Handbuch Naturraumpädagogik - Anke Wolfram - E-Book

Handbuch Naturraumpädagogik E-Book

Anke Wolfram

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Beschreibung

Die Natur ist inzwischen anerkannter Bildungsort. Anke Wolfram liefert in diesem Buch fundiertes Hintergrundwissen genauso wie praktische Beispiele, wie Wald und Wiese als Bildungsort optimal genutzt werden können.  Ebenso werden Voraussetzungen und Rahmenbedingungen zur Gestaltung und Führung von Waldkindergärten oder Waldprojekten in Regeleinrichtungen beschrieben.

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HandbuchNaturraumpädagogik

Anke Wolfram

Überarbeitete Neuausgabe 2021(2. Gesamtauflage)© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.deUmschlaggestaltung: Verlag Herder GmbHUmschlagabbildung: © marumar – Getty ImagesBilder im Innenteil: © Anke Wolfram, RegensburgLayout, Satz und Gestaltung: SatzWeise, Bad WünnenbergHerstellung: PNB Print LtdPrinted in LatviaISBN Print 978-3-451-39098-2ISBN EBook (PDF) 978-3-451-82430-2ISBN EBook (E-Pub) 978-3-451-82424-1

Inhalt

Vorworte

Einleitung

1. Was bedeutet Naturraumpädagogik?

1.1 Waldkindergärten und ihre Entwicklung

1.2 Naturraumpädagogik – ein neuer Weg auf alten Pfaden

1.3 Eckpfeiler des naturraumpädagogischen Konzepts

1.4 Verankerung der Bildung für nachhaltige Entwicklung

2. Menschenbild und Bildungsverständnis in der Naturraumpädagogik

2.1 Naturraumpädagogik als Handlungskonzept

2.2 Die Bedeutung der „Räumlichkeit“ im Naturraum

2.3 Material aus der Natur für Spiel und Ausstattung

2.4 Das „Urspiel“ des Kindes – Konsequenzen für die Pädagogik

2.5 Bildung als sozialer Prozess

2.6 Inklusion in der Naturraumpädagogik

3. Bildungsprozesse organisieren und gestalten

3.1 Der Naturraum als Bildungsraum

3.2 Konzeptionelle Bausteine und Methoden der Naturraumpädagogik

3.3 Beobachtung und Dokumentation

3.4 Sicherheit und Recht

3.5 Hygieneplan

4. Bildungsziele und -inhalte der Naturraumpädagogik

4.1 Gesundheitsbildung und Bewegung

4.2 Gesunde Ernährung

4.3 Sozialverhalten – Gefühle und Konflikte

4.4 Umgang mit Medien

4.5 Musik und Rhythmik

4.6 Sprachliche Bildung

4.7 Mathematik, Naturwissenschaften und Technik

4.8 Werteorientierung

4.9 Ästhetik und Kunst

5. Das Verhältnis von Bilden und Lernen – nachhaltig Freude am Lernen gewinnen

5.1 Lernen durch Flow

5.2 Voraussetzungen für Flow-Lernen in der Naturraumpädagogik

5.3 Motivation im und durch den Naturraum

5.4 Die richtigen Fragen stellen

5.5 Vernetztes Lernen im Naturraum

5.6 Bildung findet immer und überall statt

6. Kooperation und Vernetzung der Bildungspartner im Naturraum

6.1 Bildungs- und Erziehungspartnerschaft mit den Eltern

6.2 Übergang von der Familie in die Kita

6.3 Zusammenarbeit Kita – Grundschule

6.4 Öffnung nach außen – Netzwerkarbeit

7. Der Waldkindergarten als lernende Organisation

7.1 Rolle und Aufgaben der Leitung

7.2 Qualitätssicherung

7.3 Weiterentwicklung der Kitas im Naturraum

8. Auf einen Blick: Grundlagen für Wald- und Naturkindergärten

8.1 Leitfaden für Neugründungen

8.2 Die zehn häufigsten Irrtümer über Waldkindergärten

Danksagung

Literaturverzeichnis

Vorwort

Naturraumpädagogik in Form des Waldkindergartens kam von Dänemark nach Deutschland, wo sie sich in den 1990er Jahren bundesweit rasch verbreitet hat. Zu jener Zeit konnten Kitas weitgehend selbstbestimmt entscheiden, wie sie sich pädagogisch ausrichten und ihre Bildungspraxis gestalten. Orientierung boten die frühpädagogischen Ansätze, die sich national und international im Lauf der Zeit entwickelt haben. Die Waldkindergarten-Bewegung wurde in der deutschen Fachliteratur alsbald als weiterer frühpädagogischer Ansatz anerkannt.

Seit Einführung der Bildungspläne stehen alle frühpädagogischen Ansätze auf dem Prüfstand. Nach anfänglicher Kritik ist heute klar: Naturraumpädagogik lässt sich mit den Qualitätsanforderungen der Bildungspläne und aktuellen Herausforderungen wie Inklusion und Digitalisierung vereinbaren, wenn es im Alltag dieser Einrichtungen durch eine hohe Interaktions- und pädagogische Qualität gelingt, den Rechten und Bedürfnissen aller Kinder angemessen zu entsprechen. Dies haben auch die wissenschaftlich begleitete Bildungsplanerprobung und der Aufbau des Netzwerks von Konsultationseinrichtungen in Bayern gezeigt, an denen je ein Waldkindergarten beteiligt war.

Wie sich hohe pädagogische Qualität im Sinne der Bildungspläne in der Naturraumpädagogik realisieren lässt, ist das zentrale Anliegen dieses Buches. Die Autorin Anke Wolfram ist Leiterin des Waldkindergartens, der in Bayern als Konsultationskita ausgewählt wurde, damit seit 2009 Mitglied im Ko-Kita-Netzwerk (jetzt Praxisbeirat) am IFP und seit 2016 auch als pädagogische Qualitätsbegleitung im Rahmen des gleichnamigen bayerischen Modellversuchs tätig. Ihre hohe Expertise in Sachen pädagogischer Qualität im Waldkindergarten macht dieses Buch so wertvoll für alle, die naturraumpädagogisch unterwegs sind oder Waldkindergärten fachlich begleiten.

Eva Reichert-Garschhammer

Stellvertretende Direktorin des Staatsinstituts für Frühpädagogik (IFP), München

Vorwort

Viele Studien und Forschungsergebnisse belegen inzwischen: Es macht nicht nur Spaß, draußen zu lernen. Wenn Spiel- und Lernumgebungen in der Natur gewählt werden, wirkt es sich auch deutlich auf die Entwicklung frühkindlicher Kompetenzen aus.

Anders ausgedrückt: The best door is the outdoor. In Verbindung mit geeigneten und zielgruppengerechten Angeboten sowie qualifiziertem Personal können bereits im Kita-Alter wertvolle Impulse für eine „Bildung für Nachhaltige Entwicklung“ (BNE) gegeben werden.

Dieses umfassende Buch, das insbesondere Erzieherinnen und Erziehern in Waldkindergärten, aber auch anderen interessierten Pädagoginnen und Pädagogen die Naturraumpädagogik nahebringen möchte, verdient daher größte Anerkennung. Es besticht durch eine Vielzahl wichtiger Orientierungshilfen für die Konzeption, den Aufbau und Betrieb von Natur- oder Waldkindergärten und vermittelt eine bunte Palette ganz praktischer Tipps.

Das Buch leistet auch einen wichtigen Beitrag im vielfältigen Angebotsfächer der „Bildung für Nachhaltige Entwicklung“ – vor allem mit Blick auf die Qualitätsentwicklung der Einrichtungen und die Qualifizierung der dort tätigen Pädagoginnen und Pädagogen.

Wir wünschen den Leserinnen und Lesern viel Freude bei der Lektüre und, dass sie diese Begeisterung an die ihnen anvertrauten Kinder weitergeben können.

Dirk Schmechel

Leiter der Abteilung Wissenstransfer und Waldpädagogik, Bayerische Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft

Einleitung

Dieses Buch möchte möglichst vielen Pädagoginnen und Pädagogen – und damit natürlich den Kindern – „die Tür nach draußen“ öffnen. Erinnern Sie sich, wie es war, an einem kalten Wintertag in die warme Stube zu kommen und einen heißen Früchtetee für das beste Getränk aller Zeiten zu halten? Fühlen Sie noch den klebrigen Sand auf Ihren Händen, durch den Sie als Kind unermüdlich Tunnel gegraben haben? Waren Sie auch so stolz, endlich die Kraft und den Mut zu haben, auf einen Baum zu klettern?

Kindheitserfahrungen in der Natur sind ein unermesslicher Schatz für unsere persönliche Entwicklung. Nirgendwo anders sind wir so tief verbunden mit dem Leben, werden wir herausgefordert, begeistert und beruhigt. Ein Leben ohne dieses „Draußen“ erscheint mir fad und ungesund.

Zum Glück erkennen immer mehr Menschen die Wichtigkeit und Notwendigkeit von Naturerfahrungen in der Kindheit – ein Gegenpol zu unserer schnelllebigen, technisierten Welt. Eine wachsende Zahl an Eltern interessiert sich für eine möglichst naturnahe Betreuungsform ihrer Kinder. Da verblüfft es nicht, dass gerade eine pädagogische Ausrichtung sich immer stärker verbreitet: Der Waldkindergarten boomt!

In Deutschland sind permanent Neugründungen von Waldkindergärten zu verzeichnen, wobei die Formen der Umsetzung immer variabler werden. Mehr und mehr öffentliche Träger überzeugt dieses Konzept, auch – oder gerade – weil es eine sehr ökonomische Art darstellt, Kinder zu bilden, zu erziehen und zu betreuen.

Doch: Wo Waldkindergarten draufsteht, sollte auch Waldkindergarten drin sein! Die Pluralisierung im Bereich der Trägerschaften und die daraus entstehenden Mischkonzepte zur Umsetzung von Waldkindergärten weichen oft die Grundgedanken und Leitlinien der ursprünglichen Entwicklung auf. In meiner Beratungstätigkeit für Kindertageseinrichtungen treffe ich immer wieder auf Pädagoginnen und Pädagogen, Eltern, Trägervertreter und Behörden, die aufgrund der unterschiedlichen Auslegungen der Konzepte verunsichert sind und nach Orientierungshilfen suchen.

So beschreibt dieses Buch unter anderem die pädagogischen Inhalte und fachlichen Standards, um die Qualität in Waldkindergärten sichtbar und nachvollziehbar zu machen. Mit der Formulierung der Naturraumpädagogik als pädagogischem Ansatz werden eine Grundlage für pädagogisches Handeln und ein Rahmen für Strukturen in Waldkindergärten bzw. Einrichtungen im Naturraum geschaffen. Die Orientierung an einem definierten, pädagogischen Ansatz soll es allen Beteiligten erleichtern, Qualität zu sichern, zu entwickeln und schließlich messen zu können. Naturraumpädagogik ermöglicht eine Identifikation mit den verschiedenen Ausprägungen und trägt dazu bei, ein gemeinsames Verständnis von Werten und Überzeugungen zu transportieren. Auf dieser Grundlage wird eine Vielzahl von Anregungen und Umsetzungsbeispielen für die Praxis von Kitas gegeben.

Im ersten Kapitel wird der Begriff „Naturraumpädagogik“ definiert und als pädagogischer Ansatz vorgestellt. Ausführungen zu den Eckpfeilern des naturraumpädagogischen Konzepts und der „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ folgen. Das der Naturraumpädagogik zugrunde liegende Bild vom Kind und das besondere Bildungsverständnis im Naturraum werden im zweiten Kapitel thematisiert. Möglichkeiten zur Inklusion und der Naturraum als geeigneter Bereich für Kinder mit besonderem Betreuungsbedarf sowie als Umgebung, die zur Herstellung von Bildungsgerechtigkeit zwischen Jungen und Mädchen beitragen kann, werden aufgezeigt.

Kapitel drei widmet sich der Organisation und Gestaltung von Bildungsprozessen im Naturraum und stellt konzeptionelle Bausteine und Methoden innerhalb dieses pädagogischen Ansatzes vor. Dazu gehören der Umgang mit Bildungsangeboten und Projektarbeit sowie die Umsetzung einer gelingenden Bildungsdokumentation in naturraumpädagogischen Einrichtungen. Der Bereich Sicherheit und Recht ist in Einrichtungen im Naturraum zentral. In diesem Kapitel werden die wichtigsten Aspekte rund um die Themen Aufsichtspflicht und Verkehrssicherungspflicht vorgestellt. Das Thema Hygiene, wozu auch der Umgang mit Verletzungen und Erkrankungen, mit anfallendem Müll, Reinigung und Desinfektion sowie mit Lebensmitteln und deren sicherer Zubereitung im Naturraum gehören, schließt das Kapitel ab.

Bildungs- und Erziehungsziele, die in allen Bundesländern in Bildungsleitlinien oder Bildungsplänen für Kindertageseinrichtungen festgelegt sind, und deren praxisnahe Umsetzung in naturraumpädagogischen Einrichtungen sind Inhalt des vierten Kapitels. Der engen Kooperation und Vernetzung mit Erziehungs- und Bildungspartnern, zu denen besonders die Eltern, aber auch Grundschulen und andere Netzwerkpartner gehören, mit denen naturraumpädagogische Einrichtungen zusammenarbeiten, widmet sich das fünfte Kapitel. Die Themen Eingewöhnung, Übergang, Schulvorbereitung und Partizipation aller am Erziehungs- und Bildungsprozess Beteiligten werden – unterstützt durch hilfreiche Anregungen aus der Praxis – vorgestellt.

Kapitel sechs stellt naturraumpädagogische Einrichtungen als lernende Organisationen in den Mittelpunkt. Hier werden die Rolle der Leitung und das besondere Aufgabenprofil, das sich für das pädagogische Personal im Naturraum ergibt, beschrieben. Dabei geht es auch darum, wie Teamentwicklungsprozesse und Maßnahmen zur Mitarbeiterführung angeregt werden können. Möglichkeiten der Sicherung der Qualität in naturraumpädagogischen Einrichtungen sowie die Weiterentwicklung und der mögliche Ausbau des Angebots werden ebenfalls thematisiert. Die Chancen und Vorteile einer Betreuung von Krippenkindern im Naturraum werden praxisnah veranschaulicht. Auch Möglichkeiten, den Wald für Schul- und Hortkinder als Lern- und Erlebnisraum zu öffnen, werden näher beleuchtet.

Tipps und Anregungen für die Neugründung von naturraumpädagogischen Einrichtungen stellt Kapitel sieben vor. Eingegangen wird auf Themen wie Kontaktanbahnung zu Behörden, Öffentlichkeitsarbeit, Möglichkeiten der Trägerschaft, Erstellung einer Konzeption, Finden eines geeigneten Grundstücks und Schaffung der nötigen Infrastruktur. Wichtige Aspekte rund um Betriebserlaubnis, Finanzierung und Versicherung werden beschrieben. Ausführlich wird zudem auf die Anforderungen an pädagogisches Personal im Naturraum eingegangen. Darauf folgen die zehn häufigsten Irrtümer über Waldkindergärten – eine gute Grundlage für Ihre Argumentation.

1. Was bedeutet Naturraumpädagogik?

1.1 Waldkindergärten und ihre Entwicklung

Wald- oder Naturkindergärten sind frühpädagogische Einrichtungen, die ihre Bildungs- und Erziehungsarbeit in der Natur umsetzen und die meiste Zeit auf Wände und ein festes Dach verzichten. Lediglich als Aufwärm- und Schutzraum stehen Bauwagen, kleine Hütten oder Ausweichgebäude zur Verfügung.

Wie alles begann …

Ihren Ursprung finden Waldkindergärten in den skandinavischen Ländern, wo der Aufenthalt im Freien zum festen Bestandteil des kindlichen Alltags gehört. Eltern gewöhnen ihre Kinder von klein auf an ein Leben in der Natur. Leben und Lernen mit und in der Natur hat dort einen zentralen Stellenwert. Im dänischen Sölleröd ist in den 1950er Jahren auf eher zufällige Art und Weise eine organisierte Form des Kindergartens in der Natur entstanden: Jeden Tag ging dort Ella Flatau mit ihren eigenen Kindern zum Spielen und Lernen in den Wald. Aufmerksam gewordene Nachbarn baten sie, auch ihre Kinder mitzunehmen. Bald darauf entstand eine Elterninitiative, die den ersten „skovbornehave“ (Waldkindergarten) gründete (Bickl 2001, S.  14).

Die inzwischen häufigste und am weitesten verbreitete Form in Dänemark ist der „Integrierte Waldkindergarten“. Dieser Kindergarten ist ganztags geöffnet und besitzt eigene Räume, die sich in einem Gemeindezentrum, einem Bürgerhaus und ähnlichen Gebäuden befinden. Es finden täglich offene Wandergruppen statt, denen sich die Kinder aus verschiedenen Gruppen anschließen können. Eine andere Variante stellt die feste Wandergruppe mit zum Beispiel monatlichem Wechsel der betreuten Kinder dar. Hier verbringen die Mädchen und Jungen den Vormittag in der Natur und den Nachmittag in festen Räumen (vgl. Miklitz 2020).

Ausbreitung in Deutschland

In Wiesbaden übernahm 1968 eine junge Frau die Betreuung von vier Pfarrerskindern, da in direkter Umgebung keine kindergartenähnliche Einrichtung zur Verfügung stand. Genutzt werden konnte jedoch ein Wald in unmittelbarer Nähe. Bald kamen aus dem Umkreis weitere Kinder hinzu. Diese Waldgruppe wurde 25 Jahre lang erfolgreich privat organisiert. Einige Jahrzehnte nach der Gründung der Waldgruppe in Wiesbaden wurden zwei Flensburger Erzieherinnen auf die dänischen Waldkindergärten aufmerksam. Sie nahmen an einer Fortbildung in Dänemark teil und entwickelten ein auf die deutschen Verhältnisse angepasstes Konzept. Auf dieser Basis gründeten sie einen Verein und eröffneten den ersten Waldkindergarten in Deutschland. „Nach zwei Jahren wurde der von den Flensburger Erzieherinnen gegründete Verein als Träger der freien Jugendhilfe anerkannt. Somit erhielt er vom Land Schleswig-Holstein und von der Stadt Flensburg finanzielle Förderung“ (Bickl 2001, S. 14).

Die Eröffnung des Flensburger Waldkindergartens im Jahre 1993 weckte weiteres Interesse an diesem Konzept. Innerhalb kürzester Zeit entstanden im gesamten Bundesgebiet Wald- und Naturkindergärten. Die Anzahl der Waldinstitutionen stieg bis 1997 besonders stark an. Danach flaute die erste Euphorie etwas ab, dennoch war ein stetiger Zuwachs zu verzeichnen (ebd.). Nicht nur der Wald kann als Aufenthalts- und Bildungsraum genutzt werden, sondern auch andere Naturräume eignen sich dazu, weshalb in Folge Natur-, See- und Strandkindergärten eröffnet wurden.

Erst im Jahr 1994 erreichte die Bewegung dann den Süden Deutschlands. Der offiziell erste bayerische Waldkindergarten nahm 1996 seinen Betrieb auf. In diesem Jahr bildete sich auch der Bundesarbeitskreis der Naturkindergärten in Deutschland. Daraus entstand 2001 der Bundesverband der Wald- und Naturkindergärten. Ab 2000 etablierten sich in Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz Landesverbände. Damit nicht jede Initiative das Rad neu erfinden musste, werden hier alle Erfahrungen, Tipps und Ratschläge zusammengetragen und Interessierten zur Verfügung gestellt. In allen anderen Bundesländern gibt es Waldkindergärten, die nicht in einem Landesverband organisiert sind. Schätzungen gehen von derzeit rund 1.500 Waldkindergärten in Deutschland aus.

Der Waldkindergarten hat inzwischen flächendeckend an Anerkennung gewonnen und ist zu einem festen Bestandteil der Frühpädagogik geworden. Vorbei sind die Zeiten, in denen solche Einrichtungen als ökologische Aussteigererscheinung betrachtet und in einer pädagogischen Nische verortet wurden. Mit Einführung der Bildungs- und Erziehungspläne für Kinder in Tageseinrichtungen gelang es noch besser, das Konzept Waldkindergarten fachlich-inhaltlich zu untermauern. Die Inhalte der Bildungspläne spiegeln sich in der pädagogischen Haltung und in der Art und Weise, wie Bildungsprozesse im Naturraum in Gang gesetzt werden, wider.

1.2 Naturraumpädagogik – ein neuer Weg auf alten Pfaden

Naturraumpädagogik als pädagogisches Handlungskonzept ist durch verschiedene reformpädagogische Strömungen geprägt und entwickelte sich in der praktischen Arbeit der Wald- und Naturkindergärten weiter. Naturraumpädagoginnen und -pädagogen nutzen den Wald und die Natur als Lernort und Mittler, um ganzheitlich Bildungsprozesse in Gang zu setzen. Die Natur wird dabei zum Motor für entdeckendes, eigenaktives und vernetztes Lernen mit allen Sinnen.

Lernen im Naturraum wird als Konstruktionsprozess verstanden, der sowohl aus innerer Motivation heraus als auch durch die Interaktion mit anderen gelingt. Das freie, experimentelle Spiel, das die Explorationsfreude weckt und die Möglichkeit zur Entfaltung birgt, sowie das Zusammenleben nach demokratischen Prinzipien werden als Schlüssel nachhaltiger Bildung verstanden. Die Vermittlung ökologischer Inhalte spielt in der Naturraumpädagogik zwar eine große Rolle, ist aber nicht immer Hauptziel des pädagogischen Handelns. Sämtliche Bildungsbereiche, wie sie die Bildungspläne der Bundesländer für Kindertageseinrichtungen beschreiben, werden im und durch den Naturraum umgesetzt.

Naturraumpädagogik gestaltet sich aus verschiedenen Situations- und Spielanlässen heraus. Bildungsprozesse entstehen in der Natur durch Entdeckungen, witterungsbedingte Veränderungen, natürliche Raum- und Geländestrukturen. Im Naturraum werden zudem vielfältige Themen aus dem Erfahrungshintergrund und der Lebenswelt der Kinder aufgegriffen und mit einfachen, ursprünglichen Mitteln bearbeitet. Die Vielfalt der Bildungsanlässe und die Intensität des Erlebens in der Natur sind Antrieb und Motivation zugleich. Die Kinder sind Wegbereiter und Konstrukteure ihrer Entwicklung. Die Pädagoginnen und Pädagogen begleiten sie dabei prozesshaft und können Bildungsimpulse initiieren. Naturraumpädagogik schafft eine ganzheitliche Bildungskultur, die sich abgrenzt von Belehrung, vorgegebenen Programmen oder Beschäftigung und Animation.

Im Vordergrund steht ein lebendiger Dialog mit Kindern, Eltern und Bildungspartnern, die durch ihre Fragen, Ideen und Entscheidungskompetenzen maßgeblich an der Gestaltung des Bildungs- und Erziehungsgeschehens beteiligt sind.

Waldpädagogik – Naturraumpädagogik

Wenn bislang von einer pädagogischen Ausrichtung gesprochen wurde, bezog man sich schlicht und einfach auf den „Waldkindergarten“ als einschlägige Fachrichtung. Ein formulierter oder gar definierter Ansatz existierte nicht.

Auch der Begriff der Waldpädagogik beschreibt die Bildungs- und Erziehungsarbeit in Waldkindergärten nur unzulänglich. Er steht eigentlich als Synonym für forstliche Bildungsarbeit und ist qualifizierte, auf den Wald und die Forstwirtschaft Bezug nehmende Umweltbildung (vgl. Bolay & Reichle 2007). Obgleich es in der Waldpädagogik um ganzheitliche Lernmöglichkeiten und Persönlichkeitsbildung geht, meint dieser Begriff nur eine Facette der Arbeit mit den Kindern im Wald.

Damit Pädagoginnen und Pädagogen in Waldkindergärten nicht nur intuitiv handeln, benötigen sie auf der Grundlage der Grundprinzipien der Bildungspläne einen didaktischen Ansatz, der reflektierte Fragen stellt und Antworten bietet. In der Praxis ist eine große Unsicherheit, aber auch individuelle Auslegungsvielfalt im didaktischen Handeln festzustellen. Fachkräfte benötigen pädagogisches Handwerkszeug, um Bildungsprozesse mit Kindern im Sinne von Partizipation und Ko-Konstruktion zu gestalten. Bildung und Erziehung können nicht dem Zufall überlassen sein; Wissen und Klarheit über pädagogisch-didaktische Ansätze und Methoden sind notwendig für ein reflektiertes Planen und Handeln. Die Naturraumpädagogik schafft eine Abgrenzung zu anderen pädagogischen Ansätzen und bestehenden Konzepten, um ein einheitliches Bildungsverständnis zu implementieren: Waldkindergärten brauchen ein eigenes Profil in der Bildungslandschaft.

1.3 Eckpfeiler des naturraumpädagogischen Konzepts

Die Grundgedanken der „Bildung für Nachhaltige Entwicklung“ (BNE) stellen das Fundament des naturraumpädagogischen Ansatzes dar. Alle pädagogischen Überlegungen und Handlungen bauen darauf auf. Das gesamte Bildungsgeschehen wird an nachhaltigen Aspekten reflektiert, die diese Pädagogik durchdringen.

Waldkindergärten transportieren modellhafte Beispiele und wichtige Bausteine für eine zukunftsweisende Bildungsarbeit, die bestrebt ist, sich nachhaltig zu entwickeln. „Nachhaltigkeit ist kein feststehendes Ziel, sondern ein gesellschaftlicher Suchprozess, in dem sich die konkreten Nachhaltigkeitsziele immer wieder ändern“ (Brunhold 2004, S. 33).

Nachdem nicht ein für alle Mal vorgegeben werden kann, was nachhaltig ist und was nicht, basiert Nachhaltigkeit auf einem dialogischen Konzept. Der gemeinsame Dialog wird deshalb auch zum wesentlichen Eckpfeiler der Naturraumpädagogik. Um ihn in Fluss zu bringen, bilden partizipative Bildungsprozesse die Wesensmerkmale dieser Ausrichtung. Somit kommen nicht nur die ökologischen und ökonomischen Aspekte des Nachhaltigkeitsdreiecks zum Tragen, sondern vor allem die sozialen Gedanken zur Nachhaltigkeit, die in den Gestaltungskompetenzen ihren Ausdruck finden. Die folgende Grafik skizziert die Eckpfeiler der Naturraumpädagogik:

Die Basis der Naturraumpädagogik bilden ökologische und ökonomische Aspekte. Um nachhaltige Bildung zu ermöglichen, bauen partizipative Prozesse mit möglichst vielseitigen Gelegenheiten für eigenaktives und selbstständiges Lernen auf diesen Aspekten auf.

Der Schwerpunkt eines freien Spiels in und mit der Natur und die Haltung der Pädagoginnen und Pädagogen als Bildungsbegleiter ermöglichen Kindern, ihren eigenen Interessen nachgehen zu können, Entdeckungen zu machen, zu forschen und zu experimentieren. Weil sie ihren eigenen Interessen nachgehen dürfen, dabei eigenständig Antworten auf ihre Fragen finden und Fehler machen dürfen, entwickeln die Kinder Neugierde und Explorationsfreude. Zweckfreie Naturmaterialien und ein Minimum an Infrastruktur fordern und fördern Kreativität und Kommunikation.

In der Gemeinschaft der Gruppe werden Spielideen umgesetzt, Entdeckungen geteilt, Pläne geschmiedet, Lösungsstrategien entwickelt und gemeinsam reflektiert. Der gemeinsame Dialog spielt dabei eine wesentliche Rolle.

Allen Bildungsplänen liegt ein Bild des Kindes zugrunde, nach dem dieses sich selbst bildet und so der Konstrukteur seiner Entwicklung und Bildung ist. Der Erwachsene ist daneben der Ko-Konstrukteur. Die Bildung des Kindes ist nur dann nachhaltig, wenn das Kind sie selbst in die Hand nimmt und lediglich darin unterstützt wird, diese intrinsische Lernmotivation beizubehalten. Indem die kindliche Bereitschaft zur Problemüberwindung wachgehalten wird, wird die Basiskompetenz für spätere Krisenbewältigungen gelegt (vgl. Pausewang 2010). Um eine lernende Gemeinschaft entwickeln zu können, durchdringen die Gedanken der Partizipation das gesamte Konzept naturraumpädagogischer Einrichtungen. Auch Eltern sowie Netzwerkpartner werden eingebunden in eine partnerschaftliche Bildungs- und Erziehungsverantwortung. Eine grundsätzliche Offenheit für Beteiligung und Mitgestaltung obliegt der pädagogischen Haltung.

1.4 Verankerung der „Bildung für nachhaltige Entwicklung“

„Hier nicht leben auf Kosten von anderswo und heute nicht auf Kosten von morgen!“ Diese einfache, aber treffende Beschreibung von nachhaltiger Entwicklung zeigt die Notwendigkeit für jeden von uns auf, einen Lebensstil zu entwickeln, der es künftigen Generationen ermöglicht, die gleichen Entwicklungschancen wahrnehmen zu können, wie wir es tun, und der zu mehr Gerechtigkeit zwischen den heutigen Gesellschaften führt.

Unter dem Einfluss und der Herausforderung sich ständig wandelnder, globaler Lebens- und Umweltbedingungen hat die Umweltbildung in der jüngsten Zeit durch das Bildungskonzept „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ eine tiefere, mehrschichtige Dimension erfahren. Die globale Vision einer „Bildung für Nachhaltige Entwicklung“ (BNE) der Vereinten Nationen ist es, allen Menschen Bildungschancen zu eröffnen, die es ermöglichen, sich Wissen und Werte anzueignen, sowie Verhaltensweisen und Lebensstile zu erlernen, die für eine lebenswerte Zukunft und eine positive gesellschaftliche Veränderung erforderlich sind. Gefordert und angestrebt werden ein vernetztes Denken in den Bereichen Ökonomie, Ökologie und Soziales sowie kommunikative, soziale und methodische Kompetenzen (vgl. Kohler & Lude 2012).

BNE richtet sich auf alle Dimensionen der Nachhaltigkeit – auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Umwelt. Man spricht häufig vom Nachhaltigkeitsdreieck, das die Dimensionen Ökologie, Ökonomie und Soziales ausgewogen berücksichtigt und miteinander in Einklang bringt.

Durch den Erwerb von Gestaltungskompetenzen soll jeder Einzelne befähigt werden, nachhaltig handeln zu können. „Mit Gestaltungskompetenz wird die Fähigkeit bezeichnet, Wissen über nachhaltige Entwicklung anzuwenden und Probleme nicht nachhaltiger Entwicklung erkennen zu können“ (de Haan 2007, S. 6).

Das von Gerhard de Haan und Dorothee Hardenberg entwickelte Konzept der Gestaltungskompetenz (2007) setzt sich aus unterschiedlichen einander wechselseitig bedingenden Teilkompetenzen zusammen. Aktuell werden zwölf Teilkompetenzen unterschieden:

1. Weltoffen und neue Perspektiven integrierend Wissen aufbauen

2. Vorausschauend Entwicklungen analysieren und beurteilen können

3. Interdisziplinär Erkenntnisse gewinnen und handeln

4. Risiken, Gefahren und Unsicherheiten erkennen und abwägen können

5. Gemeinsam mit anderen planen und handeln können

6. Zielkonflikte bei der Reflexion über Handlungsstrategien berücksichtigen können

7. An kollektiven Entscheidungsprozessen teilhaben können

8. Sich und andere motivieren können, aktiv zu werden

9. Die eigenen Leitbilder und die anderer reflektieren können

10. Vorstellungen von Gerechtigkeit als Entscheidungs- und Handlungsgrundlage nutzen können

11. Selbstständig planen und handeln können

12. Empathie für andere zeigen können

Entscheidend für die Entwicklung von Gestaltungskompetenzen ist das Lernen in realen Situationen, die mit Zukunftsfragen nachhaltiger Entwicklung in Zusammenhang stehen. BNE steht deshalb in naturraumpädagogischen Einrichtungen im Mittelpunkt der Konzepte.

Der Alltag im Waldkindergarten bietet vielfältige Möglichkeiten, Kompetenzen zu entwickeln und auszubauen, die den Zielen von BNE gerecht werden. Durch das Leben in und mit der Natur gewinnen die Kinder Einsichten in Sinn- und Sachzusammenhänge der natürlichen Umwelt. Im täglichen Spiel erleben und erforschen sie die Natur. Ihrem Forscherdrang werden dabei wenig Grenzen gesetzt, denn die Möglichkeiten sind immens. In der Auseinandersetzung mit der Natur entwickeln sich Erlebnisfähigkeit, Selbstwirksamkeit und Selbstwertgefühl. Die Kinder werden in ihren alltags- und lebenspraktischen Kompetenzen gestärkt, und ihre Orientierung an materiellen Werten relativiert sich.

Die Kinder stellen eine persönliche Verbindung zur Natur und den Räumen im Wald her. Wertschätzung und Liebe für die natürliche Umwelt können sich durch viele hautnahe Erlebnisse und Forschungsvorhaben entwickeln. Damit werden wichtige Voraussetzungen geschaffen, um Verantwortung für den Schutz der Umwelt zu fühlen und zu übernehmen. Durch den direkten Bezug zu der sie umgebenden Umwelt sind Kinder motiviert, sich mit ökonomischen und ökologischen Folgen ihres Verhaltens auseinanderzusetzen.

Waldkindergärten beschränken sich in ihrer Betriebsform auf minimale Infrastruktur. Der Gebrauch von fließendem Wasser oder Strom ist in der Regel nicht vorgesehen. Kinder werden dadurch für einen wertschätzenden Umgang mit Ressourcen sensibilisiert.

2. Menschenbild und Bildungsverständnis in der Naturraumpädagogik

2.1 Naturraumpädagogik als Handlungskonzept

Im Mittelpunkt jedes frühpädagogischen Ansatzes steht das Kind. Das Bild vom Kind, das in einer Einrichtung vorherrscht, prägt die jeweilige pädagogische Ausrichtung. Jeder Erwachsene, der mit Kindern umgeht und mit ihnen Bildungsprozesse gestaltet, ist auf- und herausgefordert, sich Gedanken über das eigene Bild vom Kind zu machen. Die eigene Kindheit, persönliche Erfahrungen und Lebenshintergründe spielen dabei eine Rolle.

Pädagogische Teams haben die Aufgabe, sich über ihre Vorstellungen auszutauschen und sich über das Bild vom Kind zu verständigen, das in der Einrichtung von allen gelebt wird. Dass dieser Austausch kontinuierlich zu reflektieren ist, ergibt sich nicht nur durch personelle Veränderungen im Team, persönliche Weiterentwicklung und einen sich permanent erweiternden Erfahrungshorizont, sondern ist gleichsam eine pädagogische Pflicht.

Veränderte Kindheit

„Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist – Geborgenheit und Freiheit. Wir fühlten uns geborgen bei diesen Eltern, die einander so zugetan waren und stets Zeit für uns hatten, wenn wir sie brauchten, uns im Übrigen aber frei und unbeschwert auf dem wunderbaren Spielplatz, den wir in dem Näs unserer Kindheit besaßen, herumtollen ließen. Gewiss wurden wir in Zucht und Gottesfurcht erzogen, so wie es dazumal Sitte war, aber in unseren Spielen waren wir herrlich frei und nie überwacht. Und wir spielten und spielten und spielten, sodass es das reine Wunder war, daß wir uns nicht totgespielt haben. Wir kletterten wie die Affen auf Bäume und Dächer, wir sprangen auf Bretterstapel und Heuhaufen, daß uns die Eingeweide nur so wimmerten, wir krochen quer durch riesige Sägemehlhaufen, lebensgefährliche, unterirdische Gänge entlang, und wir schwammen im Fluss, lange bevor wir überhaupt schwimmen konnten“ (Lindgren 2004, S. 44 f.).

Astrid Lindgrens Schilderungen ihrer Kindheit machen deutlich, wie sehr sich seit damals die Lebenswirklichkeit von Kindern verändert hat. „Kinder wachsen heute in einer kulturell vielfältigen, sozial komplexen und hoch technisierten Welt auf, die beschleunigten Wandel aufweist“ (BayBEP 2013, S. 5). Sie haben es heute ungleich schwerer, sich selbst und die Natur intensiv zu erleben. Vor allem ihre Chancen auf spontane Spiele in der Natur und ihrem direkten Umfeld schwinden. Zum einen, weil häufig nahgelegene, natürliche Spielräume fehlen; zum anderen, weil Kinder durch Ganztagsbetreuung oder zahlreiche Aktivitäten in Vereinen, durch die Teilnahme an Förderangeboten und Freizeitkursen weniger Zeit finden, um ungezwungen und spontan draußen mit Freunden zu spielen. Die Freizeit der Kinder ist heute weitgehend verplant und von Erwachsenen vorstrukturiert.

Noch in der Generation heutiger Eltern war es möglich, sich als Kind das eigene Wohnumfeld meist zu Fuß in sich ständig erweiternden Radien zu erschließen. Heute wird die Lebenswelt der Kinder zu verinselten Erfahrungsräumen konstruiert. Diese sind meist für die Kinder nicht mehr eigenständig erreichbar und lassen kaum Zusammenhänge erkennen. Vergleicht man den Aktionsraum und die Bewegungsfreiheit von Kindern früherer Generationen wird deutlich, wie unselbstständig Kinder sich heute ihre Welt erschließen können und dürfen.

Auch die vielfältigen Angebote vorgefertigter Spielmaterialien schränken die Kreativität und das Sinneserleben ein. Der Forscherdrang und die Eigenwirksamkeit von Kindern werden in der Folge häufig gehemmt. Computer, Tablet, Smartphone und Fernseher haben im Kinderzimmer Einzug gehalten und ersetzen zunehmend fehlende Spielkameraden, Geschwisterkinder und vor allem Erfahrungen mit den Dingen aus erster Hand. Der Schwerpunkt kindlicher Förderung wird auf kognitive Leistungen gelegt. Das theoretische Wissen steht im Vordergrund, weil Eltern oft befürchten, dass ihre Kinder in der heutigen Wissensgesellschaft sonst nicht mithalten können. Leistungsdruck und Überforderung belasten deshalb oftmals bereits Kleinkinder (vgl. Miklitz 2020).

Kindheit findet immer weniger draußen statt. Sie wurde nach innen verlegt. Unsere veränderte Lebensweise zieht gesundheitliche, gesellschafts- und umweltpolitische Folgen nach sich. Vor allem der daraus resultierende Bewegungsmangel hat erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheit von Kindern, beeinträchtigt die körperliche wie psychische Leistungsfähigkeit und die Gehirnentwicklung.

Eine deutliche Zunahme folgender Erkrankungen im Kindesalter ist zu beobachten: Ungeschicklichkeit, feinmotorische Defizite, Übergewicht, Allergien, psychische und psychosomatische Störungen wie Rücken- und Kopfschmerzen, Verdauungsstörungen, Hyperaktivität, Gereiztheit, Aggression und Depressionen (vgl. Hurrelmann o. J.). Es fällt auf, dass immer weniger Kinder über ausreichend Fitness und Ausdauer verfügen. Es fehlt ihnen an Muskelkraft und Körperspannung. Viele Kinder weisen einen unsicheren Laufstil, eine eingeschränkte Fein- und Grobmotorik oder Schwierigkeiten in der Koordination auf. Die Zahl der Unfälle, die auf mangelnde Bewegungserfahrung zurückzuführen sind, nimmt stetig zu.

Der Natursoziologe Rainer Brämer (2010) untersuchte Auswirkungen der Naturentfremdung bei Kindern und Jugendlichen (vgl. Brämer et al. 2010). Seine Studien quittieren deutschen Kindern:

▶ ein defizitäres Naturverständnis und mangelnde Naturverbundenheit,

▶ ein geringes Umweltbewusstsein,

▶ mangelhafte Natur- und Artenkenntnisse,

▶ fehlendes Wissen um naturbezogene Zusammenhänge,

▶ fehlendes Wissen über forst- und landwirtschaftliche Nutzungsformen,

▶ einen Mangel im achtsamen Umgang mit Natur und Lebewesen und

▶ mangelndes Wissen und Beachtung von globalen, naturrelevanten Zusammenhängen.

Das Bild vom Kind in der Naturraumpädagogik

Naturraumpädagogik reagiert auf die veränderten Bedingungen für die Bildung und Entwicklung von Kindern. Es besteht die Grundüberzeugung, dass naturnahe, ganzheitliche Impulse in der heutigen Zeit Basis für eine starke, kreative und positive Entwicklung sind. Die Herausforderungen, vor die uns das Informationszeitalter stellt, werden sich nur mithilfe eines zukunftsweisenden Bewusstseins lösen lassen.

Kinder brauchen Möglichkeiten, die sie dabei unterstützen,

▶ auf ihre eigenen Fähigkeiten und die Fähigkeiten von anderen zu vertrauen,

▶ soziale Kompetenzen zu entwickeln,

▶ Visionen entwickeln zu können und Mut zu haben, diese umzusetzen,

▶ sich anpassungsfähig und flexibel zugleich zu verhalten.

Die Natur wirkt dabei wie ein Katalysator: Sie bietet eine Umgebung, die es jungen Persönlichkeiten ermöglicht, die eigenen Kompetenzen zu spüren. Dazu gehören erste Bindungserfahrungen ebenso wie das Erleben von Freiheit im Sinne einer möglichen Entscheidung entsprechend des Alters und der Situation sowie Sicherheit und Vertrauen. Daraus entstehen Handlungskompetenz und Stärke, um Verantwortung für sich selbst, das persönliche Umfeld, die Gesellschaft und die Umwelt zu übernehmen.

Folgende Überlegungen zeichnen den Hintergrund für das Bild vom Kind, wie es im Sinne der Naturraumpädagogik zur Basis pädagogischen Handelns wird:

 

Kinder …

▶ sind einzigartig

▶ sind kompetent von Anfang an

▶ haben eine individuelle Lernbiografie

„Die moderne Säuglingsforschung hat gezeigt, dass Neugeborene – lange vor dem Spracherwerb – sehr viel kompetenter sind als ursprünglich angenommen.“ (Haug-Schnabel 2020, S. 56). Der Säugling tritt von Anfang an in Interaktion mit seinem Umfeld. Er kommt bereits mit einem enormen Verhaltensrepertoire sowie mit einer schier unendlichen Lernkapazität auf die Welt – „vorausgesetzt, die ‚Umwelt‘ bietet die für einen Erfahrungsgewinn nötigen Sinneseindrücke liebevoll und angemessen“ (ebd.).

Jedes Kind unterscheidet sich durch seine Persönlichkeit und Individualität von anderen Kindern. Es bietet ein Spektrum einzigartiger Besonderheiten durch seine Anlagen, Stärken, Bedingungen des Aufwachsens, seine Eigenaktivitäten und sein Entwicklungstempo. Die kindliche Entwicklung ist ein vielschichtiger und individueller Prozess (vgl. BayBEP 2013).

Durch den hohen Anteil an Freispiel in naturraumpädagogischen Einrichtungen haben Kinder die Chance, sich stets ihrem Entwicklungsstand entsprechend ihre Umwelt zu erschließen. Sie sind somit Pioniere und Entdecker ihrer eigenen Bildungsgeschichte. Die Pädagoginnen und Pädagogen stehen in einer engen Bindung als Begleiter und Unterstützer zur Verfügung und versuchen, die Kinder weder zu über- noch zu unterfordern.

Kinder …

▶ sind aktive Gestalter ihrer eigenen Bildungs- und Entwicklungsprozesse

▶ sind neugierig und wissbegierig

▶ geben ihr Wissen gerne weiter

▶ haben ein Recht auf Teilhabe und Mitbestimmung

▶ sind bereit, Erwachsene an ihren Erlebnissen teilhaben zu lassen

Laut Schäfer (2004) kann ein Kind nicht nicht lernen. Das Lernen ist dabei ein aktiver Prozess, den das Kind durch sein Handeln selbst bestimmt und steuert. Entsprechend ist eine Einwirkung von außen kaum möglich (vgl. Spitzer 2007). Kinder haben einen inneren Antrieb, sich weiterzuentwickeln, dem sie mit immenser Ausdauer nachgehen. Ihr Drang, sich die Welt zu erschließen, erscheint schier unermüdlich.

Naturraumpädagoginnen und -pädagogen begegnen dem Kind als liebevolle und aufmerksame Begleiter und Impulsgeber. Kinder lieben die Aufmerksamkeit ihrer Bezugspersonen; ihre Achtsamkeit und Vorbildfunktion bieten ein Umfeld für aktives, gesundes Lernen. Der meist bessere Personalschlüssel in Waldkindergärten bietet hierfür optimale Bedingungen. Kinder haben in naturraumpädagogischen Einrichtungen ein verankertes Recht auf Beteiligung und Mitbestimmung bei ihrer Bildung und in allen sie betreffenden Entscheidungen. Ein offener, partnerschaftlicher und reflektierter Umgang prägt das erzieherische Verhalten. Kinder erfahren so, dass ihre Meinung zählt und ihre Ideen ernst genommen werden. Durch eine ko-konstruktive Bildungsgestaltung entwickeln sie sich zu gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten.

Kinder …

▶ sind nicht nachtragend

▶ sind sozial und empathisch

Gemeinsame Aktivitäten mit anderen sind für Kinder von großer Bedeutung. Ein kommunikativer Austausch ist wichtig, um eigene Emotionen, Sinn und Bedeutungen zu reflektieren. Kinder benötigen ein Gegenüber als Resonanz ihres Handelns. So lernen sie, eigenes Verhalten einzuschätzen, Erfolg und Misserfolg abzuwägen.

Im Austausch mit anderen Kindern und Erwachsenen konstruieren sie in naturraumpädagogischen Einrichtungen ihr Wissen und Können. Sie werden zu Gestaltern ihrer eigenen Bildungsprozesse, wenn sie gemeinsam Aufgaben bewältigen, Probleme lösen und sich über ihre Erfahrungen austauschen.

Durch die Reduktion der Spiel- und Beschäftigungsmaterialien im Wald sind Kinder stärker herausgefordert, in soziale Interaktionen zu treten. Fantasievoll genutztes Spielmaterial muss zum Beispiel im Rollenspiel für Spielpartner in seiner Verwendung kommuniziert werden. Rollenspiele an sich sind im Freispiel vorherrschende Spielformen.

Kinder …

▶ wollen ungestört spielen dürfen

▶ haben eigene Zeitrhythmen

▶ haben ein Recht auf Langeweile und Langsamkeit

Im Spiel stellen sich Kinder immer neuen Herausforderungen, verarbeiten Erlebtes, entdecken ihre Umwelt und üben soziale Fähigkeiten ein. In das eigene Spiel versinken zu können, ist Ausdruck höchster Lernkompetenz. Ungestört spielen zu dürfen, ist für Kinder so wichtig, wie für Erwachsene unabgelenkt und konzentriert arbeiten zu können. Wie oft reißen wir Kinder aus ihrem Spiel, weil wir selbst gehetzt sind von Terminen und einem übervollen Alltag? Der Moment des Innehaltens kommt in unserer schnelllebigen Zeit inzwischen meist viel zu kurz. Die Kinder sind Meister darin, uns diese neue, oft ersehnte Achtsamkeit wieder zu lehren. Langeweile, ein zu Unrecht eher negativ besetzter Begriff, stellt einen wichtigen Moment der Rückbesinnung und der Innenschau her. Zugleich ist das scheinbare Nichtstun der Motor für neue Ideen und Erfindungen.

Allein die Entdeckungen der Kinder am Wegesrand schulen in Wald- und Naturkindergärten auch den Blick von Erwachsenen, um das Augenmerk wieder auf die kleinen, vermeintlich unscheinbaren Dinge des Lebens lenken zu können. Geduld aufzubringen, wenn Kinder ihren Entdeckungen und Alltagstätigkeiten nachgehen wollen, ist Naturraumpädagoginnen und -pädagogen wichtig, um die Selbstständigkeit der Kinder zu fördern. In naturraumpädagogischen Einrichtungen werden spontane Situationen und Herausforderungen achtsam als Lernchancen wahrgenommen und genutzt. Sie haben Vorrang vor geplanten Aktivitäten bzw. sind Auslöser dafür.

Das Recht auf Langsamkeit und Langeweile wird im Waldkindergarten hochgehalten, um die Selbsttätigkeit und Eigenmotivation der Heranwachsenden zu stärken. Wenn Kindern langweilig ist, können Naturraumpädagoginnen und -pädagogen entstehende Pausen gut aushalten und fühlen sich nicht gleich in der Pflicht, Ideengeber oder Animateur zu sein.

Kinder …

▶ brauchen Sicherheit und Orientierung

▶ lieben Rituale