Handbuch Interkulturelle Kompetenz in der Kita -  - E-Book

Handbuch Interkulturelle Kompetenz in der Kita E-Book

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Beschreibung

Das vorliegende Buch zeigt wie pädagogische Fachkräfte dabei unterstützt werden können, kompetent in kulturell heterogen zusammengesetzten Kitas zu agieren. Kompakt und praxisnah werden die Grundlagen interkultureller Arbeit in der Kita vermittelt. Es werden Erfahrungen aus und Einblicke in die Lebenswelten von zugewanderten und geflüchteten Kindern und Familien gegeben. Zentral dabei ist der Blick auf die Haltung der pädagogischen Fachkräfte, die Sensibilisierung für Diskriminierung sowie eine interkulturelle Öffnung der Kita als Organisation. Abschließend werden kulturbewusste praktische Lösungsansätze im Kita-Alltag beschrieben.

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Seitenzahl: 410

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Herausgegeben in Kooperation mit

Neuausgabe 2023

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2017

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: (c) blackred - istockphoto

Fotos im Innenteil: Integrative Kita Wasserwerk/Markus Haselmann

Layout, Satz, Gestaltung: Arnold & Domnick, Leipzig

E-Book Konvertierung: Newgen publishing

ISBN Print 978-3-451-39362-4

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-82903-1

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82905-5

Inhalt

Vorwort (Bettina Lamm & Karsten Herrmann)

Interkulturelle Kompetenz – Grundlagen und Begriffsbestimmungen für die pädagogische Praxis (Bettina Lamm)

Teil 1:Interkulturelles Wissen

1.1 Kulturelle Sozialisationsmodelle und Entwicklungspfade Orientierungshilfen zum Verständnis kultureller Unterschiede (Bettina Lamm)

1.2 Familien »mit Migrationshintergrund« Wen meinen wir eigentlich und wie verlaufen Adaptationsprozesse? (Anna Dintsioudi)

1.3 Zugewanderte Familien: Zunehmende Diversität ihrer Erfahrungen und Erwartungen an die Kita (Birgit Leyendecker)

1.4 Familien, Elternschaft und Erziehung in postsowjetischer Migration (Manuela Westphal)

1.5 Einblicke in die Lebenswelt von Kindern mit Fluchterfahrungen: Auf der Flucht – Ankommen in Deutschland – Neue Rollen und Herausforderungen (Swantje Decker)

1.6 Vertrauensaufbau mit geflüchteten Eltern (Philipp Sandermann)

Teil 2:Interkulturelle Haltung

2.1 Ressourcenorientierung – Ausdruck einer professionellen pädagogischen Haltung (Meike Sauerhering & Carolin Kiso)

2.2. Diskriminierung in der Kita – Erkennen, Verstehen, Reagieren (Anna Dintsioudi)

2.3. Interkulturelle Öffnung in der Kita – ein Organisationsentwicklungsprozess (Agnes Steinmetzer)

Teil 3:Interkulturelles Handeln/Diversität leben

3.1 Eingewöhnung aus interkultureller Perspektive (Bettina Lamm)

3.2 Schlafen, Mahlzeiten und Ausscheidungskontrolle – Kultursensitive Begleitung von Grundbedürfnissen in der Kita (Anja Schwentesius)

3.3 Translanguaging: Sprachinklusiv in der Kita handeln (Lisa Schröder & Anna Dintsioudi)

3.4 Über den Körper zur Sprache kommen Ressourcenorientierte Sprachförderung bei Kindern mit Fluchterfahrungen (Renate Zimmer)

3.5 »Wie siehst du die Welt?« Wahrnehmung und Denken aus unterschiedlicher kultureller Perspektive (Paula Döge & Lisa Schröder)

3.6 Gehört Gott in die Kita? – Zum Umgang mit Religion und Philosophie in einer vielfältigeren Welt (Helga Barbara Gundlach)

3.7 Musikalische Angebote kultursensitiv gestalten Klänge, Rhythmen, Stimmen – hörbare kulturelle Vielfalt (Annette Zängle)

3.8 Interkulturelle Medienbildung (Helen Knauf)

3.9 Die Welt trifft sich in der Kita Zusammenarbeit mit immigrierten oder geflüchteten Eltern (Laura Bossong)

3.10 Schüchtern oder außer Rand und Band? – Kinder mit Fluchterfahrungen in der Kita (Birgit Leyendecker)

3.11 Traumata und ihre Folgen Stärkende Ansätze aus der Traumapädagogik (Helga Reekers & Kerstin Gloger-Wendland)

3.12 Vernetzung und Kooperation Anlaufstellen, Kontaktadressen und Internetlinks (Karsten Herrmann & Noemi Famula)

Teil 4:Interkulturalität in Bildungsplänen sowie Aus- und Weiterbildung

4.1 Der interkulturelle Ansatz in den Bildungs- und Orientierungsplänen (Jörn Borke)

4.2 Kulturelle Vielfalt als Thema in der Ausbildung (Jörn Borke)

4.3 Nachhaltige Beratung und Qualifizierung zum Thema Kinder mit Fluchthintergrund in der Kindertagesbetreuung (Franziska Korn)

Verzeichnis der Autor:innen

Vorwort

Kenianische Mütter der Volksgruppe der Gusii meiden Blickkontakt zu ihren Säuglingen, um ihre Offenheit für eine Vielzahl unterschiedlicher Betreuungspersonen zu fördern. Japanische Eltern nehmen das herzzerreißende Weinen ihrer Kinder beim täglichen Abschied in der Krippe gelassen hin, denn dies zeigt ihnen, dass sie eine enge Beziehung zu ihrem Kind aufgebaut haben. Kamerunische Babys der Volksgruppe der Nso werden bereits in den ersten Lebensmonaten in Plastikeimer platziert, um möglichst früh das Sitzen zu lernen. Deutsche Eltern halten diese Praxis für Körperverletzung und sind der Überzeugung, dass Babys so viel wie möglich liegen sollten, um den Rücken zu schonen. Das wiederum beobachten die Nso-Mütter mit Skepsis, birgt es doch ihrer Auffassung nach die Gefahr, dass die Kinder steif werden.

Schon diese kurzen Episoden zeigen beispielhaft, wie unterschiedlich die Erziehungs- und Sozialisationsvorstellungen in verschiedenen Kulturen sein können. Dennoch verbindet Eltern weltweit der Wunsch und der Anspruch, ihren Kindern die bestmögliche Versorgung und Förderung zukommen zu lassen. Was also auf den ersten Blick absurd oder gar entwicklungshinderlich erscheint, stellt eine Anpassung an die jeweiligen Lebensbedingungen und kulturell verfolgten Erziehungsziele dar. Alle Eltern möchten, dass ihre Kinder gesund und in Sicherheit aufwachsen und die notwendigen Kenntnisse und Praktiken erwerben, um ein erfolgreiches Leben zu führen. Welche Kompetenzen dafür aber nötig sind und wie die Gesundheit sichergestellt werden kann, unterscheidet sich deutlich in den unterschiedlichen kulturellen Kontexten.

Im Alltag sind wir uns der Kulturbedingtheit unseres Handelns und unserer Werte und Ziele in der Regel kaum bewusst. Meist fällt uns erst bei der Konfrontation mit alternativen Wahrnehmungen und Interpretationen der Welt oder fremd erscheinenden Verhaltensweisen auf, wie sehr die Kultur unser Leben prägt und wie tief verwurzelt bestimmte Überzeugungen und Verhaltensroutinen sind. Intuitiv sind wir der Überzeugung, die eigene, vertraute Art und Weise der Erziehung sei die einzig mögliche und richtige. Von Geburt an wachsen wir in eine spezifische, uns umgebende Kultur hinein und sehen die Welt entsprechend durch unsere eigene kulturelle Brille.

Kultur ist dabei nicht an Ländergrenzen gebunden, sondern vielmehr gibt es in jedem Land unterschiedliche Kulturen, die durch Tradition, Religion, Sprache und insbesondere durch sozio-ökonomische Faktoren geprägt sind. Interkulturelle Kompetenz besteht im Kern in der Fähigkeit, sich der eigenen kulturellen Brille und ihrer Perspektivgebung bewusst zu werden. Das bedeutet anzuerkennen, dass die eigene Sichtweise nur eine von vielen möglichen ist, und es bedeutet auch zu verstehen, dass letztlich alle gesellschaftlichen Regeln und Normen sowie der fachliche und wissenschaftliche Diskurs kulturell geprägt sind. Damit wird die Grundlage gelegt, anderen Perspektiven mit Empathie und Wertschätzung zu begegnen und den einen oder anderen Blick auf die Welt durch eine andere Brille zu riskieren, ohne zu erwarten, diese andere Sichtweise vollends zu verstehen.

In einem Zuwanderungsland wie Deutschland wird die interkulturelle Kompetenz vermehrt zu einer unverzichtbaren Schlüsselkompetenz. Die zunehmende Zuwanderung von aus den Kriegs- und Krisenregionen der Welt nach Deutschland geflüchteten Menschen hat dieses Thema in den letzten Jahren nach ganz oben auf die Agenda befördert. Die Frage, wie eine offene Gesellschaft, die Vielfalt wertschätzt und Chancengerechtigkeit für alle ermöglicht, gestaltet werden kann, ist eine zentrale Zukunftsfrage. Kindertageseinrichtungen können dabei als erste Bildungsinstitution im Lebenslauf der Kinder eine Schlüsselrolle einnehmen. Sie spiegeln die gesellschaftliche Vielfalt wider und bieten Orte für gemeinsames Lachen, Spielen, Forschen und Entdecken. Hier können die Kinder sichere Beziehungen, Teilhabe und Selbstwirksamkeit erleben und sich Stück für Stück die Welt erobern. Eine zentrale Bedeutung kommt dabei sicherlich der alltagsintegrierten Sprachbildung und -förderung zu. Damit die Kindertagesbetreuung bestmöglich zur Persönlichkeitsentwicklung und Sozialisation der Kinder beitragen und die Bildungschancen aller Kinder wahren kann, sind eine kulturbewusste Gestaltung des pädagogischen Alltags und ein konsequentes Ernstnehmen der kulturellen Erfahrungen und familiären Erziehungsvorstellungen und -ziele unabdingbar.

Dieser Herausforderung können die pädagogischen Fachkräfte begegnen, wenn sie ihre interkulturelle Kompetenz in Aus- und Weiterbildung weiterentwickeln und ausbauen. Neben einem grundlegenden Wissen ist hier – wie im gesamten Professionalisierungsprozess – die ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstreflexion entscheidend. Auf dieser Grundlage gilt es eine pädagogische Grundhaltung zu entwickeln, die einen offenen, empathischen und wertschätzenden Umgang mit den verschiedenen Kulturen ermöglicht. Darüber hinaus ist die Organisation Kita gefordert, sich kulturell zu öffnen, die Reflexionsprozesse auf der Teamebene fortzuführen und die gemeinsam entwickelte Haltung konzeptionell zu verankern. Das vorliegende Buch möchte hierzu einen Beitrag leisten und bietet sowohl Grundlagen- und Hintergrundwissen als auch praxisbezogene Ansätze für den Umgang mit kultureller Vielfalt im Kita-Alltag. Für die Neuauflage wurden einige Kapitel übernommen, viele aktualisiert und grundlegend überarbeitet sowie einige aktuelle Themen aufgenommen. Die grundlegende Struktur sowie die grundsätzliche Betrachtung von interkultureller Kompetenz in einem übergreifenden Kontext des Umgangs mit Vielfalt und letztlich eines inklusiven Bildungssystems wurden weitgehend beibehalten. Es geht darum, Vielfalt in all ihren kulturellen und individuellen Ausprägungen als Chance und Ressource anzusehen – denn je bunter die Welt, desto vielfältiger die Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten für alle! Wir danken allen beteiligten Autorinnen und Autoren herzlich für die konstruktive Zusammenarbeit und gedenken der leider viel zu früh verstorbenen Kolleginnen Kerstin Gloger-Wendland und Annette Zängle, deren wertvolle Beiträge wir aus der ersten Ausgabe übernommen haben. Dem Herder-Verlag danken wir für das Vertrauen und die Unterstützung. Den Leserinnen und Lesern wünschen wir viel Freude mit dem Buch und die eine oder andere neue Erkenntnis oder Anregung!

Bettina Lamm & Karsten Herrmann

Interkulturelle Kompetenz –Grundlagen und Begriffsbestimmungen für die pädagogische Praxis

Bettina Lamm

Interkulturelle Kompetenz ist zum Schlagwort in den öffentlichen Debatten um wachsende Globalisierung sowie zunehmende Migrations- und Fluchtbewegungen geworden. Bildungspolitiker:innen und Medien fordern gleichermaßen, dass frühkindliche Bildungseinrichtungen als Brücken zu gesellschaftlicher Integration und zur Herstellung von Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit für alle Kinder fungieren. Die Bedeutung von kultureller Vielfalt wird sowohl im bundesweit gültigen Rahmenplan für die Gestaltung von früher Bildung in Kindertagesstätten als auch in den Bildungs- und Orientierungsplänen der einzelnen Bundesländer sowie im Kinder- und Jugendhilfegesetz betont (vgl. Kapitel 4.1).

Wachsende kulturelle Vielfalt in Kitas

Dabei spiegelt kulturelle Vielfalt nicht erst seit Kurzem die gesellschaftliche Realität in Deutschland wider. Pädagogische Fachkräfte arbeiten seit Jahrzehnten mit einer wachsenden kulturellen Vielfalt in den frühkindlichen Bildungseinrichtungen. Im Jahr 2020 hatten etwa 40 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren einen sogenannten Migrationshintergrund (Bundeszentrale für politische Bildung 2022). In Folge des russischen Angriffskriegs kam es im Jahr 2022 zu einer weiteren starken Zuwanderung (bereits im ersten Halbjahr etwa 750.000 Personen) aus der Ukraine, überwiegend von Frauen und Kindern (Statistisches Bundesamt 2022). Diese Zahlen erzeugen bei vielen Ängste und Verunsicherung, wie mit der enormen kulturellen Vielfalt umgegangen werden kann. Dabei bleibt unerwähnt, dass diese Statistiken keine homogenen Gruppen beschreiben, sondern Personen mit Migrationshintergrund sich hinsichtlich ihrer Aufenthaltsdauer in Deutschland, ihrer Staatsangehörigkeiten, ihrer kulturellen und sprachlichen Wurzeln und vieler anderer individueller Merkmale unterscheiden (vgl. auch Kapitel 1.2). Es wird darüber hinaus vernachlässigt, dass Vielfalt nichts grundsätzlich Neues ist, was plötzlich über uns hereinbricht. Pädagogik hat vielmehr per se mit Angehörigen verschiedener Kulturen zu tun. Auch unabhängig von Zuwanderungserfahrungen unterscheiden sich Familienkulturen. Pädagogische Forschung und Praxis haben sich bereits seit Langem damit auseinandergesetzt und Erfahrungen gesammelt bzw. Konzepte erarbeitet.

Dennoch prägen bisher häufig unreflektiert die Werte und Normen der dominierenden Kultur einschließlich der zugehörigen Höherwertigkeitsvorstellungen den Diskurs.

Interkulturelle Pädagogik

Von der Ausländerpädagogik zur interkulturellen Pädagogik

Ausgangspunkt für die Entwicklung einer interkulturellen Pädagogik war die sogenannte Ausländerpädagogik, die seit den 1960er- und 1970er-Jahren die Bildungssituation der Kinder von Arbeitsmigrant:innen sowie später Aussiedler:innen und Schutzsuchenden in Deutschland in den Blick nahm. Dabei lassen sich rückblickend drei unterschiedliche Perspektiven erkennen: Rotation (Sonderbeschulung aufgrund erwarteter Rückkehr ins Heimatland), Integration (dauerhaftes Verbleiben in Deutschland und möglichst schnelle Regelbeschulung) sowie Option für Rückkehr oder Integration (Regelbeschulung und dauerhafter muttersprachlicher Unterricht). Allen drei Prinzipien ist gemeinsam, dass sie von einem Entweder-Oder zweier Kulturen ausgehen und die Dynamik von Kulturen, insbesondere ihre Veränderung aufgrund von Migrationserfahrungen, vernachlässigen (Prengel 2019).

Defizitorientierung in der Ausländerpädagogik

Kritik an monokulturellem Weltbild

Darüber hinaus richtete sich Ausländerpädagogik ausschließlich an ausländische Schüler:innen. Sie wies eine deutliche Defizitorientierung auf, deren Referenzrahmen das deutsche Bildungssystem war. Das Hauptaugenmerk lag auf dem kompensatorischen Deutschlernen sowie der erwarteten Anpassung an die Werte und Normen der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Daher wird häufig auch der Begriff Assimilationspädagogik verwendet. Prengel (2019) erläutert, dass diese assimilierend-kompensatorischen Bemühungen durchaus notwendig für die Lebensbewältigung der Kinder in der hiesigen Gesellschaft sind. Um ihr Recht auf Bildung wahrzunehmen, müssen sie Einblicke in die Kultur und die Chance bekommen, die kulturell notwendigen Kompetenzen zu erwerben. Gleichzeitig wird damit die Familienkultur der Kinder als Hindernis für Bildungserfolg betrachtet und so ein monokulturelles Weltbild verfestigt und fortgeschrieben, welches die Heimatkulturen und die sich entwickelnden Migrantenkulturen ausblendet, ignoriert und abwertet (ebd., S. 72).

Kritik an diesen monistisch orientierten Konzepten hat ab den 1980er-Jahren einen Perspektivwechsel eingeleitet, der jedoch bis heute nicht vollends abgeschlossen ist. Vielmehr wird das Konzept der interkulturellen Erziehung fortwährend weiterentwickelt und verfeinert.

Interkulturelle Erziehung richtet sich ausdrücklich an alle Kinder, Angehörige kultureller Minderheiten ebenso wie dominierender Mehrheiten, und thematisiert die Beziehungen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kulturen (ebd.). Damit wird anerkannt, dass jede und jeder Teil der sprachlichen und kulturellen Vielfalt ist und nicht »die Anderen« die gesellschaftliche Pluralität begründen (Lanfranchi 2013). Interkulturelle Erziehung zielt darauf, das Bewusstsein für die eigene kulturelle Herkunft und damit verbundene Normen, Werte, Symbole und Verhaltensweisen zu fördern (Prengel 2019).

Zwischen universalistischer und kulturrelativistischer Orientierung

Universelle Werte

Innerhalb der interkulturellen Pädagogik entwickelten sich zwei Strömungen, um der Kritik an der Monokulturalität zu begegnen. Einerseits wurde der Versuch unternommen, der Erziehung universelle, über die Kulturen hinweg geltende Werte und Grundprinzipien zugrunde zu legen. Ein solcher überkultureller Geltungsanspruch ist jedoch schwer einzulösen. Universalistische Entwicklungstheorien vernachlässigen dabei, dass sämtliche menschliche Entwicklungsprozesse untrennbar mit den jeweiligen Lebenszusammenhängen, Kontextbedingungen und gesellschaftlichen Strukturen verwoben sind. So wird die euroamerikanische Moderne häufig zum universellen Ideal erklärt und der Vorwurf eines verdeckten Eurozentrismus ist schwer von der Hand zu weisen. Ein Rückgriff auf die Menschenrechte unterstützt den Anspruch der globalen Gültigkeit, doch auch sie sind von Menschen in konkreten historischen Situationen ausgehandelt. So fasst Prengel (2019, S. 78) zusammen: »Universalismus läuft immer Gefahr, falscher Universalismus zu sein, es gibt keine Personen und keine Instanzen, die in der Lage wären, wirklich für alle zu sprechen. Es ist also nicht möglich, von irgendeinem Standpunkt aus legitime, universell gültige Aussagen zu machen.«

Kulturrelativismus

Die Gegenposition zum pädagogischen Universalismus stellt der kulturanthropologisch geprägte Kulturrelativismus dar. Dieser erkennt kulturelle Lebensformen, Produktionsweisen und Denk- und Empfindungsmuster als grundsätzlich gleichwertig an und betrachtet sie als Widerspiegelung der Vielfalt der Lebensbedingungen. Rechtfertigung zieht diese Position aus den unersetzlichen menschlichen Leistungen der unterschiedlichen Kulturen und den kulturzerstörerischen Wirkungen des westlichen Überlegenheits- und Fortschrittsglaubens im Zuge des Kolonialismus und Neokolonialismus. Kritiker:innen des Kulturrelativismus berufen sich auf die Unmenschlichkeiten anderer Kulturen und die fortschrittliche Humanität ihres eigenen Denkens. Konsequenter Kulturrelativismus gerät somit durch die Unmöglichkeit der Anerkennung von Menschenfeindlichkeit an seine Grenzen, wenngleich einzuwenden ist, dass es sowohl Zerstörung, Unmenschlichkeit und Unterdrückung, aber auch Mitmenschlichkeit und Kreativität in der Mehrzahl der Kulturen geben wird und diese nicht gegeneinander aufzurechnen sind (ebd., S. 85).

Für die interkulturelle Erziehung bedeutet dies, dass der Schlüssel zu wechselseitigem Respekt zwischen den Kulturen in der Anerkennung der eigenen kulturellen Prägungen und der Begrenztheit der eigenen Sichtweisen liegt. Die Wahrnehmung dieser kulturellen Befangenheit stellt keineswegs die Berechtigung oder Legitimation der eigenen historisch-kulturell gewachsenen Normen und Werte in Frage (ebd., S. 88). Es geht vielmehr darum, die grundsätzliche Kulturgebundenheit menschlichen Denkens, Fühlens, Verhaltens und Bewertens zu realisieren.

Kulturelle Diskrepanz zwischen Familie und Bildungsinstitution

Dieses Bildungsziel steht allzu häufig im Widerspruch zur Realität institutioneller Bildungseinrichtungen, die sich als monokulturelle Mittelschichtinstitutionen darstellen. Während eine Vielzahl von Kindern und ihren Familien sich kulturellen Diskrepanzen zwischen Familie und Einrichtung stellen müssen, erleben Angehörige von Mittel- und Oberschicht größere Übereinstimmungen zur Einrichtungskultur (vgl. Kapitel 3.9). Wenn interkulturelles Zusammenleben jedoch gelingen soll, können gemeinsame Normen nicht einseitig festgelegt werden. Sie müssen im gesamtgesellschaftlichen Diskurs immer wieder hergestellt werden. Das erfordert von allen Beteiligten interkulturelle Kompetenz. Was aber verbirgt sich hinter dieser Forderung im Detail? Wie kann diese Fähigkeit (weiter)entwickelt werden? Und wie zeigt sie sich im Kita-Alltag?

Exkurs: Was ist Kultur?

Kultur zu definieren, ist keine einfache oder banale Frage. Bereits vor mehr als 70 Jahren haben Kroeber und Kluckhohn 164 Definitionen zusammengetragen (Kroeber & Kluckhohn 1952). Im Gegensatz zur alltäglichen Verwendung des Begriffes, bei der nach wie vor häufig einseitig auf ethnisch-nationale Aspekte von Kultur fokussiert wird, wird hier ein anderer Kulturbegriff verwendet. Kultur wird definiert als geteilte Verhaltensweisen (kulturelle Praktiken) und geteilte Überzeugungssysteme (kulturelle Interpretationen), die aus einem sozial-interaktiven Prozess hervorgehen, Anpassungen an die jeweiligen öko-sozialen Umweltbedingungen darstellen und von einer Generation an die nächste weitergegeben werden (Keller & Kärtner 2013).

Kultur bestimmt, wie wir die Welt sehen und welche Bedeutungen wir unseren Erfahrungen zuschreiben, aber auch wie wir unser Leben in unserer jeweiligen Umgebung gestalten. Somit ist Kultur Alltag und nicht nur Theater oder Kunst. Kultur umfasst ebenso die Art und Weise, wie wir uns morgens begrüßen, was und wie wir essen, wie wir uns fortbewegen, wie wir kommunizieren, unsere Wertvorstellungen und normativen Regeln, was wir für gut und richtig im Umgang mit Kindern halten und wie wir sie fördern und erziehen.

Ähnliche sozio-ökonomische Milieus – ähnliche kulturelle Muster

Kultur ist dabei eben nicht an ethnische Herkunft oder Ländergrenzen gebunden, sondern milieuspezifisch bzw. abhängig von sozio-demografischen Kontextbedingungen. Das formale Bildungsniveau, die wirtschaftliche Situation, das Lebensumfeld (z. B. Großstadt oder dörfliche Gemeinschaft) sowie die Familienkonstellation (Anzahl der Kinder, Kernfamilie oder Mehrgenerationenfamilie etc.) beeinflussen die kulturellen Muster maßgeblich. Entsprechend können Menschen im gleichen Land oder der gleichen ethnischen Herkunft sehr unterschiedlichen kulturellen Gruppen angehören und Menschen in unterschiedlichen Ländern oder Angehörige verschiedener ethnischer Gruppen ganz ähnliche kulturelle Muster aufweisen. So ist vermutlich eine gut situierte Berliner Akademikerfamilie mit einem Kind einer hoch gebildeten New Yorker Ein-Kind-Familie der gehobenen Mittelschicht kulturell ähnlicher als einer Arbeiterfamilie mit mehreren Kindern aus dem Berliner Umland. Ebenso sind zum Beispiel die kulturellen Praktiken und Überzeugungen traditioneller Bauernfamilien im ländlichen Kamerun denen im ländlichen Indien sehr ähnlich, unterscheiden sich aber stark von denen hoch gebildeter städtischer Mittelschichtfamilien in den jeweiligen Ländern (z. B. Keller 2007, 2011).

Dimensionen der interkulturellen Kompetenz

Interkulturelle Kompetenz als effektive und angemessene interkulturelle Kommunikation

Treffen Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Überzeugungen und Praktiken aufeinander, kann es zu kulturellen Missverständnissen im Miteinander führen. Verhaltensweisen des Gegenübers werden möglicherweise falsch interpretiert oder gegenseitige Erwartungen nicht erfüllt. Interkulturelle Kompetenz zur Bewältigung solcher Situationen beinhaltet viele verschiedene Komponenten auf unterschiedlichen Dimensionen, beispielsweise Wissensbestände, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Versuche, diese Vielschichtigkeit knapp auf den Punkt zu bringen, münden in ziemlich abstrakten Definitionen, wie zum Beispiel Kompetenz »als effektive und angemessene Interaktion zwischen Menschen, die sich mit spezifischen physischen und symbolischen Milieus identifizieren« (Chen & Starosta 1996, S. 358; Übersetzung: Bettina Lamm). Diese Definition stellt eine Übertragung von interpersonaler kommunikativer Kompetenz in den interkulturellen Kontext dar (Straub u. a. 2010). Wie allgemein in der Kommunikation werden die Kriterien der Effektivität und Angemessenheit in den Mittelpunkt kompetenten, also erfolgreichen, zielführenden Handelns gestellt. Effektivität bezieht sich dabei auf die Frage, ob oder inwieweit die angestrebten Ergebnisse erreicht werden. Angemessenheit bedeutet, dass die Handlungen den Erwartungen und Erfordernissen der Situation entsprechen.

Interkulturelle Kompetenz als kognitive, emotionale und handelnde Reaktion auf kulturelle Bedingungen

Konkreter, wenngleich deutlich umfangreicher, ist die Definition von Thomas (2011, S. 15): »Interkulturelle Handlungskompetenz zeigt sich in der Fähigkeit, kulturelle Bedingungen und Einflussfaktoren in der Wahrnehmung, im Urteilen, im Denken, in den Emotionen und im Handeln bei sich selbst und bei fremden Personen zu erfassen, zu würdigen, zu respektieren und produktiv zu nutzen, und zwar im Sinne einer wechselseitigen Anpassung, einer Toleranz gegenüber Inkompatibilitäten (kulturell bedingte Unvereinbarkeiten) und der Entwicklung möglicherweise synergetischer Formen des Zusammenlebens, der Lebensgestaltung und der Bewältigung von Problemen.«

Um diese Definition für die Praxis verständlich und nutzbar zu machen, ist es hilfreich, die einzelnen Bestandteile genauer zu beleuchten. Zum einen sind hier verschiedene Dimensionen benannt, in denen sich kulturelle Einflüsse zeigen. Es werden sowohl kognitive Aspekte wie die Wahrnehmung, das Urteilen und Denken, aber auch Emotionen und die praktische Verhaltensdimension einbezogen. Diese drei Dimensionen spiegeln sich ebenfalls in diversen Komponentenmodellen interkultureller Kompetenz, die wesentliche Aspekte des Konstrukts systematisch ordnen und auflisten, wider (z. B. Bolten 2006). Zum anderen wird verdeutlicht, dass die kulturellen Einflüsse erst durch den Vergleich des Eigenen und des Fremden erlebt werden. Wenngleich die Formulierung »Es gibt keine Kultur ohne andere Kulturen« (Straub u. a. 2010, S. 16) vielleicht etwas überspitzt erscheint, so herrscht doch Konsens darüber, dass die Bewusstwerdung der eigenen kulturellen Normen, Werte und Regeln durch den Kontakt mit anderen Orientierungssystemen und die Wahrnehmung eines Kontrastes zu den eigenen Überzeugungen und Handlungsroutinen katalysiert wird. Die jeweiligen kulturellen Einflüsse nicht nur zu erkennen, sondern darüber hinaus zu würdigen und zu respektieren, erfordert eine Offenheit, den Gewohnheiten und Denkformen anderer wertfrei zu begegnen. Wechselseitige Anpassung und die Entwicklung neuer (kultureller) Muster sind nur durch die Bereitschaft und Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren und zu verändern, möglich (Straub u. a. 2010).

Wahrnehmung kultureller Einflüsse im Vergleich von Eigenem und Fremdem

Interkulturelle Kompetenz ist also etwas sehr Persönliches. Der Kontakt und die Auseinandersetzung mit fremden kulturellen Lebensformen berühren die eigene (kulturelle) Identität. Die Grundfesten des eigenen Lebens werden dabei mitunter infrage gestellt und dem Bewusstsein teilweise entzogene Ängste, Sehnsüchte und Wünsche aktiviert. Dies hat zur Folge, dass interkulturelles Lernen mitunter so komplex und mühevoll ist.

Heuristisches Modell zur Interpretation interkultureller Begegnungen

Auernheimer (2013) richtet mit seinem heuristischen Modell zur Interpretation interkultureller Begegnungen den Blick auf die sozialen Rahmenbedingungen. Er benennt darin vier zu berücksichtigende Dimensionen, die jeweils auf die verschiedenen Komponenten interkultureller Kompetenz zu beziehen sind. (1) Machtasymmetrien resultieren aus ungleichem Status, ungleichen Ressourcen und ungleicher Rechtsstellung und zeigen sich in ungleichen Handlungs- und Einflussmöglichkeiten. (2) Kollektiverfahrungen umfassen historisch-globale Erfahrungen sowie konkrete Diskriminierungserfahrungen, die besondere Verletzlichkeiten oder generalisierte Reaktionen des Rückzugs, Widerstands oder der Aggression mit sich bringen können. (3) Fremdbilder spiegeln den gesellschaftlichen Diskurs wider und erschweren wie Stereotype und Vorurteile die unvoreingenommene Wahrnehmung des individuellen Gegenübers. (4) Differente Kulturmuster, die aus Sicht von Auernheimer überbewertet sind, stellen kulturelle »Codes« oder Skripte dar, die unbewusst das soziale Alltagsleben gestalten.

Es wird deutlich, dass interkulturelle Kompetenz keine Fähigkeit ist, die durch das Lesen eines Buches, Hören eines Vortrags oder die Teilnahme an einem Workshop erworben werden kann und dann immer abrufbar ist. Vielmehr beschreibt sie einen lebenslangen Lern- und Entwicklungsprozess, der immer wieder neue Herausforderungen bereithält, stetige Reflexion und besondere Empathie erfordert und jeweils situationsabhängig neu organisiert werden muss.

Interkulturelle Kompetenz als Trias aus Wissen, Haltung und Handeln

In Anlehnung an Keller und Borke (Keller 2013; Borke & Keller 2021) wird interkulturelle Kompetenz als Trias aus Wissen, Haltung und Handeln verstanden. Diese drei zentralen Komponenten sollen im Folgenden näher erläutert und unter Berücksichtigung der sozialen Rahmenbedingungen auf das Praxisfeld der Kita bezogen werden.

Wissen

Wissen über kulturelle Sozialisationsstrategien und Entwicklungsverläufe

Die kognitive Komponente des Wissens oder der Kenntnis bezieht sich im Rahmen der pädagogischen Arbeit in der Kita auf »das Wissen um unterschiedliche kulturelle Hintergründe, Formen und Verläufe der Entwicklung sowie kulturell bedingte elterliche und pädagogische Herangehensweisen an frühpädagogische Themen und Handlungsfelder« (Borke & Keller 2021, S. 105). Dabei geht es um eher abstraktes Wissen darüber, wie sich sozio-ökonomische Kontextbedingungen auf kulturelle Modelle und damit einhergehende elterliche Sozialisationsstrategien und kindliche Entwicklungsverläufe auswirken. Aber auch Wissen über rechtliche Grundlagen der Zuwanderung, globale Abhängigkeiten und die Entstehung und Wirkung von Vorurteilen ist im Sinne von Auernheimer notwendig. Dieses Wissen kann durch Weiterbildungen und entsprechende Fachlektüre erworben werden.

Zum anderen meint Wissen hier die ganz konkrete Kenntnis der spezifischen kulturellen Milieus und der spezifischen Überzeugungen, Erfahrungen, Handlungsroutinen, Traditionen und religiösen Regeln der Kinder und Familien in der Kita.

Wenn pädagogische Fachkräfte wissen, wie eine Familie lebt und welche Werte die (Erziehung in der) Familie prägen, ist das ein erster Schritt zu einer kulturbewussten pädagogischen Arbeit. Dieses Wissen wird bestenfalls im direkten Austausch mit den Familien gesammelt, kann aber auch, zum Beispiel im Falle von sprachlichen Verständigungsproblemen, über Dritte, die mit dem kulturellen bzw. familiären Hintergrund vertraut sind, zusammengetragen werden.

Wissen um eigene Kulturgebundenheit und Nicht-Wissen

Nicht zuletzt schließt die Komponente des Wissens auch das Wissen um die eigene Kulturgebundenheit und die Grenzen des Wissens bzw. die Akzeptanz der Nicht-Verstehbarkeit mit ein (Mecheril 2013). Jede Person kann die Andersheit des Anderen immer nur auf Grundlage der eigenen kulturell geprägten Zugänge zur Welt wahrnehmen. Der Anspruch des Wissens über den Anderen verschiebt die Definitionsmacht über die soziale Wirklichkeit einseitig. Damit werden gesellschaftliche Machtverhältnisse reproduziert und interkulturelle Austauschprozesse konterkariert. Wissen kann also in diesem Sinne jeweils nur als eine Annäherung an die Perspektive des Gegenübers, als Versuch, ein Stück in die Lebenswelt des Anderen mit ihren komplexen Kontexteinflüssen einzutauchen, verstanden werden.

Die Entwicklung der Wissenskomponenten inklusive des Aushaltens der mit dem Nicht-Wissen verbundenen Unsicherheiten und Widersprüchlichkeiten wird von einer neugierigen, offenen Haltung gegenüber kulturellen Phänomenen begünstigt.

Haltung

Kultureller Diversität offen und wertschätzend zu begegnen und sich dabei auftretender Machtasymmetrien bewusst zu sein, ist unerlässlich für interkulturelle Kompetenz. Insbesondere in Bezug auf die Sozialisationsvorstellungen ist jeder Mensch stark von den eigenen frühen Erfahrungen beeinflusst, sodass es zunächst unhinterfragt jeweils nur die eine Art und Weise zu geben scheint, wie man mit Kindern umgeht. Das vertraute, von Beginn an erlebte Erziehungsverhalten erscheint als das »normale« und einzig richtige Vorgehen. Abweichende Beobachtungen und Erlebnisse wirken befremdlich, wenn nicht gar falsch oder schädlich für das Kind. Um Wissen über alternative Erziehungsvorstellungen und -praktiken zu erlangen und bestenfalls zu verstehen, welchen Anpassungswert diese in bestimmten Kontextbedingungen aufweisen, braucht es zunächst die Offenheit und Bereitschaft, sich damit ohne vorschnelle Bewertung auseinanderzusetzen.

Offenheit und Wertschätzung bedeuten in diesem Sinne nicht, alles gutzuheißen, sondern sich selbst und den anderen achtsam gegenüberzutreten. Es ist gleichermaßen wichtig, die eigenen Gefühle, Gedanken, Befürchtungen zu hinterfragen sowie dem fremd Erscheinenden auf den Grund zu gehen. Es wird nicht möglich sein, die eigene kulturelle Brille vollständig abzulegen, aber es ist notwendig, sich dieser selbstreflexiv bewusst zu werden.

Fragende Haltung

Das bedeutet, sich als pädagogische Fachkraft beispielsweise immer wieder zu fragen: Warum irritiert es mich, wenn die Mutter keine Türund-Angel-Gespräche mit mir führt? Was genau stört mich daran, dass der Sechsjährige noch an- und ausgezogen wird? Welche meiner pädagogischen Überzeugungen verletzt es, wenn die Zweijährige am ersten Kita-Tag einfach in die Gruppe »geschoben« wird und die Bezugsperson nicht zur Eingewöhnung bleibt? Diese fragende Haltung ermöglicht es, die eigenen Erwartungen zu reflektieren.

Ressourcenorientierte Haltung

Andererseits ist es gleichermaßen sinnvoll, auf der Seite der Familie zu schauen, was sie möglicherweise daran hindert, meinen Erwartungen zu entsprechen. Diese Haltung entspricht dem systemischen Gedanken, dass jedes Verhalten einen guten Grund hat. Spricht die Mutter mich aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse nicht an oder vielleicht, weil sie meine Kompetenz nicht infrage stellen möchte? Sehen die Eltern Fürsorge und das Abnehmen alltäglicher Verrichtungen als Ausdruck ihrer Liebe? Wird Eingewöhnung als unnötig erachtet, weil das Kind bereits eine Vielzahl von unterschiedlichen Betreuungspersonen gewöhnt ist?

In dieser Betrachtungsweise liegt eine Ressourcenorientierung, nämlich den Wert eines Verhaltens im Kontext der jeweiligen kulturellen Überzeugungen zu erkennen. Eltern und Kinder, denen mit dieser Haltung begegnet wird, fühlen sich willkommen und angenommen. Auf Grundlage dieser Empathie wird konstruktiver Austausch über unterschiedliche Erwartungen und Überzeugungen möglich, und es lassen sich gemeinsame, wechselseitig akzeptierte Lösungen im Sinne geteilter Normen für die Zusammenarbeit entwickeln.

Handeln

Diese Dimension verlangt von den pädagogischen Fachkräften ein Repertoire von erweiterbaren und flexibel bzw. situationsabhängig einsetzbaren Handlungsoptionen, die das entsprechende Wissen und die Haltung reflektieren und kulturbewusst angepasst werden können.

Es gibt weder eine Checkliste für interkulturell kompetentes Verhalten noch eine allgemeingültige Handlungsanweisung für den optimalen Umgang mit kultureller Vielfalt. Adäquates Verhalten kann nur in den jeweils spezifischen Situationen im Dialog mit den beteiligten Kindern und Familien entwickelt werden. Dies erfordert Kooperation, Flexibilität und Kreativität, um alltagstaugliche Wege zu finden, die Stereotype korrigieren und den Bedürfnissen und Erwartungen aller Beteiligten entgegenkommen.

Perspektivenübernahme

Die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, sich immer wieder zu fragen, welche Auswirkungen das eigene professionelle Verhalten auf die einzelnen Beteiligten hat, unterstützt diesen Prozess. Grundsätzlich hilft es, sich darüber bewusst zu sein, dass das gleiche Verhalten ganz unterschiedliche Effekte auf verschiedene Kinder und ihre Entwicklung haben kann – je nachdem, welche Erfahrungen sie aus der Familie mitbringen. So kann die morgendliche Aufforderung der Erzieherin »Überleg dir, was und mit wem du heute spielen möchtest« für ein Kind, das es gewohnt ist, eigene Entscheidungen zu treffen und Interessen und Präferenzen auszuleben, die Einladung zu einem spannenden Selbstbildungsprozess sein. Bei einem Kind hingegen, von dem üblicherweise erwartet wird, den Anforderungen der Erwachsenen zu folgen und sich den Bedürfnissen der Gruppe unterzuordnen, mag diese Aufforderung Hilflosigkeit und Überforderungsgefühle auslösen. Um das gleiche pädagogische Ziel bzw. Chancengleichheit aller Kinder herzustellen, können also ganz unterschiedliche Handlungsstrategien nötig sein.

Schlussfolgerungen für die frühpädagogische Praxis

Im Alltag wird interkulturelle Kompetenz nur durch das Zusammenspiel der drei Dimensionen Wissen, Haltung und Handeln möglich, da sie sich in komplexer Weise wechselseitig bedingen und beeinflussen. So führt Wissen über unterschiedliche Kulturen und kulturelle Modelle nicht automatisch zu interkultureller Handlungskompetenz. Vielmehr braucht es die entsprechende Haltung und konkrete Handlungsstrategien, um interkulturelle Kompetenz in der konkreten Interaktion zu zeigen. Umgekehrt bringt aber auch die reine Vermittlung von Verhaltensmustern nicht den erwünschten Erfolg, wenn nicht gleichzeitig Wissen erworben und an der Haltung gearbeitet wird. Gleichermaßen ist der Erwerb von Wissen durch eine offene Haltung und praktische Erfahrungen beeinflusst und die Haltung wiederum abhängig von interkulturellem Kontakt und bereits bestehenden Kenntnissen.

Kulturelle Vielfalt im Team

Für alle drei Komponenten ist es grundsätzlich von Vorteil, wenn das Kita-Team multikulturell aufgestellt ist. Ein heterogenes Team repräsentiert die immer vielfältiger werdende Gesellschaft besser und fördert das Gefühl der Zugehörigkeit bei Familien unterschiedlichster kultureller Herkunft. Dabei liegt die Verantwortung für die interkulturelle Kompetenz in der Einrichtung jedoch keineswegs allein bei den Fachkräften, die selbst Einwanderungserfahrungen mitbringen oder Minoritäten angehören. Diese Erfahrungen führen nicht automatisch zu hoher interkultureller Kompetenz. Es hat sich jedoch gezeigt, dass die Arbeit in einem Team mit pädagogischen Mitarbeiter:innen unterschiedlicher kultureller Hintergründe die pädagogischen Überzeugungen und Ziele der einzelnen verändert (Huijbregts u. a. 2009). Kulturelle Diversität im Team ist dennoch kein Garant für interkulturelle Kompetenz, sondern vielmehr eine Chance für interkulturelles Lernen (Gaitanides 2013). Interkulturelle Teamentwicklung erfordert intensive und systematische Lernprozesse. Reger Austausch und die Weiterentwicklung von Toleranz innerhalb des Teams können dann Offenheit sowie die Bereitschaft und Fähigkeit zum Perspektivenwechsel gegenüber den Familien fördern. Einer Studie der Vodafone Stiftung zufolge verfügen knapp 50 Prozent der Kita-Teams über pädagogische Fachkräfte mit Migrationshintergrund (Lokhande 2014). Dies wird als wichtiges Indiz für die interkulturelle Kompetenz der Teams interpretiert. In Anbetracht der Tatsache, dass der gleichen Studie zufolge weniger als ein Fünftel der Einrichtungen systematisch interkulturelle Fortbildungen oder Qualifizierungsmaßnahmen durchführt, kommt jedoch eher Zweifel und Anlass zur Sorge auf.

Das vorliegende Buch hat sich zum Ziel gesetzt, pädagogische Fachkräfte dabei zu unterstützen, kompetent in kulturell heterogen zusammengesetzten Kitas zu agieren. Dabei beschränkt sich interkulturelle Kompetenz gemäß dem eingeführten Verständnis von Kultur nicht auf den Kontakt mit Kindern/Familien bestimmter ethnischer Herkunft. Vielmehr definieren auch sozio-ökonomische Unterschiede sowie unterschiedliche formale Bildungshintergründe und Familienkonstellationen der Interaktionsbeteiligten interkulturelle Situationen.

Wenngleich die drei Komponenten der interkulturellen Kompetenz in enger Wechselwirkung stehen, dient die Trias aus Wissen, Haltung und Handeln der Gliederung dieses Buches. Die Zuordnung der einzelnen Beiträge war nicht leicht oder eindeutig, aber dennoch spiegelt sie eine jeweilige Schwerpunktsetzung wider. Im ersten Teil wird Wissen über kulturelle Modelle und kulturspezifische Entwicklungsverläufe sowie Akkulturationsprozesse zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus werden Erfahrungen, Erwartungen und Einblicke in die Lebenswelten von zugewanderten und geflüchteten Kindern und Familien gegeben. Im zweiten Teil stehen die Haltung der pädagogischen Fachkräfte, eine Sensibilisierung für Diskriminierung sowie die interkulturelle Öffnung der Kita als Organisation im Fokus. Im breitgefächerten dritten Teil werden systematisch verschiedene Aspekte des Kita-Alltags im Hinblick auf Herausforderungen durch kulturelle Diversität sowie kulturbewusste praktische Lösungsansätze beleuchtet. Dabei wird in einigen Beiträgen ein Schwerpunkt auf Kinder mit Fluchterfahrungen gelegt. Der abschließende Teil lenkt die Aufmerksamkeit darauf, wie Interkulturalität in den Bildungsplänen bzw. in Aus- und Weiterbildung Berücksichtigung findet.

Literatur

Auernheimer, G. (2013): Interkulturelle Kommunikation, mehrdimensional betrachtet, mit Konsequenzen für das Verständnis von interkultureller Kompetenz. In: G. Auernheimer (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität (S. 37–70). Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Bolten, J. (2006): Interkultureller Trainingsbedarf aus der Perspektive der Problemerfahrungen entsandter Führungskräfte. In: K. Götz (Hrsg.): Interkulturelles Lernen, interkulturelles Training (S. 57–75). München: Hampp.

Borke, J. & Keller, H. (2021): Kultursensitive Frühpädagogik. 2., überarbeitete Auflage. Stuttgart: Kohlhammer.

Bundeszentrale für politische Bildung (2022): Bevölkerung mit Migrationshintergrund. https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61646/bevoelkerung-mit-migrationshintergrund/(Zugriff am 25.03.2023).

Chen, G.-M. & Starosta, W. J. (1996): Intercultural communication competence: A Synthesis. Annals of the International Communication Association, 19(1), 353–383.

Gaitanides, S. (2013): Interkulturelle Teamentwicklung – Beobachtungen in der Praxis. In: G. Auernheimer (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität (S. 153–171). Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Huijbregts, S. K., Tavecchio, L., Leseman, P. & Hoffenaar, P. (2009): Child rearing in a group setting: Beliefs of Dutch, Caribbean Dutch, and Mediterranean Dutch caregivers in center-based child care. Journal of Cross-Cultural Psychology, 40(5), 797–815.

Keller, H. (2007): Cultures of infancy. Mahwah, NJ: Erlbaum.

Keller, H. (2011): Kinderalltag. Heidelberg: Springer.

Keller, H. (2013): Kulturelle Modelle und ihre Bedeutung für die frühkindliche Bildung. In: H. Keller (Hrsg.): Interkulturelle Praxis in der Kita. Freiburg: Herder.

Keller, H. & Kärtner, J. (2013): Development – The culture-specific solution of universal developmental tasks. In: M. L. Gelfand, C.-Y. Chiu & Y. Y. Hong (Eds.): Advances in culture and psychology, Vol. 3 (pp. 63–116). Oxford, NY: Oxford University Press.

Kroeber, A. L. & Kluckhohn, C. (1952): Culture: A critical review of concepts and definitions (Vol. 47, No. 1). Cambridge, MA: Peabody Museum.

Lanfranchi, A. (2013): Interkulturelle Kompetenz als Element pädagogischer Professionalität – Schlussfolgerungen für die Lehrerausbildung. In: G. Auernheimer (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität (S. 232–261). Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Lokhande, M. (2014): Kitas als Brückenbauer. Interkulturelle Elternbildung in der Einwanderungsgesellschaft. Berlin: SVR.

Mecheril, P. (2013): »Kompetenzlosigkeitskompetenz«. Pädagogisches Handeln unter Einwanderungsbedingungen. In: G. Auernheimer (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität (S. 15–34). Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Prengel, A. (2019): Pädagogik der Vielfalt. 4. Auflage. Wiesbaden: VS.

Statistisches Bundesamt (2022): Bevölkerung Deutschlands im 1. Halbjahr 2022 stark gewachsen. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/09/PD22_410_12411.html (Zugriff am 25.03.2023).

Straub, J., Nothnagel, S. & Weidemann, A. (Hrsg.) (2010): Wie lehrt man interkulturelle Kompetenz? Theorien, Methoden und Praxis in der Hochschulausbildung. Bielefeld: transcript.

Thomas, A. (2011): Interkulturelle Handlungskompetenz und ihre Entwicklung. In: A. Thomas (Hrsg.): Interkulturelle Handlungskompetenz (S. 15–32). Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Teil 1:Interkulturelles Wissen

1.1Kulturelle Sozialisationsmodelle und EntwicklungspfadeOrientierungshilfen zum Verständnis kultureller Unterschiede

Bettina Lamm

Fallbeispiel 1

Eine Berliner Mutter (36 Jahre, Akademikerin) spielt mit ihrer eineinhalbjährigen Tochter. Sie sitzen auf dem Boden, eine Auswahl altersentsprechender Spielzeuge um sich herum. Die Mutter beobachtet ihr Kind aufmerksam. Seinen Blick verfolgend, fragt sie:

»Ja, was ist denn da? Ist das interessant? Möchtest du damit spielen?« Sie nimmt den kleinen Plastikball und bietet ihn ihrer Tochter an. Das Mädchen nimmt den Ball an, um ihn sogleich wieder abzulegen und nach einem anderen Spielzeug zu angeln. Sie greift eine kleine Puppe, benennt sie und zeigt sie der Mutter. Die Mutter betrachtet die Puppe und bestätigt ihre Tochter: »Ja, genau, das ist eine Puppe.« Und sie fragt: »Was machen wir nun damit?« Das Mädchen greift nach der Mütze der Puppe, sagt »Auf« und versucht, der Puppe die Mütze aufzusetzen. Während sie die Handlungen ihrer Tochter unterstützt, begleitet die Mutter diese auch verbal:

»Ja, die Mütze aufsetzen. Super machst du das, toll.«

Fallbeispiel 2

In einem Dorf im nordwestlichen Grasland Kameruns kehrt eine Mutter von der Feldarbeit zurück. Auf dem Rücken trägt sie ihren einjährigen Sohn, auf dem Kopf einen Wassercontainer und in der Hand eine Feldhacke. Am Haus angelangt, setzt die Mutter den Jungen auf den Boden und ruft seinen siebenjährigen Bruder herbei. Der ältere Sohn kommt sofort wortlos angelaufen, ihm folgt die dreijährige Schwester, hüpfend und vor sich hin summend. Die Mutter ist bereits in der Küche verschwunden. Der Siebenjährige bindet sich geschickt den kleinen Bruder mit dem Tragetuch auf den Rücken und geht zurück zum Nachbarhaus, um sich dort wieder seinen Freunden anzuschließen, die auf umgedrehten Eimern und Blechdosen kleine Rhythmen trommeln. Mit dem Bruder auf dem Rücken beginnt er zu tanzen.

Fallbeispiel 3

Im Wohnzimmer einer indischen Mittelschichtfamilie in Neu-Delhi: Die Mutter sitzt auf dem Sofa, ihre eineinhalbjährige Tochter steht neben ihr, auf dem Tisch vor ihnen liegen Duplo-Steine und Bauteile sowie einige Zuganhänger. Die Mutter setzt zwei Duplo-Steine aufeinander und stellt sie vor ihre Tochter. Sie versucht, die Aufmerksamkeit des Mädchens auf die Steine zu lenken, und setzt noch einen dritten darauf. Das Mädchen beachtet dies jedoch kaum und greift einen der Anhänger, schaut sich die Räder an und beginnt dann, den Waggon auf dem Tisch vor- und zurückzuschieben, was sie mit »Tut tut« begleitet. Die Mutter versucht erneut, verbal die Aufmerksamkeit der Tochter auf die Steine zu lenken. Als das Mädchen den Anhänger kurz loslässt, greift die Mutter von hinten nach ihrer Hand und führt diese zu einem vierten Stein, um den Turmbau fortzuführen. Die Tochter befreit sich aus dem Griff, entfernt sich einen Schritt von der Mutter und nimmt ihr Spiel mit dem Waggon wieder auf. Die Mutter schlägt nun vor, einen Stein auf den Wagen zu bauen. Schließlich stellt sie weitere Anhänger vor das Kind und fordert es auf, die Waggons zusammenzuhängen. Aus der Küche kommen die beiden älteren Schwestern (fünf und acht Jahre) dazu. Während sich die jüngere der beiden Schwestern zwischen Mutter und Kleinkind setzt und das Geschehen beobachtet, ergreift die ältere Schwester die Hand der Kleinsten und verbindet dann den Waggon mit einem anderen auf dem Tisch.

1.1.1 Kulturelle Sozialisationsmodelle

Fallbeispiel 1

Szenen wie im ersten Fallbeispiel können vielfach in Kinderzimmern sogenannter westlicher Mittelschichtfamilien beobachtet werden. Generell zeigen diese Situationen Mütter, die sehr einfühlsam auch auf feine Signale ihrer Kinder reagieren, kindliche Initiativen unterstützen und das kindliche Verhalten und Erleben verbalisieren und bestätigen. Diese Mütter reden viel mit ihren Kindern, schenken ihnen häufig exklusive Aufmerksamkeit in Eins-zu-eins-Situationen und beziehen fast immer Spielzeuge in die Interaktionen ein. Sie sind darauf bedacht, die Kinder bei der eigenständigen Erkundung ihrer Umwelt zu begleiten und vielfältige Anregungen bereitzustellen. Körperkontakt und körperliche Stimulationen sind eher weniger zu beobachten, meist nur in Form von leichten Berührungen, die den Freiraum des Kindes nicht einschränken.

Im Fokus steht das autonome Kind

Hinter diesem Verhalten stehen ein bestimmtes Bild vom Kind und eine gewisse »pädagogische« Überzeugung bzw. Erziehungsziele, die auch von Expert:innen auf dem Gebiet der frühkindlichen Entwicklung in westlichen Mittelschichtkontexten geteilt werden. So formuliert Remo Largo in seinem Klassiker »Babyjahre«: »Das Kind will und muss in seinem Spiel selbstbestimmt sein. Es braucht die Kontrolle über seine Aktivitäten, damit es interessiert bleibt und das Spiel zu einer sinnvollen eigenen Erfahrung wird« (Largo 2019, S. 273).

Im Fokus dieser Überzeugung steht das autonome Kind, das von Anfang an als eigenständiges Individuum seinen Entwicklungsprozess aktiv gestaltet. Das Kind mit seinen individuellen Bedürfnissen ist im Mittelpunkt und übernimmt die Führung in der Interaktion. Die Rolle der Bezugspersonen besteht darin, das Kind zu begleiten und zu unterstützen.

Ideales Erziehungsverhalten wird zum Beispiel in den Sensitivitätsskalen1 von Mary Ainsworth beschrieben. Demnach sollen kindliche Signale jederzeit sensibel wahrgenommen und richtig interpretiert werden, um angemessen und prompt darauf zu reagieren. Durch diese Erfahrungen wird das Kind darin bestärkt, seine Befindlichkeiten zu äußern, und es lernt, dass seine Gefühle, Wünsche, Vorlieben und Gedanken ernst genommen werden und dieses innere psychische Erleben eine Bedeutung in der äußeren Welt hat. Die Entwicklung des kindlichen Selbstbewusstseins und Selbstwertes wird dadurch gefördert.

Dementsprechend betonen Eltern der westlichen Mittelschicht, wie wichtig es sei, dass ihre Kinder eigene Interessen und Talente sowie die Fähigkeit, eigene Vorstellungen klar auszudrücken, entwickeln. Selbstbewusstsein, Einzigartigkeit und Durchsetzungsfähigkeit stellen hoch bewertete Sozialisationsziele dar (Keller 2011).

Sozialisationsziele: Selbstbewusstsein, Einzigartigkeit und Durchsetzungsfähigkeit

Diese Ziele beruhen auf Anpassung an den wettbewerbsorientierten westlichen Mittelschichtkontext, in dem die individuelle Leistung bzw. die fachlichen und Selbstkompetenzen des Einzelnen über seinen (beruflichen) Erfolg bestimmen. Dabei ist es enorm wichtig, sich von anderen abzuheben, eigenständige Entscheidungen zu treffen und sich gegenüber anderen durchzusetzen. Diese Fähigkeiten versprechen optimale Zukunftsperspektiven in der hoch technisierten und individualisierten, sich schnell verändernden postindustriellen Arbeitswelt.

Global betrachtet, teilen jedoch nur knapp fünf Prozent der Weltbevölkerung dieses Lebensumfeld (Henrich u. a. 2010). Diese Gruppe hochgebildeter, wohlhabender, in urbanen Ballungsräumen westlicher Informationsgesellschaften lebender Familien ist also alles andere als repräsentativ und vertritt auch nicht das einzig mögliche Sozialisationsmodell.

Fallbeispiel 2

Das Kind als Teil einer hierarchisch strukturierten Gemeinschaft

Ein Alternativmodell wird im zweiten Fallbeispiel deutlich. Die kleinbäuerliche Lebensweise in traditionellen Dorfgemeinschaften wird von etwa 40 Prozent der Weltbevölkerung geteilt und steht in deutlichem Kontrast zum westlichen Mittelschichtmilieu. In diesem Lebensumfeld ist der Zugang zu formaler Schulbildung erschwert. Die Menschen leben in streng hierarchisch organisierten Großfamilien mit vielen Kindern. Hier beobachten wir Kinder, die von verschiedenen Bezugspersonen betreut werden, aber dabei nur selten in deren Aufmerksamkeitsfokus stehen. Vielmehr sind sie Teil der Aktivitäten der Bezugspersonen und erleben häufig engen Körperkontakt. Die Bezugspersonen kontrollieren die kindlichen Aktivitäten und trainieren gewünschte Verhaltensweisen. Sie wissen, was gut für die Kinder ist, ohne sich an individuellen momentanen Befindlichkeiten zu orientieren.

Im Mittelpunkt der Erziehung steht in diesem Milieu die Entwicklung von Gehorsam und Respekt gegenüber Älteren (Keller 2011). Die Kinder sollen lernen, die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen, sich in die Familienstruktur einzuordnen und als Teil der Gemeinschaft ihre Aufgaben zu übernehmen. Die Erhaltung der sozialen Harmonie und die Fürsorge für andere spielen für das (wirtschaftliche Über-)Leben in diesem Umfeld eine bedeutende Rolle. Wer sich erfolgreich in die Gemeinschaft eingliedert, darf an den knappen Ressourcen teilhaben. Erfolg ist nicht durch besondere Leistungen des Einzelnen, sondern durch das gemeinsame Bemühen der Gruppe zu erzielen.

Zwei prototypische kulturelle Modelle: Autonomie- und Verbundenheitsorientierung

Vergleicht man diese beiden unterschiedlichen Erziehungsstrategien aus den Fallbeispielen 1 und 2, so wird deutlich, dass die westliche Mittelschicht den Fokus auf das einzelne Kind mit seinen individuellen Bedürfnissen, Vorlieben sowie charakteristischen Merkmalen und Kompetenzen legt, während die traditionellen Bauernfamilien das Kind in Relation zu anderen, als Teil einer hierarchisch strukturierten Gemeinschaft im Blick haben. Diese beiden Perspektiven lassen sich nach Keller als zwei verschiedene kulturelle Modelle beschreiben, die durch den unterschiedlichen Umgang mit den beiden menschlichen Grundbedürfnissen – der Autonomie und der Verbundenheit – gekennzeichnet sind (Keller 2011; Keller & Kärtner 2013). Beide Bedürfnisse sind universal; strebt doch jeder Mensch einerseits nach Kompetenzerleben und andererseits nach Zugehörigkeit zu anderen Menschen. Dennoch werden diese Bedürfnisse je nach kulturellem Milieu unterschiedlich ausgestaltet.

In der westlichen Mittelschicht dominiert die Autonomieorientierung das kulturelle Modell. Autonomie wird dabei mental realisiert, basiert also auf selbstreflexiver Exploration des inneren psychischen Erlebens von Gefühlen, Wünschen und Gedanken und fokussiert auf Selbstbestimmtheit und Selbstwirksamkeit. Die Verbundenheit ist dieser mentalen Autonomie untergeordnet und ebenfalls mental vermittelt. Soziale Beziehungen sind im Modell der mentalen Autonomie frei wählbar und verhandelbar, entsprechend den individuellen Bedürfnissen des Einzelnen. In den traditionellen Dorfgemeinschaften ist die Verbundenheitsorientierung bestimmend. Hierarchische Verbundenheit innerhalb eines Netzwerkes verpflichtender sozialer Beziehungen beherrscht das kulturelle Modell, und Autonomie wird in Form von Handlungsautonomie verwirklicht. Handlungsautonomie meint dabei die eigenverantwortliche Ausführung von Verpflichtungen, die auf bestimmten Rollen basieren (Keller & Kärtner 2013; Borke u. a. 2019).

Unterschiedliche kulturelle Sozialisationsmodelle als Anpassung an die jeweiligen Lebensbedingungen

Diese kulturellen Schwerpunktsetzungen stellen Anpassungen an das jeweilige Lebensumfeld dar und bestimmen maßgeblich, wie Erziehung und kindliche Entwicklung im jeweiligen Kontext ablaufen. Dabei gibt es natürlich nicht nur diese beiden Prototypen kultureller Modelle, sondern eine Vielzahl anderer Gewichtungen und Realisierungen von Autonomie und Verbundenheit (ebd.). Es liegt also fern, die Welt in lediglich zwei Modelle einteilen zu wollen. Dennoch ist dieser Extremgruppenvergleich hilfreich, um ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie unterschiedlich Sozialisationsmodelle aussehen können. Darüber hinaus stellt der traditionelle Kontext mit seinem kulturellen Modell der hierarchischen Verbundenheit für viele Familien, die aufgrund von Flucht oder sonstiger Migration nach Deutschland kommen, den Herkunftskontext dar. Es befinden sich jedoch gerade unter den Familien aus Krisengebieten auch viele Mittelschichtfamilien, die in ihren Herkunftsländern im städtischen Umfeld gelebt und eine gute Ausbildung abgeschlossen haben.

Fallbeispiel 3

Mischform aus mentaler Autonomie und hierarchischer Verbundenheit

Das dritte Fallbeispiel illustriert beispielhaft die Sozialisationsstrategie in einer städtischen Mittelschichtfamilie aus einem nichtwestlichen Kontext. Hier handelt es sich jedoch nicht um ein prototypisches kulturelles Modell mit einem klaren Leitmotiv, das alle Lebensbereiche gleichermaßen steuert, sondern je nach Lebensbereich dominieren unterschiedliche Realisierungen von Autonomie und Verbundenheit. Im Leistungsbereich wird der individuelle Kompetenzerwerb besonders betont. In der beschriebenen Spielsituation steht das Kind im Mittelpunkt, erfährt die exklusive Aufmerksamkeit der Mutter und soll bestmöglich in seiner (kognitiven) Entwicklung gefördert werden. Die Mutter verfolgt ein klares Lern- oder Trainingsziel und lenkt das kindliche Verhalten entsprechend. Auf der Beziehungsebene wird erwartet, dass das Kind die mütterliche Autorität akzeptiert und ihren Vorgaben folgt. Ihm wird also nicht die Führungsrolle in der Interaktion zuteil.

Nicht die individuellen Bedürfnisse und momentanen Ziele des Kindes bestimmen die Situation, sondern vielmehr die übergeordneten gemeinschaftlichen Ziele. Diese gemeinschaftlichen Ziele stellen jedoch keine unhinterfragbaren Verpflichtungen wie im Falle der traditionellen Dorfgemeinschaften dar, sondern werden vielmehr als internalisierte Werte, die die eigene Motivation und das Verhalten prägen, erlebt. Es zeigt sich folglich eine Mischform der vorgenannten kulturellen Modelle. Mentale Autonomie wird im Rahmen hierarchischer Beziehungen, also im Sinne der Gemeinschaft realisiert, beispielsweise indem ein guter Bildungsabschluss erreicht wird, der die Familie stolz macht und finanzielles Auskommen für alle ermöglicht.

1.1.2 Kulturelle Entwicklungspfade

In Anbetracht dieser unterschiedlichen kulturellen Modelle steht außer Frage, dass die kindliche Entwicklung nicht nach einem universellen Plan verlaufen kann. Die kulturspezifischen frühen sozialen Erfahrungen und die jeweiligen elterlichen Zielsetzungen beeinflussen, wie Kinder in diesen unterschiedlichen kulturellen Kontexten aufwachsen und welche Kompetenzen sie (wann) erwerben.

Kulturspezifische Lösungen von Entwicklungsaufgaben

Keller (z. B. 2011) beschreibt diese kulturellen Entwicklungspfade als kulturspezifische Lösungen universeller Entwicklungsaufgaben. Demnach werden im Laufe der Entwicklung dieselben Herausforderungen, zum Beispiel soziale Beziehungen aufzubauen oder Laufen zu lernen, in Abhängigkeit vom kulturellen Milieu unterschiedlich bewältigt. Dabei ergeben sich Unterschiede in Bezug auf den Zeitpunkt des Erreichens eines Entwicklungsmeilensteines (z. B. lernen kamerunische Babys das freie Sitzen bereits im Alter zwischen vier und sechs Monaten), den Entwicklungsverlauf (z. B. die Frage, ob dem freien Laufen das Krabbeln vorausgeht) und die Qualität des Entwicklungsergebnisses (z. B., ob eine exklusive Bindungsbeziehung zu einer primären Bezugsperson aufgebaut wird und wie diese gestaltet ist). Exemplarisch sollen an dieser Stelle verschiedene Aspekte der Selbstentwicklung – das Selbsterkennen, die Selbstregulation und die Selbstrepräsentation – etwas genauer dargestellt werden. Eine ausführlichere Darstellung der kulturellen Einflüsse auf verschiedene Entwicklungsbereiche findet sich im Lehrbuch der kultursensitiven Entwicklungspsychologie von Borke und Kolleginnen (2019).

Das (Spiegel-)Selbsterkennen

Ein Meilenstein der Selbstentwicklung ist das Spiegelselbsterkennen im zweiten Lebensjahr. Wenn sich ein Kind im Spiegel erkennt, dient das als Indikator dafür, dass es ein Selbstkonzept, das heißt, ein Bild von sich selbst als unabhängiges, zielgerichtet handelndes Individuum, entwickelt hat.

Ein Meilenstein der Selbstentwicklung

Kulturvergleichende Untersuchungen zeigen, dass westliche Mittelschichtkinder im Einklang mit dem kulturellen Fokus auf mentale Autonomie dieses Selbstkonzept früher als Kinder in ländlichen traditionellen Gemeinschaften entwickeln. Beobachtet wird dabei das kindliche Verhalten vor dem Spiegel, nachdem das Kind einen Rouge-Fleck im Gesicht aufgetragen bekommen hat. Auf Selbsterkennen wird geschlossen, wenn die Kinder zum Beispiel den Fleck im Gesicht berühren oder ihn der Bezugsperson zeigen. Im Alter von 18 Monaten erkennen sich auf diese Weise 46 Prozent der Mittelschichtkinder aus Berlin und Neu-Delhi, jedoch nur elf bzw. neun Prozent der indischen und kamerunischen Kleinkinder aus traditionellen dörflichen Kontexten (Kärtner u. a. 2012).

Während das kulturelle Milieu der mentalen Autonomie die Entwicklung der für den Spiegeltest nötigen Selbst-Bewusstheit fördert, wird im kulturellen Milieu der hierarchischen Verbundenheit dagegen weniger Wert darauf gelegt, dass sich ein unabhängiges Selbstkonzept entwickelt. Hier wird ein stärkerer Fokus auf die Entwicklung der Selbstregulation gerichtet.

Anzeichen dafür lassen sich ebenfalls bereits im zweiten Lebensjahr beobachten. Im Vergleich zu costa-ricanischen oder griechischen Mittelschichtkindern erledigen kamerunische Nso-Kinder2 kleine mütterliche Aufträge bereitwilliger (Keller u. a. 2004). Es zeigen sich also bereits erste Entwicklungsergebnisse in Übereinstimmung mit dem kulturellen Sozialisationsziel des Gehorsams. Im Vorschulalter setzt sich diese Tendenz fort.

Die Selbstregulation

Der sogenannte Marshmallow-Test

Ein Vergleich von kamerunischen Nso-Bauernkindern mit deutschen Mittelschichtkindern im sogenannten Marshmallow-Test (Mischel 2014) verdeutlicht die kulturellen Unterschiede in den Selbstregulationsfähigkeiten. Bei dieser Aufgabe stehen die Kinder vor der Wahl, eine angebotene Süßigkeit sofort zu verzehren oder auf die Rückkehr der Versuchsleitung zu warten und dann noch eine zweite Süßigkeit dazuzubekommen.

Anscheinend ohne große Anstrengung und ganz ruhig wartet die Mehrheit der Nso-Kinder (ca. 70 Prozent), und einige entspannen sich dabei so sehr, dass sie sogar einschlafen. Den Kindern der deutschen Vergleichsgruppe hingegen kann man die Anspannung förmlich ansehen. Sie versuchen, sich durch Abwenden, Singen, Trommeln, Klatschen, Zählen etc. abzulenken. Viele laufen im Raum herum oder beenden das Warten vorzeitig, indem sie das Zimmer verlassen. Insgesamt gelingt es nur etwa einem Drittel der jungen Proband:innen der westlichen Mittelschicht, auf die zweite Süßigkeit zu warten (Lamm u. a. 2018). Diese Wartesituation widerspricht der im kulturellen Milieu der mentalen Autonomie geförderten Selbstwahrnehmung als unabhängiges, selbstbestimmtes Individuum. Die Kinder haben keine Kontrolle über die Situation. Sie wissen nicht, wie lange es dauern wird, bis die Versuchsleitung zurückkehrt, und können die Wartezeit auch nicht durch ihr Verhalten beeinflussen. Das erzeugt Hilflosigkeitsgefühle und ist schwer auszuhalten. Für Kinder hingegen, die es gewohnt sind, sich äußeren Gegebenheiten anzupassen und zum Wohl der Gemeinschaft eigene Bedürfnisse zurückzustellen, ist diese Wartesituation besser mit dem Selbstbild vereinbar. Das kulturelle Milieu der hierarchischen Verbundenheit fördert also eher Kompetenzen, die einen erfolgreichen Aufschub der Belohnung ermöglichen.

Die Selbstrepräsentation

Selbstzeichnungen der Kinder

Die Selbstrepräsentationen der Kinder – das Bild, das die Kinder von sich selbst entwickeln – lassen sich im Vorschulalter sehr gut anhand von Selbstzeichnungen untersuchen. Auch diese spiegeln in kulturvergleichenden Untersuchungen die unterschiedlichen kulturellen Modelle wider. So zeichnen sich Kinder aus traditionellen dörflichen Kontexten im Vergleich zu westlichen Mittelschichtkindern kleiner und mit weniger Detailmerkmalen, die die Einzigartigkeit und Individualität des einzelnen Kindes hervorheben (Gernhardt 2012). Das Selbst groß in die Mitte des Bildes zu zeichnen und mit individuellen Merkmalen sowie einem positiven Gesichtsausdruck zu versehen, verbildlicht das kulturelle Modell der mentalen Autonomie. Im Modell der hierarchischen Verbundenheit hingegen tritt der oder die Einzelne nicht aus der Gruppe hervor, wird daher eher klein gezeichnet und unterscheidet sich in der bildlichen Darstellung nicht von den anderen.

Die kulturellen Sozialisationsmodelle zeigen, dass Elternschaft und Erziehung »kulturell gesättigte« Aufgaben sind. Angepasst an die jeweiligen öko-kulturellen Kontextbedingungen sind die spezifisch beobachtbaren Sozialisationsstrategien Ausdruck kultureller Werte, Normen und Ziele. Daher kann es nicht die eine richtige oder normale Art der Erziehung oder des Elternverhaltens geben. Sozialisationsprozesse und Entwicklungsverläufe sind immer nur innerhalb eines kulturellen Milieus zu verstehen, Normalität und Abweichungen können nur kontextspezifisch definiert werden. Vorschnelle Bewertungen beobachteter Unterschiede im elterlichen Erziehungsverhalten oder in kindlichen Entwicklungspfaden bergen die Gefahr von Fehlinterpretationen. Die Kenntnis der unterschiedlichen kulturellen Sozialisationsmodelle trägt zum Verständnis kultureller Unterschiede bei. Dabei dienen jedoch die beschriebenen Prototypen lediglich als Orientierung.

Um im Kita-Alltag die Familien und ihre Erziehungsstrategien besser zu verstehen, sind immer der genaue Hintergrund der einzelnen Familie sowie ihre konkreten Vorstellungen und Verhaltensweisen zu erkunden. Pauschalisierungen, festgemacht an den Herkunftsländern oder auch religiösen bzw. sprachlich-ethnischen Zugehörigkeiten, helfen nicht weiter.

Darüber hinaus bedeutet die Erfahrung von Migration für die Familien einen Wechsel des öko-kulturellen Kontextes und stellt sie vor die Herausforderung, die kulturellen (Sozialisations-)Modelle anzupassen bzw. neue Formen von Autonomie und Verbundenheit und ihres Zusammenspiels zu entwickeln.

Literatur

Borke, J., Lamm, B. & Schröder, L. (2019): Kultursensitive Entwicklungspsychologie (0–6 Jahre). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Gernhardt, A. (2012): Kinderzeich(n)en. Kindliches Zeichnen im kulturellen Kontext. nifbe-Themenheft Nr. 10. Osnabrück: nifbe e. V.

Henrich, J., Heine, S. J. & Norenzayan, A. (2010): The weirdest people in the world? Behavioral and Brain Sciences, 33, 61–135.