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Kompakt und praxisnah vermittelt das Buch die Grundlagen interkultureller Arbeit in der Kita. Es gilt, den Umgang mit eigenen "kulturellen" Brillen und entsprechenden Erziehungsvorstellungen zu verstehen, und eine konstruktive Haltung im Umgang mit Vielfalt und Verschiedenheit einzunehmen. Daran schließt die konkrete pädagogische Arbeit in verschiedenen Bildungsbereichen an. Ein besonderes Augenmerk gilt im Buch den Eltern und Kindern mit oft traumatischen Fluchterfahrungen.
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Seitenzahl: 360
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Herausgegeben in Kooperation mit
Bettina Lamm (Hrsg.)
Handbuch Interkulturelle Kompetenz
Kultursensitive Arbeit in der Kita
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlagkonzeption: R·M·E Roland Eschlbeck/Rosemarie Kreuzer
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagabbildung: © Klara Killeit
Redaktion: Karsten Herrmann/Bettina Lamm
Fotos im Innenteil: Integrative Kita Wasserwerk/Markus Haselmann
Layout, Satz und Gestaltung:
post scriptum, Emmendingen/Hüfingen
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-451-81465-5
Inhalt
Vorwort
Was heißt interkulturelle Kompetenz? – Grundlagen und Begriffsbestimmungen für die pädagogische Praxis (Bettina Lamm & Anna Dintsioudi)
Teil 1: Wissen
1.1 Kulturelle Sozialisationsmodelle und Entwicklungspfade – Orientierungshilfen zum Verständnis kultureller Unterschiede (Bettina Lamm)
1.2 Migrant/in gleich Migrant/in? – Oder: Wie unterschiedlich kann das Ankommen sein? (Anna Dintsioudi)
1.3 Türkische Familien – Die größte Bevölkerungsgruppe mit Migrationshintergrund in Deutschland (Birgit Leyendecker)
1.4 Zugewanderte aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion – Einstellungen zu Erziehung, Bildung und Familie (Manuela Westphal)
1.5 Afrikanische Einwanderinnen und Einwanderer in Deutschland – Migrationsgeschichte(n), Erwartungen und Herausforderungen (Astrid Kleis)
1.6 Einblicke in die Lebenswelt von Kindern mit Fluchterfahrungen: Auf der Flucht – Ankommen in Deutschland – Neue Rollen und Herausforderungen (Swantje Decker)
1.7 Wie bringen wir Sahar nur zum Sprechen? – »Bewältigungsorientierte Sprachlernunterstützung« von Kindern mit Fluchterfahrung (Ulrike M. Lüdtke & Ulrich Stitzinger)
1.8 Der interkulturelle Ansatz in den Bildungs- und Orientierungsplänen – Ein Rahmen zur individuellen Ausgestaltung und konkreten Umsetzung (Jörn Borke)
Teil 2: Haltung
2.1 Professionelle pädagogische Haltung – zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Ein integrationsstarkes Selbst als Basis (Meike Sauerhering & Carolin Kiso)
2.2 »Will nicht mit ihr spielen!« – Haben Kinder etwa Vorurteile? (Lena Pejic)
2.3 Weiterbildung zur Interkulturellen Kompetenz – Eine professionelle Haltung im Umgang mit Vielfalt entwickeln (Maria Korte-Rüther & Gisela Röhling)
Teil 3: Handeln/Diversität leben
3.1 Bindung und Eingewöhnung – Vor dem Hintergrund einer zunehmend diversen und multikulturellen Gesellschaft (Ariane Gernhardt)
3.2 Schlafen, Mahlzeiten und Sauberkeitserziehung – Zum kultursensitiven Umgang mit Grundbedürfnissen in der Kita (Anja Schwentesius)
3.3 Alltagsbasierte kultursensitive Sprachbildung – Sprachstile und deren Wirkung auf die kindliche (Sprach-)Entwicklung (Anna Dintsioudi & Lisa Schröder)
3.4 Mehrsprachigkeit leben – Sprachliche Vielfalt in Kitas als Entwicklungschance für alle (Anja Bereznai)
3.5 Über den Körper zur Sprache kommen – Ressourcenorientierte Sprachförderung bei Kindern mit Migrations- und Fluchterfahrungen (Renate Zimmer)
3.6 »Wie siehst du die Welt?« – Wahrnehmung und Denken aus unterschiedlicher kultureller Perspektive (Paula Döge & Lisa Schröder)
3.7 Philosophie und Religion in der interkulturellen Praxis – Ausgangslage, Herausforderungen und Probleme (Helga Barbara Gundlach)
3.8 Musikalische Angebote kultursensitiv gestalten: Klänge, Rhythmen, Stimmen – hörbare kulturelle Vielfalt (Annette Zängle)
3.9 Die Welt trifft sich in der Kita – Zusammenarbeit mit immigrierten oder geflüchteten Eltern (Laura Bossong)
3.10 Schüchtern oder außer Rand und Band? – Kinder mit Fluchterfahrungen in der Früherziehung (Birgit Leyendecker)
3.11 Traumata und ihre Folgen – Stärkende Ansätze aus der Traumapädagogik für Kitas (Helga Reekers & Kerstin Gloger-Wendland)
3.12 Vernetzung und Kooperation – Anlaufstellen, Kontakt- Adressen und Internet-Links (Karsten Herrmann)
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Kenianische Mütter der Volksgruppe der Gusii meiden Blickkontakt zu ihren Säuglingen, um ihre Offenheit für eine Vielzahl unterschiedlicher Betreuungspersonen zu fördern. Japanische Eltern nehmen das herzzerreißende Weinen ihrer Kinder beim täglichen Abschied in der Krippe gelassen hin, denn dies zeigt ihnen, dass sie eine enge Beziehung zu ihrem Kind aufgebaut haben. Kamerunische Babys der Volksgruppe der Nso werden bereits in den ersten Lebensmonaten in Plastikeimer gesteckt, um möglichst früh das Sitzen zu lernen. Deutsche Eltern halten diese Praxis für Körperverletzung und sind der Überzeugung, dass Babys so viel wie möglich liegen sollten, um den Rücken zu schonen. Das wiederum beobachten die Nso-Mütter mit Skepsis, birgt es doch ihrer Auffassung nach die Gefahr, dass die Kinder steif werden.
Schon diese kurzen Beispiele zeigen, wie unterschiedlich die Erziehungs- und Sozialisationsvorstellungen in verschiedenen Kulturen sein können. Dennoch verbindet Eltern weltweit der Wunsch und der Anspruch, ihren Kindern die bestmögliche Versorgung und Förderung zukommen zu lassen. Was also auf den ersten Blick absurd oder gar entwicklungshinderlich erscheint, stellt eine Anpassung an die jeweiligen Lebensbedingungen und kulturell verfolgten Erziehungsziele dar. Alle Eltern möchten, dass ihre Kinder gesund und in Sicherheit aufwachsen und die notwendigen Kenntnisse und Praktiken erwerben, um ein erfolgreiches Leben zu führen. Welche Kompetenzen dafür aber nötig sind und wie die Gesundheit sichergestellt werden kann, unterscheidet sich deutlich in den unterschiedlichen kulturellen Kontexten.
Im Alltag sind wir uns der Kulturbedingtheit unseres Wahrnehmens, Interpretierens und Handelns, unserer Werte und Ziele nur selten bewusst. Meist fällt uns erst in der Ferne, bei der Konfrontation mit dem Fremden auf, wie sehr die Kultur unser Leben prägt und wie tief verwurzelt bestimmte Überzeugungen und Verhaltensroutinen sind. Intuitiv sind wir der Überzeugung, die eigene, vertraute Art und Weise der Erziehung sei die einzig Mögliche und Richtige. Wir sehen die Welt also durch unsere eigene, von der Geburt an mitgewachsene kulturelle Brille.
Kultur ist dabei nicht nur von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent unterschiedlich, sondern in jedem Land selbst gibt es unterschiedliche Kulturen, die durch Tradition, Religion, Sprache und insbesondere auch sozio-ökonomische Faktoren geprägt sind. Idealtypisch sind hier zwei gegensätzliche Kontexte, die mit verschiedenen kulturellen Modellen verbunden werden, zu unterscheiden:
In der westlichen Mittelschicht ist das kulturelle Modell der »Psychologischen Autonomie« vorherrschend. Es ist auf Individualität, Eigenständigkeit und Unabhängigkeit ausgerichtet.
Das Modell der »Hierarchischen Verbundenheit« dominiert in traditionellen dörflichen Gemeinschaften und ist für viele Migrantinnen und Migranten kennzeichnend; es betont soziale Verpflichtung und Verantwortung sowie Gehorsam und Respekt.
Interkulturelle Kompetenz besteht im Kern in der Fähigkeit, sich der kulturellen Brille und ihrer Perspektivgebung bewusst zu werden und die Welt auch einmal mit Empathie und Wertschätzung durch eine andere Brille sehen zu können.
In einem Zuwanderungsland wie Deutschland wird die Interkulturelle Kompetenz zunehmend zu einer unverzichtbaren Schlüsselkompetenz. Die Frage nach der Integration der in den letzten Jahren aus den Kriegs- und Krisenregionen der Welt nach Deutschland geflüchteten Menschen hat die Aktualität dieses Themas noch einmal eindrucksvoll unterstrichen und es nach ganz oben auf die Agenda befördert. Doch ganz unabhängig von dieser aktuellen Herausforderung haben viele Kitas und Tagespflegepersonen schon seit Jahren und Jahrzehnten Erfahrung im Umgang mit anderen Kulturen. Bereits heute hat jedes dritte Kind in Deutschland einen Migrationshintergrund, und die Tendenz ist steigend.
Kindertageseinrichtungen und die Kindertagespflege können bei der Integration von Kindern und Familien mit Migrations- oder Fluchthintergrund eine Schlüsselrolle einnehmen. Sie bieten Orte der Vielfalt, Orte für gemeinsames Lachen, Spielen, Forschen und Entdecken. Hier können die Kinder sichere Beziehungen, Teilhabe und Selbstwirksamkeit erleben und sich Stück für Stück die Welt erobern. Eine zentrale Bedeutung kommt dabei sicherlich der alltagsintegrierten Sprachbildung und -förderung zu. Damit die Kindertagesbetreuung bestmöglich zur Persönlichkeitsentwicklung und Sozialisation der Kinder beitragen und die Bildungschancen aller Kinder wahren kann, sind eine kultursensitive Gestaltung des pädagogischen Alltags und ein konsequentes Mitnehmen und Miteinbeziehen der Eltern unabdingbar.
Dieser Herausforderung begegnen die pädagogischen Fachkräfte, wenn sie ihre interkulturelle Kompetenz in Aus- und Weiterbildung weiterentwickeln und ausbauen. Entscheidende Bausteine sind hier – wie im gesamten Professionalisierungsprozess – neben grundlegendem Wissen die ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstreflexion und eine damit eng zusammenhängende pädagogische Grundhaltung, die einen offenen, empathischen und wertschätzenden Umgang mit den verschiedenen Kulturen ermöglicht. Hierzu möchte das vorliegende Buch einen Beitrag leisten und dabei sowohl Grundlagen- und Hintergrundwissen als auch praxisbezogene Ansätze für den Umgang mit kultureller Vielfalt im Kita-Alltag vermitteln.
Die Interkulturelle Kompetenz ist dabei im übergreifenden Kontext des Umgangs mit Vielfalt und letztlich eines inklusiven Bildungssystems anzusiedeln. Es geht darum, Vielfalt in all ihren kulturellen und individuellen Ausprägungen als Chance und Ressource anzusehen – denn je verschiedener wir sind, umso mehr können wir voneinander lernen!
Bettina Lamm & Karsten Herrmann
Grundlagen und Begriffsbestimmungen für die pädagogische Praxis
Bettina Lamm & Anna Dintsioudi
Interkulturelle Kompetenz ist zum Schlagwort in den öffentlichen Debatten um wachsende Globalisierung sowie zunehmende Migrations- und Fluchtbewegungen geworden. Bildungspolitiker und Medien fordern gleichermaßen, dass frühkindliche Bildungseinrichtungen als Brücken zu gesellschaftlicher Integration und zur Herstellung von Chancengleichheit für alle Kinder fungieren. Die Bedeutung von kultureller Vielfalt wird sowohl im bundesweit gültigen Rahmenplan für die Gestaltung von früher Bildung in Kindertagesstätten als auch in den Bildungs- und Orientierungsplänen der einzelnen Bundesländer sowie im Kinder- und Jugendhilfegesetz betont (vgl. Borke 2013 sowie Kapitel 1.8).
Dabei spiegelt kulturelle Vielfalt nicht erst seit Kurzem die gesellschaftliche Realität in Deutschland wider. Pädagogische Fachkräfte arbeiten seit Jahrzehnten mit einer wachsenden kulturellen Vielfalt in den frühkindlichen Bildungseinrichtungen. Aktuell haben über 30 Prozent aller Kinder im Vorschulalter einen Migrationshintergrund, das heißt, sie selbst oder einer ihrer Elternteile sind nicht in Deutschland geboren (Cinar u.a. 2013). Diese Zahl erzeugt bei vielen Ängste und Verunsicherung, wie mit kultureller Vielfalt umgegangen werden kann. Dabei wird jedoch vernachlässigt, dass Vielfalt nichts grundsätzlich Neues ist, was plötzlich über uns hereinbricht. Pädagogische Forschung und Praxis haben sich bereits lange damit auseinandergesetzt, Konzepte und Positionen erarbeitet und Erfahrungen gesammelt.
Der Begriff der interkulturellen Pädagogik entstammt historisch der Diskussion, die seit den 1960er und 1970er Jahren unter dem Stichwort »Ausländerpädagogik« bzw. »Assimilationspädagogik« geführt wurde (Auernheimer 1990). Zielgruppe der Ausländerpädagogik waren die Kinder von Gastarbeitern, später von Aussiedlern und Flüchtlingen, die zur Teilhabe am deutschen Bildungssystem erzogen werden sollten (Prengel 2006). Dabei lag das Hauptaugenmerk auf dem Sprachlernen sowie der erwarteten Anpassung an die Werte und Normen der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Die Verantwortung für Anpassungsprozesse lag voll und ganz bei den »ausländischen Gästen« (Gaitanides 1999; Thränhardt 2002). Kritiker bezeichnen die Ausländerpädagogik als »Sonderpädagogik« für Ausländer, die darauf abziele, deren »Defizite« zu beseitigen. Diese Kritik sowie die Kritik am Begriff »Ausländer«, der Fremdheit und Nicht-Zugehörigkeit zuschreibt, führten zu einem Perspektivwechsel, der jedoch bis heute nicht vollends bzw. überall abgeschlossen ist. Seit den 1980er Jahren wird der Begriff der interkulturellen Pädagogik verwendet und immer weiter verfeinert und geöffnet.
Die interkulturelle Pädagogik verfolgt das Leitziel der Integration und versteht sich als Pädagogik für alle, ohne zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund zu unterscheiden (Prengel 2006). Damit wird anerkannt, dass jede und jeder Teil der sprachlichen und kulturellen Vielfalt ist und nicht »die Anderen« die gesellschaftliche Pluralität begründen (Lanfranchi 2013).
Diese Perspektive der interkulturellen Pädagogik wird den Anforderungen einer immer heterogener werdenden Gesellschaft in Deutschland eher gerecht. Zudem wird von einer »idealen Gleichheit der Individuen ausgegangen, die in der Selbstverantwortung und Freiheit des Einzelnen wurzelt« (Roth 2002, S. 105). Diese Betonung der Subjekthaftigkeit des Einzelnen bildet das Fundament der interkulturellen Pädagogik im Gegensatz zur Reduzierung des betroffenen Menschen auf ein zu behandelndes Objekt in der Ausländerpädagogik.
Die interkulturelle Pädagogik hat sich zum Ziel gesetzt, das Verständnis für unterschiedliche Perspektiven und den Aufbau von gegenseitigem Respekt zu stärken, den Abbau von Vorurteilen zu forcieren und Ambiguitätstoleranz1 zu fördern (Prengel 2006). Das erfordert von allen Interaktionspartnern interkulturelle Kompetenz. Was aber verbirgt sich hinter dieser Forderung im Detail? Wie kann man diese Fähigkeit entwickeln? Und wie kann sie im Kita-Alltag realisiert werden?
Bevor das Konzept der interkulturellen Kompetenz näher beleuchtet wird, soll zunächst der Begriff der Kultur als grundlegender Bestandteil des Begriffs der interkulturellen Kompetenz definiert werden.
Kultur zu definieren ist keine einfache oder banale Frage. Bereits vor mehr als 60 Jahren haben Kroeber und Kluckhohn 164 Definitionen zusammengetragen (Kroeber & Kluckhohn 1952). Im Gegensatz zur alltäglichen Verwendung des Begriffes, bei der nach wie vor häufig einseitig auf ethnisch-nationale Aspekte von Kultur fokussiert wird, wird hier ein anderer Kulturbegriff verwendet. Kultur wird als geteilte Verhaltensweisen (kulturelle Praktiken) und geteilte Überzeugungssysteme (kulturelle Interpretationen), die aus einem sozial-interaktiven Prozess hervorgehen, Anpassungen an die jeweiligen öko-sozialen Umweltbedingungen darstellen und von einer Generation an die nächste weitergegeben werden, definiert (Keller & Kärtner 2013).
Kultur bestimmt, wie wir die Welt sehen und welche Bedeutungen wir unseren Erfahrungen zuschreiben, aber auch wie wir unser Leben in unserer jeweiligen Umgebung gestalten. Somit ist Kultur Alltag und nicht nur Theater oder Kunst. Kultur umfasst auch die Art und Weise, wie wir uns morgens begrüßen, was und wie wir essen, wie wir uns fortbewegen, wie wir kommunizieren, unsere Wertvorstellungen und normativen Regeln, was wir für gut und richtig im Umgang mit Kindern halten und wie wir sie fördern und erziehen.
Kultur ist dabei eben nicht an ethnische Herkunft oder Ländergrenzen gebunden, sondern milieuspezifisch bzw. abhängig von sozio-demografischen Kontextbedingungen. Das formale Bildungsniveau, die wirtschaftliche Situation, das Lebensumfeld (z.B. Großstadt oder dörfliche Gemeinschaft) sowie die Familienkonstellation (Anzahl der Kinder, Kernfamilie oder Mehrgenerationenfamilie etc.) beeinflussen die kulturellen Muster maßgeblich. Entsprechend können Menschen im gleichen Land oder der gleichen ethnischen Herkunft sehr unterschiedlichen kulturellen Gruppen angehören und Menschen in unterschiedlichen Ländern oder Angehörige verschiedener ethnischer Gruppen ganz ähnliche kulturelle Muster aufweisen. So ist vermutlich eine gut situierte Berliner Akademikerfamilie mit einem Kind einer hoch gebildeten New Yorker Ein-Kind-Familie der gehobenen Mittelschicht kulturell ähnlicher als einer Arbeiterfamilie mit mehreren Kindern aus dem Berliner Umland. Ebenso sind zum Beispiel die kulturellen Praktiken und Überzeugungen traditioneller Bauernfamilien im ländlichen Kamerun denen im ländlichen Indien sehr ähnlich, unterscheiden sich aber stark von denen hoch gebildeter städtischer Mittelschichtfamilien in den jeweiligen Ländern (z.B. Keller 2007, 2011).
Treffen Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Überzeugungen und Praktiken aufeinander, wie es zum Beispiel durch Migration geschieht (unabhängig davon, ob dabei Ländergrenzen überschritten werden oder nicht), kann es zu kulturellen Missverständnissen im Miteinander führen. Verhaltensweisen des Gegenübers werden möglicherweise falsch interpretiert oder gegenseitige Erwartungen nicht erfüllt. Um dennoch ungestörte Kommunikation zu ermöglichen und problematische Interaktionen zu vermeiden, braucht es interkulturelle Kompetenz bei allen Beteiligten.
Interkulturelle Kompetenz beinhaltet viele verschiedene Komponenten, Wissensbestände, Fähigkeiten und Fertigkeiten auf unterschiedlichen Dimensionen. Versuche, diese Vielschichtigkeit knapp auf den Punkt zu bringen, münden in ziemlich abstrakten Definitionen, wie zum Beispiel Kompetenz »als effektive und angemessene Interaktion zwischen Menschen, die sich mit spezifischen physischen und symbolischen Milieus identifizieren« (Chen & Starosta 1996, S. 358; Übersetzung: Bettina Lamm). Diese Definition stellt eine Übertragung von interpersonaler kommunikativer Kompetenz in den interkulturellen Kontext dar (Straub u.a. 2010). Wie allgemein in der Kommunikation werden die Kriterien der Effektivität und Angemessenheit in den Mittelpunkt kompetenten, also erfolgreichen, zielführenden Handelns gestellt. Effektivität bezieht sich dabei auf die Frage, ob oder inwieweit die angestrebten Ergebnisse erreicht werden. Angemessenheit bedeutet, dass die Handlungen den Erwartungen und Erfordernissen der Situation entsprechen.
Konkreter, wenngleich deutlich umfangreicher, ist die Definition von Thomas (2011, S. 15): »Interkulturelle Handlungskompetenz zeigt sich in der Fähigkeit, kulturelle Bedingungen und Einflussfaktoren in der Wahrnehmung, im Urteilen, im Denken, in den Emotionen und im Handeln bei sich selbst und bei fremden Personen zu erfassen, zu würdigen, zu respektieren und produktiv zu nutzen und zwar im Sinne einer wechselseitigen Anpassung, einer Toleranz gegenüber Inkompatibilitäten (kulturell bedingte Unvereinbarkeiten) und der Entwicklung möglicherweise synergetischer Formen des Zusammenlebens, der Lebensgestaltung und der Bewältigung von Problemen.«
Um diese Definition für die Praxis verständlich und nutzbar zu machen, ist es hilfreich, die einzelnen Bestandteile genauer zu beleuchten. Zum einen sind hier verschiedene Dimensionen benannt, in denen sich kulturelle Einflüsse zeigen. Es werden sowohl kognitive Aspekte, wie die Wahrnehmung, das Urteilen und Denken, aber auch Emotionen und die praktische Verhaltensdimension einbezogen. Diese drei Dimensionen spiegeln sich ebenfalls in diversen Komponentenmodellen interkultureller Kompetenz, die wesentliche Aspekte des Konstrukts systematisch ordnen und auflisten, wider (vgl. z.B. Bolten 2006). Zum anderen wird verdeutlicht, dass die kulturellen Einflüsse erst durch den Vergleich des Eigenen und des Fremden erlebt werden. Wenngleich die Formulierung »Es gibt keine Kultur ohne andere Kulturen« (Straub u.a. 2010, S.16) vielleicht etwas überspitzt erscheint, so herrscht doch Konsens darüber, dass die Bewusstwerdung der eigenen kulturellen Normen, Werte und Regeln durch den Kontakt mit anderen Orientierungssystemen und die Wahrnehmung eines Kontrastes zu den eigenen Überzeugungen und Handlungsroutinen katalysiert wird. Die jeweiligen kulturellen Einflüsse nicht nur zu erkennen, sondern darüber hinaus zu würdigen und zu respektieren, erfordert eine Offenheit, den Gewohnheiten und Denkformen anderer wertfrei zu begegnen. Wechselseitige Anpassung und die Entwicklung neuer (kultureller) Muster sind nur durch die Bereitschaft und Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren und zu verändern, möglich (Straub u.a. 2010).
Interkulturelle Kompetenz ist also etwas sehr Persönliches. Der Kontakt und die Auseinandersetzung mit fremden kulturellen Lebensformen berührt die eigene (kulturelle) Identität. Die Grundfesten des eigenen Lebens werden dabei mitunter infrage gestellt und dem Bewusstsein teilweise entzogene Ängste, Sehnsüchte und Wünsche aktiviert. Dies hat zur Folge, dass interkulturelles Lernen mitunter so komplex und mühevoll ist.
Interkulturelle Kompetenz ist keine Fähigkeit, die durch das Lesen eines Buches, Hören eines Vortrags oder die Teilnahme an einem Workshop erworben werden kann und dann immer abrufbar ist. Es handelt sich vielmehr um einen lebenslangen Lern- und Entwicklungsprozess, der immer wieder neue Herausforderungen bereithält und jeweils situationsabhängig neu organisiert werden muss.
In Anlehnung an Keller und Borke (Keller 2013; Borke & Keller 2014) wird interkulturelle Kompetenz als Trias aus den Komponenten Wissen, Haltung und Handeln verstanden. Diese drei zentralen Dimensionen sollen im Folgenden näher erläutert werden und dienen auch der Gliederung dieses Buches.
Die kognitive Komponente des Wissens oder der Kenntnis bezieht sich im Rahmen der pädagogischen Arbeit in der Kita auf »das Wissen um unterschiedliche kulturelle Hintergründe, Formen und Verläufe der Entwicklung sowie kulturell bedingte elterliche und pädagogische Herangehensweisen an frühpädagogische Themen und Handlungsfelder« (Borke & Keller 2014, S. 99). Dabei geht es zum einen um eher abstraktes Wissen darüber, wie sich sozioökonomische Kontextbedingungen auf kulturelle Modelle und damit einhergehende elterliche Sozialisationsstrategien und kindliche Entwicklungsverläufe auswirken. Dieses Wissen kann durch Weiterbildungen und entsprechende Fachlektüre erworben werden.
Zum anderen meint Wissen hier aber auch ganz konkrete Kenntnis der spezifischen kulturellen Milieus und der spezifischen Überzeugungen, Handlungsroutinen, Traditionen und religiösen Regeln der Kinder und Familien in der Kita.
Wenn pädagogische Fachkräfte wissen, wie eine Familie lebt und welche Werte die (Erziehung in der) Familie prägen, ist das ein erster Schritt zu einer kultursensitiven pädagogischen Arbeit. Dieses Wissen wird bestenfalls im direkten Austausch mit den Familien gesammelt, kann aber auch, zum Beispiel im Falle von sprachlichen Verständigungsproblemen, über Dritte, die mit dem kulturellen Hintergrund vertraut sind, zusammengetragen werden. Dieser Wissenserwerb wird von einer neugierigen, offenen Haltung gegenüber kulturellen Phänomenen begünstigt.
Kultureller Diversität offen und wertschätzend zu begegnen, ist unerlässlich für interkulturelle Kompetenz. Insbesondere in Bezug auf die Sozialisationsvorstellungen ist jeder Mensch stark von den eigenen frühen Erfahrungen beeinflusst, sodass es zunächst unhinterfragt nur die jeweilige eine Art und Weise zu geben scheint, wie man mit Kindern umgeht. Das vertraute, von Beginn an erlebte Erziehungsverhalten erscheint als das »normale« und einzig richtige Vorgehen. Abweichende Beobachtungen und Erlebnisse wirken befremdlich, wenn nicht gar falsch oder schädlich für das Kind. Um Wissen über alternative Erziehungsvorstellungen und -praktiken zu erlangen und bestenfalls zu verstehen, welchen Anpassungswert diese in bestimmten Kontextbedingungen aufweisen, braucht es zunächst die Offenheit und Bereitschaft, sich damit ohne vorschnelle Bewertung auseinanderzusetzen.
Offenheit und Wertschätzung bedeuten in diesem Sinne nicht, alles gut zu heißen, sondern sich selbst und den anderen achtsam gegenüberzutreten. Es ist gleichermaßen wichtig, die eigenen Gefühle, Gedanken, Befürchtungen zu hinterfragen, wie auch dem fremd Erscheinenden auf den Grund zu gehen. Dazu gehört es, die eigene kulturelle Brille selbstreflexiv abzulegen oder sich dieser zumindest bewusst zu werden.
Das bedeutet, sich als pädagogische Fachkraft beispielsweise immer wieder zu fragen: Warum irritiert es mich, wenn die Mutter keine Tür-und-Angel-Gespräche mit mir führt? Was genau stört mich daran, dass der Sechsjährige noch an- und ausgezogen wird? Welche meiner pädagogischen Überzeugungen verletzt es, wenn die Zweijährige am ersten Kita-Tag einfach in die Gruppe »geschoben« wird und die Bezugsperson nicht zur Eingewöhnung bleibt? Diese fragende Haltung ermöglicht es, die eigenen Erwartungen zu reflektieren.
Andererseits ist es gleichermaßen sinnvoll, auf der Seite der Familie zu schauen, was sie möglicherweise daran hindert, meinen Erwartungen zu entsprechen. Diese Haltung entspricht dem systemischen Gedanken, dass jedes Verhalten einen guten Grund hat. Spricht die Mutter mich aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse nicht an oder vielleicht, weil sie meine Kompetenz nicht infrage stellen möchte? Sehen die Eltern Fürsorge und das Abnehmen alltäglicher Verrichtungen als Ausdruck ihrer Liebe? Wird Eingewöhnung als unnötig erachtet, weil das Kind bereits eine Vielzahl von unterschiedlichen Betreuungspersonen gewöhnt ist?
In dieser Betrachtungsweise liegt eine Ressourcenorientierung, nämlich den Wert eines Verhaltens im Kontext der jeweiligen kulturellen Überzeugungen zu erkennen. Eltern und Kinder, denen mit dieser Haltung begegnet wird, fühlen sich willkommen und angenommen. Auf Grundlage dieser Empathie wird konstruktiver Austausch über unterschiedliche Erwartungen und Überzeugungen möglich, und es lassen sich Kompromisse erarbeiten.
Diese Dimension verlangt von den pädagogischen Fachkräften ein Repertoire von erweiterbaren und flexibel bzw. situationsabhängig einsetzbaren Handlungsoptionen, die das entsprechende Wissen und die Haltung reflektieren und kultursensitiv angepasst werden können.
Es gibt weder eine Checkliste für interkulturell kompetentes Verhalten noch eine allgemeingültige Handlungsanweisung für den optimalen Umgang mit kultureller Vielfalt. Adäquates Verhalten kann nur in den jeweils spezifischen Situationen mit den beteiligten Kindern und Familien entwickelt werden. Dies erfordert Flexibilität und Kreativität, um alltagstaugliche Wege zu finden, die den Bedürfnissen und Erwartungen aller Beteiligten entgegenkommen.
Die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, sich immer wieder zu fragen, welche Auswirkungen das eigene professionelle Verhalten auf die einzelnen Beteiligten hat, unterstützt diesen Prozess. Grundsätzlich hilft es, sich darüber bewusst zu sein, dass das gleiche Verhalten ganz unterschiedliche Effekte auf verschiedene Kinder und ihre Entwicklung haben kann – je nachdem, welche Erfahrungen sie aus der Familie mitbringen. So kann die morgendliche Aufforderung der Erzieherin »Überleg dir, was und mit wem du heute spielen möchtest« für ein Kind, das es gewohnt ist, eigene Entscheidungen zu treffen und Interessen und Präferenzen auszuleben, die Einladung zu einem spannenden Selbstbildungsprozess sein. Bei einem Kind hingegen, von dem üblicherweise erwartet wird, den Anforderungen der Erwachsenen zu folgen und sich den Bedürfnissen der Gruppe unterzuordnen, mag diese Aufforderung Hilflosigkeit und Überforderungsgefühle auslösen. Um das gleiche pädagogische Ziel bzw. Chancengleichheit aller Kinder herzustellen, können also ganz unterschiedliche Handlungsstrategien nötig sein.
Im Alltag wird interkulturelle Kompetenz nur durch das Zusammenspiel der drei Dimensionen Wissen, Haltung und Handeln möglich, da sie sich in komplexer Weise wechselseitig bedingen und beeinflussen. So ist Wissen über unterschiedliche Kulturen und kulturelle Modelle nicht mit interkultureller Handlungskompetenz gleichzusetzen. Vielmehr braucht es die entsprechende Haltung und konkrete Handlungsstrategien, um die Fähigkeit der interkulturellen Kompetenz zu zeigen. Umgekehrt bringt aber auch die reine Vermittlung von Verhaltensmustern nicht den erwünschten Erfolg, wenn nicht gleichzeitig Wissen erworben und an der Haltung gearbeitet wird. Gleichermaßen ist aber auch der Erwerb von Wissen durch eine offene Haltung und praktische Erfahrungen beeinflusst und die Haltung wiederum abhängig von interkulturellem Kontakt und bereits bestehenden Kenntnissen.
Für alle drei Komponenten ist es grundsätzlich von Vorteil, wenn das Kita-Team multikulturell aufgestellt ist. Ein heterogenes Team repräsentiert die immer vielfältiger werdende Gesellschaft besser und fördert das Gefühl der Zugehörigkeit bei Familien unterschiedlichster kultureller Herkunft. Darüber hinaus kann die Arbeit in einem Team mit pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterschiedlicher kultureller Hintergründe die pädagogischen Überzeugungen und Ziele der einzelnen verändern (Huijbregts u.a. 2009). Kulturelle Diversität im Team erfordert Austausch und Toleranz innerhalb des Teams und fördert so Offenheit und die Bereitschaft und Fähigkeit zum Perspektivenwechsel gegenüber den Familien. Einer Studie der Vodafone Stiftung zufolge verfügen knapp 50 Prozent der Kita-Teams über pädagogische Fachkräfte mit Migrationshintergrund, was als wichtiges Indiz für die interkulturelle Kompetenz der Teams interpretiert wird (Lokhande 2014). Dass jedoch Fachkräfte mit Migrationshintergrund keineswegs allein die Verantwortung für die interkulturelle Kompetenz in ihrer Einrichtung tragen können, noch der eigene Migrationshintergrund automatisch zu hoher interkultureller Kompetenz führt, liegt auf der Hand. Die Tatsache, dass der gleichen Studie zufolge weniger als ein Fünftel der Einrichtungen systematisch interkulturelle Fortbildungen oder Qualifizierungsmaßnahmen durchführt, ist daher Anlass zur Sorge.
Das vorliegende Buch hat sich zum Ziel gesetzt, pädagogische Fachkräfte in Kitas dabei zu unterstützen, sich auf die kulturell heterogene Zusammensetzung in ihren Einrichtungen vorzubereiten und interkulturell kompetent handeln zu können. Im ersten Teil wird daher Wissen über kulturelle Modelle, Akkulturationsprozesse sowie über die zahlenmäßig bedeutsamsten Migrationsgruppen in Deutschland zur Verfügung gestellt. Im zweiten Teil steht die Haltung der pädagogischen Fachkräfte, aber auch die sich entwickelnde Haltung der Kinder gegenüber Vielfalt und Unterschiedlichkeit im Fokus. Im breitgefächerten dritten Teil werden systematisch verschiedene Aspekte des Kita-Alltags im Hinblick auf Herausforderungen durch kulturelle Diversität sowie kultursensitive praktische Lösungsansätze beleuchtet. Dabei wird auch ein besonderer Schwerpunkt auf Kinder mit Fluchterfahrungen gelegt.
Auernheimer, G. (1990): Einführung in die interkulturelle Erziehung. Darmstadt: WBG.
Bolten, J. (2006): Interkultureller Trainingsbedarf aus der Perspektive der Problemerfahrungen entsandter Führungskräfte. In: K. Götz (Hrsg.): Interkulturelles Lernen, interkulturelles Training (S. 57–75). München: Hampp.
Borke, J. (2013): Der interkulturelle Aspekt und Orientierungspläne. In: H. Keller (Hrsg.): Interkulturelle Praxis in der Kita (S. 54–64). Freiburg: Herder.
Borke, J. & Keller, H. (2014): Kultursensitive Frühpädagogik. Kohlhammer: Stuttgart.
Chen, G.-M. & Starosta, W.J. (1996): Intercultural communication competence: A Synthesis. Annals of the International Communication Association, 19(1), 353–383.
Cinar, M., Otremba, K., Stürzer, M. & Bruhns, K. (2013): Kindermigrationsreport. Ein Daten- und Forschungsüberblick zu Lebenslagen und Lebenswelten von Kindern mit Migrationshintergrund. München: DJI.
Gaitanides, S. (1999): Integration – Bringschuld der Einwanderer und/oder der Mehrheitsgesellschaft. Bildungsarbeit in der Zweitsprache Deutsch, 3, 10–19.
Huijbregts, S.K., Tavecchio, L., Leseman, P. & Hoffenaar, P. (2009): Child rearing in a group setting: Beliefs of Dutch, Caribbean Dutch, and Mediterranean Dutch caregivers in center-based child care. Journal of Cross-Cultural Psychology, 40(5), 797–815.
Keller, H. (2007): Cultures of infancy. Mahwah, NJ: Erlbaum.
Keller, H. (2011): Kinderalltag. Heidelberg: Springer.
Keller, H. (2013): Kulturelle Modelle und ihre Bedeutung für die frühkindliche Bildung. In: H. Keller (Hrsg.): Interkulturelle Praxis in der Kita. Freiburg: Herder.
Keller, H. & Kärtner, J. (2013): Development – The culture-specific solution of universal developmental tasks. In: M.L. Gelfand, C.-Y. Chiu & Y.Y. Hong (Eds.): Advances in culture and psychology, Vol. 3 (pp. 63–116). Oxford, NY: Oxford University Press.
Kroeber, A.L. & Kluckhorn, C. (1952): Culture: A critical review of concepts and definitions (Vol. 47, No. 1). Cambridge, MA: Peabody Museum.
Lanfranchi, A. (2013): Interkulturelle Kompetenz als Element pädagogischer Professionalität – Schlussfolgerungen für die Lehrerausbildung. In: G. Auernheimer (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität (S. 232–261). Wiesbaden: Springer Fachmedien.
Lokhande, M. (2014): Kitas als Brückenbauer. Interkulturelle Elternbildung in der Einwanderungsgesellschaft. Berlin: SVR.
Prengel, A. (2006): Pädagogik der Vielfalt. 3. Auflage. Wiesbaden: VS.
Roth, H.-J. (2002): Kultur und Kommunikation. Systematische und theoriegeschichtliche Umrisse Interkultureller Pädagogik. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
Straub, J., Nothnagel, S. & Weidemann, A. (Hrsg.) (2010): Wie lehrt man interkulturelle Kompetenz? Theorien, Methoden und Praxis in der Hochschulausbildung. Bielefeld: transcript.
Thomas, A. (2011): Interkulturelle Handlungskompetenz und ihre Entwicklung. In: A Thomas (Hrsg.): Interkulturelle Handlungskompetenz (S. 15–32). Wiesbaden: Springer Fachmedien.
Thränhardt, D. (2002): Include or exclude: Discourses on immigration in Germany. Journal of International Migration and Integration, 3–4, 345–362.
Orientierungshilfen zum Verständnis kultureller Unterschiede
Bettina Lamm
Eine Berliner Mutter (36 Jahre, Akademikerin) spielt mit ihrer eineinhalbjährigen Tochter. Sie sitzen auf dem Boden, eine Auswahl altersentsprechender Spielzeuge um sich herum. Die Mutter beobachtet ihr Kind aufmerksam. Seinen Blick verfolgend, fragt sie: »Ja, was ist denn da? Ist das interessant? Möchtest du damit spielen?« Sie nimmt den kleinen Plastikball und bietet ihn dem Kind an. Das Mädchen nimmt den Ball an, um ihn sogleich wieder abzulegen und nach einem anderen Spielzeug zu angeln. Es greift eine kleine Puppe, benennt sie und zeigt sie der Mutter. Die Mutter betrachtet die Puppe und bestätigt ihre Tochter: »Ja, genau, das ist eine Puppe.« Und sie fragt: »Was machen wir nun damit?« Das Mädchen greift nach der Mütze der Puppe, sagt »Auf« und versucht, der Puppe die Mütze aufzusetzen. Während sie die Handlungen ihrer Tochter unterstützt, begleitet die Mutter diese auch verbal: »Ja, die Mütze aufsetzen. Super machst du das, toll.«
In einem Dorf im nordwestlichen Grasland Kameruns kehrt eine Mutter von der Feldarbeit zurück. Auf dem Rücken trägt sie ihren einjährigen Sohn, auf dem Kopf einen Wassercontainer und in der Hand eine Feldhacke. Am Haus angelangt, setzt die Mutter den Jungen auf den Boden und ruft seinen siebenjährigen Bruder herbei. Der ältere Sohn kommt sofort wortlos angelaufen, ihm folgt die dreijährige Schwester, hüpfend und vor sich hin summend. Die Mutter ist bereits in der Küche verschwunden. Der Siebenjährige bindet sich geschickt den kleinen Bruder mit dem Tragetuch auf den Rücken und geht zurück zum Nachbarhaus, um sich dort wieder seinen Freunden anzuschließen, die auf umgedrehten Eimern und Blechdosen kleine Rhythmen trommeln. Mit dem Bruder auf dem Rücken beginnt er zu tanzen.
Im Wohnzimmer einer indischen Mittelschichtfamilie in Neu-Delhi: Die Mutter sitzt auf dem Sofa, ihre eineinhalbjährige Tochter steht neben ihr, auf dem Tisch vor ihnen liegen Duplo-Steine und Bauteile sowie einige Zuganhänger. Die Mutter setzt zwei Duplo-Steine aufeinander und stellt sie vor ihre Tochter. Sie versucht die Aufmerksamkeit des Mädchens auf die Steine zu lenken und setzt noch einen dritten darauf. Das Mädchen beachtet dies jedoch kaum und greift einen der Anhänger, schaut sich die Räder an und beginnt dann den Waggon auf dem Tisch vor- und zurückzuschieben, was es mit »Tut tut« begleitet. Die Mutter versucht erneut, verbal die Aufmerksamkeit der Tochter auf die Steine zu lenken. Als das Mädchen den Anhänger kurz loslässt, greift die Mutter von hinten nach seiner Hand und führt diese zu einem vierten Stein, um den Turmbau fortzuführen. Die Tochter befreit sich aus dem Griff, entfernt sich einen Schritt von der Mutter und nimmt ihr Spiel mit dem Waggon wieder auf. Die Mutter schlägt nun vor, einen Stein auf den Wagen zu bauen. Schließlich stellt sie weitere Anhänger vor das Kind und fordert es auf, die Waggons zusammenzuhängen. Aus der Küche kommen die beiden älteren Schwestern (5 und 8 Jahre) dazu. Während sich die jüngere der beiden Schwestern zwischen Mutter und Kleinkind setzt und das Geschehen beobachtet, ergreift die ältere Schwester die Hand der Kleinsten und verbindet dann den Waggon mit einem anderen auf dem Tisch.
Szenen wie im ersten Fallbeispiel können vielfach in Kinderzimmern sogenannter westlicher Mittelschichtfamilien beobachtet werden. Generell zeigen diese Situationen Mütter, die sehr einfühlsam auch auf feine Signale ihrer Kinder reagieren, kindliche Initiativen unterstützen und das kindliche Verhalten und Erleben verbalisieren und bestätigen. Diese Mütter reden viel mit ihren Kindern, schenken ihnen häufig exklusive Aufmerksamkeit in Eins-zu-eins-Situationen und beziehen fast immer Spielzeuge in die Interaktionen ein. Sie sind darauf bedacht, die Kinder bei der eigenständigen Erkundung ihrer Umwelt zu begleiten und vielfältige Anregungen bereitzustellen. Körperkontakt und körperliche Stimulationen sind eher weniger zu beobachten, meist nur in Form von leichten Berührungen, die den Freiraum des Kindes nicht einschränken.
Hinter diesem Verhalten stehen ein bestimmtes Bild vom Kind und eine gewisse »pädagogische« Überzeugung bzw. Erziehungsziele, die auch von Expertinnen und Experten auf dem Gebiet der frühkindlichen Entwicklung in westlichen Mittelschichtkontexten geteilt werden. So formuliert Remo Largo in seinem Klassiker »Babyjahre«: »Das Kind will und muss in seinem Spiel selbstbestimmt sein. Es braucht die Kontrolle über seine Aktivitäten, damit es interessiert bleibt und das Spiel zu einer sinnvollen eigenen Erfahrung wird« (Largo 2010, S. 273).
Im Fokus dieser Überzeugung steht das autonome Kind, das von Anfang an als eigenständiges Individuum seinen Entwicklungsprozess aktiv gestaltet. Das Kind mit seinen individuellen Bedürfnissen ist im Mittelpunkt und übernimmt die Führung in der Interaktion. Die Rolle der Bezugspersonen besteht darin, das Kind zu begleiten und zu unterstützen.
Ideales Erziehungsverhalten wird zum Beispiel in den Sensitivitätsskalen2 von Mary Ainsworth beschrieben. Demnach sollen kindliche Signale jederzeit sensibel wahrgenommen und richtig interpretiert werden, um angemessen und prompt darauf zu reagieren. Durch diese Erfahrungen wird das Kind darin bestärkt, seine Befindlichkeiten zu äußern und lernt, dass seine Gefühle, Wünsche, Vorlieben und Gedanken ernst genommen werden und dieses innere psychische Erleben eine Bedeutung in der äußeren Welt hat. Die Entwicklung des kindlichen Selbstbewusstseins und Selbstwertes wird dadurch gefördert.
Dementsprechend betonen Eltern der westlichen Mittelschicht, wie wichtig es sei, dass ihre Kinder eigene Interessen und Talente sowie die Fähigkeit, eigene Vorstellungen klar auszudrücken, entwickeln. Selbstbewusstsein, Einzigartigkeit und Durchsetzungsfähigkeit stellen hoch bewertete Sozialisationsziele dar (Keller 2011).
Diese Ziele beruhen auf Anpassung an den wettbewerbsorientierten westlichen Mittelschichtkontext, in dem die individuelle Leistung bzw. die fachlichen und Selbstkompetenzen des Einzelnen über seinen (beruflichen) Erfolg bestimmen. Dabei ist es enorm wichtig, sich von anderen abzuheben, eigenständige Entscheidungen zu treffen und sich gegenüber anderen durchzusetzen. Diese Fähigkeiten versprechen optimale Zukunftsperspektiven in der hoch technisierten und individualisierten, sich schnell verändernden postindustriellen Arbeitswelt.
Global betrachtet, teilen jedoch nur knapp fünf Prozent der Weltbevölkerung dieses Lebensumfeld (Henrich u.a. 2010). Diese Gruppe hochgebildeter, wohlhabender, in urbanen Ballungsräumen westlicher Informationsgesellschaften lebender Familien ist also alles andere als repräsentativ und vertritt auch nicht das einzig mögliche Sozialisationsmodell.
Ein Alternativmodell wird im zweiten Fallbeispiel deutlich. Die kleinbäuerliche Lebensweise in traditionellen Dorfgemeinschaften wird von etwa 40 Prozent der Weltbevölkerung geteilt und steht in deutlichem Kontrast zum westlichen Mittelschichtmilieu. In diesem Lebensumfeld ist der Zugang zu formaler Schulbildung erschwert. Die Menschen leben in streng hierarchisch organisierten Großfamilien mit vielen Kindern. Hier beobachten wir Kinder, die von verschiedenen Bezugspersonen betreut werden, aber nur selten dabei in deren Aufmerksamkeitsfokus stehen. Vielmehr sind sie Teil der Aktivitäten der Bezugspersonen und erleben häufig engen Körperkontakt. Die Bezugspersonen kontrollieren die kindlichen Aktivitäten und trainieren gewünschte Verhaltensweisen. Sie wissen, was gut für die Kinder ist, ohne sich an individuellen momentanen Befindlichkeiten zu orientieren.
Im Mittelpunkt der Erziehung steht in diesem Milieu die Entwicklung von Gehorsam und Respekt gegenüber Älteren (Keller 2011). Die Kinder sollen lernen, die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen, sich in die Familienstruktur einzuordnen und als Teil der Gemeinschaft ihre Aufgaben zu übernehmen. Die Erhaltung der sozialen Harmonie und die Fürsorge für andere spielen für das (wirtschaftliche Über-)Leben in diesem Umfeld eine bedeutende Rolle. Wer sich erfolgreich in die Gemeinschaft eingliedert, darf an den knappen Ressourcen teilhaben. Erfolg ist nicht durch besondere Leistungen des Einzelnen, sondern durch das gemeinsame Bemühen der Gruppe zu erzielen.
Vergleicht man diese beiden unterschiedlichen Erziehungsstrategien aus den Fallbeispielen 1 und 2, so wird deutlich, dass die westliche Mittelschicht den Fokus auf das einzelne Kind mit seinen individuellen Bedürfnissen, Vorlieben sowie charakteristischen Merkmalen und Kompetenzen legt, während die traditionellen Bauernfamilien das Kind in Relation zu anderen, als Teil einer hierarchisch strukturierten Gemeinschaft im Blick haben. Diese beiden Perspektiven lassen sich nach Keller als zwei verschiedene kulturelle Modelle beschreiben, die durch den unterschiedlichen Umgang mit den beiden menschlichen Grundbedürfnissen – der Autonomie und der Verbundenheit – gekennzeichnet sind (Keller 2011; Keller & Kärtner 2013). Beide Bedürfnisse sind universal, strebt doch jeder Mensch einerseits nach Kompetenzerleben und andererseits nach Zugehörigkeit zu anderen Menschen. Dennoch werden diese Bedürfnisse je nach kulturellem Milieu unterschiedlich ausgestaltet.
In der westlichen Mittelschicht dominiert die Autonomieorientierung das kulturelle Modell. Autonomie ist psychologisch geprägt, basiert auf selbstreflexiver Exploration des inneren psychischen Erlebens von Gefühlen, Wünschen und Gedanken und fokussiert auf Selbstbestimmtheit und Selbstwirksamkeit. Die Verbundenheit ist dieser psychologischen Autonomie untergeordnet und ebenfalls psychologisch vermittelt. Soziale Beziehungen sind im Modell der psychologischen Autonomie frei wählbar und verhandelbar, entsprechend den individuellen Bedürfnissen des Einzelnen. In den traditionellen Dorfgemeinschaften ist die Verbundenheitsorientierung bestimmend. Hierarchische Verbundenheit innerhalb eines Netzwerkes verpflichtender sozialer Beziehungen beherrscht das kulturelle Modell, und Autonomie wird in Form von Handlungsautonomie realisiert. Handlungsautonomie meint dabei die eigenverantwortliche Ausführung von Verpflichtungen, die auf bestimmten Rollen basieren (Keller & Kärtner 2013).
Diese kulturellen Schwerpunktsetzungen stellen Anpassungen an das jeweilige Lebensumfeld dar und bestimmen maßgeblich, wie Erziehung und kindliche Entwicklung im jeweiligen Kontext abläuft. Dabei gibt es natürlich nicht nur diese beiden Prototypen kultureller Modelle, sondern eine Vielzahl anderer Gewichtungen und Realisierungen von Autonomie und Verbundenheit (ebd.). Es liegt also fern, die Welt in lediglich zwei Modelle einteilen zu wollen. Dennoch ist dieser Extremgruppenvergleich hilfreich, um ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie unterschiedlich Sozialisationsmodelle aussehen können. Darüber hinaus stellt der traditionelle Kontext mit seinem kulturellen Modell der hierarchischen Verbundenheit für viele Familien, die aufgrund von Flucht oder sonstiger Migration nach Deutschland kommen, den Herkunftskontext dar. Es befinden sich jedoch gerade unter den Familien aus Krisengebieten auch viele Mittelschichtfamilien, die in ihren Herkunftsländern im städtischen Umfeld gelebt und eine gute Ausbildung abgeschlossen haben.
Das dritte Fallbeispiel illustriert beispielhaft die Sozialisationsstrategie in einer städtischen Mittelschichtfamilie aus einem nicht-westlichen Kontext. Hier handelt es sich jedoch nicht um ein prototypisches kulturelles Modell, das alle Lebensbereiche gleichermaßen steuert, sondern je nach Lebensbereich dominieren unterschiedliche Realisierungen von Autonomie und Verbundenheit. Im Leistungsbereich wird der individuelle Kompetenzerwerb besonders betont. In der Spielsituation steht das Kind im Mittelpunkt, erfährt die exklusive Aufmerksamkeit der Mutter und soll bestmöglich in seiner (kognitiven) Entwicklung gefördert werden. Die Mutter verfolgt ein klares Lern- oder Trainingsziel und lenkt das kindliche Verhalten entsprechend. Auf der Beziehungsebene wird erwartet, dass das Kind die mütterliche Autorität akzeptiert und ihren Vorgaben folgt. Ihm wird also nicht die Führungsrolle in der Interaktion zuteil.
Nicht die individuellen Bedürfnisse und momentanen Ziele des Kindes bestimmen die Situation, sondern vielmehr die übergeordneten gemeinschaftlichen Ziele. Diese gemeinschaftlichen Ziele stellen jedoch keine unhinterfragbaren Verpflichtungen wie im Falle der traditionellen Dorfgemeinschaften dar, sondern werden vielmehr als internalisierte Werte, die die eigene Motivation und das Verhalten prägen, erlebt. Keller und Kärtner (2013) sprechen daher in diesem Kontext von gemeinschaftlicher psychologischer Autonomie und gemeinschaftlicher psychologischer Verbundenheit.
In Anbetracht dieser unterschiedlichen kulturellen Modelle steht außer Frage, dass die kindliche Entwicklung nicht nach einem universellen Plan verlaufen kann. Die kulturspezifischen frühen sozialen Erfahrungen und die jeweiligen elterlichen Zielsetzungen beeinflussen, wie Kinder in diesen unterschiedlichen kulturellen Kontexten aufwachsen und welche Kompetenzen sie (wann) erwerben.
Keller (z.B. 2011) beschreibt diese kulturellen Entwicklungspfade als kulturspezifische Lösungen universeller Entwicklungsaufgaben. Demnach werden dieselben Herausforderungen im Laufe der Entwicklung, zum Beispiel soziale Beziehungen aufzubauen oder Laufen zu lernen, in Abhängigkeit vom kulturellen Milieu unterschiedlich bewältigt. Dabei ergeben sich Unterschiede in Bezug auf den Zeitpunkt des Erreichens eines Entwicklungsmeilensteines (z.B. lernen kamerunische Babys das freie Sitzen bereits im Alter zwischen 4 und 6 Monaten), den Entwicklungsverlauf (z.B. die Frage, ob dem freien Laufen das Krabbeln vorausgeht) und die Qualität des Entwicklungsergebnisses (z.B., ob eine exklusive Bindungsbeziehung zu einer primären Bezugsperson aufgebaut wird und wie diese gestaltet ist). Exemplarisch sollen an dieser Stelle verschiedene Aspekte der Selbstentwicklung – das Selbsterkennen, die Selbstregulation und die Selbstrepräsentation – etwas genauer dargestellt werden.
Ein Meilenstein der Selbstentwicklung ist das Spiegelselbsterkennen im zweiten Lebensjahr. Wenn sich ein Kind im Spiegel erkennt, dient das als Indikator dafür, dass es ein Selbstkonzept, das heißt, ein Bild von sich selbst als unabhängiges, zielgerichtet handelndes Individuum, entwickelt hat.
Kulturvergleichende Untersuchungen zeigen, dass westliche Mittelschichtkinder im Einklang mit dem kulturellen Fokus auf psychologische Autonomie dieses Selbstkonzept früher als Kinder in ländlichen traditionellen Gemeinschaften entwickeln. Beobachtet wird dabei das kindliche Verhalten vor dem Spiegel, nachdem das Kind einen Rouge-Fleck im Gesicht aufgetragen bekommen hat. Auf Selbsterkennen wird geschlossen, wenn die Kinder zum Beispiel den Fleck im Gesicht berühren oder ihn der Bezugsperson zeigen. Im Alter von 18 Monaten erkennen sich auf diese Weise 46 Prozent der Mittelschichtkinder aus Berlin und Neu-Delhi, jedoch nur elf bzw. neun Prozent der indischen und kamerunischen Kleinkinder aus traditionellen dörflichen Kontexten (Kärtner u.a. 2012).
Während das psychologisch-autonome kulturelle Milieu die Entwicklung der für den Spiegeltest nötigen Selbst-Bewusstheit fördert, wird im kulturellen Milieu der hierarchischen Verbundenheit dagegen weniger Wert darauf gelegt, dass sich ein unabhängiges Selbstkonzept entwickelt. Hier wird ein stärkerer Fokus auf die Entwicklung der Selbstregulation gerichtet.
Anzeichen dafür lassen sich ebenfalls bereits im zweiten Lebensjahr beobachten. Im Vergleich zu costa-ricanischen oder griechischen Mittelschichtkindern erledigen kamerunische Nso-Kinder3 kleine mütterliche Aufträge bereitwilliger (Keller u.a. 2004). Es zeigen sich also bereits erste Entwicklungsergebnisse in Übereinstimmung mit dem kulturellen Sozialisationsziel des Gehorsams. Im Vorschulalter setzt sich diese Tendenz fort.
Ein Vergleich von kamerunischen Nso-Bauernkindern mit deutschen Mittelschichtkindern im sogenannten Marshmallow-Test (Mischel 2014) verdeutlicht die kulturellen Unterschiede in den Selbstregulationsfähigkeiten. Bei dieser Aufgabe stehen die Kinder vor der Wahl, eine angebotene Süßigkeit sofort zu verzehren oder auf die Rückkehr der Versuchsleitung zu warten und dann noch eine zweite Süßigkeit dazuzubekommen.
Anscheinend ohne große Anstrengung und ganz ruhig wartet die Mehrheit der Nso-Kinder (ca. 70%), und einige entspannen sich dabei so sehr, dass sie sogar einschlafen. Den Kindern der deutschen Vergleichsgruppe hingegen kann man die Anspannung förmlich ansehen. Sie versuchen, sich durch Abwenden, Singen, Trommeln, Klatschen, Zählen etc. abzulenken. Viele laufen im Raum herum oder beenden das Warten vorzeitig, indem sie das Zimmer verlassen. Insgesamt gelingt es nur etwa einem Drittel der jungen Probandinnen und Probanden der westlichen Mittelschicht, auf die zweite Süßigkeit zu warten (Lamm & Keller 2015). Diese Wartesituation widerspricht der im kulturellen Milieu der psychologischen Autonomie geförderten Selbstwahrnehmung als unabhängiges, selbstbestimmtes Individuum. Die Kinder haben keine Kontrolle über die Situation. Sie wissen nicht, wie lange es dauern wird, bis die Versuchsleitung zurückkehrt, und können die Wartezeit auch nicht durch ihr Verhalten beeinflussen. Das erzeugt Hilflosigkeitsgefühle und ist schwer auszuhalten. Für Kinder hingegen, die es gewohnt sind, sich äußeren Gegebenheiten anzupassen und zum Wohl der Gemeinschaft eigene Bedürfnisse zurückzustellen, ist diese Wartesituation besser mit dem Selbstbild vereinbar. Das kulturelle Milieu der hierarchischen Verbundenheit fördert also eher Kompetenzen, die einen erfolgreichen Aufschub der Belohnung ermöglichen.
Die Selbstrepräsentationen der Kinder – das Bild, das die Kinder von sich selbst entwickeln – lassen sich im Vorschulalter sehr gut anhand von Selbstzeichnungen untersuchen. Auch diese spiegeln in kulturvergleichenden Untersuchungen die unterschiedlichen kulturellen Modelle wider. So zeichnen sich Kinder aus traditionellen dörflichen Kontexten im Vergleich zu westlichen Mittelschichtkindern kleiner und mit weniger Detailmerkmalen, die die Einzigartigkeit und Individualität des einzelnen Kindes hervorheben (Gernhardt 2012). Das Selbst groß in die Mitte des Bildes zu zeichnen und mit individuellen Merkmalen sowie einem positiven Gesichtsausdruck zu versehen, verbildlicht das kulturelle Modell der psychologischen Autonomie. Im Modell der hierarchischen Verbundenheit hingegen tritt der Einzelne nicht aus der Gruppe hervor, wird daher eher klein gezeichnet und unterscheidet sich in der bildlichen Darstellung nicht von den anderen.
Die kulturellen Sozialisationsmodelle zeigen, dass Elternschaft und Erziehung »kulturell gesättigte« Aufgaben sind. Angepasst an die jeweiligen öko-kulturellen Kontextbedingungen sind die spezifisch beobachtbaren Sozialisationsstrategien Ausdruck kultureller Werte, Normen und Ziele. Daher kann es nicht die eine richtige oder normale Art der Erziehung oder des Elternverhaltens geben. Sozialisationsprozesse und Entwicklungsverläufe sind immer nur innerhalb eines kulturellen Milieus zu verstehen, Normalität und Abweichungen können nur kontextspezifisch definiert werden. Vorschnelle Bewertungen beobachteter Unterschiede im elterlichen Erziehungsverhalten oder in kindlichen Entwicklungspfaden bergen die Gefahr von Fehlinterpretationen. Die Kenntnis der unterschiedlichen kulturellen Sozialisationsmodelle trägt zum Verständnis kultureller Unterschiede bei. Dabei dienen jedoch die beschriebenen Prototypen lediglich als Orientierung.
Um im Kita-Alltag die Familien und ihre Erziehungsstrategien besser zu verstehen, sind immer der genaue Hintergrund der einzelnen Familie sowie ihre konkreten Vorstellungen und Verhaltensweisen zu erkunden. Pauschalisierungen, festgemacht an den Herkunftsländern oder auch religiösen bzw. sprachlich-ethnischen Zugehörigkeiten, helfen nicht weiter.
Darüber hinaus bedeutet die Erfahrung von Migration für die Familien einen Wechsel des öko-kulturellen Kontextes und stellt sie vor die Herausforderung, die kulturellen (Sozialisations-)Modelle anzupassen bzw. neue Formen von Autonomie und Verbundenheit zu entwickeln.
Gernhardt, A. (2012): Kinderzeich(n)en. Kindliches Zeichnen im kulturellen Kontext. nifbe-Themenheft Nr. 10. Osnabrück: nifbe e.V.
Henrich, J., Heine, S.J. & Norenzayan, A. (2010): The weirdest people in the world? Behavioral and Brain Sciences, 33, 61–135.
Kärtner, J., Keller, H., Chaudhary, N. & Yovsi, R. (2012): The development of mirror self-recognition in different socio-cultural contexts. Monographs of the Society for Research in Child Development, 77, Serial No. 305.
Keller, H. (2011): Kinderalltag. Kulturen der Kindheit und ihre Bedeutung für Bindung, Bildung und Erziehung. Heidelberg: Springer.
Keller, H. & Kärtner, J. (2013): Development – The culture-specific solution of universal developmental tasks. In: M.L. Gelfand, C.-Y. Chiu & Y.Y. Hong (Eds.): Advances in culture and psychology, 3 (pp. 63–116). Oxford, NY: Oxford University Press.
Keller, H., Yovsi, R.D., Borke, J., Kärtner, J., Jensen, H. & Papaligoura, Z. (2004): Developmental consequences of early parenting experiences: Self regulation and self recognition in three cultural communities. Child Development, 75, 1745–1760.
Lamm, B. & Keller, H. (2015): Self-regulation across cultures: Cameroonian Nso and German middle-class children’s behavior in the Marshmallow test. Paper presented at the Central America Regional Conference of the International Association of Cross-Cultural Psychology (IACCP) in San Cristobal de las Casas, Mexico, July 28–31, 2015.
Largo, R.H. (2010): Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren. München: Piper.