Hafen ohne Wiederkehr - Rainer Gellrich - E-Book

Hafen ohne Wiederkehr E-Book

Rainer Gellrich

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Beschreibung

Eigentlich möchte Kriminalhauptkommissar Wolfgang Birkenbock nur ein paar erholsame Tage an der Nordsee verbringen. Immerhin ist er jetzt Pensionär und freut sich auch schon seit vielen Wochen auf die frische Meeresluft. Doch was steckt da im Reifen seines Fahrrades? Ein kleiner Goldsplitter? Gold – hier an der Nordsee? Bernstein wäre schon eine Sensation gewesen, aber es besteht kein Zweifel: Es handelt sich um echtes Gold und davon scheint es noch mehr zu geben. Die Ereignisse überschlagen sich und seine ehemalige Dienststelle schickt ihm Verstärkung. Gemeinsam mit seiner ehemaligen Auszubildenden nimmt er die Spur zu einer eingeschworenen Gemeinschaft auf, die sich die Wirren der Sturmflut von 1962 zunutze gemacht hat. Und während die anderen Urlauber die Sonne und den Strand genießen, geht Birkenbock seinem Bauchgefühl nach und lüftet den Schleier eines jahrelang gut gehüteten Geheimnisses.

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Seitenzahl: 442

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www.tredition.de

Rainer Gellrich, Jahrgang 1964

Begeisterter Science-Fiction-Leser, geprägt durch Werke von Christopher Samuel Youd, Stanislaw Lem, Robert A. Heinlein, Isaac Asimov und Frank Herbert.

Unter dem Label „Syberian Cluster“ begann er ab 2018 damit, seine Gedanken in einer Reihe von Erzählungen niederzuschreiben.

Bisher erschienen:

- Kaotatu (2020)
- No GAra (2021)
- Schwestern der Ewigkeit (2022)
- Die Tempel von Tululu (2023)

Neben dieser Reihe veröffentlichte er auch ein Kinderbuch:

Als der Elefant den Weihnachtsbaum gefressen hat (2022)

2023 begann er zusätzlich mit der Serie „Birkenbock“

Daraus bisher erschienen:

Hafen ohne Wiederkehr (2024)

Alle Infos über das Gesamtwerk: www.SyberianCluster.de

Rainer Gellrich

Hafen ohne Wiederkehr

Birkenbocks erster Fall

www.tredition.de

© 2024 Rainer Gellrich

Umschlag: Rainer Gellrich

Lektorat: Simone Gellrich

Grafiken: Rainer Gellrich [playground, mage.space, Craiyon, nightcafe, eigene Aufnahmen]

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

ISBN Softcover:978-3-347-71325-3

ISBN Hardcover:978-3-347-71937-8

ISBN E-Book:978-3-347-71326-0

ISBN Großschrift:978-3-347-71938-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbHAbteilung „Impressumservice“Halenreie 40-4422359 Hamburg, Deutschland.

DANKSAGUNG

Ein Großteil meines Dankes gilt meiner Frau, die mich bestärkt hat, mich auch auf das dünne Eis dieses Genres zu wagen. Mit ihr habe ich viele Aspekte der Geschichte diskutiert und die Wege meines Helden immer wieder auf Plausibilität geprüft.

Ein Teil gilt den Menschen, die mir in der persönlichen Begegnung den Anlass und die Erlaubnis gegeben haben, diese ebenfalls in eine Geschichte einzubauen.

Letztlich danke ich auch meinen treuen Lesern, deren Rückmeldungen aus meinem bisherigen Schaffen mir den Weg gewiesen haben, einen zweiten Erzählstrang zu schaffen und allen, die mir geduldig die Zeit zugestanden haben, die ich dafür benötigte.

Ein besonderer Dank geht an die Pressestelle der DGzRS, die mir auf meine Anfrage hin sehr wertvolle Hinweise zur Arbeit der Gesellschaft und über ihre Einsätze gegeben hat.

Inhaltsverzeichnis

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Hinweise

1

10. Oktober

„RAF Bomber richten große Zerstörungen in der Stadt an. Wie das Marinekommando Wilhelmshaven berichtet, wurden hauptsächlich Gebäude der Innenstadt getroffen. Hafen und Hafenanlagen konnten erfolgreich geschützt werden. Na, danke schön. Waren die denn dabei?“

Sein Gegenüber hatte sich gerade eine Zigarette angesteckt und genoss den ersten Zug. Er schaute gedankenverloren dem Rauch hinterher.

„Ist doch wahr. Entweder wir bekommen bald eine wirksame Flak oder sie müssen sich einen anderen Hafen suchen!“ Fritz Brunken ließ die Zeitung sinken und schaute missmutig aus dem Fenster. Es war Anfang Oktober und eine Windböe blies einige feuchte Blätter über die Straße.

„Na, nun“, brummte der Mann hinter dem massiven Schreibtisch, der sein Streichholz gerade sorgfältig auf dem Rand seines Aschenbechers ablegte. „Gibt halt Tage, da läuft es nicht so gut.“

„Es läuft insgesamt nicht mehr gut!“ Die Zeitung landete auf dem Besuchersessel. „Wenn das so weiter geht, dann brennt hier bald die Luft. Es wird Zeit, dass wir eine Entscheidung treffen, sonst …“

„Hey! Ich will das nicht hören“, wurde er unterbrochen. Doch Brunken hatte sich in Rage geredet.

„Ich kann auch zwischen den Zeilen lesen. Was ist mit Cherbourg? Oder mit Brest? Ist keine drei Wochen her! Ich war letzten April in Brest, da war die Welt noch in Ordnung. Wir haben denen kaum was entgegenzusetzen. Seit vorletztem Februar haben wir uns doch kaum mehr erholt. Es ist vorbei!“

„Halten Sie das Maul, Fritz!“ Der Oberleutnant war aufgesprungen und hatte schnell das Fenster geschlossen, um anschließend noch einen raschen Blick in die Viktoriastraße zu werfen. Sein Aufspringen und die Tatsache, dass er seine Zigarette auf seinen Tisch hatte fallen lassen, ließen den Angesprochenen innehalten.

Langsam kehrte der Oberleutnant wieder an seinen Platz zurück und pickte die glimmende Zigarette auf, deren Glut mittlerweile ein Loch in ein Stück Papier gebrannt hatte. Er richtete einen vorwurfsvollen Blick auf den Mann neben dem Fenster und deutete auf den Besuchersessel vor sich.

„Platz nehmen!“

Brunken gehorchte mechanisch. Der Ausruf traf ihn nicht persönlich. Dazu kannten sich die beiden schon zu lange.

Der Oberleutnant zog zweimal an seiner Zigarette, bis sich sein Gesicht etwas entspannte und durch den ausgestoßenen Qualm sprach er seinen Gegenüber in versöhnlicherem Ton an: „Wirklich, Fritz. Was wir beide auch privat so denken mögen, hat hier nichts zu suchen.“ Er blickte zur Seite, als stünde noch jemand im Raum und meinte: „Wenn Sie das der Gestapo erzählen, ist es für Sie schneller zu Ende, als wir beide es uns vorstellen können. Dumm nur, dass Sie dann ihren Kindern davon nicht mehr erzählen können. Sie wissen doch, was hier im Mai los war.“ Er spielte auf ein Ereignis an, bei dem ein „Werwolf-Kommando“ unter der Leitung des SA-Führers Friedrich Wilhelm Lotto drei angebliche „Kriegsverräter“ - darunter befand sich auch der Wilhelmshavener Kriminaldirektor Konrad Nussbaum – erschießen ließ. Er hatte angeblich gesagt, dass es an der Zeit sei, die Uniform abzulegen und zur anderen Seite zu wechseln.

Brunken presste seine Lippen aufeinander und senkte den Kopf.

„Ich kann die Meldungen des Oberkommandos auch lesen, Fritz, aber wir beide können nur hoffen, dass Dönitz weiß, was er tut.“

Noch bevor sich Brunken dazu äußern konnte, klopfte es. Routiniert huschten die Augen des Oberleutnants über seinen Tisch. Alles aufgeräumt. Wer auch immer ihn unangemeldet aufsuchte, man würde annehmen können, es handelte sich gerade um eine dienstliche Besprechung innerhalb der Leitungsebene der Arsenalverwaltung.

Seine Vorzimmerdame steckte den Kopf durch die Tür. „Eine vertrauliche Depesche aus Berlin, Herr Oberleutnant.“

Der winkte mit einer Hand. „Soll reinkommen.“

An der Tür verschwand das schüchterne Gesicht der Vorzimmerdame und wurde durch einen hageren Burschen ersetzt, der seinen Helm bereits vorschriftsmäßig unter den Arm geklemmt hatte. Er trat einen Schritt in den Raum hinein und die Tür war noch nicht wieder hinter ihm geschlossen, da hob er bereits den rechten Arm zum Gruß.

„Heil Hitler!“

Stabsoberbootsmann Brunken täuschte einen plötzlich Niesanfall vor, während der Oberleutnant den Gruß erwiderte.

Auf seine Aufforderung hin trat der Soldat zwei weitere Schritte auf den Schreibtisch zu und blieb dort wieder stocksteif stehen, um seine Meldung zu machen.

„Rottenführer Kretschmar mit wichtigen Dokumenten für Oberleutnant Runditz!“ Seine ostdeutsche Sprechweise war deutlich herauszuhören und der Oberleutnant drückte seine Zigarette aus, um sich zu sammeln.

Während Brunken absichtlich Luft ein- und ausschnaufte, um ein Grinsen zu unterdrücken, blieb der Oberleutnant seiner Rolle als befehlshabender Stabsoffizier der Marineversorgung treu. Er streckte ihm seine linke Hand entgegen und wartete, bis der Rottenführer einen dicken Umschlag aus seiner Umhängetasche gezogen und ihm ausgehändigt hatte.

Trotz seiner Größe war der Umschlag erstaunlich leicht und da der Oberleutnant im Grunde nach auch kriegsmüde war, bot er dem Überbringer weiterhin keinen Sitzplatz an. Im Gegensatz zu seinem Untergebenen äußerte er seine private Meinung jedoch nie, was jedoch nicht heißen sollte, dass er die SS mögen musste. Wenn es ihm also möglich war, diesem Burschen seine Verachtung durch Verweigerung eines Sitzplatzes zukommen zu lassen, dann freute ihn sogar diese Kleinigkeit.

Mit seinem Brieföffner fummelte er das Sigel auf und nachdem er einen ersten Blick in den Umschlag geworfen hatte, richtete er seine Augen wieder auf den Überbringer.

„Sie kennen den Inhalt der Depesche?“

„Natürlich nicht, Herr Oberleutnant.“ Der Rottenführer versteifte seine Haltung.

Oberleutnant Runditz dachte kurz nach.

„Warten Sie auf eine persönliche Bestätigung?“

„In der Tat.“ Der Rottenführer zog einen Bogen Papier aus seiner Tasche und überreichte ihn dem Oberleutnant.

Um sich abzulenken, zog Fritz Brunken seine Pfeife aus der Brusttasche und begann damit, sie zu stopfen. Er gönnte dem Rottenführer keinen Blick.

„Hier!“ Runditz hatte die Empfangsbestätigung durchgelesen und unterschieben. Er hielt sie dem Rottenführer wieder hin. „Draußen können Sie sich noch einen Dienststempel abholen, wenn das notwendig ist. War das alles?“

„Sie haben gesehen, dass der Vorgang nach Stufe 5 behandelt wird?“ Der Rottenführer deutete kurz auf den Stabsoberbootsmann, der sich auffällig penibel mit seiner Pfeife beschäftigte und so tat, als bekäme er vom übrigen Gespräch im Raum nichts mit.

„Geheime Reichssache. Ja, das habe ich sehr wohl gelesen.“ Oberleutnant Runditz produzierte ein falsches Lächeln. „Ich werde damit umgehen, wie es der Führer in derartigen Fällen vorgesehen hat. Wenn Sie keine weiteren Fragen oder Anmerkungen überbringen müssen, dürfen Sie gern die Annehmlichkeiten unserer schönen Stadt genießen.“ Er blieb sitzen, während er dem Rottenführer einen militärischen Gruß andeutete.

Der verstand, versteifte sich wieder und hob erneut die Hand zum Gruß. „Heil Hitler!“ Dann drehte er auf den Absätzen um und verließ das Dienstzimmer, wobei er die Tür hinter sich nicht schloss.

Es bedurfte keiner Worte. Brunken stand geschmeidig auf und schloss die doppelte Tür. Dann setzte er sich wieder auf seinen Platz und sah den Oberleutnant erwartungsvoll an.

Der hatte auf ihn gewartet und zog jetzt langsam die wenigen Bögen Papier aus dem dicken Umschlag. Dabei lag auch eine gefaltete Karte, die den Umschlag vermutlich so aufgebläht hatte.

„Uii – ein geheimer Marschbefehl, der das Schicksal des Reiches wenden wird“, spottete Stabsoberbootsmann Brunken.

„Fritz! Nochmal, Schnauze!“, zischte der Oberleutnant und sortierte die Papiere, während er mühsam ein Grinsen aus seinem Gesicht vertrieb. Sein ironischer Ausspruch entsprach der Meinung vieler Marineangehöriger in diesen Tagen und Brunken sprach aus, was auch er insgeheim dachte. Er winkte den Stabsoberbootsmann zu sich an den Tisch und beide studierten sie die Dokumente und die Karte, die sie auf dem Tisch ausbreiteten.

Der Befehl kam direkt vom Oberkommando der Wehrmacht. Wie auf einem angehängten Zettel zu lesen war, hatte man die Admiralität zwar grundsätzlich ebenfalls informiert, aber deren Ausführung, die als Durchschlag bei den Dokumenten lag, enthielt viel weniger Informationen als die Befehle für die Marine-Arsenalverwaltung. Ebenfalls sehr knapp gehalten waren die Befehle für die Kraftwagen-Transport-Einheit und die sie begleitenden Kradeinheiten. Diese Seiten legten sie beide schnell zur Seite. Der an die Marineverwaltung gerichtete Befehl war viel ausführlicher. Er füllte fast zwei Seiten aus. Es befand sich bereits ein Transport auf dem Weg zu ihnen, der von einer größeren Kradeinheit begleitet wurde und sich nur während der Nachtstunden zu bewegen hatte. Aufgrund der unsicheren Lage war die Zeit seines Eintreffens nicht exakt angegeben und es wurde von den Fahrern verlangt, größtmögliche Vorsicht und Flexibilität anzuwenden, um die Fracht, die nicht näher bezeichnet wurde, in einem auf der Karte markierten Lagerhaus bei den Trockendocks im Bauhafen von Wilhelmshaven an die Marine zu übergeben.

Seitens der Marineverwaltung wurde verlangt, dort für eine strenge und sichere Bewachung zu sorgen. Innerhalb der nächsten Tage sollte dann ein Seetransport zu einer ebenfalls auf der Karte verzeichneten Stelle erfolgen. Mittels eines beschriebenen Codes auf einer angegebenen Frequenz würde dann ein Treffen mit einem U-Boot vereinbart werden, dem die spezielle Ladung zu übergeben sei. Die Stelle für die Übergabe lag im Seegebiet westlich von Helgoland.

Die beiden Männer sahen sich ratlos an. Der Oberleutnant suchte in den Papieren, ob es noch einen weiteren Befehl gäbe, was den Seetransport betraf, doch da war nichts.

„Flexibilität, was?“ Brunken nuckelte an seiner kalten Pfeife. „Wir schauen mal in den Hafen, was wir da noch haben, um auf die Nordsee zu tuckern, hmm … ja. Da ist nix. Schade.“

Doch seine Provokation lief ins Leere.

„Die schicken einen LKW aus Breslau los und dazu eine Kradstaffel, die doch an anderer Stelle viel besser gebraucht würde?“

„Jopp.“

„Dann sollen wir … irgendwann … die Ladung … Was überhaupt?“

„Steht hier nicht.“

„Geheime Reichssache. Strenge Bewachung. Um was geht’s hier? Hitlers Büste in Gold?“

Jetzt musste sogar Brunken lachen. „Pscht. Die Gestapo.“

„Ich scheiße auf die Gestapo!“ Brunken hoffte, dass die doppelte Bürotür den Ausruf des Oberleutnants dämpfen würde, aber die Vorzimmerdame des Oberleutnants war in dieser Hinsicht absolut linientreu und zwar ganz im Sinne ihres Vorgesetzten.

Dennoch: Man wusste in diesen Tagen nie, wer oder wo jemand zufällig etwas aufschnappte und es gingen Gerüchte in der Stadt um. Gerüchte über Menschen, die verschwanden. Echte Wilhelmshavener, so dachte Brunken, würden die Stadt selbst in dieser Zeit nicht freiwillig verlassen. Er war schon lange Soldat, aber die Aktivitäten der Gestapo und der SS gaben auch ihm in den letzten Monaten schon Grund zur Sorge.

Während die Liste seiner Vorfahren bekannt war und alle Nachweise für eine arische Herkunft vorhanden waren, gab es in der Familie seiner Mutter einige Lücken. Irgendwann waren ihre Vorfahren aus den Niederlanden eingewandert und daher fühlte er sich angreifbar.

Insgeheim hoffte er mittlerweile auf ein rasches Kriegsende und seine Hoffnung war, dass er eines schönen Tages wieder seinem alten Beruf als Fischer vor den Inseln seiner Heimat würde nachgehen können oder vielleicht würde er auch eine Pension eröffnen wollen, aber bis dahin musste er sich bemühen, weiterhin ungeschoren zu bleiben. Die letzten Bombenangriffe hatten viele Gebäude schwer beschädigt. Brunken war vom Herzen her Seemann. Sollte es ihn erwischen, dann auf See und nicht unter einem Haufen brennender Trümmer in der Stadt.

Seine trüben Gedanken vertreibend, griff er nach der Seekarte, die zu den Befehlen gehörte. Er fuhr mit dem Finger die Küste entlang, bis er die Stelle gefunden hatte, an der die Übergabe stattfinden sollte. Der Kurs war recht einfach: Die Jade-Ausfahrt nach Norden und dann im Tiefwasser süd-westlich vor dem Helgoländer Sockel auf das Periskop eines U-Bootes achten. Wenn man wusste, dass es dort eines gab, waren die meistens recht gut zu erkennen.

Das größere Problem war nur: Es gab derzeit kein freies Marineschiff und keine Besatzung, mit der das kurzfristig möglich war. Die vielen Bombenangriffe hatten ihre Schäden an den Schiffen im Hafen hinterlassen. Der Krieg war jetzt schon so nahe an Wilhelmshaven herangekommen, da erschien es ihm nicht ratsam, so eine geheime Operation mit einem alten Marinedampfer anzugehen, den man schon von Land aus aufklären konnte.

In einem Flugblatt hatte er gelesen, dass die relativ präzisen Angriffe der Amerikaner und Briten vor allem auf die denen zugespielten Aufklärungsdaten deutscher Kollaborateure zurückzuführen waren. Ob das wirklich alles nur Propaganda war?

Er legte gerade die Karte wieder auf den Tisch zurück, da blickte ihn der Oberleutnant schelmisch an, während er die Reste seiner Zigarette ausdrückte.

„Stabsoberbootsmann, sammeln Sie Material und Mannschaft. Sie gehen auf große Fahrt.“

„Witzig.“

„Nein, wirklich. Wen könnte ich sonst damit betrauen?“ Das stimmte natürlich.

Brunken überlegte: „Ziviles Schiff, zivile Mannschaft?“

Der Oberleutnant nickte. „Wir verstehen uns, gut. Kommen Sie, Fritz.“ Er stand auf und suchte nach seiner Pistole. „Wir gehen mal rüber zum Hafen. Luftveränderung. Vielleicht fällt uns da ja was ein.“

Oberleutnant Runditz kam nicht aus der Gegend. Soweit Brunken es gehört hatte, lag seine Heimat im Niedersächsischen, aber es war nicht seine Art, jemanden auszufragen. Dennoch genoss der Oberleutnant seine Abkommandierung an die Küste sichtlich. Bei einem ihrer gemeinsamen Rundgänge durch das Marinegelände hatte er einmal davon erzählt, dass er vorhatte, eine Familie zu gründen und an die Küste zu ziehen, weil ihm die Landschaft hier so gut gefiel.

Fritz Brunken blinzelte in die Wolken. Das hier war seine Heimat und er würde sie niemals verlassen wollen. Hoffentlich kam es hier nicht auch zu diesen Vertreibungen, von denen er gehört hatte. Viele Bewohner der östlichen Provinzen flohen vor den anrückenden Russen. Hoffentlich ließen die Briten ihn und seine Familie weiterhin hier leben. Oder die Amerikaner? Wer würde wohl hier bald das Sagen haben?

Die Vorzimmerdame nickte nur über ihrer Arbeit, als der Oberleutnant sich bei ihr abmeldete. Sie nahmen sich ihre Mäntel von der Garderobe, verließen das Haus und bogen in die Straße ein, an deren Ende man schon die Hallen des Bauhafens sah.

Ein Windstoß trieb einige Blätter vor ihnen her und Brunken zog genüsslich die Luft ein. Luftveränderung. Ja, die würde ihm guttun. Etwas Zeit auf der Nordsee. Der Gedanke gefiel ihm.

Bei der Wache am Tor war keine Identifizierung notwendig. Man kannte sich und der Gruß war nicht aufgesetzt, sondern geschah in der Tradition der Marine.

Als sie um die erste Reihe von Hallen bogen, schien sich auch der Oberleutnant etwas zu entspannen. Fast unmerklich beschleunigten beide ihre Schritte auf die Trockendocks zu. Hier fühlten sie sich sicher. Hier gab es keine Gestapo und selbst die SS hatte hier ihren Schrecken verloren. Einige Möwen flogen kreischend über sie hinweg und es roch nach Meer.

Ein LKW fuhr an ihnen vorbei und als Brunken ihm nachschaute, fiel sein Blick auf das letzte Dock in der Reihe. Dort ragte ein dunkelroter Schornstein mit einem hellblauen Streifen heraus. Das machte ihn stutzig und erst als der Oberleutnant schon einige Schritte weiter gegangen war, bemerkte der das Fehlen seiner Begleitung.

„Was los?“

„Wir gehen mal da rüber“, schlug Brunken vor und erwiderte den Gruß einer Abteilung von Marinesoldaten, die ihm entgegenkam.

Der Oberleutnant versuchte, sich zwischen zwei Böen eine Zigarette anzuzünden und schimpfte: „Noch nicht mal das gönnt man mir!“

Doch Brunken legte ihm eine Hand auf den Rücken und schob ihn an. „Ich habe da zwar schon so eine Idee, aber schauen wir uns doch mal an, was wir hier haben.“

Nach wenigen Minuten hatten sie das Dockbecken erreicht. Hier lag kein Marineschiff, sondern ein kleiner Dampfer, bei dem ein großes Loch auf der Backbordseite klaffte.

Brunken ging in die Hocke und sprach in die Dockbucht hinunter zu einem der Hafenarbeiter. „Ein Zivilist bei uns im Dock?“

Der Mann zog seine Mütze vom Kopf und klemmte sie sich unter den linken Arm. Brunken hasste diese Geste, die man zwangsverpflichteten Arbeitern beibrachte, aber er würde dagegen nichts ausrichten können, also ignorierte er sie.

„Jooh.“ Der Mann verbeugte sich. Mit leicht kehliger Stimme gab er Auskunft: „Wir sind wohl gegen ein treibendes Mine gefahren.“ Die Sprachmelodie erinnerte Brunken an den Onkel seiner Frau. Daher fragte er kurz: „Nederlands?“

Der Hafenarbeiter nickte und ein zaghaftes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Spreek je mijn taal?“

Doch Fritz Brunken winkte ab. In diesen Zeiten war es besser, man sprach Deutsch. Er fühlte sich auch nicht so richtig sicher, um mit dem Arbeiter in dessen Landessprache lange Gespräche zu führen.

Der Oberleutnant hatte seine Zigarette endlich angebrannt bekommen und beschaute sich den Dampfer. „Spannend.“

„Wie groß ist der Schaden?“, wollte Brunken von dem Arbeiter wissen. Der überlegte.

„Drie of vier dagen.“

„Maschine läuft noch. Sonst auch alles noch gut?“

„De motor is prima. We hebben ongeveer drie dagen nodig. De schade lijkt erger. Het was niet ver naar de haven.”

Jetzt wurde der Arbeiter gerade redselig, doch dann erblickte er den Oberleutnant und an seiner Haltung war deutlich zu erkennen, dass er mit den Rangabzeichen der Kriegsmarine vertraut war.

„Er meint, sie brauchen so an die drei Tage und außer dem Loch wäre der Pott noch seegängig, denn sie hätten es noch gut bis in den Hafen geschafft“, übersetzte Brunken die Aussage des Arbeiters. „Haben wir die Zeit?“

Der Oberleutnant gönnte sich noch einen langen Zug und zuckte dann nur mit den Schultern. „Erstmal muss das Zeug aus Breslau hier ankommen“, sagte er leise und gab dem Arbeiter mit einem winkenden Handzeichen zu verstehen, dass seine Anwesenheit hier nicht länger notwendig sei.

Dankbar deutete der eine Verbeugung an, zog seine Mütze wieder auf und verschwand in den Tiefen des Docks.

Als hätte es eine der Möwen angekündigt, folgte ein einsetzender Schauer ihrem Kreischen und der Oberleutnant zog sich den Kragen seines Mantels hoch. Er diente schon lange genug bei der Marine, um zu wissen, dass man bei einsetzendem Regen diesem nicht entging, sondern ihn zu ignorieren hatte. Das galt zwar insgesamt für alle Bereiche der Wehrmacht, aber bei der Marine achtete man ganz besonders darauf.

„Wir gehen mal rüber zum Diensthabenden“, schlug er vor. „Mich interessiert, warum wir einen holländischen Dampfer in unserer Werft reparieren. Wir sind hier doch nicht bei der Wohlfahrt.“

Der Besuch in der Baracke des Diensthabenden für den Werftbetrieb hatte natürlich auch den Vorteil, dem Wetter weniger ausgesetzt zu sein und wenn der Oberleutnant etwas genoss, dann seine Bequemlichkeit.

„Moin!“

Sie stürmten zur Tür herein ohne anzuklopfen und dem Gefreiten im Vorzimmer blieb sein „Heil Hitler“ im Hals stecken.

Der Oberleutnant grinste ihn nur an und klopfte mit seiner nassen Dienstmütze auf den Tresen. „Hansen da?“

Überrumpelt drehte der Gefreite den Kopf zur Seite, aber Brunken stand schon an der nächsten Tür, die er ebenfalls ohne ein Zeichen der Vorbereitung öffnete. Er trompetete ein „Moin!“ in den Raum, um dann dem Oberleutnant den Vortritt zu lassen.

Doch der Diensthabende war nicht so leicht zu erschrecken. Er nippte an einer Tasse und stellte diese erst wieder auf die Untertasse zurück, bevor er den Blick hob. „Moin.“

Dann schlug er die Mappe zu, in der er zuvor noch gearbeitet hatte. Er deutete auf zwei wackelige Stühle vor seinem Schreibtisch und meinte: „Was denn?“

Sie legten ihre Dienstmützen auf den Tisch und öffneten ihre nassen Mäntel, bevor sie die angebotenen Sitzgelegenheiten annahmen. Der Gefreite schloss hinter ihnen die Tür.

Brunken kannte den Diensthabenden noch aus seiner Anfangszeit. Auch er bekleidete den Rang eines Stabsoberbootsmannes und auch er stammte aus einem kleinen Dorf, weit weg von hier, allerdings noch weiter in Ostfriesland, wie er immer betonte.

„Dock 1. Was macht der Kutter da?“, begann Brunken das Gespräch.

Der Diensthabende grinste ihn an. „Den würde ich eher als ‚kleinen Dampfer‘ beschreiben. Ein Niederländer, der für uns – also die Wehrmacht – Transporte fährt. Unsere Einheiten haben ja viel wichtigere Aufträge.“ Die Betonung des Diensthabenden drückte seine Meinung darüber deutlich aus.

Der Oberleutnant sah ihn an und zog eine Augenbraue hoch.

„Den brauche ich. In spätestens vier Tagen. Sonderbefehl aus Berlin.“

„Für was?“

Der Oberleutnant schüttelte den Kopf und schürzte die Lippen.

Als ihn der Diensthabende immer noch fragend ansah, blickte er kurz zu Brunken und suchte dann nach seinen Zigaretten.

„Tut mir leid“, meinte der und fügte hinzu: „Das ist so geheim, ich kann dir den Befehl noch nicht einmal mehr von Weitem zeigen.“

„Aber ich soll euch glauben?“

Das schelmische Grinsen im Gesicht des Diensthabenden verschwand, als er Brunken nicken sah. Er strich sich mit der Hand um das Kinn, dass man seine Bartstoppeln kratzen hörte.

„Berlin, was?“, murmelte er. „Dann vermute ich mal, die Unterschrift ist nicht die von Admiral Förste?“ Er blickte in zwei versteinerte Mienen. „Autsch!“

Er schob seinen Stuhl etwas zurück, griff in eine Schublade seines Schreibtisches und holte einen Ordner heraus. Ohne Hast öffnete er ihn, klappte ein Register auf und las vor: „Meisje van de Schelde, Scheepstechniek Dordrecht, Dezember 1929. Haben sich vor Borkum was eingefangen, es aber bis zu uns noch geschafft.“ Er blickte auf einen Wandkalender an der Seite. „Heute ist Dienstag. Vier Tage?“

„Höchstens.“ Brunken probierte, ob er nach seinem Stopfen noch Luft durch seine Pfeife ziehen konnte.

„Wochenende ist auch nicht mehr das, was es mal war“, kommentierte der Diensthabende. Dann blickte er den Oberleutnant an. „Wenn ihr meint.“ Sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Langeweile und Verachtung.

Der Oberleutnant blickte ihn mit ernster Miene an und nickte nur. Der Diensthabende übernahm diese Geste und seufzte.

„Ich würde euch raten, die Besatzung durch eigene Leute aufzustocken. Ganz ohne sie würde ich nicht einmal ablegen. Die kennen ihren Kahn, aber ohne … sagen wir mal ‚Aufpasser‘ würde ich sie nur bis zur Seeschleuse lassen.“

Als der Oberleutnant etwas sagen wollte, schob der Diensthabende noch nach: „Nein, noch nicht einmal bis dahin.“

2

11. Oktober

Es war am späten Mittwochnachmittag. Oberleutnant Runditz hatte gerade seine Vorzimmerdame in den wohlverdienten Feierabend entlassen, als das Geräusch von schweren Stiefeln im Treppenhaus zu hören war.

Kurz darauf schlug jemand an die Tür des Verwaltungsbüros und diese wurde stürmisch aufgerissen. Zwei Soldaten der Wehrmacht drängten in den Raum und postierten sich auf beiden Seiten der Tür.

Nur kurz hinter ihnen erschien jemand im Durchgang und blieb dort für einige Sekunden stehen. Die beiden Soldaten schlugen die Stiefel aneinander.

Der Oberleutnant hatte gerade einige Mappen auf den Schreibtisch seiner Vorzimmerdame abgelegt und drehte sich jetzt langsam um.

Der Mann in der Tür hob die Hand zu einem lässigen Gruß. „Heil Hitler!“

Oberleutnant Runditz, der sich über diese Störung seiner Gedanken ärgerte, antwortete ihm mit einem „Moin“, was dem Besucher ein schmieriges Grinsen entlockte.

„Ja, wir sind hier ja an der Küste, nichwahr?“ Ein unangenehmer Akzent oder war es sogar ein richtiger Dialekt? Der Oberleutnant wartete, bis sein Besucher sich aus seinem Regenmantel geschält hatte, denn dieser zeigte keine Rangabzeichen. „Schlimmes Wetter hier, nichwahr?“, krähte der Besucher und warf seinen Mantel über einen Besucherstuhl neben der Tür.

Oberleutnant Runditz seufzte innerlich. Sein Besucher war ein Hauptmann der SS. Der schöne Feierabend war versaut.

„Was führt Sie zu mir?“

„Na, Sie haben mich doch bestimmt schon erwartet, nichwahr?“

Runditz verdrehte innerlich die Augen. Rätselspiele mit der SS – davor warnte man bereits die Kinder in der Schule.

„Mag sein.“ Ihm dämmerte zwar etwas, aber er dachte, so gleichzeitig einen Trumpf im Ärmel zu haben, den er noch auszuspielen gedachte.

„Na, komme Sie, mein Gutster.“ Der Hauptmann drehte sich zu den beiden Wachen um und gab ihnen ein wischendes Handzeichen. Die beiden nickten und zogen die Tür hinter sich zu.

„Gehen wir doch einfach mal in ihr Büro, nichwahr? Hier ist es doch zu öffentlich, oder?“ Der Hauptmann trippelte auf die Verbindungstür zu, die Oberleutnant Runditz nicht geschlossen hatte.

Brav schwang sich der Hauptmann in einen der Besuchersessel und wartete, bis Runditz beide Türen sorgfältig geschlossen hatte, bevor er anfing: „Nun, Sie haben ihren Befehl bekommen, nichwahr? Meine Leute stehen unten und sie werden mich zu dem Lagerhaus begleiten, was sie doch vorbereitet haben, nichwahr?“

Es gab keine Zweifel: Der SS-Hauptmann war Teil dieses geheimen Befehls und jetzt lag es an der Marinebasis, gehorsam zu funktionieren.

Er hob den Hörer seines Telefons ab, wobei ihn der SS-Hauptmann kritisch beobachtete. Doch er beachtete ihn nicht weiter, sondern wählte die neun.

Es tutete. „Ja, bitte?“, klang die Stimme der Vermittlung in seinem Ohr. „Stabsoberbootsmann Brunken soll sich unverzüglich am Tor zwei melden!“ Erst nach dem Auflegen, fiel ihm auf, dass er sein sonst immer abschließendes „Danke“ vergessen hatte. Das ließ sich jetzt auch nicht mehr nachholen.

„Fein!“, klatschte der SS-Hauptmann in die Hände und stemmte sich aus dem Sessel heraus. „Ich gehe mal davon aus, dass ihr Bootsmann über seine Rolle – und nur seine Rolle – informiert ist?“

Runditz zählte innerlich bis zehn. „Ja, ist er. Stabsoberbootsmann Brunken ist mein engster Mitarbeiter und entsprechend den Regelungen des Reichskriegsministeriums …“

„Geschenkt, mein Gutster.“ Der SS-Hauptmann stand schon an der Tür und schien darauf zu warten, dass der Oberleutnant ihm diese öffnete. Das ließ sich so leider nicht vermeiden, auch wenn Runditz ihn zutiefst verachtete, so war er ein Hauptmann und dazu noch von der SS. Beim Schließen der beiden Türen zum Vorzimmer ließ sich Runditz absichtlich viel Zeit, denn er wollte dem SS-Mann nicht auch noch in den Mantel helfen.

Doch das musste er nicht, denn der schnappte ihn sich und nachdem der Oberleutnant ihm auch die Tür zum Gang geöffnet hatte, drückte der SS-Hauptmann einem seiner Leute den nassen Regenmantel an die Brust.

Vor dem Haus standen eine Limousine mit Hakenkreuz-Banner, zwei LKW der Wehrmacht und eine Rotte Kräder. Es waren sogar einige darunter, die auf ihrem Beiwagen ein Geschütz montiert hatten.

Lag es am aufziehenden Sturm, dass sich nur wenige Menschen auf der Straße befanden? Runditz war sich sicher, dass die Menschen hier zwar an die Anwesenheit des Militärs gewöhnt waren, aber beim Anblick so einer Truppe lieber auf Nebenstraßen auswichen.

Lange würden sie nicht fahren müssen, doch Runditz schauderte es, als er zu dem SS-Hauptmann in die Limousine stieg. Natürlich hätte er nicht auf dem LKW mitfahren können, aber schon die erzwungene Nähe zu dem SS-Mann bereitete ihm körperliches Unbehagen.

Doch das störte den nicht. „War recht holprig“, berichtete er, sobald sich die Kolonne in Bewegung setzte. „Bei Kassel mussten wir einen Umweg nehmen, weil die Amis eine Brücke über die Fulda demolieren mussten. Ungeheuerlich, nichwahr?“

Runditz wollte nicht antworten. Er nickte nur, doch das störte den SS-Hauptmann in seinem Redefluss nicht.

„Dann: Weserbergland. Soll ja recht schön sein, nichwahr? Wieder das Theater. Ewige Umleitungen und einmal wollten sie uns sogar anhalten.“ Der SS-Hauptmann lachte gackernd. Runditz hoffte, sie würden schneller fahren. Ihm wurde die Luft langsam zu stickig.

„Ich hab‘ dann gesagt, wir fahren durch. Das Wetter ist so schlecht, da kann die RAF nicht in die Luft.“ Der SS-Hauptmann blickte aus dem Fenster. Dunkle Wolkenfetzen trieben über der Stadt. „Sonst wären wir erst heute Nacht hier aufgeschlagen, nichwahr?“

Endlich kam das Tor in Sicht. Die Kolonne formierte sich so, dass die Limousine als vorderstes Fahrzeug am Schlagbaum hielt.

Die Wache wirkte etwas überrascht. Runditz hoffte, sie würden sich nicht blamieren, denn er saß so, dass man ihn nicht erkennen konnte.

Doch die Wache verhielt sich einwandfrei. Selbst der SS-Hauptmann hatte nichts zu bemängeln. Auf die Frage nach dem Fahrbefehl wurde dieser kontrolliert und es gab sogar den offiziellen Gruß, während die Fahrzeuge den sich hebenden Schlagbaum passierten. Runditz war erleichtert.

„Nach links. Zweite auf der rechten Seite. Hupen“, wies er den Fahrer an, der seinen Angaben folgte.

Das Tor der Halle wurde aufgeschoben und die vorderen Kräder stürmten hinein. Ein Fahrer kehrte ans Tor zurück und gab ein Handzeichen: alles gesichert.

Das Innere der Halle wurde nur von den Scheinwerfern der Fahrzeuge erhellt, bis die beiden LKW und das letzte Krad das Tor passiert hatten. Dann wurde das Tor zugeschoben und im Inneren ging eine dämmrige Beleuchtung an.

Aus der Dämmerung kam ihnen Stabsoberbootsmann Brunken entgegen und grüßte den SS-Hauptmann fast vorschriftsmäßig mit einem „Sieg Heil!“.

Der hob zwar die Hand, sagte aber nichts, sondern blickte sich misstrauisch in der Halle um. Aus Sandsäcken hatte man eine Art von Burg errichtet. An den Ecken ragte jeweils der Lauf eines Maschinengewehres empor.

„Jut. Beeindruckend. Weitermachen, nichwahr?“ Dem SS-Hauptmann schienen die Vorbereitungen zu gefallen. „Sie sind der Bootsmann?“, schielte er Brunken an.

Der nahm Haltung an und meldete: „Stabsoberbootsmann Brunken. Ich melde Ihnen: Vorsichtsmaßnahmen getroffen, wie befohlen. Erwarten Übergabe der Ware.“

Runditz fummelte nach einer Zigarette, aber als er sie sich zwischen die Lippen klemmte, drehte sich der SS-Hauptmann zu ihm um. „Jetzt nicht! Erst laden wir um, nichwahr?“

Der Oberleutnant war verwirrt. Galt ihm der Befehl? Doch so direkt war es dann doch nicht gemeint. Rufe hallten durch die düstere Halle und von einem der LKW sprangen Soldaten ab, die sich sofort daran machten, die Ladesicherungen auf dem anderen LKW zu lösen.

Die Kisten, die sie vom LKW luden, schienen sehr schwer zu sein. Man hörte sie ächzen.

„So, Sie zeich‘n jetzt mal meinem Uffz, wo der Eingang zu ihrem Dings hier ist und wir gehen mal etwas aus dem Wehsch, nichwahr?“

Ein energischer Seitenblick von Runditz sollte Brunken daran erinnern, sich streng an das Protokoll zu halten, denn er beobachtete bereits mit Sorge, wie sich Brunken Mühe geben musste, um ernst zu bleiben.

Brunken wartete, bis sich ein Unteroffizier des Heeres ihm genähert hatte und führte diesen dann an die Stelle, an der die „Burg“ in der Halle ihr Tor hatte.

Dann überließ er diesem den weiteren Ablauf und gesellte sich wieder zu seinem Vorgesetzten. „Läuft, Herr Oberleutnant“, meldete er sinnloserweise. Runditz hätte beinahe seinen Gruß erwidert, doch als er Brunkens freches Grinsen sah, ließ er seinen Arm unten.

Der SS-Hauptmann hatte kein Auge für die beiden. Laut zählte er die an ihm vorbeigetragenen Kisten mit. „Vier … Fünf … Sechs ...“

Es waren Holzkisten mit dem Brandzeichen der Wehrmacht, in denen üblicherweise auch Munition transportiert wurde. Doch Brunken verglich innerlich das Gewicht solcher Kisten, das er selbst gut kannte, mit dem dieser hier. Sechs Soldaten trugen eine Kiste und selbst dann konnten sie sich kaum aufrichten.

Was auch immer in diesen Kisten transportiert wurde, es war sehr schwer.

„Zwölf … Dreizehn ...“ Der SS-Hauptmann zog ein kleines Notizbuch heraus und notierte sich etwas. Dann schaute er Runditz an. „Wir werden in Bremen erwartet. Sie verstehen das, nichwahr?“

Natürlich nicht, aber Runditz musste sich Mühe geben, nicht vor Freude zu lachen. Stattdessen nickte er nur. „Selbstverständlich hätte ich ihnen gern etwas angeboten, aber unter diesen Umständen ist es vermutlich besser, ich halte Sie nicht länger auf.“

Das hatte der Unteroffizier mitbekommen, der seinem Hauptmann gerade den Abschluss der Verladung melden wollte. Man sah ihm nur zu deutlich an, dass er sich darauf freute, für einige Zeit aus den Stiefeln zu kommen. Selbst bei ihm zeichneten sich deutlich sichtbare Schweißflecken auf der Uniform ab, doch der SS-Hauptmann nickte nur: „Da haben Sie vermutlich recht. Janz schön was heruntergekommen, neulich – nichwahr?“

„Das stimmt“, pflichtete Brunken ihm schnell bei. „Wir rechnen jede Nacht mit einem weiteren Bombenangriff der RAF – daher wäre es jetzt besser, wir würden das direkte Hafengelände bald wieder verlassen.“

Der SS-Hauptmann sah kurz zu den Soldaten, die größtenteils immer noch schwer atmeten und befahl dem Unteroffizier: „Lassen sie aufsitzen! Wir fahren getrennt, nichwahr? Ziel: Scharnhorst-Kaserne, Bremen. Melden Sie sich mit Ihren Männern dort beim Stab.“

Dann drehte er sich zu Brunken und Runditz um. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend, nichwahr? Heil Hitler!“ Wie auf ein unsichtbares Zeichen eines ebenso unsichtbaren Zeremonienmeisters kam sein Wagen angefahren und hielt mit der Tür genau vor seiner Nase. Der Beifahrer sprang heraus und öffnete sie ihm.

Ohne ein weiteres Wort verschwand der SS-Mann im Dunkeln des Innenraums. Der Beifahrer schloss die Tür, schwang sich wieder auf seinen Platz und der Wagen brauste durch das sich vor ihnen öffnende Tor. Die Einheit in der Halle hatte aufgepasst.

Der Unteroffizier meldete sich bei Oberleutnant Runditz ab und folgte seinen Leuten, die jetzt beide LKWs besetzten. Mit den Krädern, deren startende Motoren in der Halle dröhnten, zog der Konvoi hinaus in den aufziehenden Abend.

Runditz brauchte jetzt dringend eine Zigarette. „Die von der SS wissen schon, wie man mit Untergebenen umgeht. Was für eine Schweinerei!“, schimpfte er.

Brunken hingegen hatte gewartet, bis wieder etwas Ruhe einkehrte und sagte dann laut in die Düsternis der Halle hinein: „So Männer. Alles wie besprochen: Ihr sorgt dafür, dass hier keiner rein- oder rauskommt, ohne dass ich davon weiß. Auch wenn es seltsam klingt, werdet ihr diese ‚Burg‘ hier ständig besetzen. Löst euch ab. Meinetwegen Stundentakt oder Glasen. Die Entscheidung überlasse ich dem Unteroffizier vom Wachdienst. Wachwechsel macht bei mir Meldung. Alles klar?“

Runditz zog an seiner Zigarette. Er mochte Brunkens Art, mit den Männern umzugehen.

Es dauerte zwei Sekunden, dann erschallte ein allgemeines „Jou!“ durch die Halle.

Runditz klopfte Brunken auf die Schulter. „Ich gebe einen aus. Drüben, im Casino.“ Und da er wusste, dass man in der Stille der Halle jedes Wort verstehen konnte, fügte er hinzu: „Jedem von euch, wenn die Aktion hier erfolgreich durch ist.“ Dann wartete er gespannt und war sich sicher, dass wieder genau zwei Sekunden vergangen waren, bis man wieder ein allgemeines „Jou!“ hörte.

Für die Ordonnanz im Casino waren abendliche Besuche von Offizieren nicht ungewöhnlich, aber nach dem Wochenende und dazu noch bei schlechtem Wetter war nie viel zu tun.

So gab es für Brunken und Runditz viel Auswahl und sie ließen es sich nicht nehmen, die „Kapitäns-Ecke“ für sich zu beanspruchen. Sie waren die einzigen Gäste an diesem Abend.

Das erste halbe Glas tat seine Wirkung und Brunken merkte, wie er sich langsam etwas entspannte. Er betätigte die kleine Schiffsglocke auf dem Tisch und fragte die Ordonnanz, ob sie beide noch etwas essen könnten.

Die Klappe in der Durchreiche öffnete sich. „Moin!“, hörten sie, dann schob sich der Kopf des Kochs hindurch. „Wenn die Herren keine großen Erwartungen haben, gern. Eier sind leider aus und der Ofen ist auch schon kalt, aber ich habe noch Hering und wenn der auch kalt schmeckt, würd’s mich freuen.“

Brunken und Runditz nickten im gleichen Takt und der Kopf zog sich wieder in die Küche zurück. Die Klappe blieb offen und sie hörten, wie der Koch zwei Teller vorbereitete. Auch ohne eine warme Mahlzeit am Abend würde sich der Heimweg leichter ertragen lassen. Hauptsache, es gab noch eine Kleinigkeit.

Ihre Erwartungen waren schon nicht groß gewesen und sie hatten mit einem Heringsfilet auf Brot gerechnet, aber dann staunten sie doch nicht schlecht, als vor ihnen zwei Teller mit eingelegten Heringen und Kartoffelsalat abgelegt wurden.

„Wo habt ihr den denn her?“, fragte Runditz erstaunt.

Die Ordonnanz grinste. „Organisiert. Admiral Förste hatte am Samstag was zu feiern und viel mehr bestellt als gebraucht wurde. Ich wünsche einen Guten Appetit.“

Den hatten sie beide und Runditz fragte sogar noch nach einem weiteren Bier, während sie sich beide genüsslich den Bauch vollschlugen.

Sie hatten die Zeit beim Abendessen genutzt, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Der große Vorteil der „Kapitäns-Ecke“ im Casino war, dass man sich hier relativ ungestört unterhalten konnte. Die hier eingesetzten Ordonnanzen waren zwar handverlesen, aber den beiden war schon klar, dass der Auftrag aus Berlin mit äußerster Vor- und Umsicht auszuführen war. Mit einem wohligen Gefühl im Magen machten sie sich beide anschließend jeder auf seinen Heimweg.

3

12. Oktober

Es fiel Brunken zu, die Begleitmannschaft auszusuchen, da er an Bord des kleinen Dampfers das Kommando zu übernehmen hatte. Runditz schätzte dabei seine Sprachkenntnisse, die im Umgang mit der niederländischen Besatzung in seinen Augen von hohem Wert waren.

Doch vor seinem Weg zum Zahlmeister stattete Brunken dem Werftplatz der „Meisje van de Schelde“ noch einen Besuch ab. Immerhin waren heute schon zwei von den veranschlagten drei Tagen vergangen.

„Moin. Hoe ver ben je gekomen?“, fragte er einen der Männer, der gerade auf dem Oberdeck erschien.

Der kratzte sich erst am Kopf, dann am Bauch und meinte nur: „Het gaat goed.“ Sie waren also gut vorangekommen. Brunken wusste, dass er so nicht viel mehr als eben das erfahren würde, aber das reichte ihm und daher ließ er sich nicht auf ein längeres Gespräch ein. Vielleicht hätte er beim Diensthabenden für den Werftbetrieb ja mehr Glück.

Der sah ihn schon durch eines der Fenster, denn er hielt sich gerade im Geschäftszimmer auf und öffnete ihm die Tür. „Moin. Wetter, was?“

„Moin. Jou!“

Für alle Außenstehenden ein kurzes – für Eingeweihte hingegen ein ausführliches Gespräch über das gegenseitige Befinden und die allgemeine Wetterlage.

Kurz bevor Brunken die Baracke erreichte, hatte ein heftiger Regen eingesetzt und er freute sich über die Möglichkeit, sich hier etwas unterstellen zu können.

„Kaffee?“

„Gern.“

„Was ist mit dem Dampfer?“

„Der in Dock 1?“

„Jou.“

„Noch zwei Tage.“

„Blöd.“

„Isso.“

„Wat los?“

„Die ham sich nicht nur das Loch eingefangen, sondern auf der Fahrt den Motor so geprügelt, dass wir derzeit auf Ersatzteile warten.“

„Blöd.“

„Jou.“

„Kanste nix machen?“

„Nö.“

„Wat sacht Wetter?“

„Wird unschön.“

„Siehste.“

„Brauchst‘n funktionierenden Motor, sonst hängste gleich auf der Bank.“

„Auch wieder wahr.“

„Jou.“

„Donnerstag?“

„Eher Freitag.“

„Dann aber.“

„Bestimmt.“ Der Diensthabende lugte aus dem Fenster. „Wenn du dich jetzt beeilst, bist du vor der nächsten Husche wieder beim Stab.“

„Danke dir.“ Brunken stellte die Tasse ab und stand auf.

„Gerne.“

„Tschüß.“

„Jou.“

Oberleutnant Runditz war nicht begeistert, aber hinsichtlich des Auslauftermins gab es keine exakte Vorgabe im Befehl. Vorsichtshalber las er ihn sich noch einmal genau durch.

Das Funksignal würde das U-Boot veranlassen, in die südliche Nordsee einzutreten, um sich mit ihnen zu treffen. Wann sie es aussandten, war tatsächlich ihnen überlassen.

Mittlerweile war durchgesickert, dass die RAF eine für den Montag vorgesehene Bombardierung wegen schlechten Wetters über dem Ärmelkanal abgeblasen hatte.

„Das hätte uns eine Menge Ärger eingebracht“, kommentierte Brunken den Bericht, den ihn Runditz vorlas.

„Kann man wohl sagen. Das Zeug muss hier weg, sonst muss ich mir über den Kriegsausgang keine Gedanken mehr machen.“

„Stimmt wohl.“ Brunken studierte den Kalender. „Hoffen wir mal auf einen guten Sturm, denn wenn die bei ihrem vier-Tage-Rhythmus bleiben, spucken die uns ins Dock, bevor die Ersatzteile richtig verzurrt sind.“

„Was macht die Mannschaft?“, wollte Runditz wissen. „Muss ich helfen oder geht das klar.“

„Ich denke, das geht wohl klar.“ Brunken gab zwar zu, in dieser Angelegenheit noch nicht beim Zahlmeister vorstellig gewesen zu sein, aber es war ja gerade erst Mittag.

„Wollen wir mal fragen, ob noch was vom Kartoffelsalat übriggeblieben ist?“, schlug Runditz vor.

Doch im Casino herrschte Großbetrieb und auf einen fragenden Blick von ihm schüttelte die Ordonnanz bereits den Kopf.

Immerhin fanden sie noch einen Platz und der lag so günstig, dass Brunken den Zahlmeister ansprechen konnte, als dieser gerade das Casino verlassen wollte.

Brunken brauchte nur wenige Worte. Der Zahlmeister hielt sich eine Faust an den Kopf. Das war das übliche Zeichen für „rufen Sie mich an“ und mit der nächsten Windbö, die die Tür aufriss, fegte auch der Zahlmeister hinaus.

„Geht klar.“ Brunken setzte sich enttäuscht wieder.

Der Oberleutnant sah ihn belustigt an. „Ihr jungen Leute mit eurer Technik, aber Hauptsache, es funktioniert.“

Es funktionierte. Innerhalb der nächsten Stunde hatte Brunken seine Wunschmannschaft beisammen und Runditz ließ die Kommandierungen ausstellen.

Es handelte sich alles um erfahrene Marinesoldaten. Die brauchten keine langen Besprechungen. Sie würden sich ihrer Aufgabe, die in der Kommandierung beschrieben war, entsprechend ausrüsten und an Bord melden, sobald Brunken den Befehl zum Auslaufen gab.

13. Oktober

Am Freitag ließ der Sturm etwas nach und frohgelaunt machte sich Brunken auf den Weg zu den Docks.

Er merkte schon früh, dass hier etwas nicht stimmte, denn einige Fahrzeuge der SS parkten auf dem Gelände und vor der Baracke des Diensthabenden stand eine Wache.

Brunken wollte sie ignorieren, aber der Lauf einer Maschinenpistole versperrte ihm den Weg.

„Soll das ein Witz sein?“, brauste Brunken auf.

„Sehe ich so aus, als hätte ich Spaß“, dröhnte eine Stimme hinter ihm.

Missmutig drehte sich Brunken um. Dort stand wieder so ein Mensch in dieser schwarzen Uniform mit der Armbinde der SS und schlechter Laune.

Brunken atmete tief durch. Mit Logik oder Verstand kam man hier nicht weiter.

„Stabsoberbootsmann Brunken“, stellte er sich vor. „Zuständig für den reibungslosen Ablauf der Versorgung und Instandhaltung der Kriegsmarine.“

„Sturmbannführer Albrecht, wenn’s Ihnen recht ist.“ Wieder musste Brunken schlucken. Vom Dialekt her stammte dieser Wichtigtuer von weither. Er überlegte: Er hatte mal einen Film gesehen. Einen Tonfilm. Wie hieß der Schauspieler noch? Moser. Ja, Ernst Moser? Nein, Hans Moser, ja genau. Ein Österreicher. Dieser Kerl sprach genau wie dieser Moser.

„Darf ich meinem Auftrag nachgehen?“ Brunken versuchte, höflich zu bleiben.

„Und der besteht worin?“

„Es geht um den Fortschritt einiger Werftaufträge.“

Der SS-Mensch winkte der Wache zu, die daraufhin die Maschinenpistole wieder schulterte. Erleichtert trat Brunken in die Baracke. Ohne sich umzudrehen, bemerkte er, dass Albrecht ihm gefolgt war.

„Moin!“, rief er laut, damit der Diensthabende ihn hören konnte.

Der öffnete auch sofort die Tür und warf einen sauren Blick auf den Sturmbannführer, der sich lässig an den Tresen lehnte.

Brunken überlegte sich seine Worte gut. „Wie weit sind die Arbeiten an Dock 1?“

„Unterbrochen.“

„Wieso?“ Brunken sah sich verunsichert um.

Auch der Diensthabende schien sich seine Worte gut zu überlegen. „Wir haben derzeit keine Arbeitskräfte zur Verfügung.“

„Gestern waren da noch welche“, widersprach Brunken.

„Die sind jetzt im Alten Banter Weg.“

Brunken brauchte einige Sekunden, um den Sinn dieser Aussage zu erfassen.

Der Sturmbannführer half ihm. „Sie beschäftigen hier Kollaborateure? Wir werden das untersuchen und dann entscheiden, wie weiter zu verfahren ist.“

In Brunkens Kopf kreisten die Gedanken. Wenn die niederländische Mannschaft in das KZ am Alten Banter Weg verbracht worden war, würden sie ihren Auftrag so schnell nicht durchführen können. Die kannten sich mit ihrem alten Kahn am besten aus und er hatte deshalb für die Begleitmannschaft nicht auf richtige Seeleute, sondern auf Marinesoldaten gesetzt. Suchend ging sein Blick durch das Geschäftszimmer und blieb auf dem Telefon hängen.

Mit etwas Glück war der Oberleutnant erreichbar und vielleicht reichte das Glück ja noch etwas weiter.

Ohne auf weitere Worte des SS-Mannes zu reagieren, hob er den Hörer ab und ließ sich mit dem Büro des Oberleutnants verbinden. Er schilderte kurz die Lage und überließ das Telefon dann dem Sturmbannführer, denn Oberleutnant Runditz hatte ihm mitgeteilt, dass er in diesem Fall einen Trumpf in Form des Oberkommandos der Wehrmacht in Berlin auszuspielen gedachte.

Nach einleitenden Worten kam die Verbindung zustande und Brunken, der sich mittlerweile in das Zimmer des Diensthabenden verdrückt hatte, genoss die Aussicht durch das Fenster, durch dessen Gardine man die Vorgänge im Geschäftszimmer gut beobachten konnte.

„Kaffee?“

„Kloar.“

Der SS-Mann nahm Haltung an und Brunken die Kaffeetasse entgegen, die ihm der Diensthabende reichte. Es war nur schlecht erkennbar, ob die Gesichtsfarbe des SS-Sturmbannführers jetzt der seiner Armbinde ähnelte, aber Brunken hatte nur wenige Schlucke seines Kaffees genießen können, da legte der Sturmbannführer den Hörer ganz vorsichtig wieder auf die Gabel.

Brunken wusste: Er musste das Eisen schmieden, solange es heiß war. Schnell stellte er die Tasse ab und öffnete die Tür. „Sie haben jetzt ihre Befehle?“, sprach er den Sturmbannführer in einem forschen Befehlston an.

„Äh. Ja.“ Der sammelte sich noch und sein Blick ging zum Kalender an der Wand.

„Ich gehe davon aus, dass unsere Leute heute Nachmittag wieder auf der Baustelle sind?“, drosch Brunken nach.

„Natürlich.“ Der Sturmbannführer hatte es jetzt sehr eilig. Er verließ die Baracke und hätte beinahe seine Mütze vergessen. Die Mütze fest aufziehend, rief er nach seinem Wagen und befahl seinen Leuten in Rufweite, sich unverzüglich abmarschbereit zu machen.

Am späten Nachmittag trafen mehrere LKW der Wehrmacht auf dem Werftgelände ein. Diesmal transportierten sie keine Kisten, sondern die von der SS in das KZ verbrachten Arbeiter. Darunter befanden sich auch die Niederländer, die sich gleich wieder an die Arbeit an ihrem Dampfer machten.

14. Oktober

Schon gegen Mittag frischte der Wind wieder auf und der Wetterbericht für die Deutsche Bucht sprach von einer schweren Sturmflut.

„Verdammt, wir sitzen fest.“ Oberleutnant Runditz schlug mit der Faust auf den Tisch. „Die Bomber können zwar in dem Sturm auch nicht fliegen, aber niemand weiß, wie lange sich das U-Boot unentdeckt zwischen Schottland und Norwegen halten kann. Seine Vorzimmerdame zeigte nur ein mitleidiges Lächeln und zog sich aus seinem Büro zurück. Sie bekam oft Dinge mit, die der Geheimhaltung unterlagen und obwohl sie diesen speziellen Befehl aus Berlin nicht kannte, ahnte sie schon, dass die Bemerkung des Oberleutnants nichts war, was sie außerhalb des Gebäudes auch nur erwähnen dürfte.

Doch gegen einen Sturm halfen auch Befehle nichts.

Brunken kämpfte sich indes gegen den Wind zur Werft durch und stellte erleichtert fest, dass auf dem kleinen Dampfer im Becken gearbeitet wurde. Rauch aus seinem Schornstein konnte man bei dem Wind nicht erkennen, aber anscheinend lief die Maschine wieder, denn als jemand eine Luke öffnete, drang das Dröhnen bis zu ihm.

„Loopt ze weer?“, rief er dem ruß- und ölverschmierten Gesicht entgegen, welches ihn vorsichtig anschaute.

Er bekam ein Nicken als Antwort und das reichte ihm.

15. Oktober 1944

Für den Sonntag hatte der Wetterdienst eine Beruhigung angekündigt: Der Sturm würde sich etwas legen und Brunken hoffte, dass der Dampfer mit einem Wellengang um die vier Meter zurechtkäme.

Gemeinsam mit Runditz lauschte er gespannt dem Wetterbericht. Sie hatten sich sogar etwas zu Essen in das Büro des Oberleutnants bringen lassen, um zwischen den anderen Soldaten nicht wegen übermäßiger Nervosität aufzufallen.

Erst am frühen Nachmittag bestätigte der Wetterdienst seine Vorhersage und Brunken strich sich die Uniform glatt. Es gab nur ein Nicken. Worte brauchten sie nicht zu wechseln, eine militärische Abmeldung war völlig überflüssig.

Brunken tastete nach seiner Pistole und zog sich die Koppel straff. Dann holte er tief Luft und blickte noch einmal in Runditz besorgtes Gesicht, bevor er seinen Mantel aufnahm und sich seine Mütze in die Stirn zog.

Jetzt lief die Operation an.

Die Mannschaften wurden benachrichtigt und von den Unterkünften abgeholt. Zwei weitere LKW fuhren in die Lagerhalle, wo alle Anwesenden mit vereinten Kräften die Kisten verluden und Oberleutnant Runditz begab sich zur Seefunkstelle nach Norddeich, um von dort den codierten Funkspruch absetzen zu lassen.

Brunken hatte seine Sachen bereits beim Diensthabenden eingelagert und daher nur noch einen kurzen Weg. Ihm war klar, dass der niederländische Kapitän seine Kabine nur ungern an ihn abtrat und so ließ er ihn wissen, dass es nicht sein Ziel war, länger als für die Zeit eines Tages an Bord zu bleiben. Er hatte mit dem Oberleutnant verabredet, einige Tage Landurlaub auf Helgoland nehmen zu dürfen und würde das Schiff nach der Übergabe der Kisten dort verlassen.

Für das Verladen der Kisten in der Werft wurde einer der Kräne verwendet. Da fiel das hohe Gewicht der Kisten nicht auf und jeder zufällige Beobachter hätte lediglich Munition in ihnen vermutet.

Nach zwei Stunden war alles verladen und Brunken gab das Kommando zum Ablegen.

Langsam tuckerte die „Meisje van de Schelde“ durch die Hafenbecken und auf die große Seeschleuse zu.

Hier war man ebenfalls über das Auslaufen des Dampfers informiert und obwohl kein anderes Schiff in der Schleuse lag, wurden sie gleich auf die Nordsee entlassen.

Hinter der Mole traf sie der Sturm.

Was auch immer der Wetterdienst mit einer „Beruhigung“ gemeint hatte, zeigte sich in einer steifen Brise aus Ost-Nord-Ost und einer Wellenhöhe, bei der die Gischt bis über die Kajüte spritzte.

Brunken vertrug es nicht gut, sich innerhalb der Kajüte oder auf der Brücke aufzuhalten. Er war immer gern an Deck und spürte gern das Meer, aber die Wahl hatte er heute nicht. Er hatte das Kommando und nur er war in der Lage, die Kursangaben an die kaum Deutsch sprechende Besatzung weiterzugeben.

15. Oktober, Abend

Der Dampfer wand sich in allen Achsen. Die Nordsee zeigte sich von ihrer anstrengenden Seite. Sogar Brunken, der vor dem Krieg viel auf Fischfang gewesen war, verspürte ein gewisses Unwohlsein in der Magengegend.

Wenn der Dampfer schon nicht über die starken Maschinen eines Schiffes der Kriegsmarine verfügte, mit welcher Geschwindigkeit mochten sie sich wohl gerade bewegen? Wegen des Sturms und der Tatsache, dass es Mitte Oktober war, fiel ein romantischer Sonnenuntergang aus. Fast zu schnell dämmerte der Abend und Brunken hatte seine Mühe, sich in der aufziehenden Dunkelheit zu orientierte. Im Sturm war das nicht so einfach. Viele der Seezeichen waren abgedunkelt worden und gerade peitschte wieder ein Regenschauer gegen die Fenster.

Waren sie noch immer auf Höhe der Wilhelmshavener Reede?

Es war schon ärgerlich: Die Karten des Niederländers schienen ihm sehr alt zu sein. Das hatte er glatt übersehen. Ausreichend Zeit, sich ein aktuelles Kartenblatt zu holen, hätte es gegeben, aber er war wohl einfach schon zu lange nicht mehr aktiv auf See gewesen, dachte er bei sich. Nun, jetzt waren sie unterwegs und mussten mit dem auskommen, was der Kartentisch hergab.

Trotz des Seeganges hoffte er, dass sie sich immer noch im Fahrwasser der Jade und nicht bereits im „Solthorner Watt“ befanden.

Der Kapitän der „Meisje“ stand am Ruder und nickte auf seine Frage hin, während er den Dampfer halb in den Wind drehte und die Wellen jetzt von hinten auf das Deck klatschten.

Dann hatte Brunken den Eindruck, als ließe der Sturm tatsächlich etwas nach. Die Wellen wurden flacher und die Wolkendecke riss immer wieder kurz auf, um dem Mond etwas Gelegenheit zu bieten, die Nacht zu erhellen.

Brunken stand am Austritt der Brücke und spähte durch sein Fernglas. Konnte das da hinten „Mellum“ sein?

Das wäre gut und auch wieder schlecht, denn die „Störtebekerbank“ lag zwischen dem Fahrwasser und der kleinen Insel „Mellum“.

Doch der niederländische Kapitän befuhr diese Strecke auch nicht zum ersten Mal. Er deutete nach vorn und Brunken sah das Leuchtfeuer „C“ vom „Minsener Oog“. Sie waren exakt auf Kurs geblieben, hatten aber bis hierhin viel mehr als die übliche Zeit gebraucht, wie er mit einem besorgten Blick auf die Borduhr über dem Steuerstand feststellte.

Immerhin hatte er dadurch die Bestätigung, die er brauchte, damit sich sein Magen wieder etwas beruhigte. Auch die See beruhigte sich zusehends. Das Mondlicht spiegelte sich auf den Wellen, die sich nur noch selten brachen.

Bald schon hatten sie Buhne „A“ des „Minsener Oogs“ passiert und Brunken peilte die Kursänderung auf die offene Nordsee an. Bang ging sein Blick zur Uhr. Sie würden viel länger zum Treffpunkt brauchen als im Funkspruch codiert worden war. Wie lange würde das U-Boot auf seiner Position wohl auf sie warten können?

Sie waren kaum eine weitere halbe Stunde gefahren, da hörten sie ein Geräusch.

Für ein Schiff war das Geräusch zu durchdringend und es schien sich rasch zu nähern.

Das musste ein Flugzeug sein.

Fragte sich nur, wer es steuerte.

Gegen Abend über der Nordsee? Brunken überkam ein ungutes Gefühl. Er rief nach seinem Unteroffizier.

Doch noch bevor dieser den Aufgang erklimmen konnte, rauschte das Geräusch über sie hinweg und Brunken zog instinktiv den Kopf ein.

Dann kam noch so ein brummendes Geräusch und wieder sauste ein Flieger dicht über den Dampfer hinweg.

Auf dem Achterdeck wurde es unruhig.

Jemand leuchtete mit einer Taschenlampe wild umher.

„Um Gottes Willen!“, durchzuckte es Brunken. „Was ging hier vor?“

Hinten wurde es immer lauter. Eine Lampe fiel zu Boden. Man hörte Glas splittern. Es schrie jemand laut auf und dann folgte das Undenkbare: Brunken erstarrte auf seinem Platz, als das Rattern einer Maschinenpistole durch die Nacht hallte.

Er wollte schnell nach hinten und für Ruhe sorgen, doch er kam nur bis zurück in den Brückenraum. Der niederländische Kapitän führte das Ruder nur noch mit einer Hand. In der anderen hielt er eine großkalibrige Pistole und die richtete er auf Brunken.

„Het spel is voorbij!“, knurrte er ihn an und Brunken überlegte, wie er schnell an seine eigene Pistole käme.

Wieder näherte sich das brummende Geräusch. Diesmal anscheinend direkt von vorn. Sehen konnte er nichts. In der Scheibe der offenstehenden Tür zum Austritt spiegelte sich das Licht eines Feuers, welches auf dem Achterdeck aufloderte.

Was auch immer wer auch immer dort trieb, es lockte die Aufmerksamkeit dieser Flieger an und das war in Kriegszeiten nie eine gute Idee.