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Die Betreuung von Kindern in Kindertageseinrichtungen ist heute aus dem Leben der meisten Familien nicht mehr wegzudenken. Ist aber das Vertrauen der Eltern, dass ihre Kinder in den Einrichtungen gut aufgehoben seien, gerechtfertigt? Gestützt auf den Stand der internationalen Forschung machen Hans-Joachim Laewen und Beate Andres auf Risiken für die Kinder durch überfordernde Stressbelastungen aufmerksam, die mit Mängeln in der Qualität der Betreuung zusammenhängen. Die Autor:innen fordern zur Entwicklung einer professionellen Ethik im Bereich der Frühpädagogik auf und bieten konkrete Vorschläge an, wie die Lage der Kinder verbessert werden kann.
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Seitenzahl: 177
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Gut aufgehoben in der Kita
Hans-Joachim Laewen | Beate Andres
Hans-Joachim LaewenBeate Andres
Gut aufgehoben in der Kita
Zur Praxis einer professionellen Ethik
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Layout, Satz und Gestaltung:
Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe
Fotos im Innenteil auf den Seiten 21: © encrier – iStock, 79: © fizkes – iStock, 105: heidijpix – iStock
E-Book-Konvertierung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe
ISBN 978-3-451-39076-0
ISBN EBook (E-Pub) 978-3-451-82575-0
ISBN EBook (PDF) 978-3-451-82570-5
Vorbemerkung
Einleitung
1. Bedingungen des „Gut-Aufgehoben-Seins“
1.1 Systemversagen in der frühen Tagesbetreuung von Kindern?
1.2 Überlegungen zur ärztlichen Ethik und ihre Eignung als Vorbild für Pädagog*innen
1.3 Beiträge der frühpädagogischen Forschung zu ethischen Fragen
1.4 Zur Qualität der Kindertagesbetreuung in Deutschland
1.5 Mögliche Konsequenzen für die Praxis: Wie es ist, sollte es nicht bleiben
1.6 Eine Zwischenbetrachtung: Angst, Gewalt und Wut
1.7 Bleiben wir realistisch, ohne den Mut zu verlieren
1.8 Der fundamentale Grundsatz jeder Ethik: Nicht schaden!
2. Angewandte Ethik
2.1 Grundsätzliche Überlegungen zur Verbesserung der Qualität
2.2 Ingenieursarbeit
2.3 Pädagogische Qualität und lernende Organisation
3. Bausteine und andere Materialien: Auf dem Weg zu einer Ethik des Handelns in der Kita
3.1 Der erste Schritt: Entscheidung im Team
3.2 Stationen auf dem weiteren Weg
3.3 Die persönliche Seite des Aufbruchs – individuelle Prüfung der Situation
3.4 Die gemeinsame Seite des Aufbruchs – der Weg ins Team
3.5 Exkurs zu einem zentralen Thema: Die Aufnahme der Kinder in die Einrichtung
3.6 (Stress-)Reaktionen der Kinder als Indikator für die Prozessarbeit beobachten
3.7 Auf einen Blick: Übersicht über das Vorgehen
Schlusswort
Literatur
Über die Autoren
Mit der Erweiterung des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz in einer Tageseinrichtung für alle Kinder im Alter ab einem Jahr und dem Inkrafttreten des „Gute-Kita-Gesetzes“ haben Bundesregierung und Parlament 2013 bzw. 2019 zwei Sachverhalte anerkannt: den Anspruch von Frauen auf Berufstätigkeit und die Bedeutung von Qualitätskriterien für eine frühe Tagesbetreuung von Kindern. Zumindest darf der Zusatz „gut“ im Kita-Gesetz so verstanden werden, auch wenn dieser Gedanke im politischen Handeln nicht mit letzter Konsequenz durchgehalten wurde. Die Entscheidungen markieren damit einen Stand der Entwicklung in Deutschland, hinter den keine sozialpolitische Diskussion mehr zurückfallen kann. Auf dem Weg der Realisierung der Forderungen aus Artikel 3 des Grundgesetzes sind beide Positionen unverzichtbar und müssen in einer der Bedeutung der Ziele angemessenen Weise ausgestaltet werden.
Beide Vorhaben der Politik, so weitreichend ihre Bedeutung auch ist, sind jedoch bis heute1 nicht vollständig gelungen. Der quantitative Ausbau von Betreuungsplätzen kann den bestehenden Bedarf noch immer nicht überall abdecken und die Qualität der angebotenen Betreuung entspricht – wie wir sehen werden – häufig nicht dem Stand des Wissens. Das hat Folgen für die Kinder, und wir müssen davon ausgehen, dass die Sorge um sie zu einem Hindernis auf dem Weg der Umsetzung der guten Absichten aus den beiden Gesetzesinitiativen werden kann. Denn weder Eltern noch Erzieherinnen und Erzieher können sich ganz sicher sein, ob die Kita den Kindern in jedem Fall guttut.
Es ist deshalb aus unserer Sicht hohe Zeit, die Vorstellungen über das Kindeswohl, soweit es die Betreuung in Tagesstätten betrifft, auf den Stand des heutigen Wissens zu bringen, um Chancen realisieren und offensichtlich bestehende Risiken für Kinder in Tagesbetreuung vermeiden, zumindest verringern zu können. Im Zentrum steht dabei die Frage nach dem „Gut-Aufgehoben-Sein“ der Kinder in den Einrichtungen, die durch Hinweise aus wissenschaftlicher Forschungsarbeit konkretisiert und mit der Aufforderung zur Entwicklung einer professionellen Ethik verknüpft wird.
Auf der Grundlage einer breit angelegten Situationsanalyse werden Vorschläge angeboten, wie die alltägliche Praxis im Sinne einer auch ethisch vertretbaren Perspektive verändert und über Erfolgskontrollen weiterentwickelt werden kann. Für das praktische Vorgehen werden eine Reihe von Instrumenten und Verfahrensweisen bereitgestellt, die pädagogischen Fachkräften fachliche Anleitung auf dem Weg in eine anspruchsvolle und in eine professionelle Ethik eingebettete Pädagogik anbieten. Alle Vorschläge und Anleitungen zum Vorgehen können dabei unabhängig von den Unterschieden zwischen den neueren Konzeptionen für die frühpädagogische Arbeit realisiert werden.
Wir hoffen, damit den Fachkräften in den Einrichtungen bei ihrem Ringen um eine qualitativ anspruchsvolle Gestaltung ihres Angebots für die Kinder, das wir trotz schwieriger Rahmenbedingungen immer wieder beobachten konnten, dienen zu können. Die Erzieherinnen und Erzieher sind an einer zentralen Stelle unseres Bildungssystems tätig, ohne in jedem Fall die Unterstützung zu bekommen, die notwendig wäre. Es liegt uns deshalb daran, sowohl die Bedeutung der Arbeit der Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen hervorzuheben als auch durch konkrete Anleitungen zum möglichen Erfolg ihrer Bemühungen beizutragen.
Ohne Beachtung bleiben in diesem Text andere wichtige Regelungen, unter anderem zur Unfallverhütung, zur Aufsichtspflicht des Fachpersonals, zu baulichen Standards oder allgemeine Vorschriften zur Abwehr von Gefahren für Leben und Gesundheit der Kinder. Sie betreffen insbesondere den physischen Schutz sowohl der Mädchen und Jungen als auch des Personals und sind damit die materielle Grundlage jeder ethischen Forderung, die sich an dem Prinzip des „Nicht-schaden“ orientieren muss. Wir gehen jedoch davon aus, dass diese Bereiche in den Kita-Gesetzen der Bundesländer, durch spezifische Vorschriften zur Erteilung einer Betriebserlaubnis für Kindertagesstätten und die Überwachung durch die Aufsichtsbehörden hinreichend gut geregelt sind.
Das gilt unserer Einschätzung nach nicht für die Qualität der pädagogischen Arbeit, die in den Tageseinrichtungen geleistet wird. Darüber hinaus können nach unserer Überzeugung – und anders als in Bezug auf die Maßnahmen zur äußeren Sicherheit – die Grundsätze einer Ethik professionellen Handelns im Bereich der Frühpädagogik nicht auf dem Verordnungsweg geregelt werden. Sie müssen aus der Profession selbst hervorgehen, um den Eigenheiten pädagogischer Arbeit gerecht werden und Wirksamkeit im Alltagsbetrieb erlangen zu können. Dieser zentrale Aspekt ist zwar in jüngster Zeit in der einschlägigen Fachdiskussion aufgegriffen worden, blieb aber bislang, soweit wir das überblicken können, ohne breite Resonanz in den Einrichtungen. Dieses Buch bietet einen Einstieg in die praktische Entfaltung eines Arbeitsethos, in dessen Zentrum die Forderung nach dem „Gut-AufgehobenSein“ durch die strikte Beachtung der Grundlage jeder Ethik steht: dem „Nicht-schaden“.
Wir wenden uns dabei in keiner Weise gegen das System der Kindertagesbetreuung als solches. Wir halten es in unserer Gesellschaft für absolut notwendig, um Frauen und Männern in gleicher Weise eine Teilhabe am Kultur- und Arbeitsleben zu ermöglichen. Wir gehen auch nicht davon aus, dass eine Tagesbetreuung in den ersten Lebensjahren den Kindern per se schadet. Eine erhebliche Zahl von wissenschaftlichen Untersuchungen zu dieser Thematik verweist jedoch darauf, dass diese Unbedenklichkeit nur bei einem hohen Standard der Qualität der Betreuung erwartet werden kann. Die Risiken für die Gesundheit und die Entwicklung der Kinder steigen jedoch mit Umfang und Art der Qualitätsmängel und der Dauer einer mehr als halbtägigen Betreuungszeit in den Einrichtungen.
Wir verzichten dabei bewusst darauf, jedes Argument in seiner fachlichen Breite und Tiefe auszuleuchten, wie das vielleicht in einem umfangreichen Lehrbuch mit mehreren hundert Seiten sinnvoll und möglich wäre. Wir verstehen diesen Text als einen Anstoß zur Eigeninitiative, der sich auf fachliches Wissen stützt, konkrete Handlungsvorschläge anbietet und dennoch einigermaßen lesbar und in seinen Begründungen plausibel bleibt.
Bei aller Konkretheit der Instrumente, die wesentlich den Situationsanalysen in den Einrichtungen dienen, werden inhaltliche Zusammenhänge und Handlungsvorschläge gelegentlich eher skizziert als in aller Breite und im Vergleich mit denkbaren Handlungsvarianten ausgeführt. Auch finden sich Überlegungen und Schlussfolgerungen, die sich eher auf unsere Erfahrungen aus vier Jahrzehnten Tätigkeit im Praxisfeld stützen, als dass bereits belastbare wissenschaftliche Arbeitsergebnisse vorlägen. Wir halten sie dennoch für geeignet, schwierige Sachverhalte besser verstehen zu können, wie etwa unsere Gedanken zu den Grundlagen aggressiven Verhaltens von Erwachsenen, die wir der Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser empfehlen möchten.
Wichtig für uns ist, dass die Ideen, die in die Vorschläge Eingang gefunden haben, im Grundsatz verstanden werden und den Fachkräften die Möglichkeit eröffnen, in Orientierung daran auch eigene Erfahrungen, Kenntnisse und daraus folgende Situationsinterpretationen in ihre Handlungskonzepte einzubringen. Nach einiger Zeit wird man dann genauer hinsehen und prüfen müssen, an welchen Stellen welche Erweiterungen oder Veränderungen sinnvoll wären, wo Aufwand eingespart werden kann und was gegebenenfalls hinzugefügt werden sollte. Work in Progress also, wofür hier ein Anfang gesetzt werden soll.
Schließlich haben wir all denen zu danken, die an der Vorbereitung und Realisierung dieses Projekts beteiligt waren. Seit vielen Jahren beschäftigen wir uns mit Fragen einer frühpädagogischen Ethik und tauschen uns mit Fachkräften auf den verschiedenen Ebenen des Gebiets über die Thematik aus. Diese Gespräche waren ein wichtiger Motor für uns, es nicht beim Reden zu belassen. Erste Schritte hin zu einer Konkretisierung unseres Vorhabens gingen wir mit der infans-StEG-Arbeitsgruppe „Zertifizierung“, mit der wir uns mehrfach zwischen 2016 bis 2019 getroffen haben, um uns über Merkmale ethischer Grundsätze zu verständigen.
Auch die Resonanz und Zustimmung, die wir mit Fragen zur Bedeutung einer professionellen Ethik 2017 auf dem 3. Fachkongress „Beziehung gestalten – Bildungsprozesse sichern“ durch die große Mehrzahl der 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer erfahren haben, hat uns ermutigt, die Arbeit weiter voranzutreiben. Und nicht zuletzt haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von sechs Kindertagesstätten in Freiburg, Halle, Offenburg, Schramberg, Ulm und Vetschau durch ihre Teilnahme am Projekt „Gut aufgehoben“ die Grundlage für wichtige empirische Grundlagen des Ethikkonzepts geschaffen. Ohne die Unterstützung all dieser Menschen hätten wir dieses Buch nicht geschrieben. Ihnen allen danken wir sehr.
Berlin, November 2021
Beate Andres
Hans-Joachim Laewen
1 Stand: November 2021.
An der Hand ihrer Mutter überquert Eleana, 18 Monate alt, die Straße und macht sich los, als die andere Seite erreicht ist. Sie rennt die kurze Strecke zum Eingang ihrer Kita, und als sie angekommen ist, versucht sie, die Klinke der gläsernen Eingangstür zu fassen. Das gelingt noch nicht und sie muss auf ihre Mutter warten. Augenblicke später sitzt Eleana auf der Bank im Flur, die Jacke wird ausgezogen, die Schuhe werden gewechselt. Ihr Blick geht einige Male zwischen „ihrer“ Erzieherin und ihrer Mutter hin und her. Die beiden wechseln noch einige Worte, dann hat Eleana die volle Aufmerksamkeit „ihrer“ Fachkraft. Ein kurzes Winken zum Abschied und Eleana geht in der Obhut „ihrer“ Erzieherin zu den anderen Kindern.
Einige Zeit später sehen wir Eleana auf dem Wickeltisch stehen, „ihre“ Erzieherin löst die Verschlüsse der Windel, möchte, dass Eleana sich setzt. Die aber bleibt stehen, greift nach dem Tüchlein in der Hand der Erzieherin, bekommt es auch und beginnt, sich selbst zu säubern. Dazu hat sie ihr T-Shirt mit einer Hand ein wenig hochgezogen, den Kopf nach unten geneigt, und die Erzieherin hilft ihr, das Gleichgewicht zu halten. Das Kind ist konzentriert bei der Sache, lässt es aber nach einiger Zeit zu, dass Petra Ritter, so heißt „ihre“ Erzieherin, das Werk vollendet. Das Ganze dauert etwa eine Viertelstunde und ist begleitet von gestischer, verbaler und mimischer Kommunikation zwischen den beiden.
Das Filmteam, das die Ankunft von Eleana und nun die Interaktion zwischen Fachkraft und Kind dokumentiert hat, ist angerührt von der Stimmigkeit der Kommunikation: Die Gesten beider sind aufeinander abgestimmt, der Rhythmus der Bewegungen passt, und trotz der Ernsthaftigkeit, mit der Eleana bei der Sache ist, bestimmt eine heitere Leichtigkeit die Atmosphäre.
Eleana fühlt sich offensichtlich gut aufgehoben bei „ihrer“ Erzieherin, sodass alle Kritik an der Qualität von Kindertagesbetreuung in der Bundesrepublik Deutschland sehr weit entfernt zu sein scheint und möglicherweise auch als völlig unzutreffend gelten könnte. Auch eine andere Szene, die einige Tage zuvor zu beobachten war, spricht für eine solche Sicht. In der vierten Woche nach ihrer Aufnahme in der Einrichtung zögerte Eleana noch mit dem letzten Schritt, der häufig den Abschluss einer gelungenen Übergangszeit markiert: Sie mochte noch nicht einschlafen, wenn sie müde wurde. In einer solchen Situation hatte Petra Ritter sie aufgenommen und mit sachten Schritten durch den Raum getragen, hin und wieder zurück, und schließlich vertraute sich Eleana ihr an und schlief auf ihrem Arm ein.
Die Zuordnung zwischen dem Mädchen und „ihrer“ Fachkraft ist unschwer als Ausdruck einer Beziehung zu erkennen, die von dem Kind sehr ernst genommen und deren Bedeutung uns auch im weiteren Verlauf immer wieder beschäftigen wird. Es ist eine Beziehung, die dem Kind einen angstfreien Aufenthalt in der Kindertagesstätte sichert. Was immer das Team dieser Einrichtung mit Blick auf die frühen Bildungsprozesse der dort betreuten Kindern sonst noch anzubieten hat: Die Grundlage für alle nachhaltigen Lernprozesse, das „Gut-AufgehobenSein“, ist so unübersehbar vorhanden, dass jede Mutter, jeder Vater sicher sein kann, dass in dieser Umgebung kein kalter Hauch ihr Kind berühren und ängstigen wird.2
Beziehung zwischen Fachkraft und Kind
Nun wurden in weiteren Tageseinrichtungen allerdings auch andere Bilder von Kameras eingefangen: Ein etwa dreijähriger Junge steht an dem großen Fenster einer Einrichtung und blickt auf die Straße. Man darf zweifeln, ob er viel von dem Geschehen dort wahrnimmt, denn im Abstand von wenigen Sekunden schüttelt ein Schluchzen den schmalen Körper, obwohl die Augen ohne Tränen sind. Nach einiger Zeit zeichnen die Mikrophone leise Laute auf: Mama … Mama.
Ein Schwenk der Kamera in den Raum zeigt andere Kinder, die in einer Art von Ratlosigkeit gefangen herumstehen; einige laufen durch den Raum, aneinander vorbei, nehmen einen Gegenstand auf, lassen ihn wieder fallen, blicken den beiden erwachsenen Personen nach, die ab und an durch das Bild eilen und keinerlei Notiz von der Situation nehmen. Kein Wort ist zu hören, keine Geste der Zuwendung zu einem der Kinder zu erkennen. Welches Bild von Kindheit und Kindern müsste man haben, um hier von einem „Gut-Aufgehoben-Sein“ sprechen zu können?
Eigene Erfahrung ebenso wie Forschungsdaten zeigen in der Tat, dass angstfreie Situationen für die Kinder keineswegs in allen Einrichtungen der Tagesbetreuung in gleicher Weise gegeben sind, auch wenn es gute und exzellente Kindertagesstätten überall in der Bundesrepublik gibt. Das Problem ist, dass es zu wenige sind. Die Daten aus wissenschaftlichen Studien weisen darauf hin: Die Qualität der Kindertagesbetreuung in der Bundesrepublik Deutschland ist im Durchschnitt mittelmäßig (Kindergarten) bis schlecht (Kinderkrippe). Woraus die naheliegenden Fragen resultieren, worauf solche Unterschiede zwischen guter und mittelmäßiger bis schlechter Tagesbetreuung zurückzuführen und was die Folgen für die Kinder sind.
Gute Kitas sind nicht die Regel
Kita-Qualität ist heterogen
Wir haben während unserer Arbeit in den letzten Jahren ähnliche Situationen des „Gut-Aufgehoben-Seins“ gesehen, wie die eingangs beschriebene: in Baden-Württemberg, in Brandenburg, in der Schweiz, in Einrichtungen unterschiedlicher Träger, unterschiedlicher Größe und in verschiedensten sozialen Umfeldern. Was diese „Orte für Kinder“, wie es das Deutsche Jugendinstitut vor vielen Jahren einmal formulierte, von anderen unterschied: In den allermeisten dieser Einrichtungen hatte sich das Fachpersonal intensiv mit neueren Konzepten der Frühpädagogik auseinandergesetzt, hatte es ein gegebenenfalls auch langes Ringen um Veränderung gegeben und schließlich eben den Erfolg. Diese Einrichtungen beweisen jeden Tag aufs Neue, dass unter verschiedensten Rahmenbedingungen ein Höchstmaß an Geborgenheit für die Kinder erreicht werden kann, das wenig Anlass für die Besorgnisse bietet, die manche Eltern – und auch Kinderärzte – empfinden, wenn Kinder für einen Teil des Tages in die Obhut von Kindergärten oder Krippen wechseln sollen.
Auseinandersetzung mit neueren Konzepten fördert höhere Qualität
Wir selbst sind überzeugt davon, dass die große Mehrheit der Fachkräfte ein vollkommen glaubwürdiges und authentisches Interesse daran hat, für die Kinder in ihrer Obhut ein Gefühl des „Gut-AufgehobenSeins“ zu sichern und bestmögliche Bedingungen für die Entfaltung ihrer frühen Bildungsprozesse zu schaffen. Umso rätselhafter wäre dann aber ein Misslingen bei der Umsetzung der guten Absichten und umso drängender die Fragen nach seinen möglichen Ursachen. Insbesondere wäre zu prüfen, ob und inwieweit die Bedingungen für exzellente pädagogische Arbeit im Einflussbereich der Fachkräfte selbst liegen.
In der Fachdiskussion zur Betreuungsqualität in Kindertageseinrichtungen wird in diesem Zusammenhang – zu Recht – auf strukturelle Rahmenbedingungen hingewiesen, die für eine gute Qualität der pädagogischen Arbeit in den Einrichtungen nicht immer förderlich sind. Die zu Beginn beschriebenen Beispiele für exzellente Arbeit und wissenschaftliche Studien zeigen jedoch, dass unter den unterschiedlichsten Bedingungen hervorragende Arbeit geleistet werden kann. Ohne den Einfluss der Rahmenbedingungen ignorieren zu wollen, für den es auch aus der Forschung gute Belege gibt, müssen wir deshalb davon ausgehen, dass noch andere Faktoren existieren, die möglicherweise unabhängig von den Strukturbedingungen wirksam sind.
Was beeinflusst die Qualität?
Dieses Buch befasst sich deshalb mit Fragen danach, ob nicht jenseits von Rahmenbedingungen Handlungsräume für die Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen identifiziert werden können, deren Ausgestaltung die Entscheidung über die Qualität der eigenen Arbeit wieder in die Hände der Pädagoginnen und Pädagogen zurückführt, wo sie eigentlich auch hingehört.
Dabei werden Forschungsergebnisse eine Rolle spielen, die ernst zu nehmende Hinweise auf problematische Entwicklungen in der Praxis von Frühpädagogik enthalten, es andererseits aber auch erlauben, diese Sachverhalte soweit zu konkretisieren, dass Grundlagen für Veränderungen erkennbar werden.
Um weitere Klarheit zu gewinnen, haben wir in den vergangenen Jahren zahlreiche Fachgespräche mit Leiter*innen, Erzieher*innen, Berater*innen und Vertreter*innen von kommunalen und freien Trägern geführt. Befragungen von Fachkräften wurden durchgeführt, ausgewertet und die Ergebnisse vor dem Hintergrund von langjährigen Praxiserfahrungen interpretiert. Zwischenergebnisse dieser Arbeit sind in Abständen auf Fachkongressen von infans-StEG vorgetragen worden3 und stießen auf erhebliches Interesse. Eine Befragung der 500 Teilnehmer*innen einer der Veranstaltungen unter anderem zur Bedeutung einer professionellen Ethik für den Bereich erbrachte bei 300 ausgefüllten Fragebögen 300 zustimmende Antworten – ein von uns noch nie beobachtetes Ergebnis.
Das alles zusammengenommen hat Verbindungen zwischen bislang als getrennt wahrgenommenen Sachverhalten erkennen lassen, neue Ideen angestoßen, wie durch selbstbestimmtes Handeln Schritte hin auf eine weiterentwickelte Frühpädagogik ermöglicht werden könnten. Und es sieht so aus, als würde das gar nicht soooo schwierig sein.
Schritte zur Weiterentwicklung der Frühpädagogik
Daraus folgt allerdings die unbequeme Frage, ob mit Blick auf eine reale Chance, die Qualität der Betreuung von Kindern in öffentlichen Tageseinrichtungen durch eigene Initiativen deutlich verbessern zu können, kein Gebrauch von diesen Möglichkeiten gemacht werden darf. Und das wiederum verweist noch einmal darauf, dass es Sinn machen könnte, sich mit der Frage nach einer Ethik pädagogischen Handelns in Kindertageseinrichtungen ausführlicher zu befassen. Denn schon die vorliegenden Forschungsdaten weisen darauf hin, dass die beobachteten Zusammenhänge zwischen einer unzureichenden Qualität der Kinderbetreuung und Gesundheit, Stressreaktionen und Belastungen der Bindung der Kinder an ihre Mütter keineswegs banal sind, sondern deutlich mehr Aufmerksamkeit erhalten sollten, als ihnen aktuell gewährt wird. Das Buch formuliert den Entwurf für elementare Grundlagen einer solchen Ethik, nicht als einen akademischen Diskurs – der wichtig ist und von anderen Autor*innen auch geführt wird –, sondern als Anleitung zum praktischen Handeln und mit Beschreibung der Gründe dafür.
Zusammenhang zwischen Qualität und kindlicher Gesundheit
Praktische Anleitung
Der Entwurf beschränkt sich zunächst auf die grundlegende Forderung, der wohl jeder ethische Anspruch genügen muss: durch eigenes Handeln den Kindern nicht zu schaden. Die folgenden Kapitel beschreiben, worin dieser Schaden gegebenenfalls bestehen kann, welche Zusammenhänge mit eigenem Handeln erkennbar sind und wie ein konkretes Vorgehen aussehen könnte, Schaden zu vermeiden, zumindest zu verringern und das anfangs beschriebene „Gut-Aufgehoben-Sein“ zu realisieren.
"Nicht schaden" als grundlegende Forderung
2 Was diese poetische Formulierung im Alltag von Kindertagesbetreuung bedeuten kann, werden wir später klären.
3 zuletzt im Mai 2017
Im Verlauf der vier Jahrzehnte, die wir auf der Ebene von Forschung und Konzeptentwicklung im Bereich der Kindertagesbetreuung arbeiten, ist uns in den letzten Jahren ein positiver Trend zum „Gut-Aufgehoben-Sein“ für die Kinder aufgefallen, der uns Freude macht und zu dem wir möglicherweise selbst ein wenig beigetragen haben. Bei der Aufnahme von Kindern in die Einrichtungen hat sich viel getan, und Beispiele gelungener Interaktionen zwischen Kindern und pädagogischen Fachkräften begegnen uns immer häufiger.
Aufwärtstrend in der pädagogischen Prozessqualität
Wir mussten aber auch zur Kenntnis nehmen, dass keineswegs alle Einrichtungen, sondern nur eine – wenn auch wachsende – Minderheit auf diesem hohen Niveau arbeitet. Wir können also alle zusammen auf eine begeisternd positive Entwicklung zurückblicken, auf Einrichtungen, deren Teams alles richtig machen, was auf dem jetzigen Stand der Entwicklung richtig gemacht werden kann. Aber gerade die Erfahrung dessen, was aktuell schon möglich ist, macht den Vergleich mit den Kindertageseinrichtungen, die längst noch nicht so weit gekommen sind und das möglicherweise auch gar nicht anstreben, so schmerzhaft.
Natürlich drängen sich dann Fragen auf, wie es zu derartigen Unterschieden in der Qualitätöffentlicher Tagesbetreuung überhaupt kommen konnte und weiterhin kann. Im Laufe der Zeit, die wir in die Suche nach Aufklärung investierten, ließen sich zwar einige Sachverhalte entschlüsseln, was uns zunächst jedoch eher mutlos zurückließ. Alles schien mit allem zusammenzuhängen und eine Festung zu bilden aus Unzuständigkeiten, unterbrochenen Kommunikationswegen, fehlendem Wissen bzw. der Bereitschaft, es zur Kenntnis zu nehmen auf der einen Seite, intensivem Bemühen um Abhilfe, ideenreiche Projekte und konzentrierte Arbeit an besseren Konzepten sowohl in den Wissenschaften als auch in der Praxis auf der anderen. Welche Realität verbirgt sich also hinter dieser labyrinthischen Sammlung von möglichen Einflüssen, die eine Weiterentwicklung pädagogischer Qualität zu behindern bzw. zu fördern scheinen?
Suche nach den Gründen für heterogene Qualität
Zwar tragen aus unserer Sicht immer noch die Fachkräfte als die unmittelbar handelnden Personen Verantwortung dafür, wenn die Kinder in Tagesbetreuung nicht die Bedingungen vorfinden, die sie eigentlich für eine freie Entfaltung ihrer Potenziale in einer Bildungseinrichtung der frühen Jahre brauchen. Sie tragen sie aber nicht allein. Es scheint sich eher um eine Art von Systemversagen zu handeln, an dem unter anderem Wissenschaft und Politik ebenso beteiligt sind wie die regionale Administration, die Träger sowie Inhalt und Struktur der Ausbildung. Und möglicherweise sollte wohl auch der Anteil mancher Eltern nicht aus den Augen verloren werden, wenn sie eine Tageseinrichtung eher aus der Perspektive von Konsumenten betrachten, als dass sie den Besuch ihres Kindes dort als ein Projekt in gemeinsamer Verantwortung erkennen könnten. Vermutlich wirft auch immer noch eine lange Tradition der Missachtung elementarer Lebensbedürfnisse von Kindern ihre dunklen Schatten. Wie sonst hätte ein Elternratgeber wie der von Johanna Haarer4