Handbuch heilpädagogischer Konzepte und Methoden -  - E-Book

Handbuch heilpädagogischer Konzepte und Methoden E-Book

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Beschreibung

In diesem Handbuch werden ca. 50 neue und altbewährte Konzepte und Methoden (heil-)pädagogischer Arbeit vorgestellt. Die Leser erhalten einen strukturierten Einblick in die Praxiskonzepte für verschiedene Klientel, in dem jeweils die Entstehung, die Ziele, die Grundgedanken und theoretischen Bezüge vorgestellt und reflektiert werden. Das Handbuch stellt ein Nachschlagewerk für interessierte (Heil-)Pädagogen dar, um gebündelt Informationen zu ausgewählten Konzepten und Methoden für die Praxis zu erhalten.

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Seitenzahl: 540

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Praxis Heilpädagogik - Konzepte und Methoden

Herausgegeben von Heinrich Greving

Die Herausgeberin

Prof. Dr. Christina Reichenbach ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Psychomotorik). Sie hat eine Professur für Heilpädagogik mit dem Schwerpunkt Förderung, Bildung und Integration von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung an der Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum.

Christina Reichenbach (Hrsg.)

Handbuch heilpädagogischer Konzepte und Methoden

Ein Leitfaden für die Praxis

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2023

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-042371-8

 

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-042372-5

epub:     ISBN 978-3-17-042373-2

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Das vorliegende Buch* soll als Nachschlagewerk für alle in der Praxis tätigen sowie angehenden (Heil-)Pädagogen dienen und einen Rundumblick ermöglichen.

In diesem Handbuch findet sich eine Sammlung möglicher Methoden bzw. Konzepte für die heilpädagogische Arbeit, aus der entsprechend den Zielen für die Praxis ausgewählt werden kann. Es werden systematisch Methoden vorgestellt, die in der Heilpädagogik als fördernd bzw. unterstützend erachtet werden und in der Praxis eingesetzt bzw. genutzt werden können.

Auch wenn einige Methoden einer Qualifikation bedürfen und somit oftmals im Sinne von Qualitätsnachweis bevorzugt angewendet werden, so ist es entscheidend, welche Methode für die praktische Aufgabe sinnvoll ist, anstelle eines Entscheides für eine Lieblingsmethode. »Ich habe nicht Methoden und suche mir dann Ziele, auf die ich sie anwenden kann; sondern in der praktischen Situation stellen sich Aufgaben, für deren angemessene Lösung der Einsatz passender Methoden u. U. in Frage kommt« (Gröschke 1997, 261).

»Die Kenntnis und fachgerechte Handhabung mehrerer Methoden erleichtert dem Heilpädagogen die richtige Auswahl und erlaubt es ihm, auf die individuellen Bedürfnisse behinderter Kinder einzugehen« (von Oy/Sagi 1979, 55).

Die Auswahl der Methoden erfolgte aufgrund von Literaturrecherchen und Befragungen von Heilpädagogen. Auch wenn nach Gröschke (1997) sicherlich nicht alle vorgestellte Methoden per se »heilpädagogisch« angelegt sind, so können sie von Heilpädagogen genutzt werden. Voraussetzung ist allerdings, dass ein grundlegendes Verständnis der eigenen Profession Berücksichtigung findet, auch wenn es in der Methode ggf. nicht explizit mitgedacht wird. Dazu gehören vor allem eine dialogische, beziehungsorientierte und interaktive Grundhaltung sowie eine sachliche, alters- und milieuspezifische individuelle Einstellung auf die Person, mit der gearbeitet wird. Das bedeutet ebenso, dass angelehnt an Methoden dennoch stets eine Offenheit für Modifikation und Differenzierung vorliegen muss.

Einer einheitlichen Struktur entsprechend werden 48 Methoden/Konzepte vorgestellt, so dass sich der Leser einen ersten Überblick verschaffen und dann ggf. weiterführende Quellen gezielt nutzen kann.

Die Darlegung erfolgt anhand dieser Struktur:

•  Name Konzept/Methode

•  Autoren

•  Biografie

•  Entstehung

•  Klientel/Zielgruppen

•  Altersstufen

•  Setting

•  Häufigkeit/Dauer

•  Anwender/Berufsgruppe

•  Theoretische Bezüge

•  Ziele

•  Grundgedanken

•  Vor- und Nachteile, kritische Reflexion

•  Evaluation

•  Fortbildungen/Qualifikation

•  Literatur und Internetseiten

Jedes Konzept/jede Methode wird auf ca. 4–8 Seiten vorgestellt.

Die ausgewählten Methoden und Konzepte werden teilweise für verschiedene Altersgruppen und Klientel genutzt. Um die Sortierung alters- und inhaltsunabhängig zu machen, wurde die Entscheidung für eine alphabetische Sortierung getroffen.

Methoden und Konzepte in der Heilpädagogik

Es gibt verschiedene Methoden und Konzepte, die im (heil-)pädagogischen Alltag genutzt werden. »Konzepte« und »Methoden« sind das Handwerkszeug eines jeden Heilpädagogen. In verschiedenen Büchern finden sich punktuell einzelne Konzepte und/oder Methoden als Beispiel für eine heilpädagogische Förderung. Das Verständnis darüber, was genau gemeint ist, fällt unterschiedlich aus.

Gröschke (2008) stellt heraus, dass die Methodenfrage von Anfang an von konstitutiver Bedeutung war und fachliche Diskussionen stets um den Methodenstreit kreisten (z. B. Gebärden- vs. Lautsprache).

Kobi (1977) nannte und bezeichnete Aufgabenfelder (Heilerziehung) für Heilpädagogen: Erziehung, Unterricht, Beratung, Therapie, Information, Fürsorge, Sozialpolitische Funktion. Für die einzelnen Aufgabenfelder sind verschiedene Methoden zu finden.

»Methoden sind strukturierte Verhaltensvorschriften zur Lösung eines Problems« (Pitsch/Thümmel 2015, 13). Die Methodologie (Methodenlehre) beschreibt nach Gröschke (2008, 101) die »Denk- und Arbeitsmittel, mit denen Themen und Problemstellungen eines wissenschaftlichen Fachgebiets bearbeitet werden können«. Weiterhin formuliert Gröschke (1997, 260) zum Methodenverständnis, dass Methoden »eingrenzbare, wiederholbare spezifische Handlungsmuster« sind, in denen Wissen (Worauf beruht die Wirkung der Methode?), Können (Wie wende ich sie erfolgreich an?) und Sollen (Was soll sie bezwecken/bewirken?) eingeschlossen sind. »Dabei ist die Aufgabe, das Ziel, der Zweck unbedingt vorgängig« (Gröschke 2008, 224).

Abgesehen von einzelnen spezifischen Methoden (z. B. Heilpädagogische Übungsbehandlung), kennt die Heilpädagogik »keine eigenen Praxis-Methoden, sondern ist im Gegenteil (auch) dadurch charakterisiert, daß sie als wissenschaftlich zu betreibende Disziplin ihre Arbeitsweisen – hier gleich Praxismethoden – in eklektizistischer Weise zweckentsprechend auswählt und einsetzt« (Hagel 1990, 45). Methodische Ansätze stammen aus der Pädagogik, Psychologie, Lernpsychologie, Tiefenpsychologie und anderen Fachgebieten. Aus jedem der Fachgebiete übernimmt ein Heilpädagoge Denk- und Handlungsweisen, um die eigene heilpädagogische Arbeit zu begründen (vgl. Greving/Ondracek 2010).

Die Methoden für die heilpädagogische Arbeit »unterscheiden sich nicht grundsätzlich von jenen der üblichen Erziehung und Bildung. Unterschiede ergeben sich allerdings dadurch, dass – je nach Behinderungssituation – einerseits bestimmte Erziehungsmittel und Unterrichtsformen einen Wirkungsverlust erleiden und z. T. völlig unbrauchbar werden, und dass andrerseits spezielle Maßnahmen sich aufdrängen, um einem beeinträchtigten Erziehungsverhältnis gerecht zu werden« (Kobi 1977, 29).

Nach Gröschke (2008, 226) wären Methoden dann heilpädagogisch, »wenn sie beziehungsorientiert, kommunikativ, dialogisch angelegt sind, Entwicklung, Selbstwerdung und soziale Integration ermöglichen wollen/sollen, und ihr Anwender durch berufsspezifisches Wissen und Können befähigt und legitimiert ist, behinderungsbedingte Entwicklungs-, Erziehungs- und Bildungserschwernisse sachkundig und kooperativ zu bearbeiten«. Diesen komplexen Anspruch kann eine Methode schwer erfüllen, sondern eher ein Förderkonzept (vgl. Gröschke 2008).

Für die heilpädagogische Praxis können verschiedene »Medien« eingesetzt oder genutzt werden, um die heilpädagogischen (Handlungs-)Situationen zu gestalten und eine Entwicklungsförderung zu ermöglichen. Als Medien gelten nach Fischer/Renner (2011) zum Beispiel Spiel, Bewegung oder Werken.

Im Rahmen dieser genutzten Medien können dann spezielle Konzepte eingebracht werden, um Entwicklung zu begleiten und zu fördern, zum Beispiel Heilpädagogische Übungsbehandlung, Biografiearbeit, Basale Stimulation u. v. m.

Ein Konzept beschreibt schlüssig eine Idee und deren Realisierung, legt zudem fest, wie späterhin überprüft wird, ob gesteckte Ziele erreicht werden konnten. Ein gutes Konzept ist nicht zuletzt eine Entscheidungshilfe – für oder gegen eine Idee (vgl. Kettl-Römer/Natusch 2015; Graf 1995).

Nach Fröhlich (1999, 10) handelt es sich bei einem Konzept »nicht um eine fertig formulierte und endgültig festgelegte Therapie bzw. Pädagogik (…), sondern um einige essenzielle Grundgedanken, die immer wieder neu bedacht und angepasst werden müssen«.

Bei Konzepten im Rahmen der Heilpädagogik handelt es sich »immer um die Bezeichnung für eine handlungsleitende Leitidee sowie für einen Handlungsplan« (Greving/Schäper 2020, 22).

»Ein Konzept beschreibt einen Rahmen und eine Vorstellung davon, mit welchen teilweise unterschiedlichen Mitteln und auf welchen Ebenen ein bestimmtes Ziel erreicht werden soll« (Theunissen/Wüllenweber 2017, 22).

Es »beinhaltet Ziele, Methoden und Verfahren, die in einen sinnhaften Zusammenhang gebracht sind, der begründet und gerechtfertigt erscheint« (Köhn 2008, 55).

Werden »eine Vielzahl von Methoden für verschiedene Anwendungsbereiche mit zeitlich fernerer Zielsetzung zu einem Maßnahmenpaket« gebündelt, sprechen Pitsch/Thümmel (2015, 13) von einem Konzept.

Gröschke (1997, 115) versteht Konzepte als Brücke zwischen allgemeiner Theorie und wertgeleiteter konkreter Berufspraxis, als »eine Einheit von an Personen gebundenen Kognitionen (Fachwissen), wertenden Stellungnahmen (Gewissen), Motiven (Absichten, Zielen) und Interaktionsbeziehungen zwischen mindestens zwei Personen«. Bedeutend für den Handlungserfolg bzw. die Umsetzung des Ziels ist eine Stimmigkeit zwischen der Person und dem Konzept (Authentizität). Dieser Punkt ist für die Praxis dahingehend bedeutsam, dass Praktiker sehen müssen, ob das Konzept auch individuell passt, und ein Konzept nicht allein deshalb angewendet wird, weil es alle nutzen. Eine Nutzung ist nicht automatisch erfolgversprechend, sondern ist abhängig vom eigenen Bezug und der eigenen Position.

Bei der Anwendung bzw. Nutzung eines Konzepts müssen die individuellen Ziele abgeklärt sein und die Inhalte dementsprechend abgestimmt werden. Ist dies geklärt, können methodisch-didaktische Einzelschritte bzgl. der Anwendung in spezifischen heilpädagogischen Handlungssituationen überlegt werden.

Verbindung Methode & Konzept

Die genutzten (heilpädagogischen) Methoden zeigen den Weg, wie ein Konzept umgesetzt und Ziele erreicht werden können (vgl. Greving/Schäper 2020). Methodische Fragestellungen befassen sich nach Kobi (2004, 341) »mit den Wegen, Mitteln, Organisationsformen, Institutionen und Handlungsweisen, welche auf die bezüglich der Lebensbewältigung und Daseinsgestaltung gesetzten Ziele hin« führen. Eine Methode greift geplant und wiederholt auf bestimmte Techniken zurück (z. B. Formen der Kommunikation) (vgl. Theunissen/Wüllenweber 2017).

Die Methodik bezeichnet nach Greving/Ondracek (2009) die Theorie bzw. die Lehre der unterschiedlichen Methoden, welche dieses Ziel verfolgen. Um ein Ziel zu erreichen, ist ein planmäßiges intentionales Vorgehen erforderlich (vgl. Greving/Schäper 2020).

Es gibt keine Methode nach »Rezept« und mit genauem Vorgehen, sondern es muss die Bedeutung einer Methode für die beteiligten Individuen in ihren Lernumgebungen abgestimmt werden.

»Erst in der stringenten, logischen und zielgerichteten Verknüpfung von Personen, Anliegen, Situationen und Methode kann erkannt werden, worin eine bestimmte Werthaftigkeit in einer ganz bestimmten Methode im Rahmen einer ganz bestimmten Konzeption oder eines Konzeptes verortet ist« (Greving/Schäper 2020, 22; vgl. Greving/Ondracek 2009).

Veränderungen hinsichtlich der Situationen und des Lebensraums erfordern Modifikationen und Überprüfungen hinsichtlich theoretischer Ausrichtungen (vgl. ebd.).

Das bedeutet:

»Jede Methode, welche im Rahmen der Heilpädagogik somit Anwendung finden soll, ist eingebunden in eine Konzeption« (Greving/Schäper 2020, 22).

Es muss deshalb konsequent eine Abstimmung zwischen Methoden und Konzepten für die Handlungspraxis erfolgen, um eine gelingende heilpädagogische Förderung zu ermöglichen.

Überblick – Methoden und Konzepte für die Heilpädagogik

Eine heilpädagogische Praxis und damit auch Konzepte entwickelten sich schon lange, bevor es die Heilpädagogik als Fachwissenschaft gab (vgl. Köhn 2008). Wie bereits Greving/Schäper (2020) formulieren, gibt es in der heilpädagogischen Praxis eine nahezu »unüberschaubare Anzahl von Konzepten und Methoden«. Eine derartige Vielfalt ist nach Gröschke (1997) auch wünschenswert für eine etablierte Fachwissenschaft. Wenn vereinzelt Methoden oder Konzepte beschrieben werden, ist die Sortierung der erwähnten Methoden und Konzepte verschieden. Sicherlich kann das damit zusammenhängen, dass eine Vielzahl von Konzepten und/oder Methoden für verschiedene Klientel und Altersgruppen gedacht ist.

So kann eine Sortierung und Schwerpunktsetzung beispielweise nach Gröschke erfolgen (1997), der diese Konzepte eher als offene Handlungsansätze betrachtet und nicht als Methoden mit standardisierten Verfahrensregeln. Unterschieden werden:

•  Praxiskonzepte zur Entwicklungsförderung

•  musisch-ästhetische Angebote

•  Konzepte zur Selbstbestimmung

•  Handlungsfelder (z. B. Arbeit)

•  Grundphänomene der Praxis

–  der Leiblichkeit (z. B. Förderpflege, Basale Aktivierung)

–  der Bewegung (z. B. Psychomotorik)

–  der Entwicklung (z. B. Entwicklungsbegleitung)

–  des Spielens (z. B. heilpädagogische Spielförderung)

–  des Lernens (z. B. Verhaltenstrainings)

–  der Sprachlichkeit (z. B. Kommunikationsförderung) und

–  Tätigkeit (z. B. Kompetenzförderung)

Die benannten Grundphänomene der Praxis gelten als Fundament heilpädagogischen Tuns, welche sich in unterschiedlicher Form und Ausprägung in den jeweiligen Praxiskonzepten wiederfinden.

Die in der heilpädagogischen Praxis genutzten handlungsorientierten Konzepte und Methoden werden (fast alle) auch von Vertretern anderer Berufsgruppen genutzt. Überschneidungen gibt es hier unter anderen mit Psychomotorikern, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten oder Pflegeberufen. Allerdings kann der Fokus auf eine Kompetenzorientierung und das zugrunde liegende Menschenbild und heilpädagogisches Verständnis, insbesondere im Kontakt mit den Menschen einen wesentlichen Unterschied ausmachen.

Orientiert und angelehnt an die Überlegungen von Gröschke (1997) und erweitert können verschiedene Konzepte unterschiedlichen Praxisbereichen zugeordnet werden. Dies erfolgt hier beispielhaft und ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Des Weiteren ist es gut möglich, dass ein Praxiskonzept auch verschiedenen Bereichen bzw. Grundphänomenen zugeordnet werden kann.

In den Handlungsfeldern und Arbeitsbereichen der Heilpädagogik werden Kinder, Jugendliche und Erwachsene über die gesamte Lebensspanne hinweg mit verschiedenartigen Entwicklungsbeeinträchtigungen und individuellen Förderbedarfen unterstützt. Die Bearbeitung der Inhalte sowie die Art und Weise der Bearbeitung erfolgt über unterschiedlichste Methoden und Konzepte. Methoden dienen einem strukturierten Vorgehen, um eine Unterstützung zu gewährleisten sowie um letztlich schrittweise einer selbstbestimmten Teilhabe des jeweiligen Menschen näher zu kommen.

Im Vergleich zu Methoden stellen Konzepte ein Maßnahmenpaket dar, d. h. etwas Übergeordnetes, bestehend aus mehreren methodischen Vorgehensweisen und einer längerfristigen Planung (vgl. Pitsch/Thümmel 2015). Die Ziele und Inhalte pädagogischen Handelns werden in einem Konzept dargelegt und können mittels verschiedener Methoden und Einzelschritte umgesetzt werden. Konzeptionelle Überlegungen zur heilpädagogischen allgemeinen Entwicklungsförderung beinhalten zudem eine Reflexion des Heilpädagogen einschließlich seiner Grundhaltung, das Milieu als Erfahrungs- und Lernfeld sowie die Methodik zur Gestaltung der Interaktion und Kommunikation. Im Rahmen des vorliegenden Buches würde eine Konkretisierung dieser konzeptionellen Aspekte zu weit führen, sollte jedoch bedacht werden. Die Formulierung von differenzierten Zielen und Inhalten begründet das methodische Handeln und ist für das eigene professionelle Handeln im beruflichen Alltag unabdingbar (vgl. Gröschke 1997).

Literatur

Fischer, H./Renner, M. (2011). Heilpädagogik. Heilpädagogische Handlungskonzepte in der Praxis. Freiburg: Lambertus.

Fröhlich, A. (1999). Basale Stimulation. Das Konzept. Düsseldorf: verlag selbstbestimmtes leben

Graf, P. (1996). Konzeptentwicklung. Alling: Sandmann.

Greving, H./Ondracek, P. (2010). Handbuch Heilpädagogik. Troisdorf: Bildungsverlag EINS.

Greving, H./Schäper, S. (Hrsg.) (2020). Heilpädagogische Konzepte und Methoden. 2. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer.

Gröschke, D. (1997). Praxiskonzepte der Heilpädagogik. 2. Auflage. München: Reinhardt.

Gröschke, D. (2008). Heilpädagogisches Handeln. Eine Pragmatik der Heilpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Hagel, J. (1990). Zum Selbstverständnis der Heilpädagogik als Handlungswissenschaft. Bochum: Schriftenreihe der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe.

Kettl-Römer, B./Natusch, C. (2015). Überzeugende Konzepte. Strukturiert und effektiv von der Idee bis zur Präsentation. Göttingen: Business Village.

Kobi, E. E. (2004). Grundfragen der Heilpädagogik. Berlin: BHP-Verlag.

Kobi, E. E. (1977). Heilpädagogik im Abriss. München: Reinhardt.

Köhn, W. (2008). Heilpädagogische Erziehungshilfe und Entwicklungsförderung (HpE). Ein Handlungskonzept. 4. Auflage. Heidelberg: Edition S

Pitsch, H.-J./Thümmel, I. (2015). Methodenkompendium für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Oberhausen: Athena.

Theunissen, G./Wüllenweber, E. (2017). Zwischen Tradition und Innovation. Methoden und Handlungskonzepte in der Heilpädagogik und Behindertenhilfe. Marburg: Lebenshilfe.

*     Anmerkung der Autoren: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern in diesem Buch die männliche Form verwendet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für alle Geschlechter. Die verkürzte Sprachform hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung.

Janina Philippson

Autorin

Lilli Nielsen (* 1926, Rønne, Bornholm; † 2013, Kolding, Dänemark).

Biografie

Psychologin, Lehrerin für Kinder und Jugendliche mit Sehbehinderung oder Blindheit und weiteren komplexen Beeinträchtigungen.

Entstehung

Das Konzept entstand Ende der 1970er Jahre aus der Arbeit mit Kindern mit Sehbehinderung oder Blindheit und weiteren komplexen Beeinträchtigungen und wurde über Jahre hinweg fortlaufend aktualisiert (vgl. Nielsen 1996a, 141).

Hintergrund war, dass zu dem damaligen Zeitpunkt so gut wie keine Literatur bezüglich der Förderansätze für diese Zielgruppe existierte und diese Schüler nur nach allgemeinen, unspezifischen Trainings- und Lehrmethoden unterrichtet wurden. Dies führte zu keinem spezifischen Entwicklungserfolg. Zu der Zeit war die Meinung verbreitet, dass Kinder mit komplexen Beeinträchtigungen nicht in der Lage seien zu lernen.

Klientel/Zielgruppen

Ursprünglich Kinder, Jugendliche und ggf. Erwachsene mit einer Sehbehinderung oder Blindheit sowie zusätzlicher komplexer Beeinträchtigung. Aktuell auch für Kinder mit einer einfachen Beeinträchtigung (vgl. Nielsen 1996a, 141/2012, 10) sowie für ältere Menschen.

Altersstufen

Entwicklungsalter von 0 bis 48 Monaten für spezifische Fähigkeiten (unabhängig vom tatsächlichen Lebensalter oder Beeinträchtigung/Behinderung) (vgl. Nielsen 2012, 10).

Setting

Zu Beginn in Einzelsituation, grundsätzlich allerdings versteht sich der Ansatz des Aktiven Lernens als ein ganzheitliches Konzept.

Es kann sowohl im Rahmen des Unterrichts als auch im Alltagsumfeld und zuhause umgesetzt werden (vgl. Nielsen 1996b).

Häufigkeit/Dauer

Als »Unterrichtsprinzip« fortlaufend, alltäglich.

Anwender/Berufsgruppen

Lehrer, Erzieher, Eltern, Psychologen sowie alle Personen, die mit Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen und/oder Blindheit bzw. Sehbehinderung arbeiten (vgl. Sandrock/Lux 2016, 5).

Theoretische Bezüge

Lilli Nielsen war das zweite von sieben Kindern, davon waren vier blind. Sie entwickelte den Ansatz des Aktiven Lernens aus der langjährigen Arbeit mit Kindern mit Sehbehinderung oder Blindheit und weiteren komplexen Beeinträchtigungen.

In ihrer Arbeit als Vorschullehrerin (seit 1967) für Kinder mit Sehbehinderung oder Blindheit und komplexen Beeinträchtigungen stellte sie fest, dass bis dahin weder ein Diagnostikverfahren noch ein Förderkonzept für Kinder mit komplexen Beeinträchtigungen existierten. Zudem verhielten sich die meisten Kinder sehr passiv und ihnen wurde eine Lernfähigkeit abgesprochen. Ihre Förderung orientierte sich damals an allgemeinen Lernzielen und Methoden von Kindern ohne Beeinträchtigungen (vgl. Nielsen 2001, 235).

Nielsen beobachtete unter anderem bei den Kindern lediglich einen wahllosen Einsatz von Materialien, die »gerade so im Schrank lagen«. Aufgrund der Erfahrung aus jahrzehntelanger Arbeit mit Kindern mit Blindheit oder Sehbehinderung und komplexen Beeinträchtigungen entwickelte sie das Konzept des Aktiven Lernens. Dabei wird betont, dass es sich hierbei um ein offenes, sich stetig weiterentwickelndes Konzept handelt.

Durch den Vergleich zwischen der Entwicklung dieser Kinder mit der Entwicklung von Kindern ohne Beeinträchtigung (Nielsen 1996b, 20) kam Nielsen zu der Grundannahme: Entwicklung verläuft in festgelegten, aufeinander aufbauenden Schritten (vgl. Lang/Hofer/Beyer 2017, 149).

So entwickelte sie im Jahr 2000 den »Beobachtungsbogen für mehrfachbehinderte Kinder« und 1997 den »FIELA-Förderplan« (= Flexible, Individual, Enriched, Level, Appropriate).

Als theoretische Grundlage der Beobachtungsbögen, also der vorangehenden Diagnostik, führt sie u. a. 30-jährige Erfahrung in Beobachtungen und verschiedene standardisierte Testverfahren an (vgl. Niesen 2001, 239).

Es wurde von der These ausgegangen, dass vornehmlich die sozial-emotionalen Entwicklung pädagogisch gefördert werden solle, damit diese dem intellektuellen Entwicklungsniveau angenähert wird, um eine »Übereinstimmung zwischen seinem Geist und seinen Gefühlen herzustellen« (vgl. Nielsen 1992, 19).

Als Leitgedanke gilt, dass nur durch eigenaktive Umweltauseinandersetzung Lernprozesse geschehen.

Ziele

Durch das Aktive Lernen und Handeln erhalten die Kinder und Jugendlichen Lernmöglichkeiten und somit sukzessiv die Voraussetzung für ein Lernen auf »höherem Niveau« (vgl. Nielsen 1996a, 141). Dies umfasst zunächst folgende Bereiche: das Erlernen von Kopfkontrolle, selbstständiges Sitzen, Stehen und Laufen, Essen sowie Objektkonzepte, Selbstidentität und Raumbeziehungen zu entwickeln, Sprechen und konstruktives Spiel zu erlernen und Kontaktaufnahme zu anderen (vgl. Nielsen 1996b, S. 16 f).

Für ältere Menschen mit Sehbehinderung besteht das Ziel darin, die Partizipation am gesellschaftlichen Leben zu fördern (vgl. www.erwachsenenbildung.at).

Übergeordnete Ziele beim aktiven Lernen sind das

•  »Herausführen aus der Passivität

•  Die Entwicklung einer Ich-Identität

•  Das Sich-Erleben als aktive Person« (Sandrock/Lux 2016, 4).

Grundgedanken

Dem Menschen wird die Möglichkeit eröffnet, Materialien und Umgebung zu erkunden, damit zu experimentieren, Aktivitäten zu initiieren (vgl. Nielsen 2001, 238).

Die fünf Grundgedanken des Konzepts des Aktiven Lernens umfassen:

1)  »Unterstützen des eigenaktiven Lernens durch Förderangebote

2)  Erkennen des richtigen Zeitpunkts beim Anbieten der Förderangebote

3)  Auswahl der den Bedürfnissen entsprechenden Förderangebote und Materialien

4)  Realistische Einschätzung des Entwicklungsniveaus des Kindes

5)  Nutzen dieser Einschätzung als Grundlage für die Gestaltung der Lernbedingungen, damit dem Kind die optimalen Möglichkeiten für eigenaktives Lernen durch Explorieren, Experimentieren und Wiederholung geboten werden« (Held und Lux 2014, 78).

Durch eine aktive Auseinandersetzung mit Objekten und der Umwelt lernen und profitieren sowohl Kinder und Jugendliche als auch Erwachsene.

Die stetige und fortlaufende Weiterentwicklung dieses Ansatzes durch Untersuchungen und Erfahrungen aus der praktischen Arbeit wird ausdrücklich gewünscht und als wichtig angesehen (vgl. Nielsen 2001, 237).

Nielsen stellt drei Voraussetzungen bei Einführung des Aktiven Lernens als grundlegend bedeutend heraus:

1)  umfassendes Wissen über den aktuellen Entwicklungsstand des Menschen und dessen Fähigkeiten, seine aktuelle Lernbereitschaft sowie die Lernentwicklung,

2)  die Qualität der Lernumgebung, also das Bereitstellen von Materialien und Gestalten einer Lernumgebung, die Aktivitäten ermöglicht, die den Menschen weder unter- noch überfordern, sodass die Umgebung anregungsreich und derart gestaltet ist, dass aktuelle Fähigkeiten eingesetzt und die nächsten Entwicklungsschritte angeregt werden können – dies möglichst in allen Entwicklungsbereichen,

3)  die Haltung und Mitarbeit des Leiters, dies bedeutet, dass der Leiter sich in seiner Aktivität zurücknehmen und dem Menschen genug Zeit geben soll; dabei betont Nielsen, dass es vermieden werden solle, das Kind/den Jugendlichen/den Erwachsenen zu halten, da dies Eigenaktivität verhindere; ebenfalls wird von einer Fokussierung der Defizite abgeraten und eine kompetenzorientierte Sichtweise bevorzugt (vgl. Nielsen 2001, 242 und Nielsen 1996b, 19 f).

Die Rolle und Aufgabe des Pädagogen in der Zusammenarbeit mit Kindern sind gekennzeichnet durch:

•  »Akzeptanz des Kindes in seiner Persönlichkeit und Individualität

•  Auflösung der engen Kind-Betreuer-Symbiose/Ich-Du-Situation

•  Keine Intervention während des Lernvorgangs« (Sandrock/Lux 2016, 5).

Pädagogische Methoden sind hierbei aufeinander aufbauend in fünf Phasen gegliedert:

1.  Phase: die Methode des Anbietens; dies umfasst, optimale Lernbedingungen zu schaffen durch Umgebungsgestaltung und Kontaktaufnahme sowie die Voraussetzungen und Bedürfnisse des Kindes zu eruieren durch Beobachtung

2.  Phase: die Methode des Nachahmens (der Imitation), um das Interesse an Aktivitäten zu wecken, Eigeninitiative und Selbstvertrauen zu fördern und neue Aktivitäten anzubahnen

3.  Phase: die Methode der Interaktion (der sprachlichen Begleitung)

4.  Phase: die Methode der Arbeitsteilung (des gemeinsamen Tuns)

5.  Phase: die Methode der Konsequenz (vgl. Nielsen 1992, S. 63 ff)

Zu Beginn steht eine diagnostische Phase anhand des von Nielsen 2000 entwickelten »Beobachtungsbogen für mehrfachbehinderte Kinder« zu 19 Inhaltsbereichen: Grobmotorik, Feinmotorik, Mundmotorik, visuelle Wahrnehmung, auditive Wahrnehmung, haptisch-taktile Wahrnehmung, olfaktorische und gustatorische Wahrnehmung, räumliche Wahrnehmung, Objektwahrnehmung, Sprache nonverbal, Sprache verbal, Sprachverständnis, soziale Kompetenz, emotionale Kompetenz, Spielverhalten, Sauberkeitserziehung, An- und Ausziehen, Hygiene und Essfertigkeiten (vgl. Nielsen 2012).

Der Beobachtungsbogen dient als Grundlage für die Erstellung eines individuellen Lernprogrammes. Zudem bietet er bei einer Planung und Auswahl der Förderangebote Struktur und Sicherheit sowie ebenfalls eine Kenntnis darüber, welche Fortschritte zu erwarten sind (vgl. Nielsen 2001, 239 f). Darauf folgt der FIELA-Förderplan mit 730 Fördervorschlägen. Hierzu gehört ein Handbuch, ein Arbeitsordner mit den Fördervorschlägen auf einzelnen Klettkarten und eine Kletttafel, mit Hilfe derer man ein individuelles Förderprogramm für ein Kind mit komplexen Beeinträchtigungen zusammenstellen kann entsprechend seines individuellen Entwicklungsstandes (vgl. Nielsen 2006).

Die 730 Karten mit Fördervorschlägen, die je nach individuell ermittelten Entwicklungsstand und Bedürfnissen des Menschen auf einer Kletttafel befestigt werden, können flexibel ausgetauscht, angepasst und auch selbst ergänzt werden (vgl. Nielsen 2006, 23)

Diese Karten beinhalten jeweils eine Förderaktivität, den Inhaltsbereich und das Entwicklungsniveau und sind farblich gekennzeichnet – je nachdem ob die Aktivität entweder dem fein- oder/und grobmotorischen Bereich zuzuordnen ist (vgl. Held/Lux 2014, 79 f).

Um das Aktive Lernen zu fördern, entwickelte Nielsen ebenfalls einige Materialien, von denen der Kleine Raum (Little Room) am bekanntesten ist. Weitere Materialien sind die Stützbank, das Essef-Brett und das HOPSA-Dress sowie zahlreiche andere, wie bspw. Resonanzplatte, Klangeimer, Goldplatte, Aktivitätsweste, Positionsplatte, Schatzkiste, Kratzbrett, Sensitar und Harfe (vgl. Nielsen 1996b, 83 ff und Nielsen 1993).

Vor- und Nachteile; kritische Reflexion

Kritisiert wird die Vernachlässigung einer grundlegenden theoretische Fundierung (vgl. Gömann 2010). Dies wird insbesondere an dem heutzutage veralteten Entwicklungsmodell einer stufenweisen Entwicklung deutlich, bei dem der Individualität des Kindes keine Beachtung geschenkt wird. Gömann spricht in diesem Zusammenhang von »dramatischer Vereinfachung komplexer Entwicklungszusammenhänge« und »einer völlig willkürlichen Materialanwendung« (2010, 108).

Positiv ist anzumerken, dass der Ansatz des Aktiven Lernens Eigenaktivität auslöst und sehr benutzerfreundlich in der Durchführbarkeit ist (vgl. Lang/Heyl 2021, 137).

Ebenfalls bieten die von Nielsen entwickelten Materialien, die Beobachtungsbögen sowie die 730 Fördervorschläge umfassende und wertvolle Anregungen für die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit und ohne Beeinträchtigungen.

Evaluation

Nielsen führte 1976 mehrere Untersuchungen zu Entwicklungsniveaus von Kindern mit Beeinträchtigung des Sehens und der geistigen Entwicklung durch. Weitere Forschungen in den Jahren 1984 und 1987 zum räumlichen Vorstellungsvermögen wurden als Dissertation anerkannt. Zudem werden weitere Studien von Nielsen erwähnt aus anderen Bereichen in den Jahren 1990 bis 1999, die sie als weitere Belege der Bedeutung des Aktiven Lernens anführt. Maßstab hierfür bildet die Lernentwicklung von Kindern ohne Beeinträchtigungen (vgl. Nielsen 2001, 237 f).

Ebenso gibt es Forschungsarbeiten für ältere Menschen mit Sehbehinderung, die in vier europäischen Ländern an der VISAL-Studie (»Visually Impaired Seniors Active Learning«) teilnahmen, mit dem Ziel, den spezifischen Lernbedürfnissen älterer Menschen mit Sehbehinderung entgegenzukommen, um aktiv die gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen (https://www.blindenverband.at/de/projekte/projektearchiv/81/VISAL).

Fortbildungen/Qualifikation

Das pädagogische Konzept nach Nielsen wird in zahlreichen Institutionen und Förderschulen mit dem Schwerpunkt Sehen und geistige Entwicklung genutzt.

Fortbildungen im deutschsprachigen Raum gibt es zum Beispiel bei:

•  Johann Wilhelm Klein Akademie: www.jwk-akademie.de

•  Kurshaus Louis-Braille-Schule: www.louis-braille-schule.lvr.de

•  Österreich: www.bildungsplattform.info, https://erwachsenenbildung.at/aktuell/nachrichten/7908-aktives-lernen-fuer-blinde-und-sehbehinderte-seniorinnen.php

Literatur und Internetseiten

Gömann, S. (2010). Diagnostik und Förderung bei schwerstbehinderten Kindern und Jugendlichen mit Sehschädigungen (75–121). Würzburg: Edition Bentheim.

Held, M./Lux, St. (2014). Sehen plus 2.0: Beratung und Unterstützung sehbehinderter und blinder Schüler mit weiterem Förderbedarf (78–81). Würzburg: Edition Bentheim.

Lang, M./Hofer, U./Beyer, F (2017). Didaktik des Unterrichts mit blinden und hochgradig sehbehinderten Schülerinnen und Schülern. Band 1: Grundlagen. 2. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer.

Lang, M./Heyl, V. (2021). Pädagogik bei Blindheit und Sehbehinderung (136–137). Stuttgart: Kohlhammer.

Nielsen, L. (1992). Bist du blind? Würzburg: Edition Bentheim.

Nielsen, L. (1993). Das Ich und der Raum. Würzburg: Edition Bentheim.

Nielsen, L. (1995). Greife und du kannst begreifen. 2. Auflage. Würzburg: Edition Bentheim.

Nielsen, L. (1996a). Mehrfachbehinderte Menschen – Trainingsobjekte oder Subjekte im Dialog. In Döring, W. und W./Dose. G./Stadelmann, M. (Hrsg.), Sinn und Sinne im Dialog (141–153). Dortmund: borgmann.

Nielsen, L. (1996b). Schritt für Schritt: frühes Lernen von sehgeschädigten und mehrfachbehinderten Kindern. Würzburg: Edition Bentheim.

Nielsen, L. (2001). Der Ansatz des Aktiven Lernens (ALA). Philosophie –Theorie – Anwendung. In Fröhlich, A./Heinen, N./Lamers, W. (Hrsg.), Schwere Behinderung in Praxis und Theorie – ein Blick zurück und nach vorn (235–244). 3. Auflage. Düsseldorf: verlag selbstbestimmtes leben.

Nielsen, L. (2006). Der FILA-Förderplan. 730 Fördervorschläge. Konkrete Beispiele zum Aktiven Lernen von sehgeschädigten und mehrfachbehinderten Kindern. 2. Auflage. Würzburg: Edition Bentheim.

Nielsen, L. (2012). Beobachtungsbogen für mehrfachbehinderte Kinder. Entwicklungsniveau: 0–48 Monate. 2. Auflage. Würzburg: Edition Bentheim

Sandrock, H. /Lux, St. (2016). Der Ansatz des Aktiven Lernens in der Arbeit mit mehrfachbehindert-sehgeschädigten Schülerinnen und Schülern. Entwicklung – Spezifische Medien – Umsetzung in der Praxis. Universität Dortmund. Didaktikpool ISaR Projekt https://www.yumpu.com/de/document/view/10654329/didaktikpool-isar-projekt

 

https://www.pathstoliteracy.org/blog/remembering-lilli-nielsen-and-her-legacy-active-learning

https://activelearningspace.org/

https://www.tsbvi.edu/active-learning-page

https://www.nationaldb.org/info-center/educational-practices/active-learning/

https://www.lilliworks.org/

www.mojrebenok.narod.ru

https://www.blindenverband.at/de/projekte/projektearchiv/81/VISAL

B.A.S.E. Babywatching® nach Brisch

Adriana Palmieri

Autor

Karl Heinz Brisch (* 1955, Trier).

Biografie

Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Neurologie; Kinder- und Jugendlichenpsychiater und Psychotherapeut; Psychiater; Psychoanalytiker; spezialisiert in Psychotraumatologie.

Entstehung

B.A.S.E. Babywatching®, das von Karl Heinz Brisch 2004 als bindungsbasierte Methode für den Einsatz in Kindertageseinrichtungen eingeführt wurde, verfolgt die Ziele, Feinfühligkeit und Empathie zu fördern sowie die Prävention von Angst und Aggression.

Den wissenschaftlichen Hintergrund zu B.A.S.E.® bildet die Arbeit Henri Parens (*1928), eines Psychiaters und Psychoanalytikers, der sich aufgrund seiner eigenen schmerzvollen Erfahrungen im Holocaust sowie dem Leid der Millionen von Opfern des nationalsozialistischen Regimes für die Erforschung der Ursachen von Hass und Rassismus als auch für deren Prävention engagierte. Henri Parens und seine Mitarbeiter des Early Child Development Program begannen 1970 mit einer Studie, in der sie 16 Mutter-Kind-Paare über 37 Jahre lang intensiv beobachteten.

Klientel/Zielgruppen

B.A.S.E.® wird eingesetzt in Kindertageseinrichtungen, Familienbildungszentren, Grundschulen, weiterführende Schulen, Förderschulen, dem MOSES® Therapiemodell (Stationäre bindungsbasierte Intensivpsychotherapie), im SAF® Programm (Sichere Ausbildung für Eltern), ebenso wie in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften. Weitere Einsatzmöglichkeiten sind denkbar (vgl. Brisch 2018). So gab es Pilotprojekte, bei denen B.A.S.E.® erfolgreich in der Arbeit mit älteren, an Demenz erkrankten Menschen eingesetzt wurde (vgl. Pohl 2017). Ein Einsatz von B.A.S.E.® zur Empathie-Schulung verschiedener Berufsgruppen wie beispielweise pädagogischer Mitarbeiter, Therapeuten, Pflegepersonals ist ebenso sinnvoll (vgl. Brisch 2018).

Altersstufen

Ursprünglich für die Arbeit mit Kindern im Alter von 3–12 Jahren entwickelt, wird es mittlerweile für Menschen verschiedener Alters- und Lebensphasen genutzt (vgl. Brisch 2018).

Setting

Eine Mutter/ein Vater besucht mit einem nur wenige Wochen alten Säugling wöchentlich eine Gruppe, zum Beispiel eine Schulklasse oder eine Kindergartengruppe. Durch die Interaktionsbeobachtung und eine spezielle Fragetechnik des B.A.S.E.®-Gruppenleiters werden die TeilnehmerInnen motiviert, sich in Handlungen, Gefühle und Intentionen der Mutter/des Vaters und des Säuglings hineinzuversetzen (vgl. Brisch 2021).

Häufigkeit/Dauer

Die wöchentlichen Treffen dauern ungefähr 30 Minuten. In der Regel endet das Projekt mit der Vollendung des ersten Lebensjahres des Säuglings.

Anwender/Berufsgruppen

(Heil-)Pädagogen, Sozialpädagogen, Sonderpädagogen, Pädagogische Fachkräfte, Hebammen, Psychotherapeuten und Lehrer.

Theoretische Bezüge

Eine sichere Bindung ist ein grundlegendes Bedürfnis. Sie vermittelt das Gefühl von Sicherheit, reduziert Stress und ermöglicht Exploration (Bowlby 2007, nach Brisch 2018). Sie ist deshalb die Grundlage einer gesunden körperliche und emotionale Entwicklung (vgl. Suess/Grossmann/Sroufe 1992, nach Brisch 2018). Doch nicht immer gelingt der Aufbau sicherer Bindungen. Durch die Anpassung eines Säuglings an die zur Verfügung stehenden Bindungspersonen kommt es zur Bildung eines individuellen Bindungstyps. Werden die Bedürfnisse des Säuglings in der Interaktion mit der Bezugsperson gar nicht, unzureichend oder inkonsistent beantwortet, dann begünstigt dies die Entwicklung einer unsicheren Bindung (vgl. Brisch 2015).

Im Rahmen eines Forschungsprojektes im Bereich frühkindlicher Bildung in Philadelphia führten Parens (als Leiter) und seine Mitarbeiter zu Beginn der 1970er Jahre eine über 37 Jahre andauernde Langzeitstudie mit 16 Mutter-Kind-Paaren durch. Sie erforschten den Zusammenhang zwischen der Bindungsqualität und dem Aggressionsprofil von Kindern. Parens, der die Ursachen feindlich-destruktiver Verhaltensweisen ergründen wollte, kam zu dem Schluss, dass nicht alle Formen aggressiven Verhaltens als gleichsam feindselig oder destruktiv anzusehen sind. Ebenso stellte er fest, dass nicht jedes aggressive Verhalten angeboren ist. Feindselige Destruktivität, das meint jene Art von Aggression, die sich als Wut und Hass gegen andere Menschen richtet, konnte in den Zusammenhang mit dem Erleben exzessiver Unlust und psychischen Schmerzes gesetzt werden. Aggressives Verhalten erschien so als eine unmittelbare Reaktion auf die Aktivierung eines angstmotivierten Selbstschutzes auf eine wahrgenommene Bedrohung.

Parens (2010, 14) Formel hierzu besagt:

•  Unlust/Psychischer Schmerz führt zu feindseliger Destruktivität.

•  Je mehr Unlust und psychischen Schmerz Kinder erfahren, desto mehr Destruktivität entsteht.

Die Umkehrung der Aussage gibt wichtige Hinweise für die Gewaltprävention:

•  Je besser Kinder vor unnötigen Erfahrungen übermäßiger Unlust und psychischen Schmerzes geschützt werden, umso weniger feindselige Destruktivität wird in ihnen erzeugt.

Mit dem Ziel, vorbeugende Maßnahmen zu entwickeln, konzeptualisierten er und seine Mitarbeiter deshalb Materialien zur Elternschulung und setzten diese erfolgreich bei den Probanden ein (Parens 2007). Indem die Eltern die Bedürfnisse ihrer Kinder besser verstehen und begleiten lernten, wurden sie befähigt, sichere Bindungen aufzubauen. Die Veränderung des elterlichen Erziehungsverhaltens trug dazu bei, dass die Probanden, im Vergleich zu anderen Kindern aus ihrem sozialen Umfeld, günstigere Aggressionsprofile entwickelten und auch in Hinblick auf ihre Schullaufbahn erfolgreicher waren. Es gingen auch weniger Kränkungen aus der Mutter-Kind-Interaktion hervor. Zudem konnten die Mütter ihr Wissen auf die Erziehung ihrer anderen Kinder übertragen und eine positivere Einstellung gegenüber ihren Kindern und zu sich selbst entwickeln (vgl. Parens 2007).

Eine spätere Anpassung der Materialien für den Einsatz in Schulen und Kindergärten ließ es zu, bereits sehr junge Menschen auf die verantwortungsvolle Aufgabe einer Elternschaft vorzubereiten.

Parens Auffassungen zu den Ursachen von Aggression stehen im Einklang mit den Ansichten Bowlbys (1988) und Ainsworth, Blehars, Waters und Walls (1978). Ihr Konzept zur Entstehung von Aggression sieht diese als unvermittelte Reaktion auf die Aktivierung eines Angstverhaltens, welches im Anbetracht einer wahrgenommenen Bedrohung zum Zweck des Selbstschutzes gezeigt wird.

Doch auch die Interpretation sozialer Situationen und damit verbunden die Wahrnehmung von Bedrohung hängt stark von den individuellen Bindungserfahrungen ab. So stellten Dodge, Bates und Pettit (1990) (vgl. Wendt 1997) beispielsweise fest, dass Kinder, die frühkindliche Misshandlungen erlitten hatten, Situationen inadäquat verarbeiteten und eher als bedrohlich erlebten. Soziale Situationen wurden schlechter verstanden, die Kinder neigten zu Misstrauen und unterstellten anderen eher feindselige Absichten. Bei sicherer Bindung indes können Situationen anders, sicherer erlebt und verarbeitet werden. Der Rückgriff auf mehr Handlungsoptionen ist möglich und Aggression wird weniger notwendig.

Ein bedeutender Faktor für den Aufbau einer sicheren Bindung ist die Feinfühligkeit der Bezugsperson. Ein Säugling sucht insbesondere dann die Nähe zu seiner Bezugsperson, wenn er Angst erlebt. Das Nähe-Suchen geschieht durch Blickkontakt, dem Nachfolgen oder der Herstellung von Körperkontakt. »Feinfühliges Verhalten« besteht dann darin, diese Signale wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und sie angemessen und prompt zu befriedigen (vgl. Brisch 2015). Die Fähigkeit zur Feinfühligkeit und im weitesten Sinne die Empathie beinhalten, sich in Handlungsabsichten, Gefühle, Motivation und Gedanken eines Gegenübers hineinzuversetzen (vgl. Brisch 2015). Unterschieden wird hierbei zwischen affektiver und kognitiver Empathie. Wobei kognitive Empathie eher die Interpretation mentaler Zustände beim Gegenüber meint, wohingegen die affektive Empathie eine Art mitfühlende Resonanz bezeichnet (vgl. Brisch 2018). Empathie beschreibt allerdings keine grundsätzliche Identifikation mit dem Gegenüber, wohl aber eine Teilidentifikation, die durch das emotionale Nachempfinden und Mitfühlen hervorgerufen wird. Es handelt sich um eine Art emotionales Mitschwingen, welches bei der Wahrnehmung unserer Umwelt aktiviert wird (vgl. Stern 2020). Es ist ein Prozess, der auch beim Babywatching eine große Rolle spielt. Die Fähigkeit zur Empathie als auch das Erleben dieser emotionalen Resonanz ist abhängig von Beziehungserfahrungen, der Bindungsqualität und dem affektiven Austausch mit der primären Bezugsperson (vgl. Köhler 2004 nach Kirsch 2014). So haben beispielweise Kinder, die nach frühen Traumatisierungen eine Bindungsstörung entwickeln, Schwierigkeiten, sich in die Gefühls- und Gedankenwelt anderer hineinzuversetzen (vgl. Fongagy u. a. 1998, Fongagy u. a. 2002 nach Hollerbach 2017).

Ziele

Hieran anknüpfend verfolgt B.A.S.E.® das Ziel, mit präventiven Maßnahmen sehr früh anzusetzen und die Entwicklung von Feinfühligkeit und Empathie zu unterstützen. Im Sinne eines Präventionskonzeptes geht es deshalb darum, aggressive und ängstliche Verhaltensweisen abzubauen. Stattdessen soll der Aufbau prosozialer Verhaltensweise gefördert werden (vgl. Hollerbach 2017). Darüber hinaus ermöglicht B.A.S.E.® den Kindern, das feinfühlige Verhalten eines Elternteils im Umgang mit seinem Säugling zu beobachten, mitzuerleben und diese Erfahrungen zu verinnerlichen.

Grundgedanken

Außerfamiliären Bildungseinrichtungen wie der Schule und dem Kindergarten sowie deren Fachpersonal kommen in Bezug auf die frühkindliche Entwicklung eine bedeutsame Rolle zu (vgl. Hüther 2003 nach Hollerbach 2017). Auch Erzieher und Lehrer sind Bezugspersonen der Kinder, zu denen sie eine Bindung aufbauen. B.A.S.E.® Babywatching setzt an dieser Stelle an, indem es innerhalb des institutionellen Rahmens der Einrichtungen allen Beteiligten die Gelegenheit bietet, die eigene Empathie- und Reflexionsfähigkeit zu verbessern und korrigierende Erfahrungen zu machen.

Das Projekt B.A.S.E®-Babywatching verläuft in drei typischen Phasen:

1.  Die erste Phase beinhaltet die Vorbereitung. Neben der Suche nach einer Mutter/einem Vater, welche/r die Arbeit unterstützen möchte, geht es zu Beginn auch darum, alle Beteiligten auf das bevorstehende Projekt einzustimmen. Hierzu zählen die Kinder, ihre Eltern und die Lehrkräfte sowie die Babywatching Mutter/Vater. Regeln werden vereinbart, Fragen werden geklärt und erste Kontaktaufnahmen finden statt.

2.  Die zweite Phase bildet den Hauptteil. Nun wird die Gruppe wöchentlich von der Mutter/dem Vater und dem Säugling besucht. Mit Hilfe der Fragetechnik des B.A.S.E.®-Gruppenleiters üben die Teilnehmer, sich in die Perspektiven der Mutter, des Vaters oder Babys hineinzuversetzen und diese zu erklären (vgl. Brisch 2018). Häufige Wiederholungen dieser Vorgehensweise über einen langen Zeitraum unterstützen die nachhaltige Verankerung. Im Rahmen der Fragerunden erleben die Kinder immer wieder, wie ein und dieselbe Situation sehr verschieden wahrgenommen und interpretiert werden kann. Das Auftreten und Bewusstwerden dieser Vielfalt beinhaltet wertvolle Erfahrungen für die Kinder. Das Setting des Babywatching bietet aber eben auch den Rahmen, hierüber in den Austausch zu treten und dieses bewusst zu reflektieren. Während sich das Baby von Woche zu Woche kontinuierlich entwickelt und verändert, entwickeln auch die Kinder ihre Fähigkeit zur Deutung und Interpretation emotionaler, kognitiver und intentionaler Zustände des Säuglings immer weiter und werden sicherer. Damit einhergehend, durch die gemeinsame Zeit, das gemeinsame Erleben vieler einmaliger Momente und die wachsende Beziehung gewinnen die Beteiligten an Bedeutung füreinander, lernen sich besser kennen und teilen gute Gefühle miteinander. Diese wichtige Komponente unterscheidet B.A.S.E.® von vielen anderen Vorgehensweisen und charakterisiert gleichzeitig die bindungsbasierte Ausrichtung dieser Arbeit.

3.  Der dritte und letzte Teil des Projektes ist der Abschluss des Babywatchings. Im Rahmen einer Feier werden die Erlebnisse gemeinsam reflektiert, individuelle und gemeinsame Fortschritte gewürdigt und die gegenseitige Wertschätzung und Dankbarkeit kann zum Ausdruck gebracht werden. Der Abschied wird sehr bewusst gestaltet und erlebt, so dass die liebevolle, wertschätzende Gestaltung einer Trennungssituation hier eine zentrale Lernerfahrung darstellt.

Vor- und Nachteile; kritische Reflexion

B.A.S.E.®-Babywatching kann für alle Beteiligten positive Erfahrungen beinhalten. Für Mütter und Väter, die als Babywatching-Eltern teilnehmen, ist die Zeit, in der sie sich ausschließlich mit ihrem Säugling beschäftigen, von besonderem Wert. Diese einmalige und sehr bewusste Situation grenzt sich deutlich von Alltagserfahrungen ab. Sie beschreiben, dass die Fragen des Gruppenleiters sowie die Rückmeldungen der Kinder helfen, die eigene Wahrnehmung für ihren Säugling zu verbessern. Auch die Beziehung zu den Kindern der Klasse, die Vertrautheit und die gemeinsame Zeit werden von den Eltern als sehr bedeutsam und wichtig beschrieben.

Lehrer und Erzieher schätzen das Babywatching oft, weil sie hier die Möglichkeit finden, die Kinder ihrer Klasse/ihrer Gruppe anders zu erleben und auch besser zu verstehen. Häufig werden hier bisher unbeachtete Fähigkeiten der Kinder bewusst gesehen. Immer wieder wird beschrieben, dass ihre Empathie als auch ihre Beziehungsgestaltung zu den Kindern durch das Babywatching positive Impulse erfährt.

Ein anderer Punkt ist die achtsame und entspannte Atmosphäre während der Babywatching-Stunden. Sie birgt für alle Beteiligten die Möglichkeit, in einem manchmal hektischen Alltag neue Energie zu schöpfen, Ruhe zu finden und sich eine neue Ausrichtung zu geben. Häufig wird dieser regenerierende Prozess als »auftanken« bezeichnet. Er führt zu einer Entspannung innerhalb der Gruppe und hierdurch zur Abnahme von stressbedingten Reaktionen. Viele Kinder können diese Atmosphäre gut für sich nutzen. Dies zeigt sich beispielsweise, indem Kinder, die während des Unterrichts häufig zurückgezogen sind, beim Babywatching ganz anders in Erscheinung treten und Ängste überwinden und sich am Geschehen beteiligen.

Auch als B.A.S.E.®-Gruppenleiter bietet das Babywatching Vorteile. Der Inhalt der Stunden richtet sich immer am aktuellen Geschehen aus, deswegen sind aufwendige Vorbereitung und Einarbeitung in Stundenkonzepte nicht erforderlich. Dies erweist sich unter realen Alltagsstrukturen häufig als Vorteil und trägt ebenso zur Stressreduktion bei. Da die Mütter und Väter ehrenamtlich teilnehmen, ist Babywatching eine relativ kostenneutrale Intervention – diese jedoch mit vielen positiven Auswirkungen. Allerdings gilt es sich vor Augen zu führen, dass Babywatching langfristig angelegt ist und deshalb dementsprechende Rahmenbedingungen benötigt (Ort, Raum, Personal und Eltern mit Kind).

Evaluation

In einer Pilotstudie wurden in einem Kindergarten Verhaltensauffälligkeiten von Kindern vor und nach einem Jahr Babywatching eingeschätzt (vgl. Brisch 2008).

»Es zeigten sich signifikante Unterschiede zwischen der Kontrollgruppe und der Interventionsgruppe nach Babywatching. Insgesamt fanden sich positive Effekte bei Jungen und Mädchen in der Interventionsgruppe im Vergleich mit der Kontrollgruppe. Die positiven Veränderungen betrafen sowohl externalisierende als auch internalisierende Störungen. Sowohl die Jungen als auch die Mädchen verhielten sich nach einem Jahr in der Einschätzung der Erzieherinnen und auch der Eltern weniger aggressiv, zeigten mehr Aufmerksamkeit und weniger oppositionelles Verhalten. Zusätzlich fanden sich positive Veränderungen bei internalisierenden Störungen, denn sowohl Jungen wie Mädchen waren auch weniger ängstlich-depressiv, zogen sich nicht so schnell zurück und waren in Konfliktsituationen emotional reaktiver. Nur die Mädchen in der Interventionsgruppe fielen nach Einschätzung ihrer Erzieherinnen dadurch auf, dass sie über weniger körperliche Beschwerden klagten, und nach der Einschätzung ihrer Eltern auch weniger Schlafstörungen hatten. Die Ergebnisse und Einschätzungen der positiven Veränderungen wurden von den Erzieherinnen und den Eltern jeweils in die gleiche Richtung angegeben. Bei der Kontrollgruppe konnten diese Veränderungen nicht festgestellt werden« (Brisch 2008, 126).

Im Rahmen eines Pilotprojektes, welches 2012 in Frankfurt startete, wurde B.A.S.E.® Babywatching an 25 Frankfurter Kindertageseinrichtungen eingeführt. 64 MitarbeiterInnen wurden in B.A.S.E.® ausgebildet und vier Mentorinnen begleiteten die Einrichtungen. Das Projekt fand in Kooperation mit der Abteilung Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie des Dr. von Haunerschen Kinderspitals am Klinikum der LMU München statt. Vier der Einrichtungen nahmen an einer Längsschnittstudie mit zwei Gruppen teil (Interventionsgruppe und Kontrollgruppe) (vgl. Hollerbach 2017). In der Elternbefragung konnte für die Kinder der Interventionsgruppe ein signifikanter Rückgang internalisierender und externalisierender Verhaltensweisen festgestellt werden. Des Weiteren zeichnete sich eine Verbesserung der Emotionslesefähigkeit und der Empathie ab sowie eine Zunahme des Emotionsvokabulars. Im Alltag wurden die Kinder zudem von den B.A.S.E.®-Gruppenleitern sprachlich differenzierter erlebt. Die B.A.S.E.®-Mütter verhielten sich ihren Babys gegenüber feinfühliger als die Mütter aus der Kontrollgruppe (vgl. Brisch 2018).

Um zu erfassen, ob das B.A.S.E.®-Babywatching bei Erwachsenen als Mentalisierungs- und Empathie-Training wirkt, führten Knape, Krämer und Priewasser (2021) dieses mit modifizierten Bedingungen in einer Lehrveranstaltung mit Psychologiestudierenden durch. Dabei zeigte sich in der Pilotstudie ein eindeutiger Trend der Empathie-Verbesserung bei den B.A.S.E.®-TeilnehmerInnen, nicht so jedoch bei der Kontrollgruppe, die sich im Rahmen einer Vorlesung mit der Analyse der Qualität von Eltern-Kind-Interaktionen beschäftigte. Demzufolge könnte das B.A.S.E.®-Babywatching Programm zukünftig auch für angehende Psychologinnen und Psychologen oder in anderen pädagogischen und psycho-sozialen Berufsfeldern zur Förderung von Empathie sinnvoll eingesetzt werden. Knape, Krämer und Priewasser (2021) wollen weiter untersuchen, ob der Effekt der Empathie-Verbesserung in Zusammenhang mit der eigenen Bindungsrepräsentation der Teilnehmenden steht. Sie nehmen an, dass die Reflexion und das Hineinversetzen in Mutter, Kind und deren Interaktion bei den Beobachtenden die eigenen kindlichen Erfahrungen von Fürsorge und gegenseitigem Verständnis (re)aktiviert, was wiederum die Repräsentationen empathischen Verhaltens aktivieren könnte.

Fortbildungen/Qualifikation

Im Rahmen der eintägigen Ausbildung zum B.A.S.E.®-Gruppenleiter werden theoretische Informationen zur Durchführung von B.A.S.E.®-Babywatching, dessen historischer Hintergrund sowie wichtige Bindungsinhalte vermittelt. Anhand von Videobeispielen und einer Live-Demonstration mit einer Mutter/einem Vater und ihrem/seinem Baby wird die spezielle Fragetechnik von B.A.S.E.® eingeübt. Die Teilnehmer erhalten Informationsmaterialien für die Durchführung in der Kindergartengruppe oder in der Schulklasse. Nach dem eintägigen Ausbildungstag können die TeilnehmerInnen bereits das B.A.S.E.®-Babywatching in ihrer Einrichtung durchführen (https://www.khbrisch.de/fortbildungen/base.html).

Literatur und Internetseiten

Brisch, K. H. (2008). Bindung und Umgang. In Deutscher Familiengerichtstag (Hrsg.), Siebzehnter Deutscher Familiengerichtstag vom 12. bis 15. September 2007 in Brühl (Brühler Schriften zum Familienrecht, Band 15) (89–135). Verlag Gieseking Bielefeld.

Brisch, K. H. (2018). B.A.S.E.-Baywatching, an Attachment – Based Proga to Promote Sensitivity and Empathy and Counter Fear and Aggression. In S. M. Steele H., Handbook of attachemnt-based Intervention (339–359). New York: Guilford Publicationsm.

Brisch, K. H. Von B.A.S.E.® Allgemeine Inhalte: https://www.khbrisch.de/fortbildungen/base.html (abgerufen 24. Mai 2021).

Brisch, K. H. (2015). Bindungsstörungen. Stuttgart: Klett- Cotta.

Fonagy, G. E. (2019). Affektregulierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta.

Hollerbach, J. (2017). Kinder lernen Empathie, Gefühl und Sprache: »B.A.S:E.-Babywatching«. In K. H. Brisch, Bindung und emotionale Gewalt (50–59). Stuttgart: Klett- Cotta.

Jenny Roller-Spoo, E. M. (Regisseur) (2021). Zurück zur Freundlichkeit [ZDF Dokumentation].

Knape, F. C./Krämer, A./Priewasser, B. (2021, 14. Mai) B.A.S.E® Babywatching –- Das Erleben der Mutter-Kind-Bindung als Empathietraining für angehende PsychologInnen [Konferenzbeitrag]. Early Life Care Konferenz, Salzburg, Austria.

Natho, F. (2007). Bindung und Trennung. Dessau: Edition Gamus.

Parens, H. (2007). Heilen nach dem Holocaust. Weinheim: Psychosozial-Verlag.

Parens, H. (2010). Bindung, Aggression und die Prävention bösartiger Vorurteile. In B. Hellbrügge, Bindung, Angst und Aggression (12–46). Stuttgart: Klett- Cotta.

Parens, H. (2021). Parenting for emotional growth. Von Thomas Jefferson University: https://jdc.jefferson.edu/parentingemotionalgrowth/?utm_source=jdc.jefferson.edu%2Fparentingemotionalgrowth%2F1&utm_medium=PDF&utm_campaign=PDFCoverPages (abgerufen 24. Mai 2021).

Pohl, J. (2017). B.A.S.E.-Babywatching im Seniorenheim. In Brisch, K. H., Bindung und emotionale Gewalt (200–212). Stuttgart: Klett-Cotta.

Stern, D. (2020). Die Lebenserfahrungen des Säuglings. Stuttgart: Klett-Cotta.

Wendt, D. (1997). Entwicklungspsychologie. Stuttgart: Kohlhammer.

Basale Kommunikation nach Winfried Mall®

Autor

Winfried Mall (* 1952, Freiburg/Br.).

Biografie

Diplom-Heilpädagoge.

Entstehung

Das Konzept wurde in den 1980er Jahren entwickelt. Die erste theoriegeleitete Veröffentlichung stammt von 1980.

Basale Kommunikation nach Winfried Mall® »bezeichnet eine konkrete Möglichkeit, einem Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen ohne Vorbedingungen und ohne Voreingenommenheit zu begegnen, um so den Kreislauf positiver Kommunikation neu zum Schwingen zu bringen« (Mall 2008, 79).

Die Bezeichnung »Basale Kommunikation nach Winfried Mall®« ist seit 2006 markenrechtlich geschützt (vgl. Mall 2008).

Klientel/Zielgruppen

Menschen mit ausgeprägter kognitiver Beeinträchtigung; umfassender körperlicher Behinderung, Autismus-Spektrums-Störung, Schwerstmehrfachbeeinträchtigung; Menschen im Wachkoma; alte Menschen mit Demenz.

Altersstufen

Lebenslang.

Setting

Einzelsituationen.

Häufigkeit/Dauer

Alltagsbezogen oder in therapeutischem Setting (dann empfehlenswert: ca. 3–5 x/Woche für ca. 30 min.).

Anwender/Berufsgruppen

(Heil-)Pädagogen, Erzieher, Psychologen, Pfleger, Physiotherapeuten, Lehrer; Eltern und Angehörige; eine Qualifikation für die Methode sollte vorliegen.

Theoretische Bezüge

Theoretisch bezieht sich Mall grundlegend auf Watzlawick u. a. (1967) mit der Annahme »Man kann nicht nicht kommunizieren«, um damit sogleich zu verdeutlichen, dass jeder Mensch zur Kommunikation fähig ist, auch Menschen mit Behinderung. Weiterführend bezieht sich Mall u. a. auf Fröhlich (Basale Stimulation, 1978), Fuchs (tiefenpsychologisch fundierte Körperpsychotherapie; Funktionelle Entspannung 1974), Prekop (Festhaltetherapie 1980), Perls (Integrative Gestalttherapie 1976), Daniel Stern (Säuglingsforschung 1977); Papousek (Säuglings- und Kindheitsforschung 1980er Jahre), Tinbergen (Theorie zu Autismus 1984).

Sein Konzept begründet Mall insgesamt mehr aus pragmatischen Überlegungen heraus (Pitsch 2017, 179), stets orientiert an grundlegenden Menschenrechten sowie dem Grundsatz »Nichts über uns ohne uns!« der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung (vgl. Mall 2019).

Ziele

Basale Kommunikation (BK) »dient dem Aufbau menschlicher Beziehungen, indem der Körper unmittelbar zur Kommunikation eingesetzt wird« (Pitsch 2017, 179). Basale Kommunikation bezeichnet eine spezifische Weise des Kommunikationsaufbaus mit Menschen, »die nicht über verbale oder sonstige, Symbole benutzende Kommunikationsweisen kommunizieren können, bzw. die nicht vorrangig Ansätze intentionaler (absichtsvoller) Kommunikation zeigen« (Mall, https://www.basale-kommunikation.ch/bk_konzept.html).

Basale Kommunikation ist keine Methode der Förderung im engeren Sinne, sondern sie hat das Ziel, wirkliche Begegnung auf Augenhöhe zu ermöglichen und damit einen Ansatzpunkt zu schaffen, an dem Förderung ansetzen kann, d. h. eine entwicklungsförderliche Situation zu schaffen (vgl. Mall 1984; Mall 2019).

Basale Kommunikation nach Winfried Mall bietet die Möglichkeit, dem Menschen zu vermitteln (Mall 2019, 127):

•  »Du bist gut, so wie du bist. Du kannst dich ohne Voraussetzungen geborgen und gehalten erleben.

•  Du bist im Austausch, die Welt richtet sich nach dir und deinen Bedürfnissen. Du kannst im Kontakt zu einem Menschen zur Ruhe kommen, dich entspannen, Trost erleben.

•  Du kannst dich auf angenehme Weise in deinem Körper und über deinen Körper im Kontakt mit einem anderen Menschen erleben.

•  Deine gewohnten Muster dürfen sein. Es ist aber auch möglich, sie zu verändern, du bist nicht notwendig in ihnen gefangen. Es gibt Raum für Entwicklung, wenn du dazu bereit bist.«

Über BK sollen Erfahrungen wie Verständnis, Angenommensein und Interesse vermittelt sowie gleichzeitig Angst, Unverständnis, Verspannung und Panik abgebaut werden (vgl. Pitsch 2017, 179). Basale Kommunikation dient »zur Herstellung und Verbesserung der Beziehung (…) ausgehend von der Realität seiner wie meiner Situation, seiner wie meiner Möglichkeiten und Behinderungen« (Mall 1984, 6). Der von der Basalen Kommunikation intendierte Beziehungsaufbau bahnt einen Weg »über das Einklinken in zyklische Prozesse und deren Neugestaltung, die Veränderung des Erlebens bis hin zur Erneuerung emotionaler Zustände« (Pitsch 2017, 180).

Grundgedanken

Basale Kommunikation verfolgt die Grundannahme, dass jeder Mensch im Austausch mit seiner Umwelt steht. Sie kann »die Voraussetzungen für den Beginn einer Therapie schaffen, indem sie beim Aufbau einer guten, wechselseitigen Beziehung hilft, die für jede therapeutische Bemühung erforderlich ist« (Pitsch 2017, 179). Die vielfältigen körperlichen Verhaltensweisen werden für die Kommunikation genutzt.

Die Begegnung im Sinne der Basalen Kommunikation nach Winfried Mall folgt bewusst bestimmten Prinzipien (vgl. Mall 2019, 127):

•  Eine Haltung der Demut, die sich dem Gegenüber unterordnet und sich von ihm etwas sagen bzw. mitteilen lässt

•  Eine Begegnung erfolgt auf Augenhöhe, ein Austausch soll stattfinden und Wechselseitigkeit erfahren werden

•  Eine entwicklungsförderliche Situation soll ermöglicht werden

•  Es darf sich nicht hinter Methoden versteckt werden, sondern die direkte Begegnung gesucht und ausgehalten werden

•  Begegnung spiegelt sich in Atem und Rhythmus wider

•  Alles, was vom Gegenüber wahrnehmbar ist, wird als Ausdruck verstanden und sich darauf bezogen

•  Achtsamkeit gegenüber sich selbst und dem andren; Ambivalenzen offen wahrnehmen

•  Es wird von einem lebenslangen Lernen zur Erhöhung der Lebensqualität ausgegangen.

Mall beschreibt in seinen Überlegungen einen Kreislauf der Kommunikation, der aus vier Schritten besteht, die sich wiederholen: 1. Der Andere zeigt ein Verhalten. 2. Ich nehme sein Tun als Äußerung wahr. 3. Ich antworte mit einem passenden Tun. 4. Der Andere erlebt Antwort auf sein Tun.

Der Atmung bzw. dem Atem wird innerhalb der Kommunikation, angelehnt an Fuchs (1974), ein besonderer Stellenwert beigemessen, da der Atem in seinem Rhythmus als zentrale Lebensäußerung des Gegenübers verstanden wird (vgl. Mall 2008). Die Eigendynamik des Atems im Wechsel zwischen Aus- und Einatmen, Loslassen und Wiederbekommen wird beachtet.

Als weitere Kommunikationskanäle für schwer beeinträchtigte Menschen weist Mall auf Lautäußerungen, Berührungen und individuelle Bewegungsmuster hin. Diese können ausdrücken, wie sich jemand fühlt. Ein unmittelbarer »Körperkontakt erlaubt es auch, Bewegungen der Behinderten aufzunehmen, die eigenen Bewegungen daran anzupassen und diese allmählich zu verändern« (Pitsch 2017, 179).

Die gezeigten Verhaltensweisen werden durch den (Heil-)Pädagogen aufgegriffen (gespiegelt oder variiert). Zur Anregung von Kommunikation können ähnliche Verhaltensweisen, angelehnt an reguläre Entwicklungsverläufe, angeboten werden, wobei sich diese auf dem Entwicklungsniveau des Gegenübers befinden müssen. Es entsteht eine pädagogische Interaktion, die als Kooperation beschrieben wird und somit von einer Kompetenz des Behinderten ausgeht (vgl. Pitsch 2017).

Bedeutend ist, dass sich der (Heil-)Pädagoge mit seiner ganzen Person in die Beziehung begibt und sich nicht hinter technischem Instrumentarium methodischer Regeln versteckt (vgl. Mall 1984). »Die Echtheit der Begegnung ist zentraler Kern basaler Kommunikation« (Mall 1984, 6).

Mall gibt zu einem Gelingen einer geplanten Sitzung zahlreiche Hinweise, die eine optimale Situation ermöglichen können (vgl. Mall 1984, 2008). Dazu zählen u. a.: sich Zeit nehmen, Regelmäßigkeit sicherstellen, ein ruhiger Raum, bequeme Position einnehmen, sehr wenig, behutsam und leise sprechen. Es soll nur das angesprochen werden, was gerade aktuell ist (was getan, gefühlt oder gespürt wird). Der Pädagoge muss sich nicht streng an einen systematischen Ablauf halten, sondern kann kreativ und spielerisch Elemente einbinden, die ein individuelles Einstellen auf die und Spüren der Person ermöglichen (vgl. Pitsch 2017, 180). Das gegenseitige Spüren ist wichtig. Auf den Atem des Partners ist zu achten und zu versuchen, mit zu atmen. Ausdruckselemente (Ausatmung, Töne, Geräusche, Bewegungen) können aufgenommen und gespiegelt oder nachgeahmt werden. Jede Abwehrreaktion muss sensibel wahrgenommen und berücksichtigt werden.

Basale Kommunikation kann überall stattfinden, also nicht allein geplant in einem Raum. Auch im Alltag können entsprechende Hinweise bedacht und berücksichtigt werden (vgl. Mall 2008).

Für Mall ist es von Bedeutung, die Methode der Basalen Kommunikation an Bezugspersonen zu vermitteln, wobei hier ein intensiver Austausch und Reflexion wichtig ist. Eine Vermittlung erfolgt über Referate, Kurse, Beratung und vor allem über Selbsterfahrungsphasen. Auch hierfür gibt Mall zahlreiche Hinweise und praktische Anregungen für eine mögliche Umsetzung (1984, 2008).

Vor- und Nachteile; kritische Reflexion

Mall stellt selbst Notwendigkeiten und Grenzen heraus. Er betont durchgängig die Bedeutung eigener ganzer Beteiligung am Kommunikationsgeschehen. Grenzen erweisen sich, wenn das Gegenüber enorme Abwehrreaktionen zeigt, die es sensibel wahrzunehmen gilt (vgl. Mall 2008).

Der Umgang mit Widerstand wird thematisiert und reflektiert. Treten Ambivalenzen auf, z. B. Bedürfnis nach Kontakt und Beziehung vs. Kontaktvermeidung, so sind diese entschieden und echt zu beantworten, ohne den Anderen mit seinen Bedürfnissen zu ignorieren. Anstelle dessen sollte versucht werden, Vertrauen zu geben, und verantwortlich mit der Beziehung umgegangen werden (z. B. Kontinuität des Kontakts, deutlicher Umgang mit Grenzen) (vgl. Mall 2008).

Ein Ausschlusskriterium ist nach Mall, wenn die Person beginnt, willentlich zu reagieren, da Basale Kommunikation im vorbewussten Bereich angelegt ist. Bei vorhandener Reflexionsfähigkeit wäre es wichtig, dass es beiden Partnern gelingt, sich darauf einzulassen (vgl. Mall 1984).

Basale Kommunikation wird umso besser gelingen, je mehr der aktive Partner bei sich selbst, in seinem eigenen Rhythmus ist und je bewusster er mit sich in seinem Körper lebt (vgl. Mall 1998a).

Evaluation

Aufgrund der Komplexität und Beziehungsabhängigkeit lässt sich das Konzept schwer bis nicht empirisch überprüfen. Es finden sich keine Hinweise auf Evaluationsstudien, jedoch verschiedene Erfahrungsberichte und Expertenmeinungen, die eine Effektivität vermuten lassen (vgl. Pitsch/Thümmel 2015). Hierbei wird herausgestellt, dass sich die Wirksamkeit vor allem in Abhängigkeit vom Engagement der Bezugsperson erkennen lässt.

Fortbildungen/Qualifikation

»Um zu dieser Erfahrung gut anleiten zu können, muss man selbst körperbezogene Selbsterfahrungs- und Therapieansätze und deren Vermittlung fundiert kennen gelernt sowie eigene Erfahrung und längere Praxis mit Basaler Kommunikation und ihrem Einsatz in der Begegnungsgestaltung mit schwer beeinträchtigen Menschen gesammelt haben« (Mall 2008, 81).

Die Fortbildungskurse »Basale Kommunikation nach Winfried Mall®« werden über verschiedene Träger mit Winfried Mall oder autorisierten Personen (vgl. Mall 2008) als Referent(in) angeboten. Die Kurse sind für alle Menschen zugänglich, die privat oder beruflich mit dem Personenkreis zu tun haben. Die Kurse umfassen 16 bis 20 Unterrichtsstunden.

•  https://www.basale-kommunikation.ch/popup_veranstaltungshinweise.html

•  https://www.winfried-mall.ch/allgemein/basale_kommunikation_kurs.html

•  https://www.winfried-mall.ch/pdf/kursangebot_euro.pdf

Literatur und Internetseiten

Fuchs, M. (1974). Funktionelle Entspannung – Theorie und Praxis einer organismischen Entspannung über den rhythmisierten Atem. Stuttgart.

Fröhlich, A. (1978). Ansätze zur ganzheitlichen Frühförderung schwer geistig Behinderter unter sensomotorischem Aspekt. In Bundesvereinigung Lebenshilfe (Hrsg.), Hilfen für schwer geistig Behinderte – Eingliederung statt Isolation. Marburg: Lebenshilfe-Verlag

Lohse, M. (2006). Interview mit Wilfried Mall zur Basalen Kommunikation https://www.basale-kommunikation.ch/bk_interview.html

Mall, W. (1980). Entspannungstherapie mit Thomas. In Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 29. Jg, 8, 298–301.

Mall, W. (1984). Basale Kommunikation – ein Weg zum andern. In Geistige Behinderung 23. Jg., 1, 1–16.

Mall, W. (1993). Kommunikation – Basis der Förderung. In Frei, E.X., Merz, H.-P. (Hrsg.), Menschen mit schwerer geistiger Behinderung – Alltagswirklichkeit und Zukunft. Luzern.

Mall, W. (1997). Sensomotorische Lebensweisen – Wie erleben Menschen mit geistiger Behinderung sich und ihre Umwelt? Heidelberg: Edition Schindele.

Mall, W. (1998). Kommunikation mit schwer geistig behinderten Menschen – ein Werkheft. Heidelberg: Edition.

Mall, W. (1998a). Keine Förderung ohne Kommunikation. Referat zum 2. Bildungsforum des Vereins Miteinander. Linz. https://www.yumpu.com/de/document/read/16262822/keine-forderung-ohne-kommunikation-winfried-mall

Mall. W. (2003). Erleben im Austausch zu sein – Basale Kommunikation als Kommunikation ohne Voraussetzungen. In Bönisch, J., Bünk, Ch. (Hrsg), Methoden der Unterstützten Kommunikation. Karlsruhe: v. Loeper.

Mall, W. (2008). Kommunikation ohne Voraussetzungen. 6. Auflage. Heidelberg: Universitätsverlag Winter.

Mall, W. (2009). Kommunikation ohne Voraussetzungen – Einführung in die Basale Kommunikation nach Winfried Mall®. https://www.winfried-mall.ch/material/referat_basale_kommunikation.mp4

Mall, W. (2013). Referat zu Basaler Kommunikation: https://www.winfried-mall.ch/material/basale_kommunikation_referat_silvio.mp4

Mall, W. (2019). Menschen mit umfassender Beeinträchtigung Gehör verschaffen. In Teilhabe 3/2019, 58, 124–128.

Perls, F. S. (1976): Gestalt-Therapie in Aktion. 2. Auflage. Klett-Cotta, Stuttgart.

Pitsch, H.-J./Thümmel, I. (2015). Methodenkompendium für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Oberhausen: Athena.

Pitsch, H.-J. (2017). Basale Kommunikation. In Theunissen. G./Wüllenweber, E. (Hrsg.), Zwischen Tradition und Innovation – Methoden und Handlungskonzepte in der Heilpädagogik und Behindertenhilfe. (179–182). Marburg: Lebenshilfe-Verlag. Sowie: Hinweis zum Beitrag: https://www.basale-kommunikation.ch/popup_buch.html

Prekop, J. (1980). Förderung der Wahrnehmung bei entwicklungsgestörten Kindern. In Geistige Behinderung, 19. Jg., 2, 3–4

Stern, D. (1977). The First Relationship: Infant and Mother. Harvard University Press.

Tinbergen, N. u. E. A. (1984). Autismus bei Kindern. Fortschritte im Verständnis und neue Heilbehandlungen lassen hoffen. Hamburg: Parey.

Watzlawick, P./Beavin, Janet H./Jackson, Don D. (1967). Menschliche Kommunikation. Bern.

 

www.basale-kommunikation.ch

https://www.winfried-mall.ch/allgemein/literatur1.html

Basale Stimulation® nach Fröhlich

Autor

Andreas D. Fröhlich (* 1946, Mannheim).

Biografie

Pädagoge, Philosoph, Sonderpädagoge.

Entstehung

Das Konzept entstand Mitte der 1970er Jahre und ist 1975 erstmals veröffentlicht worden. Es wurde und wird fortlaufend aktualisiert, sowohl inhaltlich als auch klientelspezifisch, so dass sich »Basale Stimulation« von einer Methode zu einem umfassenden Konzept entwickelte (vgl. Ackermann 2007 in Mohr/Zündel/Fröhlich 2019).

Seit 2006 ist der Begriff »Basale Stimulation« markenrechtlich geschützt.

Klientel/Zielgruppen

Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit sehr schweren umfänglichen bzw. komplexen Beeinträchtigungen; Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung; Menschen mit schweren physischen oder psychischen Erkrankungen; Menschen im Koma bzw. Wachkoma; komatöse Patienten; Menschen mit gerontopsychiatrischen Problemen (z. B. Alzheimer; Demenz); Menschen, die in ihrer Wahrnehmungs-, Bewegungs- und/oder Kommunikationsfähigkeit schweren (ausgeprägten, komplexen, …) Einschränkungen unterworfen sind; Menschen in der Palliativversorgung; letztlich für alle Menschen, die nur über einfachste sensorische Angebote erreichbar sind.

Altersstufen

Lebenslang; von der Geburt an bis ins hohe Alter; aktuelle Überlegungen umfassen zudem eine Arbeit im (Kinder-)Hospiz.

Setting

Ursprünglich eine Einzelsituation; jetzt stärkere Betonung einer Integration in Alltagsaktivitäten (vgl. Fröhlich 2015, 11).

Häufigkeit/Dauer

Als Therapie in Einzelsituationen zeitlich begrenzt; alltäglich möglich; abgestimmt je nach Bedürfnislage, Aktivitäten des Alltags begleitend und Annahme durch den beeinträchtigten Menschen.

Anwender/Berufsgruppe

(Heil-)Pädagogen, pflegerische und therapeutische Fachkräfte aus der Gesundheits-, Kinder-, Kranken- und Altenpflege, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, Heilerziehungspfleger, Lehrer, pflegende Angehörige/Familienangehörige; alle mit spezieller Qualifikation.

Theoretische Bezüge

Das Konzept der Basalen Stimulation »hat sich stets unterschiedlicher wissenschaftlicher Inspirationsquellen bedient« (Mohr/Zündel/Fröhlich 2019, 19) und basiert dementsprechend auf mannigfachen Hintergrundwissenschaften (z. B. Soziologie, Psychologie, Medizin, Neurowissenschaften, Philosophie, Theologie) (vgl. ebd.).

Eine Balance von Theorie und Praxis ist dem Konzept zugehörig. Ein Ausbalancieren betrifft die Interaktion/Kommunikation, die Psychologie der Entwicklung, die Aspekte der Neurowissenschaften, die Gestaltung von Beziehung und Begegnung sowie Fragen zur angewandten Ethik der Unantastbarkeit menschlicher Würde und des individuellen Lebenswerts (vgl. Mohr/Zündel/Fröhlich 2019).

Der Begriff selbst verdeutlicht bereits theoretische Grundgedanken: dabei steht basal für »eine Basis schaffend, grundlegend und gleichzeitig voraussetzungslos« (Fröhlich 2003, 149) und Stimulation für eine Anregung bzw. Aktivität von außen. Basale Stimulation wurde anfangs eher als Methode gesehen, die es Pädagogen ermöglichte, in exklusiven Situationen mit schwer beeinträchtigten Kindern zu arbeiten. Aktuell wird Basale Stimulation als Konzept verstanden, welches alltagsübergreifende Bedeutung aufweist (vgl. Fröhlich 2003; vgl. Fröhlich 2015; vgl. Mohr/Zündel/Fröhlich 2019).

Nach Pitsch/Thümmel (2015, 35) beruht Basale Stimulation »auf einer anerkannten neurowissenschaftlichen, entwicklungspsychologischen, physiotherapeutischen und psychologischen Grundlegung«.

Ein erstes theoretisches Modell (3-P-Modell) ging von der Überlegung aus, dass Menschen, die bereits hirnverletzt bzw. -geschädigt sind, keiner erneuten »sensorischen Deprivation« ausgesetzt werden dürfen, da sie sonst im Sinne des Mediziners Pechstein eine zweite, deprivationsbedingte Hirnschädigung erhalten. Im Sinn von Piaget gilt die Wahrnehmung als Faktor für eine gute kognitive Entwicklung (Sensumotorische Intelligenz) und diese sollte im stärkeren Ausmaß dadurch gefördert werden, dass z. B. in der Physiotherapie nach der Bobath-Methode basale Anregungen gegeben wurden (vgl. Mohr/Zündel/Fröhlich 2019).

Weitere theoretische Überlegungen erfolgten zur Kommunikation und deren Funktionen (Kennzeichnung der Identität, Ausdruck des inneren Zustandes, Herstellen von Interaktion, Aufforderungen, Wissensvermittlung, Regulation von Beziehungen) sowie zur Ganzheitlichkeit im Hexagon-Modell von Haupt (sich bewegen, Menschen erfahren, Gefühle erleben, den eigenen Körper erfahren, kommunizieren, verstehen als gemeinsame Elemente von Wahrnehmung) (vgl. Fröhlich/Haupt 1993, vgl. Fröhlich 2015, vgl. Mohr/Zündel/Fröhlich 2019). Demnach hat sich »eine weitere Dreiheit entwickelt, die für das Konzept der Basalen Stimulation nach wie vor bestimmend ist. Bewegung, Wahrnehmung und Kommunikation bedingen einander wechselseitig« (Mohr/Zündel/Fröhlich 2019, 39). »Für den Zugang zum Adressaten wird das Zusammenspiel von Wahrnehmung, Bewegung und Kommunikation gestaltet und genutzt, nämlich über Körperarbeit. Die Interaktion (…) erfolgt mit dem Körper im Raum« (Liesen in Mohr u. a. 2019, 571).

Angelehnt an Argyle (1979) werden Überlegungen zu Formen kommunikativer Annährung einbezogen; als Elemente von Körpersprache gelten: Körperkontakt, Nähe, Orientierung, Blick, Augenbrauen, Körperhaltung, Gesichtsausdruck, Ton (vgl. Fröhlich 2015, 70 ff.).

Letztlich kann gesagt werden, dass Transdisziplinarität ein wesentliches Kennzeichen des Konzeptes der Basalen Stimulation darstellt. Fröhlich benennt als weitere einflussnehmende und ihn prägende Vertreter unter anderem Anna Freud, Hans Zulliger, Victor Frankl, Victor von Weizsäcker, Uri Bronfenbrenner sowie Bernhard Hassensteins (vgl. Fröhlich in Mohr u. a. 2019). »Die Zukunft wird zeigen, wie weit es gelingt, den Kreis der beteiligten Disziplinen noch auszuweiten und dennoch ein integratives Konzept zu behalten« (Fröhlich in Mohr u. a. 2019, 45).

Ziele

Basale Stimulation dient im Rahmen einer dialogischen Begegnung den Menschen »als Begleitung ihrer Lebensvollzüge, durch Gestalten fördernder Entwicklungsbedingungen und in der Beratung von Angehörigen« (Mohr/Zündel/Fröhlich 2019, 25). Das Konzept hat je nach Situation eine Unterstützung kohärenter »Selbstwahrnehmung, Gesundheit und Wohlbefinden, Bildung und Partizipation sowie die Selbstbestimmung« zum Ziel (ebd.).