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Spannung an Deck: Tod auf einem Luxusliner. Die Fotografin Carolin dokumentiert für ein Magazin die komplizierte Überführung des Luxuskreuzfahrtschiffes Poseidonna von der Werft über die Ems bis nach Holland. Die junge Frau ist begeistert über den attraktiven Auftrag, doch plötzlich verschwindet ihr Kollege Leif. Warum hat die Werftleitung kein Interesse, ihn zu finden? Keiner kann von Bord gehen - auch nicht Carolin, die sich auf eine gefährliche Suche macht. «Dass sich deutsche Romane keinesfalls hinter skandinavischen Krimis à la Mankell oder Nesser verstecken müssen, beweist der Roman von Sandra Lüpkes, der mitten in Ostfriesland spielt. (...) Sandra Lüpkes hat es wieder einmal geschafft, eine spannende Handlung mit der vertrauten norddeutschen Atmosphäre zu verbinden. Das Buch bietet Hochspannung mit Niveau.» (Delmenhorster Kreisblatt)
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Seitenzahl: 325
Sandra Lüpkes
Ostfrieslandkrimi
Die Fotografin Carolin dokumentiert für ein Magazin die komplizierte Überführung des Luxuskreuzfahrtschiffes Poseidonna von der Werft über die Ems bis nach Holland. Die junge Frau ist begeistert über den attraktiven Auftrag, doch plötzlich verschwindet ihr Kollege Leif. Warum hat die Werftleitung kein Interesse, ihn zu finden? Keiner kann von Bord gehen – auch nicht Carolin, die sich auf eine gefährliche Suche macht.
«Viele Fragen, viele überraschende Antworten. Drei Menschen, drei Geschichten, ein gemeinsames Ende: eine vielschichtige Handlung mit geschickten Verflechtungen.» (Stern)
«Gefährlich spannend!» (Neue Woche)
«Dass sich deutsche Romane keinesfalls hinter skandinavischen Krimis à la Mankell oder Nesser verstecken müssen, beweist der Roman von Sandra Lüpkes, der mitten in Ostfriesland spielt. (…) Sandra Lüpkes hat es wieder einmal geschafft, eine spannende Handlung mit der vertrauten norddeutschen Atmosphäre zu verbinden. Das Buch bietet Hochspannung mit Niveau.» (Delmenhorster Kreisblatt)
«Ein Krimi für Balkon, Bett oder Schwimmbad, spannend in der richtigen Dosis, leicht und lebendig erzählt.» (Neue Presse)
Sandra Lüpkes, geboren 1971, aufgewachsen auf der Nordseeinsel Juist, lebt in Münster, wo sie als Autorin und Sängerin arbeitet. Im Rowohlt Verlag sind bislang acht Kriminalromane erschienen, sechs davon um ihre tatkräftige Kommissarin Wencke Tydmers. Mit «Die Inselvogtin» legte Sandra Lüpkes ihren ersten historischen Roman vor.
Mehr zur Autorin und zu ihrer Arbeit unter: www.sandraluepkes.de
Weitere Veröffentlichungen:
Fischer, wie tief ist das Wasser
(In der Serie um die Kommissarin Wencke Tydmers:)
Die Sanddornkönigin
Der Brombeerpirat
Das Hagebutten-Mädchen
Die Wacholderteufel
Das Sonnentau-Kind
Die Blütenfrau
sowie ihr historischer Roman
Die Inselvogtin
und die Novelle
Inselweihnachten. Eine Geschichte von der Liebe
Wichtiger Hinweis: Handlung, Personen und einige der örtlichen Gegebenheiten sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächlich existenten Unternehmen, Interessengruppen und Parteien sind zum Zwecke der rein fiktiven Romanhandlung leider unvermeidlich. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass keinerlei Anzeichen für illegale Aktivitäten einer Werft, der Parteien oder sonstiger Interessengruppen vorliegen.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2012
Copyright © 2005 by Rowohlt Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg
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ISBN 978-3-644-45491-0
www.rowohlt.de
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«Es muss ein Ende haben!»
«Und was ist, wenn jemand stirbt?»
«Gegen das, was die zerstören, ist ein Menschenleben vergleichsweise unbedeutend!»
Alle nickten. Die einen mehr, die anderen kaum merklich. Doch im Grunde wusste Pieter, dass er sie wieder einmal überzeugt hatte. Er wusste, dass sie ihm vertrauten. Die Gruppe hatte ihn im Laufe der Zeit zu einer Art Leitwolf auserkoren und setzte hohe Erwartungen in ihn.
Obwohl er zwischen den anderen auf dem Deich saß, kam es ihm doch so vor, als schauten sie zu ihm auf. Auf den ersten Blick war er wahrscheinlich ein eher unscheinbarer Typ. Sein Haar stand in dunkelblonden Rastalocken vom Kopf ab, er war schmal und ein wenig blass. Doch man sagte ihm oft, er habe etwas, von dem man sich nicht abwenden könne. Diese grünen Augen, die über alle Maßen strahlten, wenn er für eine Sache entflammt war. Man sah ihm wohl an, dass er sich über Kleidung und diese Dinge keine Gedanken machte. Und trotzdem war er für die anderen attraktiv. Das kam von innen. Die Menschen mochten ihn, auch wenn er gerade vom Töten sprach.
Oder von etwas, das tödlich enden könnte.
Sie saßen zwischen den ausgebreiteten Papieren, den Plänen, die größtenteils Pieters Handschrift trugen, und schauten in dieselbe Richtung.
Das riesige Schiff im Leeraner Hafen sah aus wie ein Wolkenkratzer, zumindest im Kontrast zu der flachen Landschaft ringsherum. Im Frankfurter Bankenviertel wäre es nicht weiter aufgefallen, doch hier im tiefsten Ostfriesland sah es aus wie ein wahrhaftiger Wolkenkratzer. Dreizehn schneeweiße Stockwerke hoch baute sich das Kreuzfahrtschiff vor windschiefen, knorrigen Bäumen und schlichten Backsteinhäusern auf. Selbst die sonst so monströs die Arme schwingenden Windkraftanlagen wirkten wie magere Verkehrspolizisten, die dem Ozeanriesen den Weg durch das platte Grün in Richtung Meer weisen sollten.
Die Kleinstadt Leer wirkte nebensächlich, verglichen mit der stolzen Poseidonna, die nun so gut wie fertig gestellt war und schon bald den winzigen Binnenhafen des ostfriesischen Ortes verlassen würde.
Die Gruppe traf sich heute ein letztes Mal. Wehmut war nicht im Spiel. Im Grunde hatten sie alle nur wenig miteinander zu tun. Sie waren Lehrer und Bauern und grüne Politiker, Historiker und Biologen. Oder einfach nur welche von der Sorte, die penetrant gegen alles waren.
Pieter drehte sich eine Zigarette, der krautige Geruch des Tabaks beruhigte ihn ein wenig. Er rauchte viel, besonders in den letzten Tagen. Im Grunde war er ein Mensch, der sich nicht nervös machen ließ. Mit sich selbst im Reinen, geerdet, bescheinigten ihm die anderen. Eine von der esoterischen Fraktion hatte ihn einmal ausgependelt und über seine Ausgeglichenheit gestaunt. Er glaubte nicht an solchen Hokuspokus. Doch einige waren dadurch endgültig überzeugt, dass er genau der Richtige war, der den Plan umsetzen konnte.
Dennoch war er unruhig.
Obwohl bislang alles gut gelaufen war. Zumindest das, wofür er selbst die Verantwortung übernommen hatte. Das Kabel war montiert. Er hatte drei Nächte dafür gebraucht, es musste funktionieren. Doch konnte er sich im gleichen Maße auf die anderen verlassen? Verantwortung abzugeben hatte für ihn immer schon ein Risiko dargestellt. Doch in diesem Fall war es unmöglich gewesen, alles allein zu planen. Er musste den anderen vertrauen.
«Was ist mit dem Wagen?», fragte er, nachdem er den Tabak in die Hosentasche gesteckt und den ersten Zug der Zigarette inhaliert hatte.
«Pieter, glaub uns endlich, wir haben alles im Griff. Der Bulli ist da, wo er hingehört.»
«Die Fahrgestellnummer?» Pieter wusste, dass er den anderen vielleicht unrecht tat mit seinem Misstrauen. Doch sie kannten ihn und grinsten nachsichtig. Der eine, der sich mit Autos am besten auskannte, signalisierte mit einer Handbewegung, dass alles in Ordnung war.
«Hat euch jemand gesehen?»
«Nein, niemand. Es war nachts, nach vier Uhr. Kein Mensch ist um diese Zeit bei der Brücke.»
Das war gut. Dann war tatsächlich alles erledigt. Morgen ging es los. Nun kam es nur noch auf ihn selbst an. Und auf die Fotografin.
Umständlich standen alle auf und blickten sich an. Es war ein merkwürdiges Gefühl, sie wohl das letzte Mal zu sehen. Wenn sie sich später einmal zufällig auf der Straße begegnen würden, so müsste ein leichtes Kopfnicken als Gruß genügen. Sie hatten lange Zeit gemeinsam für dasselbe Ziel gekämpft. Ein paar Mal hatten sie sogar triumphiert, doch viel zu oft waren Rückschläge gefolgt. Pieter hatte versucht, ihnen weiterhin Mut zuzusprechen und das Durchhaltevermögen zu stärken. Sein Optimismus hatte viele von ihnen angesteckt. Trotzdem: Die Gruppe war in den letzten Monaten kleiner geworden. Und nun war es fast vorbei. Dieser Plan sollte es endlich allen zeigen. Zu viele wehrten sich noch, die Wahrheit und die Bedrohung zu erkennen. Aber in wenigen Tagen würde vielen tausend Menschen die Augen geöffnet werden. Doch bis dahin mussten er und seine Mitstreiter jeglichen Kontakt untereinander abgebrochen haben, alles andere wäre zu gefährlich.
«Wir wünschen dir Glück», sagte die eine mit den langen Haaren. Er nahm sie fest in den Arm, doch als sie ihn küssen wollte, wandte er das Gesicht ab und ließ sie los.
«Es wird ein Ende haben!», sagte er knapp und hob zum Abschied kurz den Arm.
Erst gestern hatte Carolin den Seesack vom Dachboden geholt. Am Boden war eine Naht gerissen, doch die Stelle hatte sich mit einem handtellergroßen Stück Jeansstoff flicken lassen. Carolin war rekordverdächtig schnell im Sachenpacken. Vielleicht lag es daran, dass sie in ihrem Job mehr unterwegs war als zu Hause in ihrer Hamburger WG. In ihren Koffern fand sie mehr Platz als im schmalen Sperrholzschrank ihres Zimmers. Es war schon einmal vorgekommen, dass sie eine zwischenzeitliche Mitbewohnerin der Fünf-Zimmer-Altbauwohnung erst bei deren Auszugsparty richtig kennen gelernt hatte. Damals war sie für eine Bildreportage des Nachrichtenmagazins Objektiv mehr als drei Monate in der Ukraine unterwegs gewesen, um mit ihrer Kamera Hunger und Wodka und Waisenhäuser abzulichten. Anschließend hatte es diese Flüchtlingslager im Irak gegeben, dann Waldbrände in Kanada. In dieser Zeit hatte Carolin das Kofferpacken verinnerlicht.
Zwei unempfindliche Hosen mit möglichst vielen Taschen und zwei weiße Hemden. Carolin trug eigentlich immer weite weiße Hemden. Nur für alle Fälle ein knitterfreies schwarzes Kleid, dazu die passenden Schuhe. Unterwäsche und Socken, ein T-Shirt zum Schlafen, Kulturbeutel und das meiste der Fotoausrüstung passten zwar problemlos hinein, doch der Seesack wog nun sicher mehr als zehn Kilo.
Ein gewöhnlicher Rucksack wäre vielleicht praktischer gewesen, ein Rollkoffer mit Sicherheit komfortabler, aber Carolin hatte sich, wenn sie an den anstehenden Auftrag dachte, stets mit dem Marinesack ihres Vaters über der Schulter auf einem schmalen Steg an Bord gehen sehen. So wie Elvis Presley damals, als er in Bremerhaven seinen Militärdienst angetreten hatte.
Natürlich ist es immer anders, als man es sich im Voraus ausmalt.
Es gab diesen schmalen Steg gar nicht. Stattdessen lief man eine asphaltierte Brücke entlang und befand sich auf einmal auf dem Schiff, ohne dass man es gemerkt hätte. Kein Schwanken oder kurzes Tiefersacken beim ersten Schritt an Bord. Die Poseidonna schien Carolins Ankunft zu ignorieren. Genau wie all die gestresst aussehenden Menschen in Blaumännern, mit Helmen auf den Köpfen und ihren Funkgeräten in den Händen.
Nur Leif Minnesang stand ruhig neben seinem stabilen, chromfarbenen Samsonite und hielt sich eine Hand über die Augen, als müsse er ihre Ankunft mühsam vor gleißendem Sonnenlicht ausmachen. Dabei war hier im Inneren des Schiffes beinahe mehr Licht als draußen im grauen Aprilwetter der ostfriesischen Stadt Leer.
Baustrahler und Neonröhren schienen grell gegen die Wände. Nachdem sie durch eine schwere Stahltür getreten waren, empfing sie angenehmeres Halogenlicht.
Leif rollte nun den Koffer hinter sich her und bewegte sich durch den langen Korridor, als sei er hier zu Hause. Er hatte, wie er ihr erzählte, zwei Tage lang über den Plänen gebrütet und sich überlegt, was er sich alles anschauen musste und welche Winkel er ausleuchten wollte. Nun kannte er sich auf der Poseidonna aus, während es Carolin vor den Fluren grauste, die ohne Fenster waren und alle gleich auszusehen schienen. Die Wegweiser waren noch nicht montiert worden, einige heraushängende Kabel verrieten jedoch, dass in ein paar Wochen an jeder Ecke gut beleuchtet die Richtung ausgewiesen sein würde. Aber jetzt gab es nur links und rechts und Tür an Tür, zum Glück schon mit Kabinennummern versehen, und zwischendurch gläserne Zwischentüren, die wahrscheinlich als Brand-, Lärm- oder Überflutungsschutz dienten.
Leif lief vor ihr, stieß die nächste Tür auf, aber statt sie Carolin aufzuhalten, ging er weiter. Ihr schnellte das schwere Türblatt entgegen und warf sie samt Seesack beinahe um. Rücksicht war noch nie eine von Leifs herausragenden Charaktereigenschaften gewesen.
Als bei der Redaktionskonferenz bekannt gegeben wurde, wer denn nun die begehrte Reportage bei der Überführung des bislang größten und luxuriösesten in Deutschland gebauten Kreuzfahrtschiffes machen sollte, da war ihr aus dem Kollegenkreis eine Mischung aus Glückwunsch und Beileidsbekundung zuteil geworden. Klar wollte jeder nach Ostfriesland und auf das Schiff, eine solche Dokumentation steht nicht jeden Tag auf dem Programm. Vierundzwanzig Stunden mit einem Ozeanriesen auf einem schmalen Flüsschen Richtung Nordsee unterwegs sein. Doch mit Leif Minnesang? Da musste man abwägen. War das Thema reizvoll genug, dass man einen Besserwisser und Nörgler an seiner Seite ertragen konnte? Und das über mehrere Tage? Leif Minnesang war einer der älteren in der Redaktion, Mitte bis Ende vierzig, Berufserfahrung aus allen möglichen Ländern, sogar Kriegsberichterstattung. Aber dieses Wissen schmierte er gern jedem aufs Brot. Er galt zweifelsohne als einer der besten beim Objektiv. Zudem stammte er hier aus der Gegend, hatte seine Jugend in den siebziger Jahren in Emden verbracht. Es war klar, er war die Idealbesetzung für diese Reportage.
Sie hatte bereits eine dreistündige Autofahrt mit ihm hinter sich. Obwohl Leif Minnesang, aus welchen Gründen auch immer, keinen Führerschein besaß, musste sie sich während der ganzen Fahrt vom Redaktionsbüro in Hamburg bis nach Ostfriesland seine klugen Ratschläge über Fahrweise, Abkürzungen und optimalen Benzinverbrauch anhören. Mehrmals hätte sie am liebsten angehalten und ihn aus dem Auto geschmissen. Verdient hätte er es.
«Das Casino aus dem Blickwinkel eines Jetons», sagte Leif. Er hielt sich den Mini-Disc-Recorder vor den Mund, um seine Gedanken auf eine kleine CD zu bannen. So machte er es immer. Aus diesem Grund schien jedes seiner Worte gleich ein besonderes Gewicht zu bekommen. «Den Pool aus der Vogelperspektive, die Küche in der Flucht.» Er ließ an einer Flurkreuzung seinen Koffer stehen und schaute sich um. «Und diese Gänge als 180-Grad-Panorama.»
«Minnesang, hör mal zu: Du bist der Mann fürs Wort. Aber ich werde die Fotos machen!»
Er ließ den Recorder sinken. «Du kannst nicht irgendwelche Fotos machen. Wir müssen dieselbe Sprache sprechen, du in Bildern und ich mit meinen Worten. Und das gelingt uns nur, wenn wir uns austauschen. Rund um die Uhr!»
«Klar doch!» Carolin verdrehte die Augen. Minnesang war bekannt dafür, dass er sich gern und oft in die Arbeit anderer einmischte und das dann als konspirativen Austausch bezeichnete. «Wir haben aber, hoffe ich zumindest, getrennte Kabinen. Bitte klopf nicht nachts an meine Tür, weil du irgendetwas mit mir austauschen willst. Verstanden?» Carolins Schlagfertigkeit war eine ihrer liebsten Waffen, um sich vor Menschen wie Leif Minnesang zu behaupten.
Er schnaubte kurz. Niemand, den sie sonst kannte, machte ein solches Geräusch. Wie ein unzufriedenes Pferd ließ er beim Ausatmen die Lippen gegeneinander vibrieren. Irgendwie passte es jedoch zu ihm, zu seiner kleinen, drahtigen Gestalt. Minnesang brachte mit Sicherheit kaum siebzig Kilo auf die Waage und wirkte ständig konzentriert, wie auf der Hut, mit seinen hochgezogenen Schultern und den besonders hervorstehenden Sehnensträngen am Hals. Wäre er nicht so angespannt gewesen, dann hätte er attraktiv sein können, denn seine dunklen, nur an wenigen Stellen mit grauen Strähnchen durchsetzten Haare waren schön dicht und glänzend und seine durchdringenden hellblauen Augen von schwarzen Wimpern gesäumt. Lachfalten besaß er keine, dafür eine ausgeprägte Denkerstirn und strenge Kerben um den Mund. Noch nie hatte er blass oder ungesund ausgesehen, aber immer leicht nervös, wie im Fieber.
Er war schwer zu durchschauen. Vielleicht arbeitete deshalb niemand von der Bildredaktion gern mit ihm zusammen. Er ließ keinen an sich heran, nahm so gut wie nie an gemeinsamen Unternehmungen nach Feierabend teil, auch nicht, wenn man eine besonders gute Auflagenzahl des Objektiv zu begießen hatte. Vielleicht genoss er es auch, sich geheimnisvoll zu geben.
Sie gingen weiter, das hieß: Er ging weiter und hastete mit seinem Gepäck durch die Gänge. Carolin folgte ihm stolpernd und hatte keine Zweifel, dass er genau wusste, wo sie steckten und wohin sie gehen mussten. Sie konnte seinem Schritt nicht ganz folgen. Der Seesack war schwer und zog ihr die Schulter nach unten. Ständig stieß Carolin damit gegen Kanten und Ecken. Manchmal konnte sie Leif nur noch gerade eben um eine Ecke verschwinden sehen. Hätte sie ihn verloren, dann wäre sie wahrscheinlich auf der Stelle stehen geblieben und hätte sich nicht gerührt, bis er ihr Fehlen bemerkt und sie gesucht hätte.
Sie war keineswegs dumm. Sie war nur mit einer eklatanten Störung des Orientierungssinnes ausgestattet. Unter Fotografen kam das öfter vor. Bildkünstler sehen die Welt in einem Höhe-mal-Breite-Format. Sie fokussieren auf die Umwelt, aber wenn sie ohne Kamera vor dem Auge um sich blicken, fehlt ihnen der Rahmen.
Endlich fanden sie sich vor einer Treppe wieder. Nun hatte selbst Carolin eine Vorstellung, wo sie sich befanden. Dies war eine Zwischentreppe zu den Kabinen. Nicht das gewaltige Atrium, von dem sie gehört hatte, dass die gläsernen Aufzüge und frei schwebenden Marmortreppen einem den Atem verschlugen. Aber schon diese Zwischentreppe im Kabinenbereich wirkte prachtvoll, denn sie war so breit, dass problemlos zehn Männer nebeneinander die Stufen hätten hinaufsteigen können. Sie waren nun irgendwo im Herzen des riesigen Schiffes, mit dem sie morgen in aller Frühe auf eine kurze, aber eindrucksvolle Reise gehen würden. Ganz unten, also noch fünf Etagen unter ihnen, befanden sich die preiswertesten Kabinen und ein großer Teil der Schiffstechnik. Die Aufzüge links und rechts schienen noch nicht in Betrieb zu sein. Das Ende der Treppe war mit einer Tür versehen, die sich nur mit passender Chipkarte öffnen ließ. Wenn man die richtigen Zugangsdaten hatte, konnte man von hier sogar direkt zur Kapitänsbrücke gelangen. Carolin war erleichtert. Sie hatte einen Anhaltspunkt und würde sich hier vielleicht doch nicht dauernd verlaufen.
Hier lag noch kein Teppich, aber eine Rolle dunkelblauer Meterware stand bereits neben der weiß marmorierten Säule. Zwei Arbeiter klebten honigfarbenen Leim auf die Stufen. Das Geländer, das aus etwas protzigem Goldmessing bestand und wie eine blonde Locke geschwungen war, wurde von einer Asiatin abgewischt. Ein Radio spielte «Biscaya» – James Last-typische Teppichverlegermusik. «Moin», sagten die Raumausstatter, ohne aufzublicken.
Auf der obersten Treppenstufe stand eine schöne Frau. Das Alter war schwer zu schätzen. Sie konnte nicht mehr ganz jung sein. Auf den ersten Blick stand fest, dass sie sich gut gehalten hatte. Geschwungene Haare in Goldblond und schlanke, weiße Beine. Sie stand dort so selbstbewusst, als wäre dies schon immer ihr Platz gewesen und man hätte das ganze Schiff um sie herum gebaut. Die Poseidonna in Person. «Da sind Sie ja schon!» Sie kam ihnen nicht entgegen, sondern wartete, bis Leif und Carolin samt Gepäck die Stufen zu ihr hinaufkamen. Dann reichte sie Carolin die kühle, feingliedrige Hand.
«Ich bin Ebba John.» Sie lächelte freundlich. «Mein Zuständigkeitsbereich ist die Gesamtkoordination der mitfahrenden Personen. Ich heiße Sie herzlich willkommen und werde Sie bei Ihrem Besuch durch das Schiff begleiten. Eigentlich hatte ich Sie von der Gangway abholen wollen, aber Sie waren wohl überpünktlich.»
«Das stimmt. Ich bin Carolin Spinnaker. Die Fotografin.» Carolin betrachtete aufmerksam das makellose Gesicht ihr gegenüber. Ebba John hatte reife, aber glatte Haut, ein wenig gebräunt, ohne nach Solarium auszusehen, dazu dunkelbraune Augen und volle, vielleicht ein wenig zu volle Lippen. Carolin konnte sich nicht verkneifen, bei diesem Gesicht an die Ente in einer Walt Disney-Produktion zu denken: Ebba John lächelte ebenso niedlich und breit.
Die Redaktion hatte nicht erwähnt, dass man ihnen eine Begleitung zugeteilt hatte. Carolin wusste auch nicht, ob ihr diese Idee gefiel. Irgendwie machte es klar, dass Leif und sie nicht das Schiff in Beschlag nehmen konnten, wie es ihnen passte. Sie würden einen Schatten haben und eventuell sogar die Motive zugeteilt bekommen. Fotografieren Sie dieses, beschreiben Sie jenes. In New York musste sie einmal so arbeiten, am Ground Zero, als Sicherheitsbeamte ständig an ihrer Seite gestanden hatten. Damals leuchtete ihr eine solche Kontrolle ein. Aber hier auf der Poseidonna erschien es eindeutig fehl am Platz und übertrieben. Carolin wusste, dass sie unter diesen Umständen miserable Fotos machen würde. Und sie konnte es sich nicht leisten, miserable Fotos zu machen.
Die letzten Wochen und Monate waren nicht gerade ruhmreich gewesen. Sie hatte die attraktivsten Aufträge zugeteilt bekommen und jedes Mal nur Durchschnittsware abgeliefert. Auch wenn die Chefredakteure stets anerkennend gelächelt hatten, sie selbst war mit ihren Bildern nicht hundertprozentig zufrieden gewesen. «Deine Bilder sind toll. Du hast nur zu hohe Ansprüche an dich», trösteten ihre Mitbewohnerinnen sie gern und ausgiebig, wenn sie ihren Frust bei einer WG-internen Weinprobe zu kompensieren versuchte. Aber es war schwer, den Anspruch runterzuschrauben, denn immer war sie die Fotografin, die einmal dieses eine Bild geschossen hatte. Dieses eine Foto. Perfekt, tiefgründig, ästhetisch. Die Latte lag hoch, und nun war sie nicht mehr in der Lage, die hohen Erwartungen zu erfüllen. Auch wenn es lediglich ihre eigenen Maßstäbe waren.
Die Begleiterin wandte sich ab und strahlte zu Carolins Erstaunen, als sie Leif entdeckte.
«Was machst du denn hier? Das ist ja eine Überraschung!» Es gab ein Küsschen auf jede Wange.
Carolin beobachtete zum ersten Mal, dass sich ein Mensch über die Anwesenheit des Kollegen Minnesang freute. Sie erwartete so etwas wie eine plausible Erklärung für diese Reaktion, doch Leif und Ebba John ließen sie im Unklaren. Minnesang stammte aus Ostfriesland, diese zeitlose Blondine hier vielleicht auch, zudem schienen sie ein Alter zu haben, eventuell kannten sie sich also von früher. Doch sie erläuterten nichts, ließen Carolin außen vor, standen nur strahlend voreinander und zwinkerten sich noch ein paar Mal viel sagend zu. Dann räusperte sich Ebba John: «Es ist das erste Mal, dass wir Journalisten mit an Bord nehmen. Aber es ist auch das erste Mal, dass ein Kreuzfahrtschiff von diesen Ausmaßen eine deutsche Werft verlässt. Wir sind alle sehr stolz und aufgeregt.»
«Und wie ist der Ablauf geplant?», fragte Carolin.
«Wenn das Wetter sich hält, legen wir morgen früh gegen sechs Uhr ab. Ab fünf wird am Dollartsperrwerk das Wasser gestaut, das wir brauchen, um Leda und Ems befahren zu können. Wir sind ja die allerersten Kilometer auf der Leda unterwegs, bis wir dann südwestlich von Leer in die größere Ems einschiffen. Das ist alles, was die Tiefe angeht, sehr eng bemessen, wir brauchen jeden Zentimeter unter dem Kiel.»
«Aber ich dachte, man hätte die Strecke vom Leeraner Hafen bis zur Ledamündung extra für die Überführung der Schiffe vertieft und umgestaltet.»
«Das ist wahr. Zeitgleich mit dem Bau der Poseidonna gab es etliche Baumaßnahmen hier in Leer. Wir haben die kleine Hafenschleuse gegen ein modernes System ausgewechselt, welches uns nun gleichzeitig als Werfttor und Zugang für den Lieferverkehr dient. Die Kurve bei Leerort wurde verbreitert, damit das Schiff wenden kann. Die alte Jann-Berghaus-Brücke ist durch die wesentlich breitere Schmidt-Katter-Brücke ersetzt worden, zusätzlich haben wir für die Lastenkräne in diesem Bereich die Straßenführung geändert und gepflasterte Wege bis ans Ufer gelegt. Nicht zu vergessen das Dollartsperrwerk kurz vor Emden. Tja, einige Stellen sind kaum wieder zu erkennen. Aber wir haben jetzt die Möglichkeit, Schiffe im Ausmaß der Poseidonna zu bauen und zur Nordsee zu bringen. Die erste Etappe bis zum Sperrwerk wollen wir bis zum späten Nachmittag schaffen, weil man den Fluss nicht länger als zwölf Stunden stauen sollte, sonst weichen die Deiche auf.»
«Viel Organisation, so eine Schiffsüberführung, nicht wahr?», hakte Carolin nach.
Ebba John lächelte. «Wir haben die besten Männer für diese Arbeit. Die schütteln diesen Job aus dem Handgelenk. Ach, übrigens werden wir uns alle noch vor der Abfahrt näher kennen lernen. Ich habe einen kleinen Empfang oben auf der Kommandobrücke vorbereitet. Unter anderem werden Kapitän Pasternak und Ludger Schmidt-Katter zugegen sein, eventuell auch der Vorstandsvorsitzende der amerikanischen Reederei, an die die Poseidonna in Eemshaven übergeben wird. Sinclair Bess, er ist ein wahres Paradebeispiel für den amerikanischen Traum – vom Ghettoboy zum Großreeder.» Ebba John geriet ins Schwärmen. Sie betonte mit jeder Geste, mit jedem Wort, dass sie eine wichtige Rolle hier an Bord spielte. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm mit feinen weißen Nadelstreifen, darunter eine weiße Bluse, am schlanken Hals eine dezente Silberkette, im Gesicht nur wenig Make-up. Typ Chefstewardess sozusagen.
Carolin ahnte, dass sie neben dieser scheinbar vollendeten Person eine eher farblose Gestalt abgab. Immerhin war sie einen Kopf kleiner, dunkel-, glatt- und kurzhaarig. Typ Fotografin eben: eine praktische Cordhose mit ausgebeulten Taschen und ein weißes Hemd.
«In welchem Rahmen findet dieser Empfang denn statt?», fragte sie, um überhaupt mal wieder wahrgenommen zu werden.
«Wenn Sie Champagner mögen, können Sie sich auf heute Abend freuen, und satt werden Sie auf jeden Fall werden, Frau … Wie war doch gleich Ihr Name?»
«Carolin Spinnaker», antwortete Leif statt ihrer. «Ich würde mich an deiner Stelle gut mit ihr verstehen, Ebba. Sie macht, wenn sie will, hervorragende Bilder.»
Beide schauten Carolin an, die sich fühlte wie ein dressierter Hund, dessen Herrchen mit dem «Pfötchen geben» prahlte.
Er holte weiter aus. «Kennst du das Foto von dem kleinen Kind mit dem Schreibheft, das damals nach dem Pharmaskandal in Ostfriesland um die Welt ging? Mit dem Mädchen, das so unschuldig auf dem Bleistift herumkaut und in der anderen Hand eine Pillendose umklammert hält?»
«Natürlich kenne ich das. Es war auf allen Titelblättern!»
«Es ist von ihr!»
Nun starrten die schönen, dunklen Augen der Ebba John bewundernd zu Carolin. So ging es ihr ständig, wenn irgendjemand das Foto erwähnte. Carolin verlor grundsätzlich keine Silbe darüber, denn Vorschusslorbeeren waren ihr ein Gräuel. Sie wusste, sie war eine gute, wenn nicht sogar sehr gute Fotografin. Nur leider hatte sie schon ganz zu Beginn ihrer Karriere den Höhepunkt erreicht und alles, was danach kam, schien ihr irgendwie mau, auch wenn es eigentlich gut war. Es gab ein paar Fälle, in denen Fotografen durch eine einzelne Aufnahme in den Olymp der Fotografie gehievt wurden. Das Bild von dem über den Stacheldraht flüchtenden DDR-Grenzsoldaten Conrad Schumann war so ein Beispiel. Oder das Albert Einstein-Porträt mit der ausgestreckten Zunge, das ein Zufallsschnappschuss auf einer Geburtstagsparty war, nicht zu vergessen Marilyn Monroe und das Lüftungsgitter.
Dass ausgerechnet ihr ebenfalls ein solcher Erfolg zuteil würde, hatte sie damals nicht geahnt. Sie hatte doch einfach nur auf den Auslöser gedrückt, als das blonde Mädchen so traurig schaute. Man hatte bei der Neunjährigen eine Veränderung der Blutgefäße im Gehirn festgestellt und dem hochintelligenten Kind nicht mehr viel Zeit gegeben. Schuld an diesem Schicksal war die verantwortungslose Testreihe eines Medikamentenherstellers gewesen. Das Mädchen hatte einem Kollegen ihre Geschichte erzählt. Carolin hatte nur dabeigesessen und im richtigen Moment fotografiert.
Drei Wochen später war das Mädchen tot und Carolin ein Star. Die Tragik des Bildes war ihr zum glücklichen Vorteil geworden. In diesen Momenten hasste sie ihren Job.
«Wann genau ist der Empfang?», fragte Carolin, die endlich ein anderes Thema anschneiden wollte.
Ebba John schaute auf ihre silberne Uhr. «In zwei Stunden, also um sieben. Ich werde euch erst einmal eure Kabinen zeigen … Oh, Entschuldigung, Frau Spinnaker. Ich sage einfach euch …»
«Kein Problem!»
«Da ich Leif eben schon seit einer Ewigkeit kenne, rutscht mir diese vertraute Anrede einfach so über die Lippen …»
«Wie gesagt: Kein Problem!»
«Das ist schön. Ich bin Ebba.» Wieder reichte sie ihre schlanke Hand, noch immer waren die Finger kühl.
«Carolin.» Eigentlich war diese Frau nicht der Typ, mit dem sich Carolin gern duzte. Doch die Zeit hier an Bord war absehbar kurz, und allzu oft würden sie sich ohnehin nicht über den Weg laufen, zumindest wenn es nach Carolin ging.
Sie liefen los. Carolin schulterte ihren Seesack und hoffte, sich den Weg einprägen zu können. Sie gingen nur ein Deck höher und betraten dann die Kabinengänge, die identisch mit dem Labyrinth ein Stockwerk tiefer zu sein schienen.
«Ganz schön verwirrend, nicht?», sagte Ebba lächelnd. Ihre Stimme war nun angenehm warm und passte nicht zum unterkühlten Händedruck. «Jedes Deck bekommt eine andere Farbe, sodass die Passagiere leichter erkennen, wo sie sich gerade befinden. Auch kleine Kinder können sich dann zurechtfinden. Dieses Deck 7 wird gelb.»
Noch war hier nichts gelb. Kabel hingen herunter. Die Wände waren gipsgrau und unfertig. Genau wie eben. Es ging nach links. Carolin konzentrierte sich. Merken, merken, merken, links und dann durch eine schwere Glastür, anschließend nach der dritten Tür noch einmal links. Und wenn man zurück will, alles umgekehrt. Rechts, Glastür, rechts.
«Wir sind gleich da. Im Prinzip sind alle Kabinen schon weitestgehend bezugsfähig, nur die Malerarbeiten und die Deko müssen noch gemacht werden. Die Einrichtungen sind uns bereits in einzelnen Blöcken geliefert worden. Die Duschen, Toiletten und Fenster und Türen, sogar die festmontierten Möbel wie Betten und Schränke sitzen schon in den tonnenschweren Klötzen. Diese werden von gewaltigen Kränen an die richtige Stelle manövriert und dann angeschweißt.» Ebba trug Schuhe mit Absatz und einen engen Rock, und trotzdem bewältigte sie die Unebenheiten im unfertigen Boden, als gleite sie über Parkett. Bewundernswert, dachte Carolin und spürte bei jedem Schritt den immer schwerer werdenden Seesack auf ihrer Schulter. «Einige Kabinen sind als Prototypen bereits vollständig hergerichtet worden, mit verschiedenen Stoffmustern und so. Es wird erst in den nächsten Tagen entschieden, welches Design die einzelnen Kabinentypen bekommen.»
Nach acht Türen rechts. Hier roch es nach Lösungsmitteln, dann ein langer Gang, von dem keine Abzweigung mehr abging.
«Ich kann Blau und Apricot anbieten!»
«Ich nehme Blau!», sagte Leif pfeilschnell. Carolin brauchte ein paar Sekunden länger, bis sie begriff, dass es um die Farbgebung ihres Schlafgemaches ging. Und nun musste sie in Apricot wohnen. Aber die nächsten vierundzwanzig Stunden würde sie ohnehin kaum in der Kabine hocken, und beim Schlafen machte man ja glücklicherweise die Augen zu.
«Gut, dann kommt mit mir, die Tür in der Mitte des Ganges rechts ist deine, Carolin. Leif wohnt zwei Kabinen weiter hinten. Direkt nebenan ist übrigens eine unserer Luxussuiten, die ein eigenes Sonnendeck zum Heck hinaus haben. Sinclair Bess, unser amerikanischer Reeder, ist dort untergebracht. Alles nur vom Feinsten. Leif, du hast auch einen kleinen Balkon für dich, aber ich fürchte, das Wetter wird wohl für ein Sonnenbad nicht reichen. Du kannst schon mal reingehen, Leif, hinten rechts, okay? Ich zeige deiner Kollegin das Quartier.» Ebba stieß eine schwere Tür auf. «Lärmschutz, bitte nicht die Finger dazwischenkriegen!»
Das Apricot dahinter quoll Carolin so aufdringlich entgegen, dass sie sich kurz umdrehen musste, um sich am Grau der Gänge zu erholen. Dann blickte sie wieder in den kleinen Raum, der zwar ein nicht allzu kleines, rundes Fenster nach außen, aber dafür kaum Platz zum Drehen und Wenden hatte. Ein französisches Doppelbett mit einer hellen, samtigen Tagesdecke in Orange. Ein Wulst von cremefarbenen Kissen nahm den meisten Platz darauf in Anspruch. Über dem Bett spannte sich ein glänzender Baldachin mit dieser Art von Paisleymuster, über das man in schlaflosen Nächten ganz wunderbar sinnieren konnte: ineinander verschlungene Blumenranken und pantoffeltierförmige Ornamente, alles in Orangebraun gehalten. Zwei Korbstühle unter dem Bullauge, ein Sekretär aus Kirschholz, den man auch als Kosmetiktisch benutzen konnte. In die Bordwand war ein Schrank eingelassen. Hätte Carolin Geld für diese beengte Unterkunft zahlen müssen, so hätte sie ein anderes Zimmer verlangt. Die Farben waren unerträglich.
«Amerikanischer Stil», sagte Ebba leichthin und strich mit der Hand über das Bett. «Ich denke, der Reeder wird sich für diese Variante entscheiden. Es hat eine warme Atmosphäre.»
Carolin ließ endlich den schweren Seesack auf den Bettüberwurf fallen. Das Bundeswehrgrün lieferte sich einen erbitterten Kampf mit der pfirsichfarbenen Decke. «Herzlichen Dank! Ich komme jetzt wohl allein klar.»
Doch Ebba John blieb im Zimmer stehen, als habe sie Carolins Worte nicht verstanden. «Ich kenne Leif von früher. Wir waren mal ein Paar», erzählte sie ungefragt. «In der Schule, im Emder Gymnasium am Treckfahrtstief. Drei Jahre waren wir zusammen, bis ich meinen Job in Amerika bekam. Ich war Model. Fünf Jahre lang. Bevor ich Anfang der Achtziger in die Tourismusbranche gewechselt bin, habe ich als Mannequin die ganze Welt kennen gelernt. Für ein ostfriesisches Mädchen ist das eine große Sache. Doch Leif hat es nicht gefallen.»
Das interessiert mich nicht, dachte Carolin und begann, den Verschluss ihres Seesackes zu entknoten. Stumm natürlich, denn sie hatte keine Lust auf ein Gespräch über die ehemalige Schulliebe eines blonden Exmodels zu einem ungeliebten Kollegen. Ebba ignorierte das offensichtliche Desinteresse. «Ich habe in Köln studiert, ein bisschen bei der Lufthansa als Flugbegleiterin gejobbt und musste dann wieder in die Provinz zurück, weil ich mich um meinen kleinen Neffen zu kümmern hatte. Back to Ostfriesland, und meine Freunde von der Schule waren in alle Himmelsrichtungen verteilt. Nicht leicht, wenn man schon überall gewesen ist.» Sie seufzte. «Zum Glück habe ich den Job bei Schmidt-Katter angeboten bekommen. Ich betreue die Auftraggeber der Werft, wenn sie zu Besichtigungsterminen hier sind. Ich organisiere alle Veranstaltungen, Seminare, Tagungen und so weiter. Somit bewege ich mich doch noch ein wenig in der weiten Welt.» Ebba lächelte versonnen.
Ich habe es kapiert, dachte Carolin, du gehörst hier eigentlich gar nicht hin und hättest wirklich was Besseres verdient. Schon klar, und jetzt lass mich bitte in Ruhe auspacken.
Das schwarze Kleid war unter die schwere Fotoausrüstung gerutscht und sah dementsprechend verknittert aus. Carolin nahm es heraus und legte es über die Stuhllehne.
«Ist Leif immer noch so rechthaberisch?», wollte Ebba John wissen. Sie hatte sich halb auf den Sekretär gesetzt und zupfte sich, mit Blick in den Spiegel hinter ihr, die Haarsträhnen zurecht. Glaubte sie wirklich, dass dies hier eine Plauderstunde unter neuen besten Freundinnen werden würde?
«Er ist ein ausgezeichneter Journalist», gab Carolin sich so einsilbig wie möglich.
Doch Ebba John schien das bereits auszureichen, um selbst wieder loslegen zu können: «Weil er so rechthaberisch ist, darum ist er so gut. Er will die Dinge in der Welt immer so drehen, dass sie in das Bild passen, was er sich bereits im Kopf zurechtgelegt hat. Und wenn sich herausstellt, dass etwas anders läuft, als Leif es dirigieren möchte, dann recherchiert er so lange, bis die Wahrheit seinen Vorstellungen entspricht. Das hat er immer schon so gemacht, und keiner kommt gegen ihn an. Es würde mich nicht wundern, wenn die Sonne eines Tages um die Erde kreist, nur weil Leif Minnesang es sich so überlegt hat.»
Carolin hielt einen Moment inne. So treffend hatte noch nie jemand ihren Kollegen charakterisiert, das musste sie Ebba John lassen. Sie schaute die Frau von der Seite an. Kaum vorzustellen, dass Leif mit ihr zusammen gewesen sein sollte. Auch wenn es salopp überschlagen bereits ein Vierteljahrhundert her sein musste. Er war einen ganzen Kopf kleiner und nicht im Entferntesten auf diese augenscheinliche Art attraktiv wie Ebba John. Wenn sie tatsächlich mal ein Paar gewesen waren, dann eines von der Art, nach dem sich jeder auf der Straße umdrehte und überlegte, was sie wohl von ihm wollte.
«Ist er denn verheiratet?»
Carolin konnte sich einen verwunderten Gesichtsausdruck nicht verkneifen. «Er ist nur ein Kollege, ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung. Und wenn ich sie hätte, ach bitte, frag ihn doch selbst!»
Endlich erhob sich Ebba vom Schreibtisch. «Ich gehe dann mal», sagte sie wieder mit dieser Samtstimme, die nicht so recht zu ihrem blonden Auftreten passte. «Wir sehen uns beim Empfang.» Dann ging sie hinaus.
Carolin ließ sich genervt auf das Bett fallen. So ein Mist, dachte sie. Sie war hier, um einen wirklich tollen Job zu machen. Spektakuläre Schiffsüberführung auf einem engen Fluss von der ostfriesischen Binnenstadt Leer bis ins niederländische Eemshaven. Und dann noch für das Objektiv, eines der auflagenstärksten Magazine Deutschlands. Es gab entsprechendes Honorar. Dies war eine grandiose Kulisse, um phantastische Aufnahmen zu machen. Doch Carolin fühlte sich jetzt schon komplett ausgebremst. Ein Empfang mit Kanapees und Smalltalk, wozu sollte das schon gut sein? Sie sah sich im Geist bereits kauend zwischen dem palavernden Leif und dieser Ebba John. Dies alles passte Carolin überhaupt nicht ins Konzept.
Hoffentlich ergab sich bald die Gelegenheit, auf eigene Faust loszuziehen. Sonst würde sie bald entweder Leif oder Ebba an die Kehle springen.
«Doktor Perl ist noch nicht da. Seltsam, sonst ist er doch immer am pünktlichsten.» Ebba John blieb nur kurz im Vorbeigehen stehen. Sie war für den Empfang verantwortlich und huschte überraschend nervös zwischen den herumstehenden Menschen hindurch.
«Wer ist Doktor Perl?», flüsterte Carolin in das Ohr ihres Kollegen. Sie tat sich schwer mit all diesen Männern in dunklen Anzügen, die sich in der großen, hellen Kommandobrücke an Wichtigkeit übertrumpften. Zwei Lotsen aus Emden bestaunten die moderne Technik und ein Lokalpolitiker hielt Lobeshymnen auf seine eigenen Verdienste.
Einen Wolfgang Grees hatte Carolin bereits etwas näher kennen gelernt. Er war leitender Schiffsmechaniker und trug über seinem runden Bauch einen grauen Zweireiher. Lässig lehnte er an der holzverkleideten Wand und polierte mit einem Taschentuch die Scheiben der verschiedenen Messinstrumente, die in das Mahagoniholz eingelassen waren. Man sah ihm an, dass er aus der Arbeiterschaft stammte und kein Büromensch war. Kräftige Hände, die keinen Moment ruhig in die Hosentaschen gesteckt wurden. An einem Arm trug er einen Verband, der die Beweglichkeit jedoch nicht einzuschränken schien. «Ich habe das große Los gezogen», erklärte er Leif. «Ein Jahr lang werde ich an Bord bleiben, als Garantieleistung sozusagen. Wenn in diesem Zeitraum irgendetwas nicht so läuft, wie es laufen sollte, was hier auf der Werft natürlich keiner erwartet, so mache ich die Sache wieder klar.»
«Was ist mit Ihrem Arm passiert?», fragte Leif mit gewohnter Neugierde.
Grees blickte auf die Bandage, als erinnerte er sich jetzt erst, dass er sie überhaupt trug. «Ach, das meinen Sie? Ist schon ein paar Wochen alt. Ich habe mir bei der Arbeit Verbrennungen zugezogen. Ausgerechnet am linken Arm, ich bin nämlich Linkshänder. Sah scheußlich aus und wird wahrscheinlich nicht viel besser aussehen, wenn der Verband wieder runter ist. Tut aber nicht mehr weh.»
Dann wandte er sich wieder seinen Reinigungsarbeiten zu.
Wesentlich beeindruckender war hingegen in seiner weißen Uniform der Kapitän Jelto Pasternak. Selbst Carolin, die sonst selten so etwas wie Ehrfurcht empfand – weder ihrem alten Schuldirektor noch ihrem heutigen Chefredakteur gegenüber –, fühlte sich in Gegenwart des Schiffführers klein und mädchenhaft. Pasternak hatte einen schwarzen Vollbart, einen hellblauen Weltumseglerblick und musste beinahe zwei Meter groß sein. Doch obwohl er hervorragend zu diesem imposanten Schiff zu passen schien, war er lediglich für die Überführung der Poseidonna zuständig. Ab Eemshaven würde ein amerikanischer Kapitän das Steuer übernehmen. Beinahe schade drum, dachte Carolin und lichtete den Bilderbuchseemann ab, als er gerade gedankenverloren aus dem Fenster schaute, obwohl vom großen, weiten Meer noch nicht viel zu sehen war.
Sinclair Bess, der Reeder aus Amerika, entpuppte sich als dicker, schwarzer Mann, der ebenso dicke, schwarze Zigarren paffte und seine freie Hand auf dem festen Hintern einer schlanken Frau platzierte. Daneben und ringsherum glänzend gekleidete Damen in hochhackigen Schuhen, doch sie waren lediglich die Begleiterinnen. Wahrscheinlich die Frau Pasternak, die Frau Grees, die Frau Perl, Frau Schmidt-Katter, vielleicht Mrs. Sinclair Bess. Sie tranken Champagner und lächelten schmallippig.
«Doktor Perl ist der Betriebsarzt», antwortete Leif, der sich gerade eine akustische Notiz im Diktiergerät gemacht hatte. Leif stand wie Carolin etwas abseits bei der Tür, durch die nun von hungrigen Augen begutachtet wurde, denn links neben dem Seekartentisch bei der Tür war ein Buffet hergerichtet, das erst wenn dieser Perl endlich durch diese Tür trat, eröffnet werden würde.
«Warum warten wir auf ihn?»
«Soweit ich informiert bin, ist er ein enger Freund vom Werftleiter Ludger Schmidt-Katter. Die Frauen der beiden sind zudem Schwestern. Alles irgendwie eine Sippe hier in der Provinz.»
«Es ist eine merkwürdige Provinz», stellte Carolin fest.
«Weshalb?»
«Weil hier mitten auf dem Land Schiffe gebaut werden, und zwar riesige Brecher. Warum ist die Werft nicht direkt an die Nordsee nach Emden oder so gegangen? Oder hat man Fördergelder für die neuen Bundesländer mitgenommen und einen Produktionszweig an die Ostsee verlegt?» Carolin schaute durch die Fenster nach draußen. Es dämmerte schon, doch sie konnte noch die Kräne und Hallen der Schmidt-Katter-Werft ausmachen, dahinter ein paar rote Wohngebäude, ein VW-Autohaus, den eckigen Turm von Leer, auf dem neben Werbung für Tee und Telekom der Schriftzug «Das Tor Ostfrieslands» prangte. Sie konnte von hier oben viel überblicken, doch vom Meer war nichts zu sehen. Sie hatte eher das Gefühl, sich auf der Büroetage eines Hochhauses als auf der Brücke eines Schiffes zu befinden. «Tradition und Arbeitsplätze.» Carolin lauschte auf Leifs Gemurmel und bemerkte, dass er ebendiese beiden Begriffe gleich zweimal hintereinander ins Mikrophon sprach. Wichtigtuer!