Handbuch Jüdische Studien -  - E-Book

Handbuch Jüdische Studien E-Book

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Beschreibung

Die Jüdischen Studien umfassen alle Gebiete, die für die Erforschung der jüdischen Geschichte, Philosophie und Religion von Bedeutung sind. Sie repräsentieren ein relativ junges Fach in der deutschen akademischen Landschaft, aber ein Gebiet von wachsender Bedeutung. Jüdische Religion und Kultur haben tiefe Spuren in der deutschen und europäischen Geschichte, Philosophie und Literatur hinterlassen, sie waren beeinflusst vom wechselhaften Verhältnis der jüdischen und christlichen Religion, das bisweilen ein tolerantes Miteinander ermöglichte, in anderen jedoch zu Verfolgung, Hass und – wie in Deutschland im 20. Jahrhundert – zum Genozid führte. Das Handbuch versucht, entlang einzelner Begriffe wie Ritual, Aufklärung, Diaspora, Sefarad/Aschkenas oder Zionismus sowie verschiedener Forschungsgebiete wie Philosophie, Mystik, Recht oder ökonomie Einblicke in die Geschichte des Judentums zu geben. Wer mehr über das Regelwerk und die Ereignisse wissen will, die über jüdische Geschichte bestimmten und moderne Formen jüdischen Lebens hervorbrachten, findet viele Zugänge und vertiefende Einblicke.

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Seitenzahl: 1240

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Christina von Braun, Micha Brumlik (Hg.)

Handbuch Jüdische Studien

2. erweiterte und überarbeitete Auflage

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN

Die Herausgabe des Handbuchs wurde mit der finanziellen und ideellen Unterstützung des Selma Stern Zentrums für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg ermöglicht.

Wir danken außerdem der Stiftung Irene Bollag-Herzheimer, Basel, für ihre freundliche Unterstützung.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Zweite, erweiterte und überarbeitete Auflage, 2021

© 2021 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: El Lissitzky, „Und dann kam das Feuer und verbrannte den Stock“ (Chad Gadya – The Tale of the Goat), 1919, Farblithographie auf Papier,

Inv. Nr. 2000.100.1, Washington, National Gallery of Art © akg-images

Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien

Lektorat und Korrektorat: Adina Stern

Satz: büro mn, BielefeldEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-412-52139-4

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1.Grundsatzfragen

Die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft

Christina von Braun

Gab es in der griechisch-römischen Epoche ein „Judentum“?

Daniel Boyarin

Die rabbinische Literatur

Elisa Klapheck

Diaspora

Liliana Ruth Feierstein

Sephardim und Aschkenasim

Sina Rauschenbach

Das Verhältnis der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, zueinander. Ein historisch systematischer Querschnitt

Joachim Valentin

2.Theologie

Oralität und Literalität. Mündliche Überlieferung und ihre Verschriftung

Stefan Schreiner

Ritual

Charlotte Elisheva Fonrobert

Jüdische Mystik

Karl E. Grözinger

Memorialkulturen („Gedächtnis und Erinnerung“)

Rainer Kampling

Das jüdische Recht

Walter Homolka

Ökonomie

Nathan Lee Kaplan

Männlichkeit, Weiblichkeit, Körperlichkeit und Sexualität im Judentum

Tamara Or

Religiöse Strömungen im Judentum

Michael A. Meyer

3.Kultur/Moderne

Aufklärung

Julius H. Schoeps

Jüdische Geschichtsschreibung

Philipp Lenhard

Die „Wissenschaft des Judentums“ (WdJ)

Norbert Waszek

Jüdische Philosophie

Christoph Schulte

Jüdisches Gesetz und Staatsbürgerrecht im Übergang zur Moderne

Werner Tress

Jüdische Bildung und Erziehung

Micha Brumlik

Antijudaismus/Antisemitismus

Stefanie Schüler-Springorum

Zionismus/Antizionismus/Postzionismus

Micha Brumlik

Israel-Studien

Jenny Hestermann und Johannes Becke

Literatur

Irmela von der Lühe

Die bildenden Künste

Inka Bertz

Film

Gertrud Koch

Jüdisches Leben im Film

Werner Schneider-Quindeau

Jüdische Musik

Jascha Nemtsov

Jüdische Museen

Cilly Kugelmann

Glossar

Abkürzungen

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Literaturverzeichnis

Studien-, Lehr- und Forschungseinrichtungen

Personenregister

Einleitung

Die „Jüdischen Studien“ – ein Begriff, der in Analogie zu den Jewish Studies des anglophonen Raums entstand – umfassen die Gesamtheit aller Lehrfächer und Forschungsprojekte, die für die Erforschung der jüdischen Geschichte, Philosophie und Religion von Bedeutung sind. Sie beinhalten mithin auch Fragen des Antijudaismus, der eigentlich Nichtjuden betrifft, aber die jüdische Geschichte immer wieder und tiefgehend prägte. Zu den Jüdischen Studien gehören auch Gebiete wie Memorialkultur, Recht, Ökonomie und Geschlechterrollen, die allesamt in den jüdischen Traditionen spezifische Ausprägungen erfuhren. Auch das Verhältnis von Schrift und Oralität ist Teil dieses Forschungsfelds. Das Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache hatte einen prägenden Einfluss auf die Entwicklung der jüdischen Religion und Kultur. Weil zu den Jüdischen Studien auch viele „säkulare“ Gebiete gehören – wie etwa Philosophie und Literatur, Zionismus und Diaspora – haben sie sich neben der traditionellen Judaistik etabliert, die, wenn nicht ausschließlich, so doch weitgehend, von den Fragen der Religion bestimmt ist. Die Jüdischen Studien bilden gewissermaßen das Ende einer historischen Entwicklung, die mit der Haskala, der jüdischen Aufklärung, begann, sich über die – vor allem in Berlin und Breslau entwickelte – „Wissenschaft des Judentums“ fortsetzte, bevor der Nationalsozialismus dieser religiösen wie auch bekenntnisneutralen Tradition „des Jüdischen“ ein brutales Ende setzte. Die Flucht vieler deutscher intellektueller Jüdinnen und Juden in die USA, nach Palästina oder nach Lateinamerika führte in diesen Regionen zur Weiterentwicklung dieses Gedankenguts des deutschen Judentums und trug in einigen Ländern schließlich zur Entstehung der Jewish Studies bei. Die sich seit ca. 1980 allmählich auch im deutschsprachigen Raum etablierenden Jüdischen Studien stellen einen Re-Import dieses aus Deutschland und Europa vertriebenen Gedankenguts dar.

Allerdings lässt sich im Land der Täter das Wort „jüdisch“ kaum ohne den Begriff der „Shoah“ denken. Insofern eignet den Jüdischen Studien des deutschen Sprachraums eine Dimension, die auch die Reflexion über die nichtjüdische deutsche Geschichte voraussetzt – mit einem Rückblick nicht nur auf die nationalsozialistische, sondern auch auf die davorliegende Vergangenheit. Die „Wissenschaft des Judentums“ etablierte sich in einem historischen Zeitalter, in dem an den deutschen Universitäten das Fach Geschichte seinen Einzug hielt – mit dem impliziten und oft auch expliziten „Auftrag“, ein Bewusstsein und die psychologische Basis für die „deutsche Nation“ zu schaffen. In Deutschland entwickelte sich der Nationalgedanke zunächst in akademischen Kreisen, bevor er auch bei anderen Bevölkerungsschichten Fuß fasste. Eines der Mittel, dem Nationalismus breite Zustimmung zu verschaffen, bestand darin, das „Jüdische“ zu einem Synonym für „undeutsch“ zu erklären. Gleichzeitig verlangte die Aufklärung nach Rationalität und neuen Kriterien der „Wissenschaftlichkeit“ in der akademischen Forschung und Lehre. Die Entstehung der „Wissenschaft des Judentums“ entsprach dem Versuch, sowohl dem Anspruch an Vernunft und Wissenschaftlichkeit gerecht zu werden als auch einen Rahmen zu entwickeln, der die Bewahrung jüdischer Traditionen innerhalb eines neuen antijüdischen Nationalismus zuließ. Die modernen Jüdischen Studien versuchen, an diese Tradition anzuschließen, doch angesichts des Zivilisationsbruchs durch die Shoah kann nur von einem Versuch die Rede sein. Vor allem aber werden sie – anders als ein Teil der Jewish Studies des anglophonen Raums – notwendigerweise immer die nichtjüdische Geschichte explizit oder implizit mitreflektieren.

Jüdische Studien gehören mittlerweile zum festen Bestandteil des akademischen Lebens an vielen deutschen, österreichischen und schweizerischen Universitäten. (Im Anhang haben wir die Studien-, Lehr- und Forschungsbereiche, im deutschsprachigen Raum aufgelistet. Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, S. 544.) 2012 wurde mit Unterstützung des Bundesforschungsministeriums sowie der beteiligten Universitäten das Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg (seit Oktober 2017 Selma Stern Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg) gegründet, das der Entwicklung der Jüdischen Studien im deutschsprachigen Raum Rechnung zu tragen versucht. Zu den Gründungsmitgliedern gehören die Humboldt-Universität zu Berlin, die Freie Universität, die Technische Universität, die Universität Potsdam, die Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar sowie das Abraham Geiger Kolleg und das Moses Mendelssohn Zentrum an. 2013 wurde die Viadrina (Universität Frankfurt/Oder) zu einem Mitglied des Verbundes (www.zentrum-juedische-studien.de). Während mit der an der Universität Potsdam angesiedelten School of Jewish Theology ein theologisch-religionswissenschaftlicher Zweig geschaffen wurde, orientiert sich der größere Teil des Zentrums an den bekenntnisneutralen akademischen Disziplinen, für die Stellen für Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen geschaffen wurden. Die meisten dieser Stellen wurden von den Universitäten verstetigt und werden für eine dauerhafte Verankerung der Thematik an den Berliner und Brandenburger Universitäten sorgen. In Heidelberg existiert schon seit 1979 die Jüdische Hochschule, an der ebenfalls „säkulare“ wie theologische Inhalte vermittelt werden. In Hamburg wurde 1966 das Institut für die Geschichte der deutschen Juden gegründet, in Leipzig entstand 1995 das Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur und in Graz gibt es das Centrum für Jüdische Studien. Diese Zentren sind nur einige der prominentesten Beispiele für das Interesse an Jüdischen Studien im deutschsprachigen Raum und deren Präsenz in akademischen Einrichtungen. Einige Universitäten – etwa die Universität Potsdam – haben auch Studiengänge für Jüdische Studien eingerichtet, die das Fach im BA und im MA anbieten.

Das Handbuch richtet sich an Studierende, für die die Jüdischen Studien oft Neuland darstellen. Es wird aber auch vielen Promovierenden, denen die inter- und transdisziplinäre Perspektive der Jüdischen Studien nicht notwendigerweise vertraut ist, ein Begleiter während des Promotionsstudiums sein. In übersichtlichen Aufsätzen, die nach den wichtigsten Stichworten geordnet sind, bietet das Handbuch eine erste Einführung und einen Überblick über die Gebiete, die sich in den Jüdischen Studien immer wieder als relevant erweisen. Für diese Beiträge konnten exzellente Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen verschiedener Universitäten und akademischer Einrichtungen gewonnen werden. Einer von ihnen, der evangelische Theologe und Filmexperte Werner Schneider-Quindeau, ist zu unserer großen Betroffenheit verstorben – nur kurz, nachdem er uns seinen Beitrag geschickt hatte. Unsere Zielgruppe sind sowohl die Studierenden in den rabbinischen und christlich-theologischen Curricula und Lehreinrichtungen, für die neben ihrer geistlichen auch eine allgemein akademische Ausbildung erforderlich ist, als auch Studierende, die den Themen der Jüdischen Studien in einem bekenntnisneutralen Fach wie etwa der Geschichte nachgehen. Darüber hinaus gibt es auch viele Studierende der Kulturwissenschaft, der Philosophie, der Kunstgeschichte oder der Literaturwissenschaften, die im Laufe ihres Studiums immer wieder auf Fragen der deutsch-jüdischen und europäisch-jüdischen Kultur und Geschichte stoßen. Und es gibt andere, die sich erst während ihres Studiums der bedeutenden jüdischen Anteile an der deutschsprachigen Kultur bewusst werden und darüber Näheres zu erfahren suchen. In zahlreichen Fächern sind heute Texte und Fragestellungen aus dem Bereich der Jüdischen Studien zu einem Teil des Kanons geworden, ohne dass sich die Studierenden dieser Tatsache immer bewusst sind. Wir hoffen, dass dieser Band dazu beiträgt, den Blick für diese Einflüsse zu schärfen.

In einigen Disziplinen und Einrichtungen, in denen Jüdische Studien zum Lehrplan gehören, wie auch in der Öffentlichkeit hat sich in den letzten Jahren eine Verschiebung des Interesses vollzogen: Galt es bis in die 1980er Jahre vor allem dem Dialog zwischen Judentum und Christentum, so richtete sich der Fokus seit den 1990er Jahren auf das Verhältnis der drei monotheistischen Religionen und Kulturen untereinander – und dies auf theologischer wie auf säkularer Ebene. Deshalb bezieht dieses Handbuch auch die interreligiöse/interkulturelle Perspektive ein. Diese Interessenverschiebung hat viel mit aktuellen und weltweiten Entwicklungen zu tun, die Themen wie Diaspora, Migration oder transkulturelle Erfahrungen immer weiter in den Vordergrund treten ließen. Gerade in diesem Kontext kommt den Jüdischen Studien eine besondere Rolle zu.

Wie ist es möglich – so ließ sich eine der Fragen an die jüdische Geschichte formulieren – wie ist es möglich, dass eine Kultur so lange und gegen so viele Widrigkeiten und Verfolgungen Bestand haben konnte – und dies auch noch in der Zerstreuung? Aus den Sichtweisen, die sich in den verschiedenen Beiträgen auftun, ergeben sich einige mögliche Antworten. Sie verweisen unter anderem auf die Beharrlichkeit eines religiös-kulturellen Konzepts, das schon im 6. Jahrhundert v. u. Z. mit dem Exil in Babylon begann, wo ein Gutteil der biblischen Texte wie auch die Lehren des Monotheismus ausformuliert wurden, und dann mit der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 und dem Beginn der Diaspora von den Rabbinen entwickelt wurde: Mit dem Talmud entwickelte sich ein Textgenre, das jüdischen Gemeinden erlaubte, einen Kompatibilitätsmodus zwischen dem eigenen Gesetz und dem Gesetz des Gastlandes zu finden. Das heißt, es entstand ein hohes Maß an Flexibilität, das die Möglichkeit schuf, die jüdischen Traditionen und Lehren den aktuellen historischen Gegebenheiten und kulturellen Kontexten anzupassen. Heute, wo sich weltweit 65 Millionen Menschen auf der Flucht oder in Migrationskontexten befinden, erweist sich diese Frage auch für andere Kulturen und interkulturelle Begegnungen von hoher Relevanz. Die aktuellen Bevölkerungsbewegungen – sowohl bei denen, die zur Migration gezwungen sind, als auch bei denen, die Migranten aufnehmen – erzeugen kulturelle Reibungsfelder, die einerseits spannungsgeladen und konfliktreich sind, andererseits aber auch als bereichernd sein können. So bietet die jüdische Erfahrung, die vieles von anderen Kulturen integriert, in diesen aber auch ihre Spuren hinterlassen hat, Erkenntnismöglichkeiten für eine Welt, in der sich keine Kultur mehr gegen die andere abzuschotten vermag. In den letzten 2000 Jahren haben jüdische Gemeinschaften vorgelebt, wie es gelingen kann, das Eigene zu bewahren, das Andere aber auch in die eigene Erfahrung zu integrieren. Auf diese Weise werden die Jüdischen Studien zum Vorbild für politische Handlungsweisen und universitäre Forschungen, die sich mit Migration, Stereotypenbildung, Minderheitenschutz und interkulturellen Verflechtungen beschäftigen. Diesen Modellcharakter haben sie auch für die neu entstehenden Islamzentren, die u. a. klären müssen, wie eine europäische Kultur, die in der Nachfolge der Aufklärung steht, einer Kultur begegnet, für die die Aufklärung heute – wenn auch nicht früher – in erster Linie eine „westliche“ oder „christliche“ Erfindung ist. Die christliche Gesellschaft hatte viele der großen wissenschaftlichen wie philosophischen Innovationen der Renaissance den Importen aus dem islamischen Raum zu verdanken. Doch heute scheinen – aus Gründen, die modernen politischen Einflüssen zu verdanken sind – Begriffe wie „Emanzipation“‚ „Selbstbestimmung“ oder „Aufklärung“ eher Konfliktpotential zu bergen.

Das Handbuch teilt sich in zwei große Gebiete: Im ersten wird ein historischer Überblick über die Geschichte und Grundlagentexte des Judentums gegeben. Welche Rolle haben Tora und Talmud? Wie entwickelte sich das Judentum, als es unter den Bedingungen der Diaspora zu leben begann? Was waren die Bedingungen für eine Existenz, die von der Begegnung mit anderen Religionen, Kulturen und Traditionen bestimmt war? Und näher an unserer Zeit: Welche Verschiebungen fanden statt, als – unter den Bedingungen der Haskala – aus dem religiösen Begriff „jüdisch“ ein kultureller wurde? Wie definierten Jüdinnen und Juden, die nicht mehr die Synagoge besuchten und sich dennoch als jüdisch verstanden, ihre Zugehörigkeit? Manchmal ist der Übergang von der einen zur anderen Definition fließend. In anderen Fällen – beim Begriff „Ritual“ z. B. – war die Grenzziehung zwischen der religiösen und der kulturellen Selbstdefinition so groß, dass wir dem Begriff zwei getrennte Beiträge gewidmet haben: Im ersten wird das Ritual unter den religiösen Bedingungen beschrieben, im zweiten lässt sich nachverfolgen, wie religiöse Gewohnheiten eine neue, „aufgeklärte“ Begründung erfuhren.

Solche kulturellen Verlagerungen vollzogen sich innerhalb jüdischer Denktraditionen schon lange vor dem Beginn der Aufklärung. Sie waren auch der Diaspora inhärent und wurden von den Rabbinen zunächst in mündlicher Exegese entwickelt, dann im Talmud verschriftet, bevor die Flexibilität der Auslegung zu einem integralen Bestandteil jüdischen Denkens wurde. Auf diese Weise wurde die Selbstreflexion zu einem festen Bestandteil der jüdischen Religion. Dieser Wesenszug trug dazu bei, dass sie den Schock der Aufklärung, die mit der Religion aufzuräumen versuchte, zu überstehen vermochte. Auf der einen Seite entstand in Reaktion auf die Aufklärung die jüdische Orthodoxie, die sich einer weiteren Flexibilität der Auslegung verweigerte – ein Prozess, der auch in der christlichen Gesellschaft sein Pendant fand: Der Begriff „Fundamentalismus“, das sollte man nicht vergessen, taucht zunächst in der christlichen Gesellschaft (um etwa 1900) auf und stellte die Selbstbezeichnung einer evangelikalen Bewegung innerhalb des amerikanischen Christentums dar. Auf der anderen Seite wurde die Selbstreflexion zu einem Teil der modernen jüdischen Selbstdefinition und fand in zahlreichen nichtreligiösen Zusammenhängen, die von der Literatur, über die Kunst bis zur Psychoanalyse reichen, ihren Ausdruck. Viele der Texte der jüdischen Aufklärung entstanden im deutschsprachigen Raum und sind auf Deutsch geschrieben. Um diese Texte im Original lesen zu können, haben eine Reihe von ausländischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen der Jewish Studies Deutsch gelernt. Dieses Interesse für die deutsche Sprache und Kultur kommt bis heute dem Austausch mit der Forschung im Ausland und dem Aufbau der Jüdischen Studien in Deutschland zugute.

Die Selbstreflexion bildet heute auch einen integralen Bestandteil der Jüdischen Studien – und in Deutschland verbindet sie sich oft mit der Reflexion über die deutsch-jüdische Geschichte. Das dürfte das Spezifische der Jüdischen Studien in Deutschland sein: Dass die den jüdischen Studien inhärente Selbstreflexion in den Selbstzweifeln, die sich mit der Erbschaft des Nationalsozialismus verbinden, ein Echo finden. So ergeben sich völlig andere Perspektiven und Forschungsfelder als in den Jewish Studies. Hinzu kommt, dass in den USA überwiegend Forscher und Forscherinnen auf dem Gebiet aktiv sind, die sich selbst dem (religiösen oder kulturellen) Judentum zurechnen. In Deutschland dagegen kommen viele Forscher und Forscherinnen nicht aus einem jüdischen Elternhaus. Das ist in erster Linie die Folge der Vertreibung und Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland. Es hat in zweiter Linie aber auch Folgen für die Fächergruppe selbst wie auch für jene, die sich auf die Jüdischen Studien einlassen.

Bei den nichtjüdischen Forscherinnen und Forschern der Jüdischen Studien in Deutschland tun sich einige Unterschiede auf. Manche von ihnen entscheiden sich zur Konversion (womit sie sich aus ihrem bisherigen Kontext herauslösen und zum religiösen Judentum hinwenden). Andere gehen diesen Schritt nicht und suchen eher nach den Möglichkeiten eines Zusammenwirkens von jüdischer Selbstreflexion mit einer Reflexion über die nichtjüdische Erbschaft. Beide Herangehensweisen sind in Deutschland deutlich ausgeprägt. Zwar gibt es auch in den USA eine hohe Anzahl von Konvertiten – jeder sechste Bürger, der sich zum Judentum bekennt, ist Konvertit.1 Aber diese Konversion hat zumeist einen ganz anderen Hintergrund. Oft hängt sie mit der Tatsache zusammen, dass der Ehepartner oder aber der Vater und nicht die Mutter jüdisch sind. Insgesamt sind die Jewish Studies in den USA weitgehend eine „jüdische Angelegenheit“, was manchmal sogar zum Vorwurf (aus den eigenen Reihen) führt, dass es sich um ein „selbstaffirmatives“ Studium einer „ethnischen“ Gruppe handle, vergleichbar den Afro-American Studies.2 Solche Debatten gibt es in den deutschen Jüdischen Studien höchstens in Andeutungen.

Generell stellt sich die Frage, ob ein Fach, das eine bestimmte Bevölkerungsgruppe mehr betrifft als andere, nur von Mitgliedern dieser Gruppe erforscht und gelehrt werden kann. Das entspricht etwa der Frage: Können katholische und protestantische Theologie nur von Gläubigen dieser Kirchen unterrichtet werden? In den meisten Fällen würde das wohl bejaht werden, weil es bei der Theologie auch um Glaubensinhalte geht. Ganz anders sieht es aber bei der Religionswissenschaft aus, die keineswegs erfordert, Mitglied der erforschten Glaubensgemeinschaft zu sein. Die deutsche und europäische Wissenschaft des 19. Jahrhunderts hat sich nicht schwer damit getan, den Islam oder den Buddhismus zu erforschen und Urteile über das Judentum zu fällen, ohne den Standpunkt dieser Religionen einzunehmen. Inzwischen hat die Religionswissenschaft einiges dazu gelernt – vor allem hat sie begonnen, die eigene Perspektive (und Voreingenommenheit) in die Forschung einzubeziehen und zu reflektieren. Diese Verschiebung der Sichtweise hat auch einen Teil der Theologie erfasst. An vielen (wenn auch keineswegs allen) theologischen Fakultäten des deutschen Sprachraums gibt es inzwischen auch religionswissenschaftliche Lehrstühle. Einige von ihnen sind weiterhin missionarisch ausgerichtet, andere richten aber auch einen (vorsichtigen) Blick zurück auf den eigenen Glauben. Diese Entwicklung ist einerseits die Folge des Säkularisierungsprozesses, der die Kirchen zwang, den eigenen Glauben historisch-kritisch zu lesen. Es hat andererseits aber auch zur Folge gehabt, dass nichtchristliche, also etwa jüdische Forscher begannen, das Christentum unter die Lupe zu nehmen. Wäre heute ein Handbuch Christliche Studien denkbar? Das ist anzunehmen: etwa in Israel oder auch in einigen islamischen Ländern, soweit diese religionswissenschaftliche Forschung (aus der auch immer Reflexion über die eigenen religiösen Traditionen resultiert) zulassen. Die Tatsache, dass ein Handbuch Christliche Studien nur in Gesellschaften denkbar ist, wo das Christentum zur Minderheit gehört, indiziert schon die spezifische Situation eines solchen Handbuchs: Es beschäftigt sich mit einer Minorität. Im deutschen Fall kommen zwei weitere Faktoren hinzu: Erstens die Selbstreflexion über die christliche Erbschaft, die das Wort „jüdisch“ nach der Shoah auslöst, und zweitens die Anerkennung, dass jüdische Denktraditionen (religiöser wie kultureller Art) eine eminent wichtige Rolle für die Geschichte Europas und Deutschlands gespielt haben. Das Handbuch, dessen Beiträge von Juden und Nichtjuden verfasst wurden, spiegelt diesen Sachverhalt wider.

Für die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften bieten die Jüdischen Studien viele Anregungen. Da es kaum ein Feld gibt, das von der Frage „Was ist jüdisch?“ unberührt bleibt, eröffnen die Jüdischen Studien wie nur wenige andere Gebiete, die Möglichkeit, transdisziplinär zu denken und zu forschen. In dieser Hinsicht ähneln sie den Gender Studies, die sich als eine ähnlich breit gefächerte Querschnittswissenschaft verstehen, und sie haben auch viel gemein mit der Wissenschaftsgeschichte selbst, die auf einen „Blick von außen“ angewiesen ist, um wissenschaftliche Paradigmen zu analysieren und Strukturen erkennbar zu machen. In der wissenschaftskritischen Perspektive liegt generell das wichtigste Potential der Human- und Geisteswissenschaften. Sie können zwar nicht mehr den Anspruch erheben, eine „Leitwissenschaft“ zu sein, wie dies für die Fächer Geschichte und Philosophie im 19. Jahrhundert der Fall war. Eben deshalb sind sie aber auch zu einem wichtigen Faktor der checks and balances in der Wissenschaft geworden. Oft bleibt es den Sozial- und Geisteswissenschaften überlassen, die politische und gesellschaftliche Relevanz allgemeiner Forschungsfortschritte zu benennen und ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Die Skepsis, die den Jüdischen Studien inhärent ist, verstärkt diese Perspektive. Allerdings soll nicht bestritten werden, dass die Transdisziplinarität auch eines der Probleme der Jüdischen Studien darstellt, denn sie eröffnet ein Forschungsfeld, das in alle Bereiche und alle Disziplinen – mit ihrer jeweils eigenen Methodik – führt und das mithin schier unermesslich ist. Aus diesem Grund ist die Definition eines spezifischen Forschungsprojekts und einer genauen Forschungsfrage sehr wichtig: Ist der Fokus klar umrissen, erweist sich die transdisziplinäre Perspektive als großer Gewinn.

Diese überarbeitete Auflage des Handbuchs enthält drei neue Beiträge. Der eine betrifft das Jüdische Museum. Dabei geht es nicht um ein bestimmtes Museum, sondern um die Institution als solches. Deren Perspektiven reichen von den Sammlungen und Ausstellungsobjekten lokaler jüdischer Geschichte bis zum Diskussionsforum, in dessen Mittelpunkt die interkulturelle Begegnung, die Frage nach Feindbildern sowie die Frage nach historischer Überlieferung und kultureller Tradition steht. In einem weiteren Beitrag wird das Spezifische der jüdischen Geschichtsschreibung behandelt. Über Jahrhunderte wurde die jüdische Geschichte von Nichtjuden erzählt und an deren eigener Geschichte gemessen. Dabei hatten Juden schon lange eine eigene Sicht entwickelt und in Texten festgehalten, bei der sie nicht als Objekt, sondern als Subjekt der Betrachtung und der Interpretation zu Worte kommen. Diese spezifisch jüdische Geschichtsschreibung taucht nicht erst mit der Säkularisierung auf, ihre Bedeutung wird aber nach 1800 und mit der Haskala wachsen. Ein dritter Beitrag beschäftigt sich mit dem in Deutschland relativ neuen Fach der Israelstudien, das beispielsweise in den USA bereits seit vielen Jahren etabliert ist. Das Fach siedelt sich zwischen der Politikwissenschaft, den Regionalwissenschaften und den Jüdischen Studien an. In der Bundesrepublik gab es bis vor einigen Jahren keinen derartigen Lehrstuhl und der Lehrstuhl für Israelstudien an der Humboldt Universität zur Zeit der DDR war rein politisch ausgerichtet und bildete vornehmlich zukünftige Diplomatinnen und Diplomaten für die Arbeit an israelfeindlichen Botschaften aus.

Das hat sich mittlerweile geändert: Am Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin Brandenburg wurde 2012 eine Gastprofessur für Israelstudien eingerichtet, und an der LMU München sowie der Jüdischen Hochschule in Heidelberg entstanden in den letzten Jahren ein Lehrstuhl, eine Koordinationsstelle und zwei Gastprofessuren für Israel-Studien.

Das Handbuch kann und wird die umfangreichen wissenschaftlichen Forschungsergebnisse, die es auf dem Gebiet der Jüdischen Studien schon gibt, nicht ersetzen, noch kann es den Fragen in detaillierten Einzelstudien nachgehen. Vielmehr möchte es Interesse wecken, Türen öffnen und Lust darauf machen, sich in den deutschsprachigen Ländern – nach Jahrzehnten der Berührungsängste – auf das reiche und bereichernde Gebiet der Jüdischen Studien einzulassen. Insofern hoffen wir, dass das Handbuch auch für nichtakademische Leser und Leserinnen von Interesse ist.

Und noch ein Wort zur Transkription: Beim Lesen werden Sie bemerken, dass die Transkriptionen hebräischer Ausdrücke keinem einheitlichen Schema folgen. Der Grund hierfür liegt an der jeweiligen – je nachdem – deutschsprachigen oder englischen Referenzliteratur. Sie zu vereinheitlichen, fällt alleine deshalb schwer, weil damit die Wiedererkennbarkeit und Auffindbarkeit in der Referenzliteratur erschwert würde. Hierfür bitten wir um Verständnis.

Christina von Braun und Micha Brumlik, Berlin, im Frühjahr 2021

11 in 6 adult US Jews are converts, Pew study finds, in: Jerusalem Post, 13. 5. 2015.

2Vgl. etwa Hughes, Aaron W.: The Study of Judaism: Authenticity, Identity, Scholarship, New York 2013.

1. Grundsatzfragen

Die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft

Christina von Braun

„Jude ist, wer eine Jüdin zur Mutter hat“ – die Gleichsetzung jüdischer Identität mit einer matrilinearen Deszendenz kannte das Alte Israel nicht.1 Die Geschichten der Bibel erzählen von einer langen Kette von Vater-Sohn-Erbschaften, wie sie in der Antike auch bei den anderen Völkern rund ums Mittelmeer üblich waren. Auch der in den christlichen Evangelien aufgeführte „Stammbaum“ Jesu mit seinen 78 Generationen in rein männlicher Erbfolge ist ein typisches Beispiel für eine agnatische Linie. Weil König David laut Hebräischer Bibel von Gott die Zusage der „ewigen Thronfolge“ erhalten hatte (2 Sam 7,12f), konstruieren das Lukas- und Matthäus-Evangelium für Jesus einen Stammbaum in rein männlicher Erbfolge, die ihn – der Weissagung entsprechend (Jes 11,1) – zum späten „Wurzelspross“ des königlichen Hauses David macht. Die vier „Stammmütter“, die in dieser Genealogie auftauchen, verdanken ihre Erwähnung nur dem Aussterben einer agnatischen Linie. Eine Ausnahme bildet einzig die unmittelbar letzte Generation, wo Jesus „aus dem Schoß einer Jungfrau“ geboren, also ohne einen leiblichen Vater gezeugt worden ist. Hier handelte es sich um eine Unterbrechung der Vater-Sohn-Erbfolge, die allerdings erst ab dem 3. Jahrhundert konstruiert wurde und letztlich ein Mittel darstellte, mit dem die Christen einerseits an der biblischen Patrilinearität festhalten, andererseits aber auch der rabbinischen Matrilinearität Rechnung tragen wollten und den Widerspruch schließlich durch eine göttliche Herkunft lösten.

Der Gegensatz von Judentum und Christentum, manchmal auch die Gemeinsamkeiten von Judentum und Hellenismus in der Antike, spielten eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft ab dem 1. Jahrhundert. Der interreligiöse und interkulturelle Kontext ist entscheidend für die Entstehung eines neuen Judentums. Das Jahrhundert, in dem das Christentum geboren wurde, markiert auch den Beginn der jüdischen Diaspora. Ab diesem historischen Moment musste die jüdische Gemeinde neue Formen des Zusammenhalts finden. Viele der Entscheidungen, die nun getroffen wurden, waren wiederum beeinflusst von der Abgrenzung gegen das Christentum wie auch vom Dialog mit der Kirche (siehe hierzu auch die Beiträge von Liliana Feierstein, S. 101 und Joachim Valentin, S. 127).

Welche neuen Formen des Gemeinschaftszusammenhalt gab es? Erstens die Hebräische Bibel, der heilige Text, der ab dem 6. Jahrhundert v. u. Z. allmählich kanonisiert, d. h. endgültig stillgelegt wurde. Die Entstehung der Heiligen Schrift begann mit Josija, König von Juda (638–608 v. u. Z.), wurde dann im babylonischen Exil um 587 v. u. Z. fortgesetzt und verwandelte die dann entstehende jüdische Gemeinschaft allmählich in die weltweit erste „textual community“2: Sie definierte sich weder durch ein bestimmtes Territorium noch durch eine erbliche Herrscherdynastie, sondern durch einen heiligen Text. Die hohe Bedeutung, die ihm beigemessen wurde, schlug sich auf unterschiedliche Weisen nieder: zunächst dadurch, dass mit den „Erzählungen“ der Bibel zugleich Gesetze formuliert wurden. Die fünf Bücher Mose, die Tora, hatten einen normativen Charakter (das war der Aspekt Gesetz). Ihnen wurden prophetische und Weisheits-Schriften zur Seite gestellt. Um etwa 100 u. Z. wurde endgültig festgelegt, welche hebräischen Schriften zum dreiteiligen Tanach gehörten (siehe hierzu auch den Beitrag von Elisa Klapheck, S. 83). Zunächst blieben noch griechisch übersetzte Bibelversionen neben dem Tanach bestehen, sie wurden später verworfen. Die Schrift war auch in anderer Hinsicht von Bedeutung: einerseits als heiliger Text, andererseits setzten die Mystiker, vor allem die Kabbalisten des Mittelalters, die Tora mit Gott gleich (siehe hierzu den Beitrag von Karl Grözinger, S. 193). Für andere repräsentierte die Heilige Schrift „das Leben“. Eine Tora, selbst wenn sie zerlesen und zerrissen ist, darf nie „weggeworfen“ werden; sie wird bestattet wie ein menschlicher Körper. Die Gleichsetzung von Tora und Leben findet auch etwa darin ihren Ausdruck, dass manche kinderlose Paare der Gemeinde zum Ersatz eine Torarolle spenden: Durch diesen Beitrag soll das „Fortleben“ der Gemeinde in der Schrift gesichert werden.

Der zweite Faktor des Zusammenhalts waren die Ritualgesetze: Sie lassen die vielen einzelnen Körper zu einem „Gemeinschaftskörper“ zusammenwachsen. Die Vorstellung, dass Menschen zu einer „Verwandtschaftsgruppe“ werden, weil sie die Nahrung teilen oder diese auf demselben Herd zubereiten, kannten viele vorschriftliche Gemeinschaften; sie findet sich bis heute in einigen Kulturen.3 Hier jedoch wurde ein ganzer Kodex von Verhaltensmustern festgehalten und, das vor allem, er wurde verschriftet. Viele der 613 mosaischen Vorschriften richten sich an die Leiblichkeit: Das gilt insbesondere für die Beschneidung, die für die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft von zentraler Bedeutung ist. Es gilt aber auch für die Speisegesetze, den Umgang mit Sexualität, Niederkunft, Krankheit und Tod, und es gilt für die nidda-Gesetze, die sich auf das weibliche Blut (während der Menstruation und nach der Niederkunft) beziehen. Manche der Regeln (z. B. die zur Beschneidung und zur Reinheit) haben eine hochaufgeladene Symbolik, mit der sich Anthropologen wie Mary Douglas,4 Kulturhistoriker wie David Biale5 und viele Religionswissenschaftler auseinandergesetzt haben. Einige Vorschriften – vor allem die Sexualgesetze – zielen auf die Regulierung der Fortpflanzung und den physischen Erhalt der Gemeinschaft ab: Das Regelwerk der Sexualität unterstand dem wachsamen Auge der Priester, später der Rabbinen (siehe hierzu auch den Beitrag von Tamara Or, S. 257).

Drittens beruhte der Zusammenhalt auf der Bestimmung der Herkunft. In dieser Hinsicht setzte sich mit dem Beginn der Diaspora im 1. Jahrhundert u. Z. ein grundlegender Wandel durch, der den sonstigen Entwicklungen in der antiken Welt zuwiderlief: Das Judentum entschied sich für das Prinzip der Matrilinearität, d. h. eine Art der Vererbungskette, die in weiblicher Linie – von Mutter zu Tochter – verläuft. Bei diesen Entwicklungen wirkten mehrere Faktoren zusammen: 1. die Kommunikationsmittel zur Herstellung der Gemeinschaftskohäsion; 2. die Charakteristika patrilinearer Erblinien und die sich davon abgrenzenden Eigenschaften jüdischer Matrilinearität; 3. das Verhältnis von Judentum und antiker Welt. Die Abgrenzung gegen Hellenismus und Rom ging später in die Abgrenzung gegen das Christentum über. Da bei jeder Form von Identitätskonstruktion – ob sie normiert ist oder nicht – die Abgrenzung gegen andere Identitäten von zentraler Relevanz ist, umfasst die Zugehörigkeitsdefinition auch immer das, was außerhalb der eigenen Grenzen liegt. Was für die Reinheit gilt – es gibt keine positiven Reinheitsbestimmungen, sondern nur solche, die definieren, was „unrein“ ist6 – gilt auch für Zugehörigkeitsregeln. Um die bestimmende Rolle der drei oben genannten Faktoren – Kommunikationsform, Erblinien, Beziehungsmuster – zu verstehen, bedarf es deshalb einer Betrachtung der gleichzeitig sich vollziehenden Entwicklungen in der nichtjüdischen Welt.

Kommunikation

Entscheidend für den Faktor Kommunikation war das Schriftsystem. Die Heiligen Schriften aller drei monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam (Der Koran nennt sie die „Religionen des Buches“) – sind in alphabetischen, also phonetischen Schriftsystemen geschrieben: Im Gegensatz zu logographischen Schreibweisen, bei denen Bilder Worte oder Ideen repräsentieren, überträgt diese Schriftart gesprochene Laute in visuelle Zeichen. Der Vorgang impliziert einen kaum zu überschätzenden Abstraktionsschub, weil das Alphabet die gesprochene Sprache dem Körper entreißt und den „Lebenssaft“ der gesprochenen Sprache, der nicht nur eine Gemeinschaft zusammenhält, sondern auch die psychische, emotionale und intellektuelle Verfasstheit des Sprechenden prägt, auf eine körperferne Weise zirkulieren lässt. Nicht durch Zufall entstand mit diesem Schriftsystem, das im semitischen Alphabet seine früheste Ausgestaltung fand, auch zum ersten Mal ein Gott, der jenseits der physischen Welt verortet wird und der sich einzig in den Buchstaben der Schrift offenbart. Die Entwicklung des Alphabets begann um ca. 1500 und war um 1000 v. u. Z. voll entwickelt. In der Bibelforschung gelten die Geschichte von Moses und Exodus heute als „Erzählungen“, mit denen nicht reale historische Ereignisse, sondern eine neue Weltinterpretation angeboten – oder ein Mentalitätswandel vollzogen – wurde. Trotz intensiver Forschung gibt es weder für eine Versklavung des jüdischen Volkes in Ägypten noch für eine Massenauswanderung archäologische Belege. (An Orten wie auf Elephantine, einer Flussinsel des Nil, gab es jüdische Siedlungen innerhalb Ägyptens, aber sie umfassten eine kleine Bevölkerungsgruppe, die auch nicht versklavt war.) Auch für die historische Existenz der Gestalt von Moses gibt es keine Belege, was noch dadurch befördert wird, dass er laut der Bibel an einem „unbekannten Ort“ begraben wurde. Auch wenn sie keine historische Realität beschreiben, können die „Erzählungen“ der Bibel dennoch von einem historisch relevanten Sachverhalt handeln – und das, woran Exodus erinnert, ist die Herauslösung eines neuen phonetischen Schriftsystems, des Alphabets, aus dem piktoralen System der ägyptischen Hieroglyphen und anderer antiker Schriftsysteme. Das hebräische Alphabet war das erste überhaupt und stellte einen radikalen Bruch mit den bis dahin bestehenden Schriftsystemen dar. Zwar war die Keilschrift ebenfalls eine Lautschrift (sie wurde um 3300 v. u. Z. von den Sumerern entwickelt, von Akkadern, Babyloniern, Assyrern, Hethitern und Persern verwendet und hielt sich bis ins 1. Jahrhundert) und auch die ägyptische Kursivschrift umfasste phonetische Zeichen. Beide Schriftsysteme hatten jedoch den Nachteil, mit sehr vielen Zeichen zu operieren, während das Alphabet mit 20 bis 40 Zeichen auskam. Das machte es leicht erlernbar und hatte den Vorteil, dass so gut wie jeder lesen und schreiben lernen konnte und somit Zugang zu Wissen hatte. Heute ist das Alphabet (in unterschiedlicher Gestalt) das weltweit meist verwendete Schriftsystem; die eigentliche „Mutter“ aller anderen Alphabete ist jedoch semitisch.

Das Erstaunlichste am Alphabet ist zweifellos, daß es nur ein einziges Mal erfunden wurde. Ein semitisches Volk oder semitische Völker schufen es um das Jahr 1500 v. Chr. im selben geographischen Raum, in dem auch die erste aller Schriften, die Keilschrift, auftauchte, allerdings runde 2000 Jahre später. […] Jedes existierende Alphabet – das hebräische, ugaritische, griechische, römische, kyrillische, arabische, tamilische malaysische, koreanische – rührt in irgendeiner Weise von der originären semitischen Entwicklung her.7

Zwar leitete sich die Gestalt der phonetischen Zeichen von den ägyptischen Hieroglyphen ab, deren Bilder wurden jedoch nur verwendet, um den Lauten visuelle Gestalt zu verleihen.8 Natürlich ist das Alphabet nicht die einzige Wirkmacht, die zur Entstehung einer neuen Religionsform führte, aber seine Bedeutung für einen grundlegenden Mentalitätswandel der antiken Welt ist kaum zu überschätzen.

Allerdings ist Alphabet nicht gleich Alphabet: Das semitische Alphabet schrieb nur die Konsonanten. Dieses Schriftsystem kann deshalb nur lesen, wer auch die Sprache spricht. Das hat zur Folge, dass im Judentum, neben der Heiligen Schrift, auch der gesprochenen Sprache eine hohe Bedeutung beigemessen wird – ob in der Liturgie oder in der Exegese, die im Gespräch zwischen Gelehrten oder Lehrer und Schüler stattfindet. Der Text ist eine „Botschaft“ aus dem Transzendenten, doch wie diese Botschaft ausgelegt wird, entscheidet sich auf Erden und wird zudem oft mündlich ausgefochten, wenn auch einige der Erläuterungen später verschriftet wurden (siehe hierzu auch die Beiträge von Elisa Klapheck, S. 83 und Stefan Schreiner, S. 149). Eine kleine „Geschichte“ aus dem Babylonischen Talmud illustriert auf anschauliche Weise dieses Verhältnis von göttlichem Text und irdischem Sprechen: Mehrere Rabbinen streiten sich über die Auslegung einer Textstelle in der Heiligen Schrift. Rabbi Elieser sagt zu den anderen:

„Wenn die Halacha meiner Meinung entspricht, so werden sie es vom Himmel her beweisen. Da ging eine Hallstimme hervor und sprach: was habt ihr mit Rabbi Elieser? Die Halacha ist auf jeden Fall wie er sagt. Da stellte sich Rabbi Jehoschua auf seine Füße und sagte: ‚Nicht im Himmel ist sie‘. Rabbi Jirmeja sagte: daß die Weisung schon am Berg Sinai gegeben worden ist. Wir kümmern uns nicht um eine Art Stimme, denn schon am Berg Sinai hast du in die Weisung geschrieben: ‚Sich zur Mehrheit neigen‘.“9

Mit anderen Worten: Gott hat zwar die Gesetze geschrieben, aber ihre Auslegung bleibt den Menschen vorbehalten.

Ganz anders das griechische Alphabet, das 200 Jahre nach dem semitischen entstand und das über Hellenismus und das lateinische Alphabet schließlich auch zum Schriftsystem des Christentums wurde: In Griechenland wurde im 8. Jahrhundert v. u. Z. das sogenannte volle Alphabet eingeführt, das je eigene Zeichen für Vokale und Konsonanten bietet. Dieses Schriftsystem bedurfte nicht der Oralität; folglich verlor die orale Kommunikation an Bedeutung: Sie wurde abgewertet und später der geschriebenen Sprache angepasst.

Der Unterschied zwischen den beiden Alphabeten hatte indirekt Einfluss auf Patrilinearität und Matrilinearität. In allen drei Religionen, deren Heilige Schriften in alphabetischen Schriftsystemen geschrieben sind, findet das jeweilige Verhältnis von Oralität und Schriftlichkeit in der Geschlechterordnung sein Spiegelbild: Die geschriebene (unvergängliche) Sprache wird der Männlichkeit zugeordnet, während der weibliche Körper die (flüchtige und wandelbare) gesprochene Sprache repräsentiert. Das entsprach einer Dichotomie, die schon mit den ersten Kulturtechniken entstanden war: In ihr wurde die überlegene Kultur mit Männlichkeit gleichgesetzt und die Weiblichkeit der Natur zugeordnet.10 Das volle Alphabet Griechenlands verstärkte diese Vorstellung, indem sich eine Hierarchie zwischen gesprochener und geschriebener Sprache etablierte. Die christlichen Gelehrten des Mittelalters bezeichneten die (zumeist lateinischen) Schriften als „Vatersprache“, während sie die gesprochenen, regionalen Sprachen „Muttersprache“ nannten. Da dank des vollen Alphabets die Texte das gesamte theologische Lehrgebäude umfassten, wurde „dem Vater“ so die alleinzeugende Kraft zugewiesen. Laut christlichen Lehren erzeugt ein Gottvater in Christus seinen „eingeborenen Sohn“.

Zu dieser Vorstellung gibt es in der jüdischen Religion kein Pendant: Gott ist der Schöpfer der Welt oder der „König“, der über die Menschen herrscht. Das Gottesbild der Hebräischen Bibel kennt zwar einige anthropomorphe Beschreibungen – etwa die Hand oder das Auge Gottes. Aber Gott wird nicht als „Vater“ bezeichnet.11 Auch gilt der „Messias“, auf den der Gläubige hofft, nicht als „Sohn Gottes“, er ist bestenfalls sein Abgesandter, geschweige denn, dass Gott einen Sohn in Menschengestalt zeugt. Die jüdische Religion, in deren Zentrum die unüberwindbare Grenze zwischen Gottes Ewigkeit und menschlicher Sterblichkeit steht, schließt eine solche Betrachtungsweise aus – und es kam auch nicht zur einer Hierarchie zwischen geschriebener und gesprochener Sprache. Wegen des Fehlens von Vokalen im semitischen Alphabet blieb die geschriebene Sprache auf die gesprochene angewiesen; nur so konnte sie „zur Welt kommen“.12 Die Offenheit gegenüber der Oralität schuf einerseits die Voraussetzungen für die Flexibilität der Interpretation, war aber auch nicht irrelevant, als sich das Judentum in den ersten zwei Jahrhunderten für ein matrilineares Prinzip der Zugehörigkeit entschied. Dass die Schriftzeichen ohne eine (als weiblich) definierte Oralität nicht „funktionieren“ konnten, hat es zweifellos erleichtert, dem weiblichen Körper auch eine Bedeutung für die Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft beizumessen.

Die Septuaginta stellte die Unterscheidung zwischen griechischem und hebräischem Alphabet zunächst in Frage. Es handelt sich um die älteste Übersetzung der hebräisch-aramäischen Bibel in die griechische Alltagssprache; sie entstand ab ca. 250 v. u. Z. im hellenistischen Judentum. Zuerst befassten sich die Übersetzer nur mit der Tora, dann aber auch mit den anderen Büchern, deren Übersetzung bis etwa 100 u. Z. vorlagen. Handschriften, die frühere Versionen der jüdischen Bibel wiedergeben, sind nur in Fragmenten erhalten. War die griechische Bibelübersetzung einem innerjüdischen Bedürfnis entsprungen (viele Juden, vor allem die von Alexandrien, verorteten sich selbst in der Kultur des Hellenismus) und wurde sie zunächst von den Rabbinen gerühmt, so änderte sich das: „Als manche ungenaue Übertragung des hebräischen Textes in der Septuaginta und Übersetzungsfehler die Grundlage für hellenistische Irrlehren abgaben, lehnte man die Septuaginta ab.“13 Nach der Spaltung zwischen Christentum und rabbinischem Judentum im 1. Jahrhundert wurde im Judentum ausschließlich das hebräische Alphabet verwendet.

Die alleinzeugende Macht, die das volle griechische Alphabet der Schrift zuwies – sie führte dazu, dass die gesprochene Sprache „nach ihrem Ebenbild“ gestaltet wurde – hatte nicht nur Rückwirkungen auf Philosophie und Wissenschaft, später auch auf die theologischen Lehren des Christentums; sie fand auch in den Zeugungstheorien der griechischen Klassik ihren Ausdruck. Laut Aristoteles enthält der männliche Samen alle Komponenten des Lebenskeims in sich, während der mütterliche Körper die „Materie“ (von mater, Mutter) liefert, die durch dieses Prinzip „geformt“ wird.14 Aus diesem Konzept entwickelte sich wiederum die Vorstellung einer männlichen Blutslinie, die vom Prinzip einer geistigen Zeugung bestimmt ist. Von Griechenland ging sie später aufs Christentum über. Während einerseits die Rabbinen das Prinzip jüdischer Matrilinearität auszuformulieren begannen, entwickelte Paulus die Grundlinien einer „christlichen Genealogie“. Zu diesen gehörte auch ein spezifisches Geschlechterverhältnis, das die Frau zur Schöpfung des Mannes erklärte. So lautete seine Begründung für die Forderung nach der Verschleierung der Frau im Gotteshaus: „Zwar darf der Mann seinen Kopf nicht verhüllen, denn er ist Abbild und Abglanz Gottes; die Frau aber [muß es tun, denn sie] ist Abglanz des Mannes. Es stammt ja [ursprünglich] nicht der Mann aus der Frau, sondern die Frau aus dem Manne.“15 Die Umkehrung der biologischen Realität durch Paulus wird nur verständlich, wenn man an die Stelle von „Mann“ und „Frau“ die Begriffe „Schrift“ und „Mündlichkeit“ setzt: Im vollen, griechischen Alphabet ist die gesprochene Sprache nicht die Mutter der Schrift, sondern ihr „Abglanz“. Die Schrift ist es, die die Sprache gestaltet, und diese Umkehrung wird an den Geschlechterrollen exemplifiziert. Kurz, die männlich-zeugende Macht, die dem geschriebenen Wort beigemessen wurde, war einer der Gründe dafür, dass in Griechenland und Rom das patrilineare Prinzip dominierte und dann auch vom Christentum übernommen wurde, das seine Schriftkultur vom Hellenismus und der lateinischen Sprache ableitete.

Die Bedeutung des Sprechens, das von der Leiblichkeit nicht zu trennen ist, bewirkte, dass im Judentum die leibliche Fortpflanzung von zentraler Bedeutung war, während für das Christentum die geistige (väterliche) Genealogie in den Vordergrund rückte und die leibliche ihr nachgeordnet wurde. Die Kirche interessierte sich wenig für die biologische Fortpflanzung – oder nur insofern, als diese die Realitätsmacht des Geistes bewies. Die menschliche Biologie wurde zur „Investition“ des Geistes.16 Sowohl die Rabbinen als auch die christlichen Priester übten eine strenge Kontrolle über Sexualität und Genealogie aus. Aber das Anliegen dahinter unterschied sich. Die Rabbinen wollten den Erhalt der Gemeinschaft sichern. Bei den christlichen Priestern ging es eher um die geistige Fortpflanzung: im theologischen und später auch im akademischen Sinn von Vätern, die geistige Söhne zeugen.17 Natürlich ist diese Darstellung „jüdischer“ und „christlicher“ Genealogien schematisch gedacht; die historische Realität war vielschichtiger. Entscheidend ist jedoch, dass diese Modelle eng mit den Schriftsystemen zusammenhingen und diese eine erhebliche Wirkmacht entfalteten.

Das Konsonantenalphabet war aber nur einer von mehreren Faktoren bei der Entstehung jüdischer Matrilinearität. Er bildete den kulturellen Hintergrund für deren historische Entwicklung. Wäre der Faktor ausschlaggebend gewesen, so hätte sich auch im Islam eine mütterliche Abstammungslinie herausbilden müssen. Denn das arabische Alphabet schreibt ebenfalls nur die Konsonanten; und auch in der muslimischen Kultur spielt die Oralität eine wichtige Rolle. Diese Tatsache hatte zwar einen gewissen Einfluss auf die Geschlechterordnung,18 führte aber nicht zu einer weiblichen Erblinie. Die jüdische Matrilinearität hing vor allem mit den Bedingungen der Diaspora zusammen.

Das Prinzip Patrilinearität

Patrilinearität ist nicht gleich Patriarchat, ebenso wenig wie Matrilinearität mit Matriarchat verwechselt werden darf. Im einen Fall geht es um die genealogische Folge und die Einordnung der Kinder in eine Genealogie mit einer väterlichen oder mütterlichen Erblinie, im anderen um die soziale oder politische Vorherrschaft des einen Geschlechts. In matrilinearen Gesellschaften, die ihre Verwandtschaftsverhältnisse nach dem Gesetz der „Mutterlinie“, „Mutterfolge“ oder „uterinen Deszendenz“ definieren, orientiert sich die Abstammung – mithin auch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft – an einer weiblichen Genealogie. Das Judentum, von dem die Hebräische Bibel erzählt, war patrilinear. Genau genommen handelte es sich bei der von den Rabbinen entwickelten jüdischen Matrilinearität auch um eine Mischform: Zwar wird die Zugehörigkeit zum Judentum seit dem Beginn der Diaspora in weiblicher Erbfolge bestimmt, doch die Familienzugehörigkeit orientiert sich an der väterlichen Seite. So etwa die Zugehörigkeit zum Stamm der „Kohanim“, der in der Nachfolge von Aaron, dem Bruder von Moses, steht. Ähnliches gilt für die Zugehörigkeit zu den „Leviten“, benannt nach dem Stammvater Levi, aus denen sich traditionell die Gelehrten der Gemeinde rekrutierten. Auch die Zugehörigkeit zum sephardischen oder aschkenasischen Judentum orientiert sich am Vater.

Im Fall der Patrilinearität werden Eigentum, soziale Eigenschaften (Ämter) und Familiennamen in väterlicher Linie vererbt. Diese definiert sich zwar als „Blutsverwandtschaft“, faktisch ist dies aber kaum möglich, denn der sichere Vaterschaftsnachweis ist erst seit den 1980er Jahren möglich, dank des „genetischen Fingerabdrucks“. Die Unsicherheit der Vaterschaft ist einerseits der Grund für die strenge Monogamie patrilinearer Blutslinien; sie impliziert die Forderung nach einer strikten Bewachung der Frau. Andererseits tendieren patrilineare Gesellschaften zu einer „Vergeistigung der Manneskraft“ oder zu Zeugungstheorien, wie sie von Aristoteles formuliert wurden. Im Rahmen der Patrilinearität entstehen so auch „genealogische Fiktionen“, die etwa einem Herrscher (Alexander dem Großen) eine göttliche Herkunft bezeugen oder ein Herrscherhaus (die christlich-europäischen Dynastien) von „sakralem Blut“ ableiten.19 Das Phänomen bewirkt auch sogenannte genealogische Amnesien im Interesse einer Legitimierung gegenwärtiger Machtstrukturen. Die „genealogische Fiktion“ erlaubt es, Idealmodelle zu entwerfen, die wiederum auf die realen Verwandtschaftsstrukturen zurückwirken. Das gilt etwa für die christliche Gesellschaft, der – in der katholischen Kirche bis heute – das Konzept einer „geistigen Zeugung“ Christi als Rechtfertigung für eine ausschließlich männliche Priesterschaft diente.20 Die „genealogische Fiktion“ kann sehr viel leichter in patrilinearen Kulturen entstehen: Da diese den Beweis der Vaterschaft nicht erbringen können, entstehen Freiräume für Imaginationen.

Allgemein lässt sich sagen, dass die Patrilinearität Ausdruck einer Dominanz der Kultur über die Natur darstellt. Diese war schon prä-alphabetisch, wurde aber durch die der phonetischen Schrift inhärente Abstraktion verstärkt. Sigmund Freud hat den Zusammenhang zwischen kultureller Dominanz und Patrilinearität deutlich formuliert. Er bezeichnet den Prozess des „Kulturfortschritts“ als „Wendung von der Mutter zum Vater“ und als „Sieg der Geistigkeit über die Sinnlichkeit“. Seine Erklärung für diese Parallelisierung: „Die Mutterschaft ist durch das Zeugnis der Sinne erwiesen, während die Vaterschaft eine Annahme ist, auf einen Schluß und auf eine Voraussetzung aufgebaut.“21 Der Vater repräsentiert also das „Prinzip Geist“ aus dem einfachen Grund, dass sich die Vaterschaft nicht feststellen lässt. Die Zuweisung des Geistigen an den männlichen Körper basiert damit auf dem Prinzip des pater semper incertus est, das im römischen Recht festgeschrieben war. Das bedeutet aber, dass die Patrilinearität nur so lange aufrechtzuerhalten ist, als sich die Vaterschaft nicht feststellen lässt. Da also die Patrilinearität auf dem Unwissen über die leibliche Vaterschaft beruht, wird sie heute – mit einer genaueren Kenntnis der Zeugungsvorgänge – auch in Frage gestellt. Dieser Hintergrund des patrilinearen Prinzips ist wichtig, um zu verstehen, warum das Judentum bei der Frage der erblichen Zugehörigkeit eine Richtung einschlug, die dem Rest der antiken Welt und auch der eigenen Vorgeschichte konträr war. Und es erklärt, warum heute – zumindest im Reformjudentum – das rein matrilineare Prinzip in Frage gestellt wird – so wie in der christlichen Kultur die Patrilinearität ihre Plausibilität eingebüßt hat.22

Judentum und Hellenismus

Die Entscheidung zu einer „anderen“ Erblinie hing eng mit der historischen Situation zusammen, in die das Judentum durch die Diaspora geriet. Diese begann schon lange vor der zweiten Zerstörung des Tempels, mit dem Exil in Babylon, wo nicht nur ein Teil der Bibeltexte formuliert und kanonisiert wurde, sondern auch ein Regelwerk entstand, durch das die jüdische Gemeinschaft in der Fremde zusammengehalten werden sollte. Die Kultur Babylons stellte eine geringere Bedrohung für die jüdische Gemeinschaft dar als der Hellenismus, dessen Kultur auf einem ähnlichen Schriftsystem und damit auf einem hohen Grad an Abstraktion basierte. Lange vor der Entstehung des Christentums war das spätere christlich-jüdische Verhältnis (mit seinen Abgrenzungen und Übernahmen) im Gegensatz griechisch-jüdisch angelegt. Eines seiner Symptome waren die unterschiedlichen Rechtskulturen, die sich – wie später auch in der Beziehung von Judentum und Christentum – sowohl in Parallele als auch in Konkurrenz zueinander herausbildeten.

Im 7. Jahrhundert v. u. Z. erklärte Josija das „Buch der Lehre“ von Moses, Grundstock von Deuteronomium, zum Gesetzbuch. Laut Israel Finkelstein und Neil A. Silberman erhielt das Buch Exodus in der zweiten Hälfte des 7. oder Anfang des 6. Jahrhunderts v. u. Z. seine endgültige Form.23 Das entspricht in etwa dem Beginn des babylonischen Exils (597 v. u. Z). Nur kurze Zeit später vollzog sich auch in Griechenland ein Prozess der Gesetzeskanonisierung: Ca. 575 v. u. Z. setzte Solon in Athen ein Regelwerk durch, das prägend werden sollte für die griechische Kultur. Josijas Kanonisierung der Tora markiert den Beginn eines praktizierten Monotheismus. Dieser war durchsetzbar, weil er auf der Wirkmacht der (bleibenden) Schrift basierte: Mit einem Buch des Gesetzes aus Mose Hand wurde es möglich, „ein für allemal vollendete Tatsachen zu schaffen, also jeden Versuch einer Kritik an den Maßnahmen bzw. einer Revision als gegen den erklärten und schriftlich nachprüfbaren Willen JHWHs zu brandmarken“.24 Nicht nur bestätigte die unvergängliche Schrift das ewige Wort Gottes, sondern als „Wort Gottes“ konnte die Schrift auch ihrerseits Anspruch darauf erheben, für eine unwiderlegbare Gültigkeit zu stehen. Ähnlich konnte sich Solons Gesetzesreform, die in derselben Epoche und zu einer Zeit formuliert wurde, in der das griechische Alphabet auf das Denken Athens Einfluss nahm,25 nur deshalb durchsetzen, weil sie schriftlich fixiert wurde.

Die Zerstörung des davidischen Tempels und der Beginn des Exils in Babylon – eine erste diasporische Erfahrung – trugen zur Entwicklung einer spezifisch jüdischen Kultur bei und bewirkten, dass jüdische und hellenistische Denkwelten schon bald in Konkurrenz zueinander gerieten. Im babylonischen Exil entstand etwas Neues: „Ein Volk und eine Religion, die ihre Identität nicht von einem Land und einem Staat ableiten, sondern von Normen wie Beschneidung, Schabbat, Speisegesetzen und einer allgemeinen gemeinsamen Tradition, die unabhängig von einem bestimmten Land ist und überall gelebt werden kann.“26 Gerade weil einige jüdische Gelehrte in der „Babylonisierung“ (Anpassung an Babylon) eine Gefahr sahen, verstärkten sie das von Josija geschaffene religiöse Regelwerk. Die jüdische Gemeinschaft erhielt so eine erste diasporakompatible Konstitution mit Verfassung, Richtlinien usw. (siehe hierzu auch den Beitrag von Liliana Feierstein, S. 101).

Noch im 5. Jahrhundert trat der Unterschied zum Hellenismus deutlich zutage. Im Jahr 457 v. u. Z. entsandte der persische Großkönig Artaxerxes I. zwei hohe Staatsbeamte, die der jüdischen Priesteraristokratie angehörten, darunter Esra, nach Jerusalem. Die Perser wollten eine Region beruhigen, deren Aufständische von Athen und dem Attischen Seebund unterstützt wurden. Esra wurde erlaubt, mit einer „Anzahl von Israeliten, Priestern, Leviten, Sängern, Torwächtern und Tempeldienern nach Jerusalem“ zu reisen.27 Im Jahr 440 riefen er und Nehemia die Bevölkerung von Jerusalem vor die Tore der Stadt und ließen die Tora laut verlesen. Hatte es vorher die Propheten gegeben, so begann mit Esra die Epoche der „Schreiber“ und Schriftgelehrten. Sie legten den Grundstein für die Überlieferung der Schrift und machten sie zugleich verständlich.28 Diese Tradition wird seither von den „Bibellesern“ weitergeführt.

Bis zu dieser Aktion blieben die Heilige Schrift Insider-Wissen und ihr Inhalt den Priestern vorbehalten. Nun jedoch wurde die Tora nicht nur laut verlesen, sondern auch ausgelegt: Die Heilige Schrift wurde zum Allgemeinwissen der Gemeinde, und die Befähigung zum Lesen und Schreiben wurde zur Pflicht, zumindest für ihre männlichen Mitglieder. Bis dahin hatte keine andere Kultur oder Religion der alten Welt die allgemeine Schriftkundigkeit propagiert. Im Gegenteil: Je mehr sich die ägyptische Priesterkaste in ihrer Macht bedrängt fühlte, desto unzugänglicher machte sie die heiligen Texte – etwa durch die Vermehrung der Schriftzeichen.29 Ganz anders bei der jüdischen Gemeinschaft. Dort lebte von nun an Gottes Wort in jedem einzelnen Körper seines Volkes, nicht nur bei den Gelehrten und Geistlichen. Im Buch Exodus, das in eben dieser Zeit verfasst wurde, heißt es: Die Israeliten „sollen erkennen, daß ich der Herr, ihr Gott bin, der sie aus Ägypten herausgeführt hat, um in ihrer Mitte zu wohnen“.30 Das bedeutet, so Alfred Marx, dass Gott sein Volk nicht aus Ägypten herausgeführt hat, „um seinem heimatlosen und unterdrückten Volk ein eigenes Land zu geben“, sondern „um in seiner Mitte zu wohnen“. Das Novum gegenüber der vorexilischen Zeit bestehe darin, dass Gott nicht im Tempel, sondern „inmitten Israel“ wohnt. „Diese Wohnung wird jetzt zum Ort schlechthin der Begegnung zwischen Gott und seinem Volk.“31

Für Toragelehrte wie Esra und Nehemia, die selbst der Herrscherschicht angehörten, bedeutete die allgemeine Zugänglichkeit der Heiligen Schrift einen erheblichen Machtverlust. Warum trafen sie dann eine solche Entscheidung? Vermutlich blieb ihnen gar keine andere Wahl: Im Mittelmeerraum hatte sich eine andere Kultur auszubreiten begonnen, und auch sie beruhte auf einem alphabetischen Schriftsystem, das die allgemeine Lesefähigkeit beförderte. Die hellenistische Idee von Kultur erreichte zwar erst mit Alexander dem Großen den Punkt, „wo es möglich wurde, zu sagen, man sei Hellene nicht durch Geburt, sondern durch Bildung, so daß auch ein als Barbar Geborener ein wahrer Hellene werden konnte“.32 Doch schon lange vorher hatte der Hellenismus eine „kosmopolitische“ Dimension und das griechische Denken eine „universalistische“ Form angenommen, deren spezifisch „logische“ Strukturen in das Denken des östlichen Mittelmeerraums einzudringen begannen. Der Hellenismus breitete sich nicht in Form von Kolonisierung oder militärischer Unterwerfung aus, wie sie die Griechen zwar immer noch (aber immer weniger) betrieben; vielmehr stellte er eine Form von „geistiger Eroberung“ dar, wie sie sich weder militärisch noch politisch je hätte herbeiführen lassen. Tatsächlich entfaltete der Hellenismus erst dann seine höchste Wirksamkeit, als Griechenland schon längst kein politisches oder militärisches Schwergewicht mehr war. Dadurch ergab sich eine weitere Ähnlichkeit von Hellenismus und Judentum. Nicht durch Zufall ist der Begriff „Diaspora“, der heute zumeist mit dem Judentum verbunden wird, der griechischen Sprache entnommen: Die Magna Graecia stellte ein diasporisches Modell dar, das auf die damalige Welt großen Einfluss ausübte.33 Eben weil es sich beim Hellenismus um eine geistige Eroberung und ein „universelles Modell“ handelte, gab es eine bemerkenswerte Bereitschaft der „Besiegten“, diese Kultur anzunehmen. Obgleich die Nichthellenen den Hellenen zahlenmäßig weit überlegen waren, kam es zur raschen Verbreitung der griechischen Sprache.34 Sofern der Osten „überhaupt nach literarischem Ausdruck strebte“, so Hans Jonas, musste er sich „in griechischer Sprache und Manier äußern“.35 In dieser Form begann der Einfluss Griechenlands auch auf die jüdische Kultur überzugreifen: Dafür spricht die Entstehung der Septuaginta und davon erzählen auch die Makkabäer-Bücher, in denen von Ereignissen aus dem 2. Jahrhundert v. u. Z. und den innerjüdischen Konflikten zwischen hellenisierten Juden und solchen, die sich dagegen auflehnten, berichtet wird.

Offenbar ging es den jüdischen Gelehrten aus Babylon um diese Anziehungskraft des Hellenismus. In Persien lebend, waren sie mit diesem schon früh konfrontiert worden. Für den Zusammenhalt der jüdischen Gemeinschaft stellte der Hellenismus, der ebenfalls vom Alphabet geprägt war, eine größere Gefahr dar als die anderen umgebenden Kulturen. Dass es den jüdischen Gelehrten (wenn nicht ausschließlich, so doch auch) um die Abgrenzung gegen den Hellenismus ging, dafür spricht der Zeitpunkt der Entscheidung: Das Jahr 440 v. u. Z. fiel in genau jene Zeit, in der sich das griechische Alphabet endgültig etablierte. Das war die Zeit Platons, Euripides’ und der griechischen Klassik, als die griechische Bevölkerung das Schreiben „gründlich interiorisiert“ und die Schrift fähig geworden war, „die Bewußtseinsprozesse durchgängig zu beeinflussen“.36 Begann im Judentum mit Esra die Reihe der Schriftgelehrten und Bibelausleger, so setzte in Athen um dieselbe Zeit das Zeitalter der Sophisten ein, das Griechenland ein neues Zeitalter „der Gelehrten, der Gebildeten, der Männer des Buchs“ bescherte.37

Ebenso wie mit der Normierung des griechischen Alphabets im Jahr 403 v. u. Z. das griechische Alphabet „zum zentralen Kulturträger des antiken Hellenismus“ wurde,38 schlug mit der lauten Verlesung der Tora, die „Geburtsstunde der Schrift“. Für das Judentum, so der Historiker Yosef Hayim Yerushalmi, war dies aber „zugleich die Geburtsstunde der Exegese“.39 Zum Zeitpunkt der Eröffnung des Geheimwissens wurde einerseits die Tora „geschlossen“; sie hörte auf, in einem fließenden „Traditionsstrom“ zu stehen, und nahm Kanon-Charakter an. Günter Stemberger setzt die Endredaktion der jüdischen Bibel mit etwa 400 v. u. Z. an. Ab dann war nur noch der dritte Teil der biblischen Sammlungen, die Hagiographen mit den Psalmen und Weisheitsschriften, noch nicht kanonisiert und stillgelegt.40 Andererseits entstand zu diesem Zeitpunkt durch die Öffnung der Tora auch die Möglichkeit der vielfältigen Interpretationen; die allgemeine Zugänglichkeit hatte die Voraussetzungen dafür geschaffen. Das Terrain war bereitet, auf dem die Heilige Schrift zum „portativen Vaterland“ eines jeden Juden werden konnte: Nicht der Text an sich, sondern auch die Möglichkeit, ihn immer wieder aktualisieren, wechselnden historischen und kulturellen Kontexten anpassen zu können, machte aus der Tora eine „Heimat in der Fremde“. Indem jeder Jude für sich in der Schrift sein „Zuhause“ finden konnte, war die Gemeinschaft weniger anfällig für die Anziehungskraft des Hellenismus. So etwa könnte man die eine Seite des Konzepts „Judentum in der Diaspora“ beschreiben, das Esra und andere Gelehrte im babylonischen Exil entwickelt hatten.

Die andere Innovation galt der Herkunftslinie; sie vollzog sich parallel zur Öffnung der Tora. Mit Entsetzen hatte Esra festgestellt, dass die Juden Palästinas „fremde Frauen“, d. h. Frauen aus anderen Kulturen geheiratet hatten. Weil sie, wie der gesamte Mittelmeerraum der Antike, in väterlichen Erblinien dachten, hatten viele jüdische Männer Nichtjüdinnen zur Frau genommen, denn deren jüdische Identität war unwichtig. Durch ihre Heirat gehörten sie automatisch zum Judentum, und ebenso wurde auch die Zugehörigkeit der Kinder zur israelitischen Gemeinschaft durch den Vater bestimmt. Doch die Erfahrungen in der babylonischen Diaspora hatten die Priester gelehrt, an diesem Automatismus zu zweifeln. Sie sahen in den Frauen, die in einer anderen kulturellen Tradition aufgewachsen waren, einen potentiellen Gefahrenherd. So schlug einer der Führer der Gemeinschaft, Schechanja, die Trennung der jüdischen Männer von ihren nichtjüdischen Frauen und den mit ihnen gezeugten Kindern vor.41 Ein Kind sollte nur dann als „jüdisch“ anerkannt werden, wenn auch die Mutter jüdisch sei. Warum war den babylonischen Gelehrten so viel am matrilinearen Prinzip gelegen? Auch hier ist der Vergleich mit Athen aufschlussreich. Dort hatte Perikles ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz eingeführt: Es wurde auf Personen eingeschränkt, die von einer Athenerin geboren wurden, die wiederum gesetzlich mit einem Athener verheiratet war. Das Athener Gesetz hatte wenig bis nichts mit einer Abgrenzung gegen das Judentum zu tun; es ging um die Abgrenzung gegen andere Griechen. In Jerusalem wiederum ging es um die Abgrenzung gegen die umgebenden (heidnischen) Kulturen. Dennoch ist es aufschlussreich, dass sich in beiden Alphabetkulturen fast zeitgleich ähnliche Strukturen etablierten, die sich allerdings in einem entscheidenden Detail unterschieden: Während sich aus dem Athener Gesetz eine patrilineare Abstammungsfolge entwickeln sollte, lief das von Babylon nach Jerusalem importierte Gesetz auf eine mütterliche Abstammungslinie hinaus.

Das bedeutet nicht, dass Esra und die anderen Gelehrten eine neue Mutterlinie im Sinne hatten. Sie dachten in den alten Kategorien biblischer Patrilinearität, doch war ihnen an eindeutigen Zugehörigkeitsbeweisen gelegen. Gegen die Einführung einer allein matrilinearen Deszendenz spricht auch die Tatsache, dass in etwa derselben Zeit das Buch Rut verfasst wurde: „Als fiktionale Novelle in theologischer Absicht stellt sich das Buch Rut kritisch gegen die in Esra und Nehemia wiedergegebenen Positionen.“ Rut, die angebliche Urahnin des Königs David, ist Moabiterin und „wird trotzdem vom jüdischen Volk, dem sie sich anschloss, mit Liebe aufgenommen“. Sie ist der lebende Beweis dafür, dass nicht „nur eine Familie, die über Generationen im Geist der Tora erzogen wurde, den Weiterbestand des Judentums gewährleisten könne“.42 Diese „fiktionale Novelle“ wird freilich in einer Zeit verfasst, in der das jüdische Volk, zumindest in Palästina, festen Boden unter den Füßen hatte. Dagegen kannten Esra und Nehemia das Exil, und das ließ sie ein Modell entwickeln, das den Bedingungen der Diaspora entsprach und sich später erneut als hilfreich erweisen sollte.

Mit anderen Worten: Das „portative Vaterland“ der Hebräischen Bibel wurde durch eine weibliche Herkunftslinie ergänzt. Auf diese Weise gehörte der einzelne Jude auch in leiblicher Weise seinem Volk an. Da für eine eindeutige Abstammung nur die Mutter in Frage kommt – mater semper certa est –, bot diese Abstammungslinie die notwendige Sicherheit. Mit anderen Worten: Im Exil substituierte der mütterliche Körper das „Heilige Land“. So wie sich Heilige Schrift und Orthopraxie gegenseitig ergänzten, vervollständigte auch die weibliche Herkunftslinie die geistige Genealogie der väterlichen Schrift. Als Heinrich Heine sehr viel später die Heilige Schrift der Juden als „portatives Vaterland“ bezeichnete,43 griff er mit seiner prägnanten Formulierung genau diese Zuordnung auf. Beides zusammen bildete für die Gelehrten aus Babylon die Basis für den Erhalt des Judentums in der Diaspora.

Die Ereignisse, die in den Büchern Esra und Nehemia beschrieben werden, offenbaren noch ein weiteres Spezifikum der jüdischen Situation. Die Gruppe der 1550 „Heimkehrer“ aus dem babylonischen Exil, die völlig neue Grundlagen für die jüdische Identität und das normative Judentum formulierte, machte gerade mal drei Prozent der damaligen jüdischen Bevölkerung aus. Es handelte sich um eine engagierte und vor allem hochgebildete Elite, die ihre persönliche Geschichte von Deportation und Heimkehr derart nachhaltig durchsetzen konnte, „dass die Bücher der Chronik im 4. Jahrhundert v. u. Z. erzählen konnten, das Land habe die ganze Zeit ihres Exils brachgelegen“.44 Der Alttestamentarier Klaus Bieberstein nennt dies eine zweischneidige Angelegenheit: „Denn einerseits integriert diese Geschichte vordergründig die zuhausegebliebene Unterschicht in das Schicksal der deportierten Oberschicht. Andererseits aber beraubt sie die zuhausegebliebene Mehrheit ihrer eigenen Geschichte und schließt jene unter ihnen, die auf ihrer eigenen Tradition beharren, als vermeintlich ‚Fremde‘ aus.“45 So lassen sich Esras und Nehemias Neuerungen auch unter „kolonialer“ Perspektive lesen: Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass orale Kulturen, wenn sie von schriftkundigen Kulturen überlagert werden, gegen diese keinen Bestand haben. Das galt auch hier, setzt man die Kultur der babylonischen Juden mit Schriftkundigkeit und die der Juden in Judäa mit Oralität gleich. Nur deshalb gelang es „einer kleinen, geschichtsschreibenden Minderheit im Laufe der Zeit, die Geschichte der Ansässigen durch die Geschichte der Heimkehrer zu verdrängen, ihre auf Distinktion bedachte Sicht durchzusetzen, die Bevölkerung des Landes als Hindernis in der Gottesverehrung zu diskreditieren, sozial zu marginalisieren und die Grenzen der Gemeinde durch Stammbaumpflege zu markieren und zu fixieren“.46

Allerdings schränkt diese Sicht die Ereignisse auf einen sozialen Machtkonflikt ein. Gewiss, bei den Exilanten handelte es sich um Privilegierte, sie hatten in Babylon ein gutes wirtschaftliches Auskommen und waren, wie Nehemia und Esra, in die höchsten politischen Ämter aufgestiegen. Aber sie nutzten diese Bildung nicht wie die ägyptischen Priester zur Erweiterung ihrer Macht durch Geheimwissen. Vielmehr hatten sie – als Schriftgelehrte – begriffen, dass die jüdische Religion und Kultur nur überleben kann, wenn alle