Handbuch Jugend -  - E-Book

Handbuch Jugend E-Book

0,0

Beschreibung

Young people face various biological, psychological and social changes - during a phase of life in which major decisions affecting their future lives and careers are being made. This book presents the current state of research on young adulthood in a comprehensible way and explains the developments that take place during this formative period of life. The book is divided into five major topics, which provide a comprehensive overview of the major aspects involved that have been discussed academically. Initially, there is a glance at the biological foundations, followed by a discussion of the influence of social environments (family, friends and school) and of the media. The third part is concerned with important goals in young people=s development: forming an identity, developing moral ideas and learning basic competences (choosing a profession). The last two sections discuss social topics such as migration, political socialization and important developmental problems (including eating disturbances, ADHS, substance abuse), as well as options for prevention and approaches to intervention.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 1129

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Herausgeber

Prof. Dr. phil. habil. Burkhard Gniewosz, Diplompsychologe; Studium an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; 2002–2007: wiss. Mitarbeiter an der Abteilung für Pädagogische Psychologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena; 2007–2013: Assistent am Lehrstuhl Empirische Bildungsforschung der Julius-Maximilians-Universität Würzburg; 2013–2016: Vertretungsprofessur für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Jugendforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München; seit 2016 Universitätsprofessur für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt quantitative Forschungsmethoden an der Paris-Lodron-Universität Salzburg.

Mitglied des wissenschaftlichen Beirates der Zeitschrift »Diskurs Kindheits- und Jugendforschung«, Council Member der European Association for Developmental Psychology.

Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die längsschnittliche Untersuchung von Sozialisationsprozessen in akademischen (z. B. akademisches Selbstkonzept, subjektive Aufgabenwerte, Motivation) und sozialen Domänen (z. B. Einstellungen, Werte, Handlungsbereitschaften). Ein Hauptaugenmerk seiner Arbeit liegt auf Einflüssen verschiedener Lebenswelten (z. B. Schule und Familie) auf die Entwicklung von akademischen, politischen und sozialen Einstellungen sowie Werten in Kindheit und Jugendalter.

Prof. Dr. phil. habil. Peter F. Titzmann, Diplompsychologe; Studium an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald; 1999–2000: Forschungsaufenthalt an der Stress-Research Unit der University of York, UK; 2000–2012: wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung Entwicklungspsychologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena; 2012–2015: Assistenzprofessor für Lebenslauf- und Kompetenzentwicklung im Kindes- und Jugendalter, Jacobs Center for Productive Youth Development, Universität Zürich, Schweiz; 2015–2016: Professor für Psychologie, Pädagogische Hochschule Weingarten, Deutschland; seit 2016 Professor für Entwicklungspsychologie, Leibniz Universität Hannover.

Mitglied des wissenschaftlichen Beirates mehrerer Fachzeitschriften (International Journal of Psychology, Cultural Diversity & Ethnic Minority Psychology) und im Council der European Association for Developmental Psychology.

In seiner (teilweise kulturvergleichenden) interdisziplinären Forschung beschäftigt er sich hauptsächlich mit dem Zusammenspiel normativer Entwicklung mit Migrationserfahrungen bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund. In diesem Zusammenhang untersucht er Themen wie die Autonomieerwartungen, das Auftreten und die Konsequenzen von akkulturativem Stress, Delinquenz und Viktimisierungserfahrungen bei jugendlichen Migranten, Eltern-Kind-Beziehungen in Migrantenfamilien und bei Einheimischen oder die Entstehungsbedingungen interethnischer Freundschaften.

Burkhard Gniewosz Peter F. Titzmann (Hrsg.)

Handbuch Jugend

Psychologische Sichtweisen auf Veränderungen in der Adoleszenz

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-029859-0

E-Book-Formate:

pdf:    ISBN 978-3-17-029860-6

epub: ISBN 978-3-17-029861-3

mobi: ISBN 978-3-17-029862-0

Inhalt

 

 

Danksagung

Einleitung

Teil I Biologische Prozesse im Jugendalter

1 Genetische Einflüsse und Wirkweisen

Jens B. Asendorpf

2 Neuronale Prozesse in der Adoleszenz

Anne Schmidt und Sarah Weigelt

3 Hormonale Prozesse – Normative Entwicklung und Zusammenhang mit Erleben und Verhalten im Jugendalter

Julian Koenig und Michael Kaess

Teil II Soziale Umwelten

4 Die Bedeutung der Familie im Jugendalter

Sabine Walper und Burkhard Gniewosz

5 Das Jugendalter – Herausforderungen für die Schule

Christiane Spiel, Marko Lüftenegger und Barbara Schober

6 Freundschaften und romantische Beziehungen

Inge Seiffge-Krenke

7 Jugend und Freizeit

Martin Pinquart und Hannah Margraf

8 Jugend und Medien

Carolin Braun, Verena Gralke und Gerhild Nieding

Teil III Themen der Jugendentwicklung

9 Kognitive Entwicklung im Jugendalter

Esther Ziegler, Anne Deiglmayr, Lennart Schalk und Elsbeth Stern

10 Emotionen und Emotionsregulation im Jugendalter

Peter Zimmermann, Fatma Çelik, Fritz Podewski und Alexandra Iwanski

11 Lern- und Leistungsmotivation im Jugendalter

Stephanie Lichtenfeld und Burkhard Gniewosz

12 Soziale Kompetenzen im Jugendalter

Herbert Scheithauer, Viola Braun, Laura König, Leonard Bruckmann und Stephan Warncke

13 Entwicklung von Selbst und Identität: Die besondere Bedeutung des Jugendalters

Bettina Hannover, Ilka Wolter und Lysann Zander

14 Moralische Entwicklung

Luciano Gasser und Tina Malti

15 Positive Jugendentwicklung: Perspektiven und Herausforderungen

Annekatrin Steinhoff, Peter F. Titzmann und Marlis Buchmann

16 Gesundheitsverhalten

Theda Radtke und Urte Scholz

17 Berufliche Entwicklung im Jugendalter

Elke Schröder

Teil IV Jugend und Gesellschaft

18 Jugend und sozialer Wandel in fortgeschrittenen Industriegesellschaften der westlichen Welt

Marlis Buchmann und Annekatrin Steinhoff

19 Jugendliche mit Migrationshintergrund

Peter F. Titzmann und Linda P. Juang

20 Politische Sozialisation

Katharina Eckstein und Peter Noack

Teil V Entwicklungspsychopathologie

21 Internalisierende Störungen

Olaf Reis

22 Essstörungen und Adipositas

Julia Reichenberger, Adrian Meule und Jens Blechert

23 Lernstörungen

Kirsten Schuchardt und Claudia Mähler

24 ADHS im Jugendalter

Christina Schwenck und Sabine Maur

25 Dissoziales Verhalten

Andreas Beelmann

26 Konsum und Missbrauch psychotroper Substanzen

Boris Orth und Jürgen Töppich

27 Resilienz

Christoph Steinebach und Kiaras Gharabaghi

28 Prävention und Entwicklungsförderung im Jugendalter

Karina Weichold und Anja Blumenthal

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Stichwortverzeichnis

Danksagung

 

 

 

Alle Kapitel dieses Buches unterlagen dem Peer-Review-Verfahren. Die Herausgeber möchten sich daher bei den folgenden Gutachterinnen und Gutachtern für ihr Engagement beim Lesen und Kommentieren der Kapitel bedanken. Der Begutachtungsprozess hat dazu beigetragen, dieses Buch in Informationsgehalt und Lesbarkeit zu verbessern. Die Gutachterinnen und Gutachter waren Monika Buhl, Christoph Eisenegger, Caterina Gawrilow, Kristina Götz, Werner Greve, Marius Harring, Andreas Hirschi, Stefanie Höhl, Philipp Jugert, Monika Keller, Arnold Lohaus, Mohini Lokhande, Peter Noack, Michael Pluess, Marion Reindl, Harriet Salbach, Christel Salewski, Christine Schmid, Wolfgang Schneider, Ingrid Schoon, Karin Schweizer, Rainer K. Silbereisen, Daniel Süss, Martin Tomasik, Marc Vierhaus und Petra Warschburger.

Einleitung

 

 

 

»Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe.« (Keilschrifttext aus Ur um 2000 v. Chr.)

Es ist immer eine Freude, in Vorlesungen und Vorträgen schätzen zu lassen, aus welcher Epoche dieses Zitat stammt. Die Spannweite der Schätzungen reicht von aktuellen einschlägigen Parteiprogrammen bis in die Antike. Das verdeutlicht, dass das Jugendalter eine Zeit der Reibungen zwischen den Generationen darstellt und wohl auch immer dargestellt hat. Das Jugendalter ist eine faszinierende Lebensphase – sowohl aus biografischer als auch wissenschaftlicher Sicht. Biografisch können sich vermutlich alle erwachsenen Menschen an die intensive Zeit des Übergangs ins Erwachsenendasein erinnern, in denen der Körper vielen Veränderungen unterworfen ist, Auseinandersetzungen mit Eltern und Peers sich in ihrer Art und Weise verändern und erste romantische Erfahrungen starke emotionale Schwankungen mit sich bringen können. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist eine lange Forschungstradition mit dieser Lebensphase verbunden, in denen biologische, soziale und psychologische Faktoren komplex ineinandergreifen, sich gegenseitig bedingen und in Wechselwirkung mit vielschichtigen Umweltfaktoren stehen.

Doch was ist eigentlich das Jugendalter? Silbereisen und Weichold (2012) geben als grobe Orientierung die Altersspanne zwischen 12 und 19 Jahren an. Forscherinnen und Forscher sind sich dabei weitgehend einig, dass das Jugendalter mit der Pubertät beginnt und in etwa mit dem Ende des zweiten Lebensjahrzehnts endet. Der Beginn des Jugendalters lässt sich daher mit der Pubertät noch relativ gut markieren. Die Grenze zum Übergang in das junge Erwachsenenalter fällt allerdings schwerer und ist hoch individualisiert. Zunehmende Ausbildungszeiten (Chisholm & Hurrelmann, 1995) und eine damit einhergehende spätere ökonomische Unabhängigkeit von den Eltern haben beispielsweise dazu geführt, dass junge Menschen sich erst recht spät – meist erst im dritten Lebensjahrzehnt – als erwachsen betrachten (Arnett, 2000).

Dieses Buch zeichnet die körperlichen, kognitiven, emotionalen und sozialen Veränderungen nach, die in dieser Lebensphase stattfinden. Es trägt empirische und theoretische Erklärungsansätze zusammen, die ein Grundverständnis für das Jugendalter fördern und möglicherweise auch Ängste und Sorgen zerstreuen können. Eltern kennen ihre Kinder, Lehrer die netten Grundschulkinder – dann werden sie zum »Pubertier« (Weiler, 2014), d. h. von Eltern wie Lehrerinnen und Lehrern weniger gut verstanden und einschätzbar. Eltern, aber auch Lehrenden fällt es oft schwer, die Veränderungen des Jugendalters einzuordnen, zu verstehen und damit umzugehen. Unser Buch macht deutlich, dass das Jugendalter keineswegs konfliktgeladen sein muss und dass die Konflikte, wenn sie auftreten, keineswegs nur problematisch sein müssen. Im Gegenteil, Konflikte können auch Entwicklung befördern und Jugendliche selbständiger machen, wenn Eltern, Lehrerinnen und Lehrer sowie die Jugendlichen selbst konstruktiv damit umzugehen wissen. Daher macht dieses Buch in den jeweiligen Kapiteln auch Vorschläge dazu, wie man mit den Veränderungen umgehen kann, wie man sie in der Gesamtheit der Veränderungen über die Lebensspanne eines Menschen einordnen muss und wie man korrigierend bei Abweichungen eingreifen kann.

Die interdisziplinäre Ausrichtung des Buches stellt in verständlicher Weise den aktuellen Forschungsstand zum Jugendalter aus pädagogischer, psychologischer und soziologischer Sicht vor und beleuchtet die vielfältigen Entwicklungen und Veränderungen, die in diesem prägenden Lebensabschnitt stattfinden. Ziel war dabei, deutschsprachige Expertinnen und Experten zusammenzubringen, um möglichst umfassend aktuelle und international einschlägige Forschungsergebnisse sowie wichtige theoretische Grundlagen für fünf große Themenbereiche darzustellen. Der erste Teilbereich stellt die biologischen Veränderungen vor, gefolgt von wichtigen Entwicklungskontexten und -themen im zweiten und dritten Teil des Buches. Der vierte und der fünfte Teilereich widmen sich dann den gesellschaftlichen Implikationen und psychopathologischen Veränderungen.

Zu Beginn wird im ersten Themenbereich ein Blick auf die biologischen Grundlagen geworfen. Dabei werden zuerst genetische Aspekte der Jugendentwicklung beleuchtet (Asendorpf,  Kap. 1), die neue Gesichtspunkte zu der seit langem geführten Erbe-Umwelt-Debatte aufzeigen. Als zweites werden Ergebnisse aus dem momentan sehr stark beforschten Gebiet der neuronalen Veränderungen im Jugendalter vorgestellt (Schmidt & Weigelt,  Kap. 2), die aufzeigen, dass bestimmte Verhaltensweisen von Jugendlichen (z. B. abweichendes Verhalten) nicht nur durch Umwelteinflüsse bedingt sind, sondern auch durch die neuronale Reifung erklärt werden können. Eine dritte biologische Perspektive greift die hormonellen Veränderungen der Adoleszenz auf (Koenig & Kaess,  Kap. 3). Das komplexe Zusammenspiel von Sexual-, Stress- und Bindungshormonen steht mit vielen auch körperlichen Veränderungen im Jugendalter im Zusammenhang, weshalb wir diesem Aspekt ein eigenes Kapitel in diesem Buch zukommen lassen wollten.

Allerdings zeigt die zunehmende Forschung zu den genannten biologischen Aspekten immer wieder, dass Erleben und Verhalten von Menschen nicht ohne Umweltfaktoren zu beschreiben und zu verstehen sind. Daher fokussiert der zweite Themenkomplex auf wichtige Umweltbereiche, die Jugendliche in ihrer Entwicklung heute prägen. Zuallererst ist dabei die Familie zu nennen, deren Einfluss auch in andere Lebensbereiche von Jugendlichen reicht. Daher wird das erste Kapitel des zweiten Themenkomplexes diese Umwelt beleuchten. Walper und Gniewosz ( Kap. 4) gehen dabei auch auf die Veränderungen in der Eltern-Kind-Beziehung ein, die in dieser Lebensphase durch eine Neuaushandlung von Nähe und Autonomie geprägt sind und auch mit Konflikten einhergehen können. Eltern sind diesen Veränderungen nicht hilflos ausgeliefert, sondern können durch ihr Verhalten diesen Aushandlungsprozess maßgeblich beeinflussen. Daher werden in diesem Beitrag auch Erziehungsstile und Elternprogramme vorgestellt. Nicht überraschend ist, dass wir der Schule, als zweitem wichtigen Entwicklungskontext, ein eigenes Kapitel dieses Buches gewidmet haben. Spiel, Lüftenegger und Schober ( Kap. 5) greifen darin die Herausforderungen moderner Schulen auf, die darauf abzielen, Jugendliche fit zu machen für die moderne Wissens- und Informationsgesellschaft. In diesem Zusammenhang werden Modelle für Lernhandlungen, aber auch Voraussetzungen für lebenslanges und selbstgesteuertes Lernen vorgestellt, die in Forschung und Praxis Anwendung finden. Das dritte Thema in diesem Teilbereich unseres Buches widmet sich den Peerbeziehungen Jugendlicher, vor allem den Freundschaften und romantischen Beziehungen (Seiffge-Krenke,  Kap. 6). Die darin vorgestellten Ergebnisse zeichnen nicht nur den Verlauf und die Stabilität dieser Beziehungen nach, sondern weisen auch auf, welche Wichtigkeit sie für die weitere, vor allem soziale Entwicklung der Jugendlichen haben. Da Jugendliche heute mehr Freizeit haben als in vergangenen Jahrzehnten, stellt die Freizeit zunehmend einen eigenen Entwicklungskontext für Jugendliche dar, der Jugendlichen helfen kann, wichtige Entwicklungsaufgaben zu lösen. Dieser Erkenntnis folgend, stellen Pinquart und Margraf ( Kap. 7) in ihrem Kapitel zum Freizeitverhalten Jugendlicher wichtige Faktoren zusammen, die die Freizeitgestaltung von Jugendlichen beeinflussen, und diskutieren die Effekte von strukturierten und unstrukturierten Freizeitaktivitäten. In einem letzten Abschnitt dieses Beitrags werden Interventionen beschrieben, die dabei helfen können, das Freizeitverhalten Jugendlicher zu verbessern. Obwohl heutzutage ein nicht unerheblicher Anteil der Freizeit im Netz verbracht wird, haben soziale Medien und Informationstechnologien mittlerweile einen Status im Leben von Jugendlichen erreicht, die ein eigenes Kapitel zu diesem Thema rechtfertigen. Braun, Gralke und Nieding ( Kap. 8) beleuchten daher in ihrem Beitrag die wichtigsten Erkenntnisse im Bereich Medien und Informationstechnologien. Dazu gehört nicht nur ein Überblick über die Mediennutzung Jugendlicher, sondern auch die Darstellung der sozialen und kognitiven Effekte der Mediennutzung. Dabei ist es wichtig, sowohl die Entwicklungschancen zu beleuchten, beispielsweise die Möglichkeiten zur Lösung von Entwicklungsaufgaben, aber auch auf Entwicklungsrisiken hinzuweisen, die durch unangemessenen Konsum von Pornografie oder unkritisch übernommene Schönheitsideale entstehen. Um diesen Risiken zu begegnen, haben Jugendliche heutzutage eine zusätzliche Entwicklungsaufgabe zu bewältigen – die Entwicklung von Medienkompetenz. Dieser Aspekt wird ebenfalls in diesem Kapitel angesprochen.

Den dritten Abschnitt des Buches bildet eine Auswahl von Themen oder besser Bereichen, in denen sich im Jugendalter immense Veränderungen beschreiben lassen. Möglicherweise haben gerade diese Veränderungen zu der pessimistischen Einschätzung des Jugendalters im vorangestellten Zitat beigetragen, da die lieben Kleinen nun zu jungen Erwachsenen werden. Mit dem Eintritt in das Jugendalter verändert sich das Denken. Ziegler, Deiglmayr, Schalk und Stern ( Kap. 9) geben einen Überblick über kognitive Veränderungen im Jugendalter und gehen hierbei auf allgemeine und spezifische, z. B. sprachliche Entwicklungen ein. Ein Thema, das im alltäglichen Miteinander einiges an Konfliktpotenzial bietet, sind Emotionen. Zimmermann, Çelik, Podewski und Iwanski ( Kap. 10) beschreiben die Veränderungen in Qualität, Intensität, Fluktuation und Auslösern von Emotionen im Jugendalter und skizzieren ebenso die Möglichkeiten der Emotionsregulation. Eng verbunden mit Emotionen ist die Motivation. Lichtenfeld und Gniewosz ( Kap. 11) beleuchten in ihrem Kapitel schulische Lern- und Leistungsmotivation im Jugendalter. Integriert in übergreifende Modelle der Jugendentwicklung erläutern Scheithauer, Braun, König, Bruckmann und Warncke ( Kap. 12) Erklärungsmodelle zur Entwicklung sozialer Kompetenzen im Jugendalter und gehen hierbei auf positive sowie negative Einflussgrößen unter einer Förderungs- und Trainingsperspektive ein. Eine der großen Entwicklungsaufgaben im Jugendalter ist die Entwicklung des Selbst und der Identität. Hannover, Wolter und Zander ( Kap. 13) diskutieren, eingebettet in klassische und aktuelle Theorien, Entwicklungsverläufe sowie Einflüsse auf die Identitätsentwicklung unter einer differenziellen Perspektive, die unterschiedliche Gruppen von Jugendlichen, wie z. B. Jungen vs. Mädchen, in den Blick nimmt. In dem sich anschließenden Kapitel präsentieren Gasser und Malti ( Kap. 14) einen Überblick über moralische Urteile, Gefühle sowie moralische Identität im Jugendalter und beleuchten hierbei die Rolle sozialer Beziehungen. Dabei wird deutlich, wie bspw. die Eltern die moralische Entwicklung entscheidend mitprägen. Einen übergreifenden Fokus nehmen Steinhoff, Titzmann und Buchmann ( Kap. 15) in ihrem Beitrag zur positiven Jugendentwicklung ein und zeichnen eine der großen paradigmatischen Wendungen der Jugendforschung nach, die sich sukzessive weg von einer Defizitorientierung und hin zu der Untersuchung der Stärken von Jugendlichen orientiert. Im sich anschließenden Kapitel beleuchten Radtke und Scholz ( Kap. 16) die Gesundheit im Jugendalter, wobei sie Ernährung, körperliche Aktivitäten, den Konsum elektronischer Medien sowie sexuelles Risikoverhalten als entscheidende Faktoren herausarbeiten und deren Wirkung auf die Gesundheit von Jugendlichen aufdecken. Der Beitrag schließt mit Erklärungsmodellen für jugendliches Gesundheitsverhalten und daraus abgeleiteten Fördermöglichkeiten. Ein Thema, das bereits den Übergang in das frühe Erwachsenenalter markieren kann, ist die berufliche Entwicklung. Schröder ( Kap. 17) präsentiert, aufbauend auf einem breiten theoretischen Fundament, verschiedene Einflussgrößen, wie die Eltern oder die Gleichaltrigen, die auf die berufliche Entwicklung wirken, und leitet daraus praktische Implikationen für eine bessere Gestaltung des Übergangs von der Schule in den Beruf ab.

Der vierte Teilbereich des Buches widmet sich gesellschaftlichen Veränderungen und der Frage, wie Jugendliche damit umgehen bzw. davon beeinflusst werden. Im einleitenden Kapitel zu diesem Teilbereich des Buches gehen Buchmann und Steinhoff ( Kap. 18) erst einmal auf die gesellschaftliche Bedeutung des Jugendalters ein, wobei deutlich gemacht wird, dass das Jugendalter stark von gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten sozial konstruiert und durch entsprechende Rollenerwartungen und soziale Einbindung definiert ist. Diese Analyse stellt die Grundlage dar, von der aus dann im zweiten Abschnitt analysiert wird, wie kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen (demografische Veränderungen der Gesellschaft, Globalisierung, technologischer Fortschritt) auch die Phase des Jugendalters und damit die Herausforderungen für Jugendliche selbst verändern. Zu diesen gesellschaftlichen Veränderungen gehört auch eine zunehmende kulturelle Heterogenität in modernen westlichen Gesellschaften. Migration, Repatriierung und Globalisierung bringen zunehmend kulturelle Einflüsse, mit denen Jugendliche umgehen müssen. Titzmann und Juang ( Kap. 19) stellen in diesem Zusammenhang Ergebnisse zum Thema Jugendliche mit Migrationshintergrund zusammen. Dabei wird die Komplexität der Lebensumwelten in multikulturellen Gesellschaften deutlich. Aber das Kapitel hat auch zum Ziel, Faktoren und Ansätze aufzuzeigen, die das Zusammenleben in multikulturellen Gesellschaften positiv beeinflussen können. Dieses Ziel wird auf theoretische und empirische Weise erreicht. Theoretisch stellen die Autoren die gängigen Theorien zur Akkulturation jugendlicher Immigranten zusammen, empirisch berichten sie wichtige Forschungsergebnisse zu den Bereichen Identität, Familie, Peerbeziehungen und Schule, wobei auch das Thema Diskriminierung aus neuester wissenschaftlicher Perspektive beleuchtet wird. Der letzte Beitrag in diesem Abschnitt verdeutlicht, dass Jugendliche auf das Funktionieren von Demokratien und die politische Meinungsbildung vorbereitet werden müssen. Eckstein und Noack ( Kap. 20) zeigen in ihrem Kapitel zur politischen Sozialisation, dass Jugendliche über verschiedene Wege auf ihre Rolle als politische Agenten vorbereitet werden. Dabei wird besonderes Augenmerk auf die Mikrosysteme gelegt (Familie, Peers, Schule, Medien), die einen nicht unerheblichen Effekt auf die politische Sozialisation Jugendlicher ausüben. Darüber hinaus werden aber auch makrokontextuelle Faktoren (politischer und sozialer Wandel in Gesellschaften oder das vorherrschende politische System) diskutiert, die Jugendliche in ihrem politischen Interesse prägen können.

Der fünfte Teil des Buches konzentriert sich auf Entwicklungspsychopathologien, also auf Ursachen, Verläufe und Interventionsmöglichkeiten bei fehlangepasstem Verhalten von Jugendlichen. Die folgenden Kapitel erläutern für jede Störungsklasse deren Diagnostik, Verbreitung, Komorbiditäten mit anderen Störungen, aber auch Entstehungs- und Interventionsmodelle. Im ersten Beitrag in diesem Abschnitt erörtert Reis ( Kap. 21) internalisierende Störungen, zu denen vor allem Depressionen und Angststörungen gerechnet werden. Reichenberger, Meule und Blechert ( Kap. 22) befassen sich in dem darauffolgenden Kapitel mit Essstörungen und Adipositas. Der Beitrag von Schuchardt und Mähler ( Kap. 23) beschäftigt sich mit Lernstörungen und Lernschwierigkeiten. Hier werden bereichsspezifische Lernstörungen, wie die Lese-Rechtschreibstörung und die Rechenstörung, aber auch allgemeine Lernstörungen, wie Lernbehinderungen, thematisiert. Ein häufig und stark kontrovers diskutiertes Thema der Jugendforschung ist die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), dem sich das Kapitel von Schwenck und Maur ( Kap. 24) widmet. Beelmann ( Kap. 25) befasst sich mit dissozialem Verhalten, also oppositionellen, aggressiven, delinquenten und kriminellen Problemverhaltensweisen, deren gemeinsames Kennzeichen die Abweichung oder Verletzung von altersentsprechenden sozialen Regeln und Normen sind. Orth und Töppich ( Kap. 26) konzentrieren sich in ihrem Beitrag auf den Konsum und Missbrauch psychotroper Substanzen. Steinebach und Gharabaghi ( Kap. 27) gehen in ihrem Kapitel der Frage nach, was dazu führt, dass einige Jugendliche unter erschwerten Bedingungen im Wechselspiel von umweltseitiger Unterstützung und eigenen Fähigkeiten mit Selbstwirksamkeit die eigene Entwicklung positiv gestalten. Es werden verschiedene Resilienzfaktoren diskutiert und Fördermöglichkeiten in diesem Zusammenhang angesprochen. Im abschließenden Kapitel erörtern Weichold und Blumenthal ( Kap. 28) allgemeine Merkmale präventiver und entwicklungsfördernder Maßnahmen im Jugendalter. Abschließend werden in diesem Beitrag beispielhafte Interventionsansätze präsentiert und diskutiert.

Bei allen Kapiteln war es uns wichtig, dass die zentralen Konzepte und Theorien sowie alle einschlägigen empirischen Ergebnisse abgebildet sind und dabei auch internationale Befunde integriert werden. Wenn es sich für die jeweiligen Themen anbot, wurden Hinweise für die Praxis skizziert. Es ging uns vor allem darum, dass Forschende, Studierende und Praktiker sehr schnell einen komprimierten, fundierten und umfassenden Überblick über das jeweilige Thema gewinnen können und auch Querverweise finden, die die Komplexität und Interaktion dieser Veränderungen verständlich machen. Nun laden wir Sie ein, dieses umfassende Buch zu lesen und sich von den vielfältigen Ansätzen und Befunden zur Entwicklung im Jugendalter faszinieren zu lassen. Wir sind überzeugt, dass die Lektüre das allgemeine Verständnis über das Jugendalter befördern kann und hilft, die teilweise negativen Vorurteile gegenüber Jugendlichen abzubauen.

Literatur

 

Arnett, J. J. (2000). Emerging adulthood: A theory of development from the late teens through the twenties. American Psychologist, 55(5), 469.

Chisholm, L. & Hurrelmann, K. (1995). Adolescence in modern Europe: Pluralized transition patterns and their implications for personal and social risks. Journal of Adolescence, 18, 129–158.

Silbereisen, R. & Weichold, K. (2012). Jugend. In W. Schneider & U. Lindenberger (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (S. 235–258). Weinheim: Beltz.

Weiler, J. (2014). Das Pubertier. Reinbek: Rowohlt.

 

 

 

Teil IBiologische Prozesse im Jugendalter

1          Genetische Einflüsse und Wirkweisen1

Jens B. Asendorpf

1.1 Genetische Einflüsse auf Entwicklungsveränderungen

1.2 Genetische Einflüsse auf interindividuelle Unterschiede

1.2.1 Verhaltensgenetischer Ansatz

1.2.2 Molekulargenetischer Ansatz

1.2.3 Epigenetischer Ansatz

1.3 Geteilte versus nicht geteilte Umwelten und Umwelteinflüsse

1.4 Statistische Interaktion von Gen(om)en und Umwelten

1.5 Korrelation von Genomen und Umwelten

1.6 Zum Menschenbild der Genetik

Literatur

Genetische Erklärungsansätze werden in der Psychologie des Jugendalters für zwei völlig verschiedene Phänomene genutzt: universelle Entwicklungsveränderungen und interindividuelle Unterschiede.

Zum einen kommt es mit dem Einsetzen der Pubertät zu großen anatomischen, physiologischen und psychologischen Veränderungen. Diese Veränderungen werden meist durch »biologische Reifung« erklärt, wobei unter Reifung »genetisch vorprogrammierte« Entwicklungsveränderungen verstanden werden, die weitgehend unabhängig von Umweltbedingungen ablaufen und insofern universell sind, als sie bis auf pathologische Ausnahmen bei allen Menschen in allen Kulturen in einem ähnlichen Alter beobachtet werden können. Hier werden also universelle Entwicklungsveränderungen genetisch erklärt. Wie soll man sich aber eigentlich diese genetische Vorprogrammierung vorstellen? Hierzu hüllen sich psychologische Erklärungen meist in Schweigen und weichen nicht selten auf eine »negative Definition« von Reifung aus, und zwar derart, dass Reifung dann vorliegt, wenn Entwicklungsveränderungen nicht auf Erfahrung, Übung, Erziehung oder Sozialisation beruhen. Dann wäre Reifung aber lediglich eine Restkategorie, die nichts erklärt. Der erste Teil dieses Kapitels nimmt das Konzept der Reifung durch genetische Vorprogrammierung kritisch unter die Lupe.

Zum anderen bestehen zu jedem Zeitpunkt des Jugendalters große Unterschiede zwischen altersgleichen Jugendlichen (interindividuelle Unterschiede). Für manche Merkmale wie z. B. die Körpergröße lassen sich diese Unterschiede teilweise auf einen unterschiedlichen Pubertätsbeginn zurückführen: Wer früher in die Pubertät kommt, wächst schneller als jemand, der später in die Pubertät kommt, so dass sich die Rangfolge der Altersgleichen im Verlauf des Jugendalters vorübergehend deutlich verändert, obwohl die Stabilität der Körpergrößen-Unterschiede bei Überspringen des Jugendalters hoch ist: Wer in der späten Kindheit zu den Großen des Jahrgangs gehört, wird auch im frühen Erwachsenenalter zu den Großen des Jahrgangs gehören. Eine Destabilisierung im Jugendalter findet sich auch bei manchen psychologischen Merkmalen, wenn pubertätsgebundene Merkmalsausprägungen stabile Persönlichkeitsmerkmale überlagern (z. B. bei antisozialem Verhalten; Moffitt, 2007). Unabhängig davon bleibt aber das Erbe-Umwelt-Problem bei der Erklärung der langfristig eher stabilen Persönlichkeitsmerkmale bestehen: Wieweit sind sie durch genetische Unterschiede, Umweltunterschiede und deren Wechselwirkung erklärbar? Mit dieser Frage beschäftigen sich die weiteren Teile dieses Kapitels.

1.1       Genetische Einflüsse auf Entwicklungsveränderungen

Die gesamte genetische Information eines Menschen wird sein Genom genannt. Das Genom besteht aus vielen lokalen Abschnitten, den Genen, die durch ihren Ort im Genom und ihre Funktion im Stoffwechsel definiert sind (vgl. Kasten zu zentralen Begriffen der Genetik). Dasselbe Gen kann bei unterschiedlichen Menschen in unterschiedlichen Varianten auftreten (den Allelen des Gens); dadurch kann dasselbe Gen bei unterschiedlichen Menschen unterschiedliche Funktionen im Stoffwechsel ausüben. Da es ca. 25 000 Gene gibt, die oft als verschiedene Allele vorkommen, und da bei der Zeugung die Gene von Vater und Mutter zufällig gemischt werden, sind Menschen genetisch einzigartig: Mit Ausnahme eineiiger Zwillinge gleicht kein Genom dem anderen.

Zentrale Begriffe der Genetik

Allel

spezifische Variante eines Gens

Epigenetik

Teil der Genetik, der sich mit der epigenetischen Kodierung von Genen beschäftigt

epigenetische Kodierung

umweltabhängige Kodierung von Genen einer Zelle, die an Tochterzellen weitergegeben werden

Epigenom

Gesamtheit der epigenetisch kodierten Gene eines Individuums

Gen

funktionale Einheit des Genoms

Genom

Gesamtheit der Gene eines Individuums

Gen(om)-Umwelt-Interaktion

statistische Wechselwirkung zwischen den Effekten eines Gens (Genoms) und seiner Umwelt

Genom-Umwelt-Korrelation

Häufung bestimmter Genome in bestimmten Umwelten

GCTA

Genome-wide Complex Trait Analysis, GWAS unter Berücksichtigung der Korrelationen zwischen SNPs

GWAS

Genomweite Assoziationsstudie, versucht genetische Unterschiede auf Ebene von SNPs zu identifizieren

QTL

Quantitative Trait Locus, genetischer Marker für eine Eigenschaft

SNP

Single Nucleotide Polymorphism, Baustein von Genen, das zwischen Individuen variiert

Umwelt, (nicht) geteilte

Umwelt, die Geschwister oder Eltern (nicht) teilen

Umwelteffekt, (nicht) geteilter

Umwelteffekt, den Geschwister oder Eltern (nicht) teilen

Nach dem zentralen Dogma der Molekulargenetik verändert sich das Genom zwischen Zeugung und Tod nicht. Es handelt sich hierbei um eine Arbeitshypothese, die die Dinge vereinfacht, wobei die heutige Molekulargenetik durchaus Ausnahmen kennt (z. B. organspezifische kleinere Mutationen; Lodato et al., 2015). Aus der weitgehenden Konstanz des Genoms und aufgrund der Annahme, dass Gene direkt auf die Entwicklung und das Verhalten wirkten, wird oft der Schluss gezogen, dass der genetische Einfluss konstant sei und außer durch gentechnologische Maßnahmen nicht verändert werden könne. Das ist ein Fehlschluss, der zu zahlreichen grundlegenden Missverständnissen über den genetischen Einfluss führt.

Gene wirken nicht direkt auf Entwicklung und Verhalten. Gene sind Moleküle, deren Aktivität direkt auf die Proteinsynthese der Zelle wirkt, in der sie sich befinden. Genetische Wirkungen entfalten sich im Verlauf der Entwicklung immer in Wechselwirkung mit der Umwelt des Genoms. Anfangs handelt es sich um Wechselwirkungen zwischen Zellen des heranwachsenden Embryos. Später spezialisieren sich durch diese Wechselwirkung Rezeptorzellen, die in der Lage sind, Reize aus der Umwelt des Embryos aufzunehmen. Hierbei kanalisiert die Umwelt den genetischen Einfluss auf die Hirnentwicklung. Z. B. ermöglicht es das Genom allen Kindern, jede beliebige Sprache zu erlernen. Im Prozess des Spracherwerbs geht diese Plastizität aber zunehmend verloren (Gottlieb, 1991), so dass ab dem Ende des Jugendalters Fremdsprachen meist nicht mehr völlig akzentfrei erworben werden (Birdsong, 1999).

Umwelteinflüsse können also in die »Ausreifung« des Gehirns eingreifen. Zwar können sie nur in seltenen Fällen das Genom verändern (z. B. bei Mutationen durch Strahlenbelastung), aber sie können die Gen-Aktivität und damit die Wirkungen von Genen verändern. In Analogie zu einem Computer sind Gene die Hardware, wobei die Gen-Aktivität entscheidend von der Programmierung der Hardware abhängt, der epigenetischen Kodierung der Gene. Sie bestimmt, ob bestimmte Gene zu bestimmten Zeitpunkten »angeschaltet« oder »abgeschaltet« werden und wie stark sie aktiv sind. Umweltein flüsse können die epigenetische Kodierung ändern und dadurch die Gen-Aktivität ( Kap. 1.2.3).

Aber selbst wenn Umwelteinflüsse keine Konsequenzen auf die epigenetische Kodierung haben, können sie dennoch genetische Wirkungen verändern, indem sie in nachgelagerte Stoffwechselprozesse eingreifen. Das klassische Beispiel hierfür ist die Stoffwechselstörung Phenylketonurie. Eine Variante davon beruht auf einem Allel des ersten Chromosoms. Wird dieses Allel von Vater und Mutter geerbt, führt diese homozygote Form zu einem Phenylalanin-Überschuss, der die Entwicklung des Zentralnervensystems beeinträchtigt und eine massive Intelligenzminderung verursacht. Wird jedoch bis zum Jugendalter eine phenylalaninarme Diät eingehalten, wird dieser intelligenzmindernde genetische Effekt fast vollständig beseitigt.

Von daher ist die Vorstellung falsch, das Genom »sei« oder »enthalte« ein Programm, das die Entwicklung eines Organismus steuere (vgl. dazu genauer Oyama, 2000). Vielmehr beeinflusst die genetische Aktivität die neuronale Aktivität, die Grundlage des Erlebens und Verhaltens ist; durch Verhalten kann die Umwelt verändert werden. Aber auch umgekehrt können Umweltbedingungen das Verhalten beeinflussen, dadurch die neuronale Aktivität und genetische Wirkungen und auch die genetische Aktivität selbst. Das Genom bleibt dabei konstant, aber der Prozess der Gen-Aktivität steht in ständiger Wechselwirkung mit anderen Prozessebenen ( Abb. 1.1).

Abb. 1.1: Ein Modell der individuellen Genom-Umwelt-Wechselwirkung (mod. nach Gottlieb, 1991, Experiential canalization of behavioral development: Theory. Developmental Psychology, 27, 4–13, S. 6, Fig. 1; mit freundlicher Genehmigung der American Psychological Association).

Wegen der dynamischen Wechselwirkung zwischen Genom und Umwelt können Menschen genetische Wirkungen im Prinzip auf verschiedenen Ebenen beeinflussen: durch Eingriffe in die genetische Aktivität oder die neuronale Aktivität, durch ihr Verhalten oder durch die Gestaltung ihrer Umwelt. Genetische Wirkungen sind also auch ohne gentechnologische Veränderung des Genoms veränderbar. Umgekehrt können Umweltwirkungen durch gentechnologische Veränderung des Genoms verändert werden. Z. B. könnten im Prinzip Menschen gentechnologisch so verändert werden, dass sie weniger leicht Depressionen entwickeln.

Genetische Wirkungen auf die Entwicklung folgen einem kumulativen Prinzip. Genetische Einflüsse aus früheren Entwicklungsphasen können sich physiologisch oder auch anatomisch auf neuronaler Ebene verfestigt haben und dadurch weiter wirken, auch wenn die betreffenden Gene inzwischen nicht mehr aktiv sind. Gene können damit in einer bestimmten kritischen Phase der Entwicklung einen Prozess in Gang setzen, der zum »Selbstläufer« wird. Bei Phenylketonurie beispielsweise muss die phenylalaninarme Diät von Anfang an erfolgen; ist erst einmal die genetisch bedingte Hirnschädigung eingetreten, nützt die Diät nichts mehr. Umgekehrt ist diese Diät aber auch nicht das ganze Leben lang erforderlich, sondern nur während der Gehirnentwicklung bis zum Jugendalter. Ist dieser Prozess abgeschlossen, spielt das kritische Gen keine Rolle mehr. Durch dieses kumulative Prinzip wird das sich entwickelnde System stabilisiert, obwohl die Gen-Aktivität im Verlauf des Lebens stark schwankt.

Durch diese Änderungen in der Gen-Aktivität kann es trotz des kumulativen Prinzips der genetischen Wirkung zu jedem Zeitpunkt der Entwicklung zu genetisch bedingten Entwicklungsveränderungen kommen. Das Einsetzen der Pubertät ist hierfür ein Beispiel, da es unter genetischer Kontrolle steht ( Kap. 3). Der genaue Zeitpunkt wird dabei sowohl genetisch (z. B. LIN28B-Allele; Ong et al., 2009) als auch durch Kindheitserfahrungen bedingt (z. B. bei Mädchen frühe Abwesenheit des biologischen Vaters; Ellis, 2004).

Von daher ist die verbreitete Annahme falsch, genetische Wirkungen beeinflussten vor allem die frühe Entwicklung, Umweltwirkungen vor allem die spätere Entwicklung. Diese Annahme geht letztlich auf die Vorstellung zurück, Gene wirkten konstant vom Zeitpunkt der Zeugung an, und dann kämen nach und nach immer mehr Umweltwirkungen dazu, so dass später die Umweltwirkungen überwiegen. Bei dieser Argumentation wird übersehen, dass Ältere nicht nur eine längere Umweltgeschichte, sondern auch eine längere Geschichte ihrer Gen-Aktivität haben. Genetische Einflüsse kumulieren genauso wie die Umwelteinflüsse. Lediglich die Tatsache, dass das Genom, nicht aber die Umwelt weitestgehend konstant ist, spricht für ein stärkeres Kumulieren genetischer Wirkungen relativ zu Umweltwirkungen im Verlauf der Entwicklung; ob dies so ist, bleibt aber letztlich eine empirische Frage.

Insgesamt zeigt diese Diskussion des genetischen Einflusses auf die Entwicklung, dass die traditionelle Trennung von Entwicklung durch Reifung (genetisch determinierte, umweltunabhängige Entwicklung) und Entwicklung durch Erfahrung (genetisch unbeeinflusste, rein umweltabhängige Entwicklung) wenig Sinn macht. Welche Erfahrung gemacht werden kann, ist nicht nur abhängig von Umwelteinflüssen, sondern auch vom Genom, das die Selektion und Verarbeitung von Erfahrungen beeinflusst. Umgekehrt kanalisieren aber auch Erfahrungen Entwicklungsvorgänge, die üblicherweise Reifungsvorgängen zugeschrieben werden, bis hin zur epigenetischen Kodierung von Genen. Das Genom und die Umwelt eines Menschen stehen über die gesamte Lebensspanne hinweg in nur schwer auflösbarer Wechselwirkung. Von daher ist es nicht möglich, den relativen Einfluss von Genom und Umwelt auf die Entwicklung für einen einzelnen Menschen zu bestimmen.

1.2       Genetische Einflüsse auf interindividuelle Unterschiede

Aus der Unmöglichkeit, den Beitrag von Genom (Erbe) und Umwelt im Einzelfall zu bestimmen, wird manchmal der Schluss gezogen, die Erbe-Umwelt-Diskussion sei überflüssig. Das ist ein Fehlschluss. Es ist zwar richtig, dass die Fähigkeit zu sprechen oder die Eigenschaft, überhaupt eine Blutgruppe zu haben, immer eine Funktion von Genom und Umwelt ist. Welchen Dialekt aber jemand spricht, ist rein umweltbedingt, und welche Blutgruppe jemand hat, ist rein genetisch bedingt. Betrachten wir Merkmale, in denen sich Mitglieder einer bestimmten Population (z. B. »alle deutschen Erwachsenen«) unterscheiden (z. B. Persönlichkeitsmerkmale oder körperliche Merkmale), ist die Frage nach dem relativen Einfluss der genetischen Unterschiede in der Population und der Umweltunterschiede der Populationsmitglieder auf die Merkmalsunterschiede in der Population nicht trivial. Der relative genetische Einfluss kann zwischen 0% und 100% kontinuierlich variieren. Wie stark er ist, ist ausschließlich eine empirische Frage.

Die relativen Einflüsse von Genom und Umwelt auf Persönlichkeitsunterschiede hängen unter anderem von der Homogenität der Genome und Umwelten ab. Je ähnlicher die Umwelten der Populationsmitglieder sind, desto größer ist der relative genetische Einfluss, und umgekehrt. Ein Beispiel mag das verdeutlichen. Im klassischen deutschen Schulsystem besuchen Jugendliche fähigkeitsabhängig unterschiedliche Schultypen (z. B. Hauptschule, Gymnasium) mit jeweils spezifischem Unterricht. Würde diese Auslese ganz abgeschafft, würde dies zu einer Homogenisierung der Lernumwelten führen und dadurch den genetischen Anteil an den dann vorhandenen Leistungsunterschieden erhöhen, da die genetische Variabilität der Schüler sich nicht geändert hätte. Würde umgekehrt die genetische Variabilität der Schüler durch eine Einwanderungswelle aus sehr unterschiedlichen Kulturen steigen, die sich in der Häufigkeit von leistungsrelevanten Allelen unterscheiden, würde bei gleichbleibenden Lernumwelten der genetische Anteil ebenfalls steigen und dadurch der Umweltanteil an den dann vorhandenen Leistungsunterschieden vermindert.

Aussagen über den genetischen Einfluss auf Merkmalsunterschiede sind deshalb populationsabhängig: Änderungen der genetischen oder der Umweltvariabilität innerhalb der betrachteten Population führen zu veränderten Einflussschätzungen. Genetische Einflussschätzungen können von Population zu Population und auch zwischen verschiedenen historischen Zeitpunkten der Entwicklung derselben Population variieren. Zudem kann der relative genetische Einfluss mit dem betrachteten Merkmal variieren. In ein und derselben Population könnten z. B. Intelligenzunterschiede stärker genetisch bedingt sein als Unterschiede in Aggressivität. Nicht zuletzt ist das Alter der betrachteten Population relevant. Dass genetische Einflussschätzungen altersabhängig sind, liegt daran, dass für Merkmalsunterschiede in einem bestimmten Alter nicht die Unterschiede in den Allelen oder den Umwelten bei der Zeugung entscheidend sind, sondern die Unterschiede in der Geschichte der Gen-Aktivität und der Umwelt bis zum betrachteten Zeitpunkt.

In der Forschung lassen sich drei unterschiedliche methodische Ansätze unterscheiden, den Einfluss des Genoms und seiner epigenetischen Kodierung auf die Entwicklung interindividueller Unterschiede zu untersuchen: verhaltensgenetischer, molekulargenetischer und epigenetischer Ansatz.

1.2.1     Verhaltensgenetischer Ansatz

Die Verhaltensgenetik versucht, den relativen genetischen Gesamteinfluss auf Merkmalsunterschiede in Populationen indirekt abzuschätzen, indem die Merkmalsähnlichkeit von Personen unterschiedlichen genetischen Verwandtschaftsgrades verglichen wird. Dieser Verwandtschaftsgradlässt sich aus Prinzipien des Erbgangs bestimmen. Vereinfacht dargestellt stammt die Hälfte der Allele eines Kindes von der Mutter, die andere Hälfte vom Vater, wobei die Aufteilung von Gen zu Gen zufällig variiert. Aus dieser zufälligen Aufteilung ergibt sich die statistische Erwartung, dass Kinder 50% der Allele mit jedem Elternteil gemeinsam haben. Geschwister unterschiedlichen Alters und zweieiige Zwillinge teilen auch 50% ihrer Allele. Eineiige Zwillinge entstammen derselben Eizelle, aus der sich später zwei Individuen entwickeln, und sind deshalb genetisch identisch. Adoptivgeschwister wiederum sind sich in ihren Allelen nicht ähnlich.

Ist die Merkmalsähnlichkeit unabhängig vom Verwandtschaftsgrad, spricht dies gegen einen genetischen Einfluss auf die Merkmalsvariation. Je stärker die Merkmalsähnlichkeit mit dem Verwandtschaftsgrad zunimmt, umso stärker ist der genetische Einfluss. Konkret wird die Merkmalsähnlichkeit durch die Korrelation des Merkmals zwischen Paarlingen (z. B. eineiige Zwillinge) gemessen und der genetische Einfluss dann aus den Korrelationsdifferenzen zwischen Paaren unterschiedlichen Typs bestimmt (z. B. Korrelation bei eineiigen Zwillingen minus Korrelation bei Adoptivgeschwistern). Neyer und Asendorpf (2018) geben eine Übersicht über die Methodik solcher »genetisch sensitiven Designs« und ihre methodischen Probleme.

Ein verhaltensgenetisch geschätzter genetischer Einfluss auf ein Persönlichkeitsmerkmal von 40% besagt, dass die beobachtbaren Merkmalsunterschiede in der betrachteten Population zu 40% durch genetische Unterschiede zwischen den Mitgliedern dieser Population bedingt sind und zu 60% durch Unterschiede der Umwelten dieser Menschen sowie durch den Messfehler bei der Merkmalsbestimmung. Die Ergebnisse solcher Schätzungen, die inzwischen auf zehntausenden von Zwillingspaaren, Paaren von Adoptivgeschwistern, Paaren von Halbgeschwistern und Eltern-Kind-Paaren beruhen, legen einen genetischen Einfluss auf den IQ von etwa 50% und einen genetischen Einfluss auf selbstbeurteilte Persönlichkeitsmerkmale von 35%–50% nahe ( Tab. 1.1, die Übersicht von Bouchard & McGue, 2003, und Ergebnisse für Deutschland von Riemann, Angleitner & Strelau, 1997). Letzteres wurde auch durch methodisch andersartige Studien bestätigt, in der die Persönlichkeit von Bekannten eingeschätzt oder direkt in persönlichkeitsrelevanten Situationen beobachtet wurde (Borkenau, Riemann, Angleitner & Spinath, 2001). Die Schätzungen für das Jugendalter stimmen hiermit weitgehend überein (Reiss, Neiderhiser & Hetherington, 2009).

Tab. 1.1: Typische Ergebnisse für die Schätzung des genetischen und Umwelteinflusses auf Testintelligenz und selbstbeurteilte Persönlichkeitsmerkmale in westlichen Kulturen

MerkmalGenetischer AnteilUmweltanteilFehleranteil

Daten nach Chipuer et al. (1990) und Loehlin (1992) aufgrund von Kombinationsstudien, in denen die Daten von ein- und zweieiigen Zwillingen und Adoptivgeschwistern kombiniert analysiert werden, um Methodenprobleme zu minimieren. Die Fehleranteile wurden geschätzt.

Ein fundamentales Missverständnis bei der Interpretation verhaltensgenetischer Einflussschätzungen besteht darin, dass aus dem Vorliegen eines substanziellen genetischen Einflusses auf ein Merkmal geschlossen wird, dass es ein Gen oder zumindest wenige Gene gibt, die für die beobachteten Merkmalsunterschiede »direkt« verantwortlich sind. Zwar ist dies nach dem interaktionistischen Modell in Abbildung 1.1 nicht zu erwarten, aber trotzdem wird dieser Fehlschluss regelmäßig gezogen. Ein Beispiel mag das verdeutlichen ( Kasten).

Indirekte genetische Wirkungen

Genetische Schätzungen sozialer und politischer Einstellungsunterschiede in Australien und den USA mit Hilfe der Zwillingsmethode fanden übereinstimmend einen besonders starken genetischen Einfluss (um 50%) für die Einstellung zur Todesstrafe bei Mord (Olson, Vernon, Harris & Jang, 2001). Bedeutet dies, dass es ein »Todesstrafen-Gen« gibt? Natürlich nicht. Wenn z. B. die Ablehnung der Todesstrafe für Mord positiv mit dem IQ korreliert (was der Fall ist) und der IQ zu 50% genetisch beeinflusst ist, wird dieser genetische Einfluss über die IQ-Einstellungs-Korrelation notwendigerweise auch die Einstellung zur Todesstrafe betreffen. Genetische Einflussschätzungen beziehen alle, auch höchst indirekt vermittelte genetische Wirkungen auf ein Merkmal ein. Tatsächlich konnten Olson et al. (2001) für zahlreiche Einstellungen mit stark genetischem Anteil zeigen, dass dieser genetische Einfluss durch genetisch beeinflusste Temperamentsmerkmale oder andere genetisch beeinflusste, körpernahe Merkmale vermittelt wurde.

1.2.2     Molekulargenetischer Ansatz

Im Rahmen des Humangenomprojekts (1993–2003) wurde fast das gesamte Genom des Menschen kartiert; hierbei ergaben sich ca. 25 000 Gene, die wiederum oft in mehreren Varianten (Allelen) vorkommen. Heutige Menschen unterscheiden sich nicht in ihren Genen (darin sind sie zu 99,9% identisch), sie unterscheiden sich in den Allelen ihrer Gene.

Wegen der riesigen Zahl möglicher Allele trifft das einfache Korrelieren von Allelen mit Persönlichkeitsmerkmalen auf große statistische Probleme, weil bei nur einem Merkmal tausende von Zufallsbefunden zu erwarten sind. Zur Lösung dieses Problems wurde zunächst der QTL-Ansatz gewählt, der auf der Annahme fußt, dass der verhaltensgenetisch bestimmte genetische Gesamteinfluss auf Persönlichkeitsmerkmale überwiegend auf wenigen häufigen Genen mit mehreren Allelen beruht (»quantitative trait loci«, QTL). Z. B. wäre der genetische Einfluss auf IQ-Unterschiede durch 25 QTLs mit unabhängiger Wirkung erklärt, wenn jeder QTL 2% der IQ-Varianz aufklärt (denn der genetische Einfluss auf den IQ beträgt ca. 50%,  Tab. 1.1). Derartige Studien konnten aber im Falle des IQ nur einen einzigen QTL klar replizieren, der 3% der IQ-Varianz erklärt (das auch an Alzheimer-Varianten beteiligte APOE-Gen; Deary et al., 2010); weitere QTLs wurden bis 2015 weder für den IQ noch für andere Persönlichkeitsmerkmale verlässlich gefunden.

Deshalb setzen Genetiker inzwischen auf die Methode, mittels genomweiter Assoziationsstudien (GWAS) genetische Varianten in den einzelnen Bausteinen der Gene, den Basenpaaren, bestimmten Persönlichkeitsunterschieden zuzuordnen. Da es mehrere Millionen solcher Single Nucleotide Polymorphisms (SNPs) beim Menschen gibt, ist das statistische Problem hier noch drängender als beim QTL-Ansatz: Wie kann verhindert werden, dass Zusammenhänge zwischen SNPs und Persönlichkeitsunterschieden rein zufällig bedingt sind? Entweder werden alle SNP-Effekte einzeln für die Zahl der statistischen Tests korrigiert, so dass nur relativ starke Effekte für überzufällig gehalten werden; dann konnte selbst ein so stark genetisch bedingtes Merkmal wie die Körpergröße (80%–90% genetischer Einfluss) nur zu 5% durch derartige SNPs aufgeklärt werden, und für den IQ, Neurotizismus und Extraversion ergaben sich ebenfalls nur äußerst bescheidene molekulargenetische Erklärungen des Merkmal von bestenfalls 3% (Davies et al., 2011; Vinkhuyzen et al., 2012).

Vielversprechender scheint es zu sein, die Ergebnisse aller untersuchten SNP-Effekte und ihrer Korrelationen zwischen SNPs simultan zu berücksichtigen (Genome-wide Complex Trait Analysis, GCTA). Mit dieser Methode gelang es inzwischen, IQ-Unterschiede bei älteren Briten zu 51% auf Unterschiede in ihren SNPs zurückzuführen (Davies et al., 2011), wobei dieser genetische Gesamteffekt auf sehr viele Gene zurückging – sehr viel mehr, als im QTL-Ansatz vermutet wurde. Für Neurotizismus (12%) und Extraversion (6%) fielen die Befunde jedoch deutlich bescheidener aus (Vinkhuyzen et al., 2012). Generell scheinen nach den neuesten GWAS-Studien Hunderte oder gar Tausende von Genen am Zustandekommen eines einzelnen Persönlichkeitsmerkmals beteiligt zu sein, wobei deren Wechselwirkungen untereinander und mit Umweltbedingungen noch gar nicht berücksichtigt sind.

1.2.3     Epigenetischer Ansatz

Die Epigenetik beschäftigt sich mit Zuständen der Gen-Aktivität von Zellen, die an Tochterzellen weitergegeben werden können, aber nicht auf Änderungen des Genoms beruhen. In Analogie zu einem Computer handelt es sich um die »epigenetische Software«, die bestimmt, wie die »Hardware« des Genoms funktioniert. Änderungen in der epigenetischen Kodierung führen zu Änderungen in der Funktion des Genoms, ohne dass das Genom selbst sich ändert, und die Kodierung ist so stabil, dass sie bei Zellteilung an Tochterzellen desselben Organismus weitergegeben wird und manchmal sogar an Nachkommen des Organismus vererbt wird.

Die Gesamtheit der epigenetischen Information einer Zelle wird oft als Epigenom der Zelle bezeichnet. Ein grundlegender Unterschied zum Genom besteht darin, dass das Epigenom von Zelle zu Zelle unterschiedlich sein kann, vor allem bei unterschiedlichen Zelltypen (z. B. Gehirnzelle versus Leberzelle), weil die Spezialisierung von Zellen im Verlauf der Embryonalentwicklung durch Veränderung des Epigenoms (aber nicht des Genoms) zustande kommt.

Drei verschiedene biochemische »epigenetische Kodes« sind bisher gut untersucht worden, vor allem bei Pflanzen und Tieren: Methyl-Kodierung, Histon-Kodierung und RNA-Interferenz-Kodierung. Auf epigenetischer Kodierung beruhen so dramatische Veränderungen wie der Umbau einer Raupe im Verlauf eines Winters in einen Schmetterling: Beide Entwicklungsformen desselben Lebewesens enthalten dasselbe Genom, sind aber epigenetisch grundverschieden. Alle drei Kodes sind auch prinzipiell offen für Wirkungen von Umweltbedingungen. So kann man auch ohne Gelée Royale, das weibliche Bienenlarven zu Königinnen macht, allein durch experimentelle Veränderungen des Methyl-Kodes der Larven Bienenköniginnen erzeugen. Krokodile entwickeln sich je nach Wassertemperatur beim Ausbrüten zu Männchen oder zu Weibchen, so dass ihr Geschlecht nicht genetisch, sondern epigenetisch bestimmt ist. Gemeinsam ist diesen Beispielen, dass es massive Entwicklungsveränderungen von einem Typus in einen anderen gibt, ohne dass dies genetisch bedingt ist und dass die Veränderungen dauerhaft sind: Bienenköniginnen entwickeln sich nicht mehr zu Arbeiterinnen zurück, und das Geschlecht von Krokodilen ist zeitlebens konstant.

Auch wenn die Epigenetik derzeit noch in den Kinderschuhen steckt, ist anzunehmen, dass sie wesentlich zur Erklärung von körperlichen und z. T. auch psychologischen Veränderungen im Jugendalter beitragen wird. Hierbei muss beachtet werden, dass Unterschiede in der epigenetischen Kodierung genauso wie neuronale, hormonelle oder Verhaltensunterschiede sowohl genetisch als auch umweltbedingt sein können, so dass die verhaltensgenetischen indirekten Schätzungen des genetischen Gesamteinflusses auf Persönlichkeitsunterschiede nicht berührt werden; Molekulargenetik und Epigenetik versuchen vielmehr, diesen Gesamteinfluss zu erklären.

1.3       Geteilte versus nicht geteilte Umwelten und Umwelteinflüsse

Mit Hilfe verhaltensgenetischer Schätzmethoden lassen sich auch interessante und kontrovers diskutierte Schlussfolgerungen über den Einfluss unterschiedlicher Arten von Umwelteinflüssen auf Persönlichkeitsmerkmale ziehen. Es lassen sich nämlich die von allen Geschwistern einer Familie geteilten Umwelteinflüsse von den ganz individuellen, von ihnen nicht geteilten Umwelteinflüsse getrennt schätzen; ihre Summe ergibt den gesamten Umwelteinfluss ( Tab. 1.2; zur Methodik siehe Neyer & Asendorpf, 2018). Geteilte Umwelteinflüsse gehen oft auf geteilte Umwelten zurück, z. B. soziale Schicht, Persönlichkeit der Eltern, Erziehungsziele der Eltern; nicht geteilte Umwelten sind z. B. elterliche Bevorzugung eines Kindes, soziale Beziehungen eines Kindes, Unfälle und Krankheiten eines Kindes und bei Geschwistern unterschiedlichen Alters Schwangerschaftsverlauf, Geburtsumstände, Geschwisterposition in der Familie, Kindergartengruppe, Schulklasse, Unterrichtsqualität.

Das Hauptergebnis dieser Schätzungen ist, dass die von Geschwistern geteilten Umwelteinflüsse sehr viel geringer sind als die individuellen Umwelteinflüsse, die Kinder in derselben Familie unterschiedlich machen (Bouchard & McGue, 2003; Riemann et al., 1997). Wie Tabelle 1.2 zeigt, stellt die Testintelligenz eine Ausnahme dar, wobei altersspezifische Analysen ergaben, dass geteilte Einflüsse auf den IQ (etwa aufgrund des Bildungsmilieus der Familie) nur bis zum Verlassen des Elternhauses substanziell sind.

Dies scheint der Annahme der klassischen Sozialisationsforschung zu widersprechen, dass die wesentlichen persönlichkeitsprägenden Umweltbedingungen familientypisch sind, z. B. die soziale Schicht der Familie oder ein Erziehungsstil der Eltern, der auf alle Kinder in gleicher oder doch zumindest Daten nach Chipuer et al. (1990) und Loehlin (1992) aufgrund von Kombinationsstudien, in denen die Daten von ein- und zweieiigen Zwillingen und Adoptivgeschwistern kombiniert analysiert werden, um Methodenprobleme zu minimieren.

Tab. 1.2: Typische Ergebnisse für die Schätzung von geteilten bzw. nicht geteilten Umwelteinflüssen auf Testintelligenz und selbstbeurteilte Persönlichkeitsmerkmale in westlichen Kulturen

Daten nach Chipuer et al. (1990) und Loehlin (1992) aufgrund von Kombinationsstudien, in denen die Daten von ein- und zweieiigen Zwillingen und Adoptivgeschwistern kombiniert analysiert werden, um Methodenprobleme zu minimieren.

Merkmalgeteiltnicht geteilt

ähnlicher Weise wirkt. Die Hinterfragung und Widerlegung dieser Annahme der klassischen Sozialisationsforschung ist aus psychologischer Sicht vielleicht das interessanteste Ergebnis der Verhaltensgenetik. Es regte eine intensive Forschung an mit dem Ziel, diejenigen Umwelteinflüsse zu identifizieren, die von Geschwistern nicht geteilt werden. Diese Forschungsanstrengungen lassen sich grob in zwei Etappen gliedern.

Zunächst (1985–1999) wurden diejenigen Umweltbedingungen ins Visier genommen, in denen sich Geschwister unterscheiden. Hierzu gehören zum einen Unterschiede in der familiären Umwelt zwischen Geschwistern, z. B. unterschiedliche Behandlung durch dieselben Eltern und Geschwister und die Geschwisterposition (z. B. Erst- oder Zweitgeborenes). Hinzu kommen unterschiedliche Erfahrungen in Gleichaltrigengruppen (Kindergarten, Schule, Jugendlichen-Cliquen; Harris, 1995), aber auch ganz individuelle Erlebnisse und Beziehungen außerhalb solcher Gruppen. Turkheimer und Waldron (2000) fanden allerdings in einer Meta-Analyse der vorliegenden Studien heraus, dass je nach Methode und Merkmal nur 2%–6% der beobachteten Persönlichkeitsunterschiede zwischen Geschwistern durch solche Umweltunterschiede aufgeklärt werden konnten. Dies steht in eklatantem Widerspruch zu den Schätzungen von bis zu 40% nicht geteilter Umwelteinflüsse. Der Einfluss einzelner nicht geteilter Umweltbedingungen ist also viel geringer als die nicht geteilten Umwelteinflüsse insgesamt.

Erst ab 2000 wurde klar zwischen (nicht) geteilten Umwelten und (nicht) geteilten Umwelteffekten unterschieden. Deren Unterschied ist in Abb. 1.2 veranschaulicht (vgl. Neyer & Asendorpf, 2018). Die beobachteten Umwelten U1, U2 von zwei Geschwistern sind mit den beobachteten Persönlichkeitsmerkmalen P1, P2 dieser beiden Geschwister in Beziehung gesetzt und jeweils in nicht geteilte und geteilte Anteile zerlegt.

Kritisch ist, dass es die (gestrichelt gezeichneten) Kreuzpfade von U1 nach P2 bzw. U2 nach P1 geben kann. Dadurch kann die von Geschwister 2 nicht geteilte Umwelt von Geschwister 1 einen Effekt auf die Persönlichkeit von Geschwister 2 haben und umgekehrt. Z. B. könnte ein Musiklehrer, den Geschwister 1, nicht aber Geschwister 2 hat, das Interesse von Geschwister 1 am Klavierspielen wecken, was sich dann durch Beobachtung und Kommunikation mit Geschwister 1 auf Geschwister 2 überträgt. Damit übt die nicht geteilte Umweltbedingung »Musiklehrer« einen von beiden Geschwistern geteilten Effekt auf deren Klavierspiel aus. Umgekehrt kann auch eine objektiv geteilte Umweltbedingung nur auf eines der beiden Geschwister wirken, also einen nicht geteilten Effekt darstellen. So könnten z. B. beide Geschwister zum selben Klavierlehrer gehen, aber

Abb. 1.2: Vermittlung zwischen (nicht)geteilten Umweltbedingungen U1, U2 und (nicht)geteilten Persönlichkeitsmerkmalen P1, P2 bei Geschwistern 1,2 (mod. nach Turkheimer & Waldron, 2000, Nonshared environment: A theoretical, methodological, and quantitative review. Psychological Bulletin, 126, 78–108, S. 83, Fig. 3; mit freundlicher Genehmigung der American Psychological Association).

unterschiedliches Interesse am Klavierspiel entwickeln, weil sie aus genetischen Gründen unterschiedlich musikalisch begabt sind. Dies zeigt, dass Effekte objektiv geteilter Umweltbedingungen und geteilte Umwelteffekte nicht gleichgesetzt werden dürfen.

Von daher ist es nicht mehr so überraschend, dass die großen nicht geteilten Umwelteffekte, die sich aus den genetischen Schätzungen für die meisten Persönlichkeitsmerkmale ergeben, nicht durch die Untersuchung objektiv nicht geteilter Umwelten aufgeklärt werden konnten. Turkheimer und Waldron (2000) diskutierten drei mögliche Ursachen hierfür. Erstens könnte es sein, dass sehr viele nicht geteilte Umweltbedingungen für Persönlichkeitsunterschiede zwischen Geschwistern verantwortlich sind, so dass große Effekte für einzelne Umweltunterschiede nicht zu erwarten sind. Zweitens könnten geteilte Umweltbedingungen unterschiedliche Auswirkungen auf die Persönlichkeit von Geschwistern haben, weil diese Auswirkungen selbst bereits durch die Persönlichkeit der Geschwister mitbestimmt werden. Drittens beruht die Individualentwicklung nur zum Teil auf der Wirkung systematischer Faktoren. Zufallsbedingte Effekte auf genetische oder Umweltwirkungen sind in genetischen Schätzungen in der »Restkategorie« der nicht geteilten Umwelteinflüsse enthalten.

1.4       Statistische Interaktion von Gen(om)en und Umwelten

Bisher wurden Genom und Umwelt in einem additiven Ansatz als unabhängige Größen aufgefasst; Beziehungen zwischen genetischen und Umweltunterschieden wurden ignoriert. Diese Beziehungen sind »neutral« bezüglich dieser beiden Anteile und können deshalb proportional dem Genom und der Umwelt zugerechnet werden. Zwei Formen der Genom-Umwelt-Beziehung lassen sich unterscheiden: Genom-Umwelt-Interaktion und Genom-Umwelt-Korrelation.

Bei der Genom-Umwelt-Interaktion ist der Effekt genetischer Faktoren auf Persönlichkeits- und Entwicklungsunterschiede von Umweltbedingungen abhängig und umgekehrt. Es hängt also von den Allelen ab, welchen Einfluss bestimmte Umweltunterschiede auf Persönlichkeitsunterschiede haben, bzw. es hängt von den Umweltbedingungen ab, welchen Einfluss bestimmte Allele auf Persönlichkeitsunterschiede haben (dies sind zwei Seiten desselben Phänomens).

Abb. 1.3: Statistische Interaktion zwischen Risiken seitens der biologischen und erziehenden Eltern auf antisoziales Verhalten im Jugendalter (mod. nach Cadoret, R. J., Cain, C. A. & Crowe, R. R. [1983]. Evidence for gene-environment interaction in the development of adolescent antisocial behavior. Behavior Genetics, 13, 301–310, S. 308, Fig. 1; mit freundlicher Genehmigung des Springer-Verlags – With permission of Springer).

Gut belegt ist eine Interaktion zwischen Risikofaktoren für antisoziales Verhalten von Adoptivkindern im Jugendalter auf Seiten ihrer biologischen und ihrer erziehenden Mütter (z. B. Cadoret, Cain & Crowe 1983), wobei in diesen Studien die Kinder sehr früh adoptiert wurden, so dass die Risiken auf Seiten der biologischen Mütter hauptsächlich genetische Risiken sind (neben umweltbedingten prä- und perinatalen Einflüssen). Mehrfach repliziert wurde in derartigen Studien, dass antisoziales Verhalten beim Zusammentreffen beider Risiken deutlich erhöht ist, nicht jedoch dann, wenn Risiken nur bei den biologischen oder nur bei den erziehenden Müttern bestanden ( Abb. 1.3).

Noch klarer interpretierbar ist der Befund, dass der genetische Einfluss auf Intelligenz von der sozialen Schicht abhängen kann (Turkheimer, Haley, Waldron, d'Onofrio & Gottesman, 2003). In den USA sind IQ-Unterschiede bei Kindern aus der Unterschicht zu etwa 60% durch von Geschwistern geteilte Umwelteinflüsse und nur geringfügig durch genetische Unterschiede bedingt; bei Kindern der Oberschicht kehrt sich dieses Verhältnis um. Da der IQ mit höherer sozialer Schicht zunimmt, bedeutet dies, dass das genetische Potenzial zu hohem IQ sich vor allem dann auswirkt, wenn es auf intelligenzfördernde Umwelten trifft.

Bei der statistischen Gen-Umwelt-Interaktion stehen spezifische Gene mit spezifischen Umweltbedingungen in Wechselwirkung. Z. B. untersuchten Caspi et al. (2002) in einer neuseeländischen Längsschnittstudie bei den knapp 500 männlichen Teilnehmern im Alter von 26 Jahren den Zusammenhang zwischen erfahrener Kindesmisshandlung im Alter zwischen drei und elf Jahren, dem MAOA-Gen auf dem X-Chromosom (2 Allele, die geringe versus starke Aktivität dieses Gens bedingen, zur Funktion siehe unten) und vier verschiedenen Indikatoren für antisoziales Verhalten im Alter von 26 Jahren. Für alle vier Indikatoren ergab sich dieselbe statistische Gen-Umwelt-Interaktion, die in Abbildung 1.4 für den Mittelwert aller vier Indikatoren illustriert ist.

Abb. 1.4: Interaktion zwischen MAOA-Gen und erfahrener Kindesmisshandlung im Alter von 3–11 Jahren auf antisoziales Verhalten im Alter von 26 Jahren (mod. nach Caspi, A., McClay, J., Moffitt, T. E., Mill, J., Martin, J., Craig, I. W., Taylor, A. & Poulton, R. [2002]. Role of genotype in the cycle of violence in maltreated children. Science, 297[5582], 851–854, S. 852, Fig. 1; mit freundlicher Genehmigung der American Association for the Advancement of Science – Reprinted with permission from AAAS).

Erfahrene Kindesmisshandlung erhöhte das Risiko für antisoziales Verhalten im Erwachsenenalter, wobei jedoch die Erhöhung deutlich stärker bei denjenigen 163 männlichen Teilnehmern der Längsschnittstudie ausfiel, die das Allel für niedrige MAOA-Aktivität hatten. So wurden z. B. die 55 Männer, die beide Risikofaktoren aufwiesen (schwere Misshandlung und Allel für niedrige MAOA-Aktivität) bis zum Alter von 26 Jahren dreimal so häufig verurteilt wie die 99 Männer, die auch schwer misshandelt worden waren, aber das Allel für hohe MAOA-Aktivität aufwiesen; für Vergewaltigung, Raub und Überfälle war die Rate sogar viermal so hoch. Genetisch bedingte unzureichende MAOA-Aktivität scheint demnach die Entwicklung antisozialer Tendenzen zwar nicht allgemein, wohl aber nach erfahrener Kindesmisshandlung zu fördern.

Obwohl statistische Interaktionen erfahrungsgemäß schlecht replizierbar sind, wurde die Gen-Umwelt-Interaktion in diesem Fall für vier unterschiedliche Indikatoren antisozialer Tendenzen gefunden und in weiteren Studien repliziert (Kim-Cohen et al., 2006). Zudem ist das Ergebnis biochemisch plausibel. Das MAOA-Gen produziert das Enzym Monoaminoxidase A, das eine exzessive Produktion von Neurotransmittern wie Serotonin, Noradrenalin und Dopamin reduziert, zu der es bei starken Belastungen kommen kann.

Derartige statistische Interaktionen finden sich nicht nur bei den Konsequenzen negativer Umwelterfahrungen, bei denen die Vulnerabilität (Verletzlichkeit) vom Genom abhängt, sondern auch bei vorteilhaften Umwelterfahrungen (z. B. soziale Unterstützung, gezielte Interventionen), bei denen die vorteilhafte Wirkung ebenfalls vom Genom abhängt (vantage sensitivity; Pluess & Belsky, 2013). Z. B. wurden bei Kindern und Jugendlichen Gen-Umwelt-Interaktionen zwischen Varianten des Serotonin-Transporter-Gens (5-HTTLPR), das traditionell auf die Verarbeitung von Stress bezogen wird, und positiven familiären Umwelteinflüssen und positiven Wirkungen von kognitiv-behavioraler Therapie bei Angststörungen gefunden (Eley et al., 2012; van IJzendoorn, Belsky & Bakermans-Kranenburg, 2012). Beide Interaktionsformen können im Konzept der genetisch beeinflussten Umweltsensitivität vereinigt werden (Pluess, 2015).

1.5       Korrelation von Genomen und Umwelten

Bei der Genom-Umwelt-Korrelation finden sich bestimmte Genome gehäuft in bestimmten Umwelten. Zum Beispiel mögen intelligenzförderliche Genome sich in anregenden Umwelten häufen, weil Eltern und Ausbildungssystem dies fördern und intelligente Menschen dazu tendieren, solche Umwelten aufzusuchen oder herzustellen. Plomin, DeFries und Loehlin (1977) unterschieden drei unterschiedliche Formen der Genom-Umwelt-Korrelation, die hier an einem einfachen Modell der Persönlichkeitsentwicklung am Beispiel der »Musikalität« veranschaulicht werden sollen.

Wenn ein substanzieller genetischer Einfluss auf Unterschiede in Musikalität besteht (dies ist der Fall; vgl. Coon & Carey, 1989), sollte eine passive Genom-Umwelt-Korrelation dadurch zustande kommen, dass ein genetisch für hohe Musikalität prädisponiertes Kind aus genetischen Gründen auch eher musikalische Eltern und Geschwister hat, diese aus genetischen Gründen für eine musikalische familiäre Umgebung sorgen und dadurch auch eine musikalische persönliche Umwelt für das Kind schaffen. Die passive Genom-Umwelt-Korrelation dürfte mit wachsendem Alter des Kindes abnehmen; hat es erst einmal das Elternhaus verlassen, ist ihr Einfluss minimal.

Ziemlich altersunabhängig dagegen dürfte die reaktive (auch: evokative) Genom-Umwelt-Korrelation sein, die eine Reaktion der Umwelt auf die genetisch mitbedingten Persönlichkeitsanteile des Kindes darstellt. Ein genetisch zu hoher Musikalität prädisponiertes Kind fällt durch seine manifeste Musikalität auf und übt dadurch Wirkungen aus, z. B. indem die Eltern ein Klavier kaufen oder der Musiklehrer das Kind besonders fördert.

Eine dritte Form der Genom-Umwelt-Korrelation schließlich sollte mit dem Alter stark zunehmen: die aktive Genom-Umwelt-Korrelation. Ein genetisch zu hoher Musikalität prädisponiertes Kind wird sich eher ein Klavier wünschen, gerne in Konzerte gehen, eher Klavierunterricht nehmen und sich eher mit musikalischen Gleichaltrigen befreunden. Oder allgemeiner formuliert: Mit wachsendem Alter steigt der Einfluss von Genomen auf ihre Umwelt, indem die Träger der Genome ihre Umwelt passend auswählen oder gestalten.

Obwohl die empirische Untersuchung dieser drei Korrelationstypen schwierig ist (vgl. Johnson 2007), war die Arbeit von Plomin et al. (1977) in zweierlei Hinsicht bahnbrechend. Erstens stellte sie ernsthaft die Frage nach der Korrelation von Genomen und Umwelten und den vermittelnden Mechanismen und überwand so die oberflächliche Erbe-Umwelt-Dichotomie. Zweitens wirft das Konzept der Genom-Umwelt-Korrelation neues Licht auf Persönlichkeit-Umwelt-Korrelationen. In der Sozialisationsforschung wurden solche Korrelationen (etwa zwischen Erziehungsstil der Mutter und Persönlichkeit des Kindes) bis Ende der siebziger Jahre fast ausschließlich als Effekte Erziehungsstil → Kind interpretiert, erst später auch als Kind → Erziehungsstil (vgl. Bell, 1977). Solche Korrelationen können aber auch genetisch mitbedingt sein. So zeigten Knafo und Plomin (2006), dass die bei über 9 000 Zwillingen beobachtete negative Korrelation zwischen elterlichem negativen Verhalten ihren Kindern gegenüber und dem prosozialen Verhalten dieser Kinder stark genetisch vermittelt war.

Biografische Ereignisse, z. B. Unfälle, Krankheiten oder Änderungen in der Berufsumwelt, die oft als »reine Umweltbedingungen« zur Erklärung von Persönlichkeitsmerkmalen herangezogen werden, können ebenfalls genetisch mitbedingt sein. Tatsächlich ließ sich ein genetischer Einfluss auf Lebensereignisse in mehreren Studien jedenfalls dann nachweisen, wenn sie durch das eigene Verhalten mitbedingt sind (Saudino, Pedersen, Lichtenstein, McClearn & Plomin, 1997). Dies ist weniger überraschend, als es zunächst den Anschein haben mag, weil z. B. das Unfallrisiko beim Autofahren auch von der Persönlichkeit des Fahrers abhängt. Tatsächlich konnten Saudino et al. (1997) zeigen, dass der genetische Einfluss auf solche biografischen Ereignisse wesentlich auf dem genetischen Einfluss auf vermittelnde Persönlichkeitsmerkmale beruht.

Dies betrifft auch Persönlichkeitsunterschiede, die traditionell auf unterschiedliche Familienstrukturen bezogen werden. Cleveland, Wiebe, van den Oord und Rowe (2000) zeigten in einem verhaltensgenetischen Vergleich von verschiedenen Familientypen (Kinder von Mutter und Vater, Halbgeschwister, Adoptivgeschwister, nur ein Elternteil), dass Persönlichkeitsunterschiede der Kinder zwischen den Typen zu über 80% durch genetische Unterschiede erklärt werden konnten. Die Autoren führten den überraschend starken genetischen Einfluss auf einen Prozess der genetischen Selbstselektion in Familientypen zurück. Halbgeschwister entstehen weniger oft durch Tod eines Elternteils als durch Scheidung oder Trennung der Eltern, und das Trennungsrisiko ist erheblich genetisch beeinflusst. So ist z. B. das Risiko einer Scheidung doppelt so hoch für einen zweieiigen Zwilling, wenn der Zwillingspartner geschieden ist, aber sechsfach erhöht, wenn es sich um eineiige Zwillinge handelt (McGue & Lykken, 1992). Natürlich gibt es kein »Scheidungs-Gen«, sondern dieses genetische Risiko ist über den genetischen Einfluss auf scheidungsförderliche Persönlichkeitsmerkmale, vor allem Neurotizismus, vermittelt. Ob jemand geschieden ist oder nicht, ob jemand alleinerziehend ist oder nicht und ob jemand ein Halbgeschwister ist oder nicht, ist deshalb auch genetisch mitbestimmt.

Aus genetischer Sicht sind deshalb die klassischen Studien der Sozialisationsforschung, in denen Umwelt- und Persönlichkeitsunterschiede miteinander korreliert werden, nicht im Sinne von Umwelteinflüssen interpretierbar. Ein strenger Nachweis von Umwelteinflüssen ist nur bei Kontrolle der genetischen Einflüsse möglich, z. B. indem bei eineiigen Zwillingen Umweltunterschiede mit Persönlichkeitsunterschieden korreliert werden (Kontrollzwillingsdesign; vgl. Caspi et al., 2004).

1.6       Zum Menschenbild der Genetik

Nach Auffassung der Genetik beruht individuelle Entwicklung auf einer kontinuierlichen Wechselwirkung zwischen genetischer Aktivität und Umweltbedingungen. Sowohl die genetische Aktivität als auch die Umwelt werden als veränderlich über die Zeit angenommen. Im Verlauf dieser Wechselwirkung verfestigen sich sowohl genetische Wirkungen als auch Umweltwirkungen auf epigenetischer und neuronaler Ebene. Damit verfestigt sich die individuelle Organisation des Verhaltens zunehmend mit wachsendem Alter, wobei aber dennoch eine gewisse Plastizität erhalten bleibt. Deshalb können Umweltwirkungen und epigenetische Wirkungen auch noch nach Abschluss der Kindheit zu Entwicklungsveränderungen führen. Entwicklung wird also auch auf epigenetischer Ebene als lebenslanger Prozess angesehen.

Persönlichkeitsunterschiede beruhen nach dieser Auffassung fast immer sowohl auf genetischen Unterschieden als auch auf Umweltunterschieden, wobei der relative Anteil dieser beiden Einflussklassen von Merkmal zu Merkmal, Altersgruppe zu Altersgruppe und Population zu Population schwankt. Dabei wird der einzelne Mensch weder als Opfer seiner Gene noch seiner Umwelt angesehen, da manche Umwelten persönlichkeitsabhängig ausgewählt oder hergestellt werden können und genetische Wirkungen durch gezielte Umweltveränderungen verändert werden können.

Unter den Umwelteinflüssen auf die Persönlichkeit sind nach den Ergebnissen der Verhaltensgenetik solche besonders wichtig, in denen sich Geschwister derselben Familie unterscheiden. Dafür werden nicht nur außerfamiliäre Einflüsse verantwortlich gemacht, sondern auch die Tatsache, dass familiäre Einflüsse beziehungsspezifische Anteile haben. So ist der Einfluss, den eine Mutter auf eines ihrer Kinder ausübt, nicht nur von der Persönlichkeit der Mutter, sondern auch von der Persönlichkeit des Kindes abhängig, so dass dieselbe Mutter einen anderen Einfluss auf ein anderes ihrer Kinder ausüben kann.

Das Menschenbild der Genetik ist damit interaktionistisch in einem doppelten Sinne: im Sinne der Interaktion zwischen Genom und Umwelt und im Sinne der Interaktion zwischen der sich entwickelnden Person und ihren genetischen und nicht genetischen Entwicklungsbedingungen. Was sich bereits entwickelt hat, beeinflusst die Bedingungen seiner weiteren Entwicklung. Diese Einflussmöglichkeit ist begrenzt, weil viele Umweltbedingungen und viele genetische Bedingungen außerhalb der individuellen Einflussmöglichkeit liegen. Menschen können deshalb aus genetischer Sicht ihre Entwicklung in Grenzen mitbestimmen.

Literatur

 

Asendorpf, J. B. (2015). Methodische Zugänge der Genetik. In K. Hurrelmann, U. Bauer, M. Grundmann & S. Walper (Hrg.), Handbuch der Sozialisationsforschung (8. Aufl., S. 302–319). Weinheim: Beltz.

Bell, R. Q. (1977). A reinterpretation of the direction of effects in studies of socialization. Psychological Review, 75, 81–95.

Birdsong, D. (Hrsg.) (1999). Second language acquisition and the critical period hypothesis. Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum.

Borkenau, P., Riemann, R., Angleitner, A. & Spinath, F.M. (2001). Genetic and environmental influences on observed personality: Evidence from the German Observational Study of Adult Twins. Journal of Personality and Social Psychology, 80, 655–668.

Bouchard, T. J., Jr. & McGue, M. (2003). Genetic and environmental influences on human psychological differences. Journal of Neurobiology, 54, 4–45.

Cadoret, R. J., Cain, C. A. & Crowe, R. R. (1983). Evidence for gene-environment interaction in the development of adolescent antisocial behavior. Behavior Genetics, 13, 301–310.

Caspi, A., McClay, J., Moffitt, T. E., Mill, J., Martin, J., Craig, I. W., Taylor, A. & Poulton, R. (2002). Role of genotype in the cycle of violence in maltreated children. Science, 297(5582), 851–854.

Caspi, A., Moffitt, T. E., Morgan, J., Rutter, M., Taylor, A., Arseneault, L., … & Polo-Tomas, M. (2004). Maternal expressed emotion predicts children’s antisocial behavior problems: Using monozygotic-twin differences to identify environmental effects on behavioral development. Developmental Psychology, 40, 149–161.

Chipuer, H. M., Rovine, M. & Plomin, R. (1990). LISREL modeling: Genetic and environmental influences on IQ revisited. Intelligence, 14, 11–29.

Cleveland, H. H., Wiebe, R. P., van den Oord, E. J. C. G. & Rowe, D. C. (2000). Behavior problems among children from different family structures: The influence of genetic self-selection. Child Development, 71, 733–751.