundin Frauke Sauerhering hatte ihn ihr auf dem Markt in die Hand gedrückt.

»Frau Bach, Sie müssen etwas für mich tun. Ich wollte in Ihren Laden kommen, aber der ist vernagelt.«

»Wir machen alles neu für unsere liebsten Kunden«, antwortete die Angesprochene.

»Es ist nur so, Sie wissen es ja, mein Mann, der Kapitän, mit ihm geht es zu Ende. Da will ich ihn noch mal herausputzen für seine letzte Reise.«

Eine solche Bitte konnte nicht abgelehnt werden. Also nahm sie den uralten Hut, steckte ihn zu den Mohrrüben, die sie gerade erworben hatte, und zwischen die frische Petersilie und versprach, ihn in den nächsten Tagen ausgebessert zurückzubringen.

»Meine Adresse haben Sie ja, Frau Bach. Und vielen Dank im Voraus.«

Sauerhering, so heißt man wohl in Hamburg, kicherte sie. Die ältere Dame war eine ihrer treuesten Kundinnen. Zuverlässig einmal im Jahr ließ sie sich einen neuen Hut machen, das nennt man Treue und Tradition. Sie fischte das gute Stück aus der Tüte, die in der Küchenecke gewartet hatte.

Der Hut war eine Kapitänsmütze, ein allerdings schlichtes Teil. Das war keine Überraschung, denn der alte Sauerhering hatte zumeist Frachter kommandiert. Die klassische Kopfbedeckung eines Kapitäns, das wusste Josefine durch ihre Ausbildung, hat ein weißes Oberteil und repräsentiert die Segel. Dieses Exemplar entsprach einem gediegenen Elbsegler aus hanseatischem dunkelblauem Tuch.

Die Mütze war uralt, das sah sie sofort. Sie hatte einen kurzen Schirm, eine Zierkordel, die in Urzeiten eine Fangleine gewesen sein könnte, und ein abgewetztes dunkles Hutband. Auch das Innenfutter war zerschlissen. Erkennen konnte man noch die Raute, einst das Logo des Herstellers und dessen Name »Karl Renger«. Die Kopfbedeckung mochte ein halbes Jahrhundert alt sein oder mehr. Aber das spielte keine Rolle, denn hier war sie in den besten Händen, den allerbesten, die ein Hut überhaupt vorfinden konnte. Josefine griff sich ein paar Werkzeuge und begann die Kapitänsmütze zu zerlegen.

Sie entfernte die Kordel und die Nieten links und rechts, die sie hielten. Sie waren mit einem Anker verziert. Sie trennte die Nähte des Innenfutters auf. Und löste das Hutband heraus.

Und da war die Überraschung.

Es fiel ein Zettel heraus.

Ein schlichter weißer Streifen aus Papier.

Im Nu war Josefine auf das Höchste gespannt. An Zufälle glaubte sie nämlich kein bisschen.

»Nanu, was haben wir denn hier?«

Notizen und Gegenstände in Hutbändern waren gar nicht so selten. Sie kannte das schon. Sofern die Bänder nicht aufgeklebt waren, eigneten sie sich als Geheimversteck. Wenn das mal nicht etwas zu bedeuten hatte, sinnierte sie aufgeregt.

Der Zettel war sorgfältig von Hand beschrieben und in Orange abgestempelt worden.

antreten erzählen früh : 2305 : 007

Die Stempelung zeigte eine Art Tier mit Armen. Aber sie war verwischt und ließ sich nicht deuten. Die Rückseite war leer. Wer sollte damit etwas anfangen können? Das waren beliebige Wörter, die für alles oder nichts stehen konnten. Möglicherweise ist das ein verschlüsselter Hilferuf, dachte sie. Das hat es schon gegeben in Kleidungsstücken, die aus Bangladesch oder einem noch ärmeren Land kamen. Als Kunde möchte man so etwas nicht lesen, aber wenn es um Leben und Tod geht, dann muss es sein. So auch hier. Nur das hier nicht »Hilfe« stand, sondern etwas völlig anderes.

Jemand könnte den Papierstreifen mit Absicht versteckt haben, um ihr eine Nachricht zukommen zu lassen, jemand, der sie kannte oder von ihren Erfolgen als Ermittlerin wusste. Ein Zufall konnte es wohl kaum sein. Wie viele Hutmacherinnen gibt es denn, die man auf sich aufmerksam machen könnte? Eben, das sind nicht viele.

Und wer kam nun dafür infrage? Kapitän Sauerhering? Die Mütze stammte schließlich aus seinem Besitz. War das eine Art Hilferuf, weil er im Pflegeheim misshandelt wurde? Versuchte er so, eine Nachricht an seiner Frau vorbeizuschleusen? Oder wusste diese womöglich sogar davon? Oder hatte selbst den Zettel verborgen? Warum aber für sie, warum nicht die Polizei verständigen? Da steckt etwas anderes dahinter, war sie sicher. Der alte Sauerhering, das hatte seine Angetraute selbst gesagt, war dem Tode nahe, der würde kaum geheime Botschaften schmuggeln.

Die Nachricht könnte sich bereits Jahre hinter dem Hutband befinden. Aber andererseits, der Zettel wirkte praktisch wie neu, angegilbt war da nichts. Die Gebrauchsspuren am Elbsegler belegten, dass die Mütze jahrzehntelang getragen worden war. Aber das half ihr auch nicht weiter.

Was tut man, wenn man einen geheimen Code erhält? Man googelt ihn. Aber damit hatte sie keinen Erfolg. Die drei Begriffe eingetippt ergaben keine sinnvolle Fundstelle, nichts passte zu den Fakten. Auch eine Phrasensuche mit Anführungszeichen, so weit kannte sie sich aus, brachte nichts. Die Wörter für sich waren völlig unverfänglich und nichtssagend. Mit den Zahlen sah es nicht besser aus. Die 2305 fand sich als Modellnummer eines Dampferzeugers. 007 konnte als Hinweis auf einen Kinogeheimagenten gedeutet werden. Nur war der leider nicht real. Auch wenn er mit dem Dampfgerät jemanden umgebracht haben könnte – in Notwehr versteht sich. Ein durchaus interessanter Gedanke. So komme ich nicht weiter, resignierte sie. Hatte ihr jemand einen Streich spielen wollen? Sie war stadtbekannt für ihre Neugier. Sollte sie sich doch daran die Zähne ausbeißen. Irgendwo amüsierte sich jemand womöglich bei dieser Vorstellung. Doch wer sollte so etwas tun?

Enttäuscht legte Josefine den rätselhaften Zettel in die Schublade zu ihren Visitenkarten und Schreibutensilien. Für den Moment.

Wie bestellt, um sie abzulenken, rumste es vorn im Geschäft. Zwei Handwerker waren just dabei, die hölzerne Wandverkleidung abzureißen. Einen Ausstellungsschrank, der dabei im Wege stand, hatten sie kurzerhand umgeworfen. Grobschlächtige Kerle waren das. So ging man doch nicht mit verdienten Möbelstücken um. Josefine mahnte Rücksicht an. Die Herren ließen ihre Tirade stumm über sich ergehen und versprachen Besserung. Natürlich würden sie sich nicht daran halten. Sie wusste es. Sie musste den Männern nicht einmal in die Augen sehen. Manche Dinge weiß man, weil man sie weiß.

Gleich darauf gewann wieder der Gedanke an den rätselhaften Zettel die Oberhand im hutvernarrten Gemüt. Sie würde einfach jemanden fragen, der sich auskannte. Sobald sie Zeit hätte. Vielleicht klärte sich die Sache dann schnell auf. Doch da irrte sie sich.

Zwei

Der rätselhafte Zettel musste auf seine Entschlüsselung noch warten. Der Grund dafür war etwas, das Frauen um die dreißig, und nicht nur die, häufig beschäftigte. Es war ein Date.

Ein Rendezvous muss, wie jeder weiß, gut vorbereitet sein. Das Wichtigste ist der passende Hut. Er ist der krönende Abschluss von allem, worum man sich in den Stunden zuvor vor dem Spiegel auf das Eifrigste bemüht hat. Josefine überlegte lange, zu welchem Exemplar sie in dieser Lage greifen sollte. Da gab es viele Erwägungen, die zu überlegen waren. Attraktiv sollte er sie machen, sie frisch aussehen lassen, aber keinesfalls lasziv oder gar frivol. Letzteres wäre der Sache nicht angemessen und könnte den Mann verschrecken. Deshalb lohnte es sich, die Sache auch von seiner Seite her zu betrachten. Der Gute machte sich womöglich Hoffnungen auf ein besseres Leben – an ihrer Seite.

Also, welchen nehme ich?

Da wäre zuerst einmal die orangefarbene Konstruktion, erst vor wenigen Wochen unter ihren Händen entstanden. Der Hut wies korallenähnliche Verzierungen auf, die sich nach oben streckten und verästelten. Das war nicht optimal, wenn man sowieso schon groß gewachsen war. Nein, dann doch lieber einen eleganten Glockenhut. Aber ach, der wäre auch der Falsche. Zu edel durfte die Kopfbedeckung nicht sein, ihr Date könnte sie für neureich und gewollt vornehm halten. Doch genau das war sie gewiss nicht. Dann lieber den mit der dicken blauen Krempe und den Lederbändern. Aber der war zu dominant. Was würde der Mann denken? Dass sie ihm gleich mit der Peitsche kam? Dann lieber den luftigen Zarten, den sie mit Kokosöl eingerieben hatte. Aber der war doch niemals bodenständig genug. Zu flatterhaft und karibisch, der Mann würde an der Ernsthaftigkeit ihrer Absichten zweifeln.

Na dann eben der Bunte, der war fröhlich, der war ungezwungen, der machte Spaß beim Tragen. Aber der käme ihm womöglich zu naiv vor, was sollte er mit so einer wohl anfangen? Nein, in allen diesen Fällen wäre der Hut das Gesprächsthema gewesen und nicht sie. Das durfte sie nicht zulassen.

Sie entschied sich letztlich für ihren vertrauten Lieblingssommerhut. Der war eine gute Wahl, er zeigte, wie sie wirklich war. Ein klassischer Sommerhut aus glücklich schimmerndem Sisalstroh, um den sie ein kirschrotes Hutband gewickelt hatte. Das war der romantischen Sache angemessen. Josefine drehte das Band und schaute gewissenhaft nach. Kein Zettel zu finden.

Romantisch …

Das Herz ist ein stiller Traum, fiel ihr ein. Es gibt Tage, da bemerkst du es gar nicht. Da kannst du in dich hineinlauschen, so lange du willst. Doch erst wenn man richtig tief hineinhört, stöbert man es auf. Auf dem Grund der Dinge liegt es, und es pulsiert sanft. Doch heute war ein anderer, ein mutigerer Tag. Ihr Herz schritt voraus und ging mit ihr spazieren. Ihr Herz hatte es eilig. Sein Tempo war flott. Da kommt einer nicht mehr mit, dachte sie. Dabei bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt will.

Einen guten Eindruck mochte der junge Mann online gemacht haben, aber ob das auch auf die Wirklichkeit zutraf? Besser war es, gar nicht alles zu wissen. Auf der anderen Seite, was hatte sie denn schon zu verlieren. Ein einsames Herz in einer Welt aus Sommer. Sie fühlte sich ebenso wenig einsam, wie sie sich alt fühlte, nämlich überhaupt nicht. Es musste ihr auch niemand etwas einreden. Wenn, dann würde sie das schon selbst übernehmen. Also, Josefine Bach, machen wir uns auf und sehen uns den Windbeutel aus der Nähe an. Taugt er nichts, kann man immer noch verschwinden.

Sein Name und sein Aussehen waren ihr unbekannt, dennoch wusste sie einiges über ihn. Er hatte sich selbst mit ehrlichen Worten beschreiben müssen, so lauteten die Regeln der Datingplattform. Anonym, aber eben doch persönlich. Das war das Motto des milliardenschweren Start-ups, das mit den Herzen liebesbedürftiger Menschen jonglierte.

Henni hatte sie darauf gebracht.

Die gute Henni.

»Du musst mal wieder unter Leute, Herzchen. Nimm dir einen zum Knuddeln und einen zum Ausgehen. Die stehen doch überall rum und warten auf uns. Musst einen Mann ja nicht gleich heiraten.«

»Ach Henni, ich habe für Mätzchen nichts übrig und auch keine Zeit.«

»Papperlapapp, da kann einem wirklich geholfen werden«, hatte Henni gemeint. »Ich schick dir die Adresse. Das ist eine aufstrebende Agentur aus Berlin. Die haben ein geniales Konzept und sind total seriös. Alles erst mal völlig anonym und online und ehrlich, sagen sie.«

»Okay.«

»Und das Beste: Die ersten drei sind frei.«

»Männer?«

»Dates. Aber such dir bloß kein Fallobst aus. Davon hat’s auch bei denen genug.«

»Du hast es schon ausprobiert, stimmt’s?«

»Stimmt auffällig, Liebes. Und weiß du was, ich hab’s nicht bereut. Jetzt wo meine Lebensgeister wieder zurück sind, lass ich es ein bisschen krachen. Wenn nur nicht alles bei mir zwicken würde. Aber so ist das im Alter.«

»Ich weiß schon, mit Pfunden hat es nichts zu tun.«

Henni hatte für einen Moment böse geschaut, um dann in ein lautes Lachen auszubrechen. Das war erst vor einigen Tagen gewesen, seitdem hatte sich Henni nicht mehr gemeldet. Sie kurvte oben in Magdeburg herum. Dafür hatte jemand von der Agentur angerufen, Josefine möge doch bitte ihre Kreditkartennummer nachtragen, zur Sicherheit.

Sie aß noch eine Banane, damit ihr nicht flau werden würde. Weil der Tag ein so fabelhaft sommerwarmer war. Dann marschierte sie los.

Das Café am Karlsplatz war gut besucht. Geklapper und Gemurmel machten sich bereits aus der Ferne bemerkbar. Sollte sie das wirklich machen? Sie lief schon wie auf Watte oder wie auf einer dicken Gummimatte. Das waren keine guten Anzeichen, oder? Würde er ihr die Nervosität ansehen? Wahrscheinlich, aber dann sehe ich auch seine, dachte sie. Also, was soll’s, ich muss wissen, wer er ist.

Der junge Mann mit dem geölten schwarzen Haar saß bereits an einem Tisch. Er studierte ein Wall Street Journal, das war das verabredete Zeichen. Er hatte sich in ein eng geschnittenes kariertes Sakko gezwängt und saß verkniffen und halb zusammengesunken da. Da wollte doch nicht jemand einen Bauch verbergen?

»Hallo, ich bin die Josefine Bach«, rief sie schwungvoll. Sie wollte so selbstbewusst wirken, wie sie es in dieser Situation sein musste. »Es freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Wir hatten ja bereits das Vergnügen … online meine ich. Ich bin der Kevin. Kevin Dose. Sagen Sie ruhig Kevin zu mir. Das macht meine Mutter auch immer.«

Herr Dose grunzte ein wenig, wenn er lachte.

»Sie wohnen noch zu Hause, Kevin?«

»Wenn ich nicht unterwegs bin. Das spart doch einiges. Die Mieten heutzutage, Sie wissen ja.«

Die Bedienung glitt heran. Er hatte sich einen Kaffee mit Schuss bestellt, Josefine ein Erdbeereis. Es war schon ihr drittes heute. Nervosität macht Hunger auf Süßes.

»Und Sie sind Hochfrequenzhändler? Das klingt wirklich aufregend.«

»Na ja«, meinte er. »Nicht ganz. Aber mein Herz, wissen Sie, das sage ich Ihnen hiermit ehrlich, das pocht schon in hoher Frequenz, wenn ich bei meiner Arbeit bin.«

»Aber Broker sind Sie schon?«

»Ich bin eher ein Vermittler, nicht selbst der Händler, wissen Sie. Ich bin mehr ein Repräsentant.« Kevin Dose stemmte sich in die Höhe. Herrje, sie erkannte es mit einem Blick. Das Sakko war von KiK.

»Also so etwas wie ein Vertreter?«

»Hmm ja, so sagt man das wohl.« Kevin Dose rückte unwohl auf seinem Stuhl herum. Josefine entging das nicht.

»Aber Sie müssen zugeben, dass dieser Beruf einfach nicht gut klingt, wenn man sich verabreden will. Da darf schon mal ein bisschen geflunkert werden. Das kennen wir doch beide. Ist ja nicht unser erstes Mal.« Er zwinkerte aufdringlich. Das Gespräch glitt in eine peinliche Richtung ab, fand sie.

»Also für mich schon.«

»Ach nee. Aber eine selbstständige Geschäftsinhaberin mit Wohneigentum sind Sie bestimmt auch nicht.«

»Doch das bin ich. Nichts weniger als das. Ich habe mich nur ein paar Jährchen jünger gemacht.«

»Ach nee«, triumphierte Dose jetzt doch noch. »Da haben wir es ja.«

»Gar nichts haben wir. Das war ein Versehen.«

Jetzt lachte Kevin Dose höhnisch.

»Lachen Sie nur. Aber ich will nicht zu streng mit Ihnen sein und sehe darüber hinweg. Was vertreten Sie denn, Herr Dose?«

»Stützstrümpfe. Ein durch und durch solides Gewerbe, wenn ich anmerken darf. Und gar nicht so anrüchig, wie oft gedacht wird.«

Josefine lauschte und studierte dabei die zerkratzte Oberfläche des Tischchens. Man plauderte. Kevin offenbarte, ein starker Raucher zu sein. Es würde ihr doch nichts ausmachen? Hier im Freien, was könne man schon dagegen einwenden? Passivrauchen sei gar nicht schädlich, das sei bloß eine Erfindung geldgieriger Apotheker und Ärzte.

Das Eis hatte aufgegeben, kühl sein zu wollen, und schmolz in der Sonne. Auch Josefines Hoffnungen, die sie in diesen Tag, in dieses Stelldichein gesetzt hatte, flossen nur so dahin. So war das Glück, es hatte die Konsistenz von zu warmem Erdbeereis. Und das war deshalb so, damit man es nicht festhalten konnte. Das Glück konnte nämlich gemein sein. Sie seufzte. Hier und heute allerdings gab es nichts festzuhalten. Es galt vielmehr, die Flucht anzutreten. Und zwar schleunigst.

»Also, was meinen Sie, wann sehen wir uns wieder?«

Als sie sich erhoben, fiel ihr Blick auf seine Sandalen und auf die weißen Tennissocken. »Ich bin ein agiles Kerlchen«, kommentierte er anzüglich.

Sie mochte sich nicht vorstellen, was das genauer bedeuten könnte. Als sie seine Frage nicht beantwortete, verstand er endlich. Und wurde gemein.

»Kriegen Sie da oben eigentlich noch Luft?« Das hatte er im Gehen gefragt. »Das nächste Mal schaue ich nach kleineren Mädchen.«

Konnte man sich eine größere Unverschämtheit vorstellen?

Der Liebessinnenrausch fiel damit aus. Dieser Mann war eine einzige Enttäuschung. Jeder Hut wäre an ihn verschwendet.

Groß gewachsen war sie tatsächlich. Aber komisch, wenn man von oben schauen könnte, aus der Perspektive eines Vogels, würde man gerade davon eben nichts sehen. Weil man so hoch ist, sieht man die Höhe nicht. Überhaupt, dachte sie, der Vogel von oben sieht nur meinen Hut. Trügen alle Menschen Hüte, wie es eigentlich sein sollte und schon in der Bibel stehen musste, würde man viele überwiegend runde Scheiben sehen, aber keine Leute. Es sei denn, die legten sich hin. Dann würde man ihre Länge wahrnehmen können und sich wundern – immer noch aus der Perspektive eines Vogels gedacht – über die unterschiedlichen Abmaße der Menschen. Wer sich so etwas nur ausgedacht hatte … Aber das hatte ja keiner. Es war, weil es möglich war. Die Bäume sind auch verschieden hoch. Das liegt am Licht, wusste sie. Wenn aber nun auch die Bäume Hüte trügen … Himmel, ich schweife ab, dachte sie, sich selbst ertappend, dabei bin ich doch eigentlich nur verzweifelt.

Josefine überlegte noch, ob sie kurz in den Rewe springen und in eine Flasche Rotkäppchen investieren sollte. Doch Alkohol war keine Lösung. Jedenfalls nicht für dieses Problem und nicht zu dieser Stunde, es war schließlich immer noch Mittag. Ein ausgedehnter Spaziergang würde guttun, doch dazu war sie nicht ausgerüstet. Man ging schließlich nicht in einem Wanderoutfit zu einem Date. Hätte sie es bloß getan.

 

Vor dem Haus am Außenfahrstuhl angekommen, wusste sie, dass es auch anders gehen würde. Jetzt half nur noch ein friedvoller Ort, an dem man keine Verantwortung tragen musste, an dem man sich gehen lassen konnte. Ein kleines Paradies, das allen Trost dieser Welt bereithielt. Und zwar egal, worum es bei dem Kummer auch immer ging. Sie fuhr zur alten Frau Käsebein hinauf und klingelte.

»Ich hab dich doch nicht aus dem Schlaf geholt?«

»In meinem Alter schläft man nicht mehr viel, Kindchen. Und falls doch, bestehe ich darauf, geweckt zu werden, wenn du erscheinst. Du weißt schon, jede Gelegenheit könnte meine letzte sein.«

Anita Roswitha Käsebein, inzwischen 92 Jahre alt, strahlte ihr entgegen. Es duftete süß wie in einer Kuchenbäckerei.

»Du kommst sowieso zur rechten Zeit.«

Josefine klatschte in die Hände.

»Die Werktätigen mögen sich ins Wohnzimmer begeben. Es gibt Waffeln.«

Waffeln … Himmel! Wenn etwas den Tag retten konnte, dann Waffeln. Die könnte sie jetzt vertragen, am besten einen getürmten Teller voll davon mit einem Sack Puderzucker zuoberst.

Das Käsebein’sche Wohnzimmer war ein Sammelsurium gemütlicher Dinge. Josefine bestaunte es immer wieder. Sie wusste aber, dass sie selbst nie so leben wollte. Der alte Eichentisch war gedeckt. Die Plauener Spitze lag obenauf. Dazu kamen feinste Porzellanteller und vergoldete Kuchengabeln.

Die Standuhr schlug dreizehn, als die Dame des Hauses mit einem vollen Tablett herbeigerollt kam. Der Waffelduft verstärkte sich noch, als die Köstlichkeiten auf den Tisch kamen. Der Kaffee plätscherte aus einer geblümten Kanne mit Tropfenfänger in die Tassen.

»Lass es dir schmecken.«

Josefine jubelte und gluckste ein Danke heraus. Dann widmete sie sich dem süßen Vergnügen. Sie schaute in ein lächelndes Gesicht.

»Es gibt nichts, was eine frische Waffel mit Puderzucker oder einem Löffel Schlagsahne nicht wiedergutmachen könnte«, sagte die alte Käsebein. »Und für alles andere gibt es Handfeuerwaffen.«

Josefines Magen schob eine Extraschicht. Er beklagte sich nicht. Die Waffeln richteten sich bequem in ihm ein. Für eine Weile.

»Geht es dir jetzt besser?«

Sie nickte. Und griff noch einmal zu. Kein Krümel durfte übrig bleiben.

»Ein bürgerliches Rezept«, meinte die Käsebein. »Und das ausgerechnet bei mir. Aber die Waffeln gelingen. Die werden mit Schweineschmalz gemacht, weißt du. Dann schmecken sie nicht nur besser, sie sind auch saftiger und halten länger. Ich hab noch eine halbe Dose voll.«

»Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich das auch mal probieren, das Waffelmachen.«

»Dazu brauchst du ein gutes Waffeleisen. Die von heute taugen nichts. Das ist wie in der Politik. Da waren sogar die in der DDR besser. Also die Waffeleisen, meine ich. Das sage ich ganz offen jedem, der es hören will. In Waffeln waren wir damals zwar nicht Weltspitze. Aber so schlecht auch wieder nicht. Die Geräte von Komet zum Beispiel, das war eine solide Technik. Aber was rede ich, die kennst du als Wendekind gar nicht mehr.«

Josefine nickte mit vollem Mund. Puderzucker umkringelte ihre Lippen.

»Ich benutze ein uraltes schwarzes Ungetüm von Maybaum. Ein gediegenes Teil, das als einziges Relikt der Käsebein’schen Sippe sogar den Krieg überdauert hat.«

»Wirklich?«

»Die Wuchtigkeit ist entscheidend. Dickes schweres Eisen ist am besten, wie die Planken von Schiffen. Oder Panzerstahl. Panzerstahl ist am besten. Heute ist ja fast alles Plastik. Und das verzieht sich. Dann entweicht Hitze, da, wo sie es nicht soll.« Die Käsebein warf die Arme in Luft. »Dann ist ein Teil der Waffel nur halb gebacken und der andere verbrannt. Mit Spielzeug kommt man in der Küche nicht weit. Das ist wie überall im Leben.«

»Ja«, sagte Josefine. Und dachte an etwas ganz anderes. Jetzt müsste man einen größeren Bauch haben, fand sie. Mehr Fassungsvermögen hat Vorteile. Dann wäre ich dem höchsten Waffelstapel gewachsen, den es je gegeben hat.

Nachdem ein paar Tränen wegen des Dates in den Puderzucker gefallen waren und die letzte Waffel verputzt war, schaute die Hutmacherin auf. Die Käsebein wusste längst, was los war. Josefine musste ihr nichts sagen.

»Großer Kummer?«

»Rendezvous.«

»Also erheblich großer Kummer. Ich ahnte es schon, die Männer …«

Josefine nickte. »Henni hat mich noch gewarnt, von wegen Fallobst und so. Aber es hat wieder nicht geklappt.«

»Was ist denn mit dem Herrn Abendscheu, Kindchen? Der ist doch recht nett.«

»Aber Käsebeinchen, der Mann ist Frührentner. Ich bin zweiunddreißig.«

»Aber er hat eine sichere Pension, viel Zeit wird er auch haben. Und er ist recht umgänglich für sein Alter.«

»Ich stehe auf eigenen Füßen.«

»Richtig so. Aber irgendwie brauchen wir sie dann doch, die Männer. Ist es nicht so?«

»Ja, liebe Genossin Käsebein.«

»Aber wegen des Herrn Abendscheu bin ich nicht hier. Mein Rendezvous, er hat gefragt, ob ich da oben noch Luft kriege.« Jetzt schluchzte sie. »Wie kann einer so gemein sein?«

»Was war denn das für einer?«

»Ich hatte ihn aus dem Internet. Von dieser Agentur, dem Start-up, die Adresse hat Henni mir gegeben. Sie schwört drauf.«

Die ehemalige Tänzerin und Traktoristin machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wenn dir die Männer so kommen, musst du zurückschlagen. Und das ist durchaus wörtlich gemeint. Du kennst mich. Mir ist es tatsächlich einmal passiert, dass so ein Pfeifenheini sich vor anderen damit brüstete, mich betrogen zu haben. Auf diplomatischem Parkett, das muss man sich einmal vorstellen. Ich habe zufällig alles mitangehört. Na, dem habe ich einem Empfang bereitet. Habe ganz verliebt getan, ihn zu mir nach Hause eingeladen, das war damals übrigens in Paris. Dann habe ich ihn heiß gemacht, aber so richtig heiß. Habe ihn sich ausziehen lassen. Und an ihm herumgemacht bis zum Äußersten.«

»Und dann?«

»Dann habe ich seine Sachen aus dem Fenster geworfen. Da hat er noch laut protestiert. Dann habe ich den Kerl mit vorgehaltener Beretta zur Tür hinausgebeten. Unten auf der äußerst belebten Straße, es war an einem Abend, durfte er sich unter den schadenfrohen Blick der Passanten sein Zeug zusammensuchen. Der hatte sich mehr als nur einen Spruch anzuhören, das kannst du mir glauben. Immerhin, erschießen musste ich ihn nicht.«

Josefine lachte und entspannte sich ein wenig. Wenn man es so machte, fand sie, war ihr Problem gar nicht so groß.

»Eierlikörchen?«

»Ich könnt einen vertragen … Warte, ich mach das schon.«

Die Käsebein hatte sich bereits zur Schrankbar gedreht, um die Flasche zu holen. Doch Josefine kam ihr zuvor, mit ihren langen Beinen stakste sie einfach schneller, als ein Mensch rollen konnte. Sie zog die Schranktür auf. Die Bar war von innen verspiegelt und beleuchtet. Ein Relikt, so etwas hatte heute niemand mehr. Aber dort stand neben einige Cognacs eine noch nicht angebrochene Flasche mit Eierlikör, die sie packte. Sie wunderte sich noch über die flache weiße Dose, die daneben lag. Es war Teflon-Waffenfett. Wer brauchte so etwas? Die Schachteln mit der Munition, die weiter hinten lagen, übersah sie.

Das Käsebeinchen hatte inzwischen für Gläser gesorgt, die auf einem Kristalluntersetzer zu stehen kamen. Es klirrte leise. Das Ticken der Uhr. Uhren können Zeit auch anhalten, hatte Josefine einmal bemerkt. Das passiert, wenn man sich auf ihr Ticken konzentriert. Wenn man es schafft, sich darin aufzulösen, wenn man selbst zum Tick wird und um die Zahlen kreist, dann kann es passieren, dass man zwischen die Sekunden fällt. Dort ist dann die Stille. Wie das Auge eines Wirbelsturms. Wie ein Herz, das vor lauter Liebe für einen Augenblick das Schlagen vergisst. Wie ein Gefühl, das noch nicht entstanden ist, aber doch schon in der Welt ist – als ein Hauch. Das ist der wunderbarste Moment.

»Auf dein Wohl«, sagte die Käsebein würdevoll.

»Weißt du, Kindchen, ich habe da auch mal eine Frage«, fuhr sie fort und öffnete, nachdem das Glas geleert war, eine frische Packung Karo, entnahm eine Zigarette, die sie sich ohne Festklopfen zwischen die Lippen steckte und mit einem Streichholz in Brand setzte. Sie sog den Rauch so tief ein, wie die betagten Lungen es gerade noch vermochten. Dann blies sie ihn langsam wieder aus. Und meinte dann:

»Sag mal, kann sich eigentlich jeder in diesem Internet einen Mann bestellen?«

Drei

Jetzt hielt sie es nicht mehr aus. Sie musste mit jemandem über den geheimnisvollen Zettel sprechen. Und da kam nur einer infrage: Adalbert Abendscheu aus dem ersten Stock, der gegenüber den Geschwistern Peißen wohnte.

Der Mann war bekanntermaßen Frührentner, genauer gesagt Frühpensionär. In seinen aktiven Zeiten war er Polizist in Bernburg. Zumeist im Innendienst eingesetzt hatte er eine ruhige und im Wesentlichen ereignislose Karriere hinter sich gebracht. Selbige endete in einem unverhofften Schusswechsel. Das hatte ihm einen schleppenden Gang und den Vorruhestand aufgezwungen. Daran dachte die Hutmacherin aber nicht, sie wollte sich seines kriminalistischen Sachverstands bedienen.

Josefine stand vor der Tür. Wie üblich war sie ein klitzekleines bisschen neugierig, das konnte sie nicht abstellen. Nicht etwa, dass sie ihren Mietern hinterherspionieren wollte. Es war mehr eine grundsätzliche Haltung, die ihr zu eigen war. Dagegen konnte man sich nicht wehren.

Es drangen Geräusche aus der Wohnung. Ein Gespräch womöglich. Sie hielt das für ein gutes Zeichen. Ihr Mieter hatte Besuch oder war wieder eine Beziehung eingegangen. Nun, das ging sie nichts an. Erfreut wäre sie aber trotzdem, schon wegen des Käsebeinchens, das sie am liebsten mit dem Rentner verkuppelt hätte. Als hätte sie jemals daran Interesse gezeigt.

Sie klingelte.

»Guten Tag, Frau Bach.«

»Hallo, Herr Abendscheu.« Sie zwinkerte. »Das Liebesleben auch wieder auf Touren gebracht?«

»Wie meinen?«

»Ich habe Sie reden gehört. Bei Ihnen ist Besuch, stimmt’s? Ich hoffe, ich störe nicht.«

»Ach so«, meinte er nüchtern. »Nein, das ist Dörte.«

»Toll.«

Sie strahlte ihn an.

Er reagierte überhaupt nicht. Stand bloß da.

Schweigen.

Etwas stimmte nicht.

»Die Dörte ist meine neue Dackeldame.«

»Ach so …«

Oh Gott, wie peinlich. Am liebsten wäre Josefine stehenden Fußes zurück in den Fahrstuhl gehüpft. Mit einem Satz. Abendscheu allerdings nahm ihr die Sache nicht krumm. Er hatte die Verlegenheit der Situation gar nicht verstanden.

»Na komm, Dörte«, hörte sie ihn in der Ferne rufen. »Schau mal, wer da ist.«

Er bat sie nicht hinein, was ihr recht war. Dörte sprang an ihr empor, was ihr weniger passte. Ein wildes Tier könnte alle möglichen Sachen mit ihr anstellen. Aus heiterem Himmel. Man dachte gar nicht daran und schon war man gebissen. Oder hatte eine Hand verloren. Tiere gehören in den Wald, war ihre feste Überzeugung. Leider hatte sie versäumt, dieselbe in den Mietvertrag hineinzuschreiben. Den Hund kommentierte sie daher nicht.

»Hätten Sie Zeit, mal in der Werkstatt vorbeizuschauen? Ich glaube, ich bin da einer Sache auf der Spur. Aber es ist noch alles ziemlich rätselhaft. Vielleicht haben Sie ja eine Idee.«

Zeit hätte er, erwiderte Adalbert Abendscheu mit Blick auf seine silberne Taschenuhr. Er wolle nur noch schnell eine Runde Gassi gehen und der Dörte das schöne Bernburg zeigen. Eine Stunde müsse die Frau Bach sich gedulden. Er hätte den Hund ja gerade erst von dem Züchter, der ein alter Freund sei, abgeholt. Er sei jetzt kein Witwer mehr, betonte er und bat, sie möge das doch bitte berücksichtigen. Vor allem, wenn sie mit anderen Leuten über ihn spräche. Was sie, wie sie versicherte, doch niemals täte.

Exakt eine Stunde später schlug er im Erdgeschoss auf. Keine Minute zu früh und auch keine zu spät. Durch den Spaziergang erholt, im Gesicht wie frisch vermählt, mit rosa Wangen. Sonst hatte sich an ihm nichts verändert. Er trug dasselbe weiße Hemd mit Manschettenknöpfen. Ein weißes Hemd ist wie das andere, oder? Eine Krawatte trug er nicht. Die lebende Bügelfalte, wie sie ihn einmal, insgeheim versteht sich, genannt hatte. Die war auch jetzt zu erkennen. Ihr fiel aber noch etwas anderes auf. Er trug Ärmelschoner. Sie überlegte, ob er das tat, um sie zu verwirren oder ob er wirklich damit rechnete, sich in ihrer Werkstatt das Hemd zu beschmutzen.

»Du liebe Zeit«, meinte er. »Hier sieht es ja aus wie an einem Tatort.«

»Glücklicherweise ist es keiner. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Ich habe einen Krug Rhabarberschorle da.«

Abendscheu sagte zu. Die Bach’sche Rhabarberschorle war ihm überaus willkommen.

»Ein Tatort ist es nicht«, rief sie vom Kühlschrank her. »Aber einen Hinweis habe ich dennoch entdeckt.«

Als sie heran war, die Gläser und den kühlen Krug abgestellt hatte, griff sie sofort zu dem Elbsegler der Frau Kapitänin Sauerhering. Abendscheu schenkte ein, während Josefine die Mütze in Positur hielt.

»Was sehen Sie?«

»Einen Hut.«

»Eine Mütze, wenn ich korrigieren darf.«

»Bitte.«

»Was noch?«

»Getragen von einem Mann, kann man wohl annehmen. Konservativ, altmodisch, steif, maritim vielleicht.«

»Sie sind auf der richtigen Spur. Es ist ein Elbsegler. Etwas typisch Hamburgisches.«

»Und was daran ist so geheimnisvoll?«

»Schauen Sie mal hier.«

Sie zeigte ihm das Hutband, das noch das alte war, und zog es ein wenig vom Tuch fort.

»Sehen Sie?«

»Ich verstehe. Sie haben etwas darin gefunden.«

»Das denk ich mir, lieber Herr Abendscheu. Sie haben recht.«

Einer gewissen Verbundenheit zum Trotz duzten die beiden sich nicht. Er hatte ihr immerhin schon einmal das Leben gerettet. So etwas vergisst nicht einmal Josefine. Und genau deshalb zog sie ihn jetzt auch ins Vertrauen. Mit dem Du hatte das nichts zu tun. Das war aufgrund des Alters, meinte sie. Aus Respekt, sagte sie. Und weil er immer noch ein Mann war, fand sie. Denn die Hutmacherin siezte aus Prinzip alle Männer ab sechzehn.

Ihm war das recht, weil er ihr nicht zu nahetreten wollte. Eine Partnerin hatte er nämlich schon gefunden und seitdem war er kein Witwer mehr. Dass diese Partnerin vier Pfoten besaß, änderte nichts an den Tatsachen. So war das Leben am besten, fand er.

»Was glauben Sie, was man in Hüten schon alles gefunden hat. Ich bin nun nicht die Polizei, ich weiß nicht, was die so alles aufdecken. Aber auch bei mir kommt immer wieder was vor. Wer auf sich hält, gibt seinen Hut früher oder später zur Pflege ab, dann hat man länger etwas davon. Oder zur Aufarbeitung, wenn er’s denn nach Jahren nötig hat. Oder zur Anpassung, wenn der Körper sich im Alter verändert hat. Sie kennen das ja. Oder zur Reparatur, wenn mal ein Malheur passiert ist …«

Abendscheu hatte fasziniert zugehört. Bis zu der Stelle, wo sie ihn mit seinem Alter hatte aufziehen wollen. Herrgott, sechzig, was war schon dabei? Oder wollte sie das gar nicht? Bei Josefine Bach war man niemals sicher. Wahrscheinlich hatte sie nur ausgedrückt, was ihr in dem Augenblick durchs Gemüt gepurzelt war. Man konnte es ihr nicht übel nehmen.

Zurück zum Hut. Sie war nämlich noch nicht fertig.

»Was meinen Sie, was da alles zum Vorschein kommt? Alles im Innern zwischen Hutband, Futter und Körper eingeklemmt, hineingesteckt oder eingenäht. Gefaltete Liebesbriefe, Geldscheine, Münzen, Tagebucheintragungen, Fotos, Notizen, Streichhölzer, sicher verwahrte PINs, das ist nicht mal selten; Billets, Pflanzenteile, sogar ein Kondom habe ich gefunden, Drogen natürlich, das ist häufig; Schlüssel, Micro-SD-Karten. Ein Hut ist so gesehen eben auch eine Art Tresor. Es passt zwar nicht viel hinein, aber manch eine wichtige Sache eben schon.«

Nun erst holte sie den ominösen Zettel aus der Schublade hervor. »Den hier habe ich hinter dem Hutband entdeckt.«

Adalbert Abendscheu nahm den Gegenstand vorsichtig entgegen. Er las:

antreten erzählen früh : 2305 : 007

»Hmm … und Sie halten das für eine Geheimbotschaft, Frau Bach?«

»Das denk ich mir, ja.«

»Und warum?« Er fragte geradeheraus und völlig ahnungslos.

»Weil es so etwas schon gegeben hat. Da staunen Sie, was? In Kleidungsstücke eingearbeitete Hilferufe. Bei einem großen Textilunternehmen in Asien. So stand es in der Zeitung.«

»War der Zettel eingeklemmt oder war er eingenäht?«

»Steckte hinter dem Hutband.«

»Da haben wir es doch schon.«

»Was haben wir schon?«

»Daran erkennt man, ob es ein echtes Geheimnis ist, das verborgen sein soll. Oder ob es bloß eine Art Notiz ist, die man aufhebt, um sie bald zu verwenden.«

»Und das heißt Ihrer Meinung nach?«

»Das es hier nichts Rätselhaftes gibt. Zumindest nicht in der Schiffermütze. Was Ihre Werkstatt hingegen angeht, da bin ich mir nicht sicher.«

Die Hutmacherin ignorierte die Anspielung. Vielleicht hatte der Ex-Polizist auch nur einen Witz zu machen versucht, weil alles im Raum abgedeckt war. Späße waren nicht seine Stärke.

»Aber die Botschaft musste nicht eingenäht werden, Herr Abendscheu. Sie übersehen die Codierung.«

»Sie wollen mir also wirklich weismachen, der Zettel stelle einen Hilferuf dar?«

»Nicht direkt zumindest. Ich dachte, Sie hätten vielleicht eine Idee, wie man den Inhalt entschlüsseln kann.«

»Entschlüsseln?«

»Ja, ich hab schon stundenlang gegoogelt, aber nichts gefunden.«

»Ich sehe hier Folgendes: eine Notiz von Hand geschrieben. Da hat sich jemand etwas vermerkt, das er sich wohl nicht hatte merken können.«

»Aber die Notiz ergibt doch gar keinen Sinn.«

»Für uns nicht. Für den Schreiber aber womöglich schon. Ich glaube nicht, dass es sich einfach nur um eine sinnlose Anordnung von Buchstaben und Zahlen handelt. Dazu sieht es doch zu planvoll aus.

---ENDE DER LESEPROBE---