Handlungsfelder und Adressierungen der Sozialen Arbeit -  - E-Book

Handlungsfelder und Adressierungen der Sozialen Arbeit E-Book

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Beschreibung

Die Handlungsfelder Sozialer Arbeit zu systematisieren ist nicht voraussetzungslos; aufgrund weitgehender Differenzierungen in der Praxis sind eine Gesamtübersicht sowie eine trennscharfe Benennung und Zuordnung kaum mehr möglich. Diese Entwicklungen berücksichtigt das Buch, indem es die bisherigen lebensalter- und lebenslagenbezogenen Systematisierungen um lebensraum- und lebenskontextbezogene sowie um disziplin- und professionsbezogene Handlungsfelder erweitert. Gemeinsamer Referenzpunkt der Beiträge ist die Frage der Adressierung unter emanzipatorischer Perspektive. Dabei orientieren sich die Darstellungen der Handlungsfelder an der Selbstbestimmung und Teilhabe der Adressatinnen und Adressaten, ohne deren gesellschaftliche und strukturelle Begrenzungen aus dem Blick zu verlieren. In welcher Weise Begründungen und Fragen der Adressierung in den jeweiligen Handlungsfeldern verhandelt werden, beleuchten die einzelnen Beiträge handlungsfeldspezifisch und ermöglichen damit eine neue Betrachtungsweise der vielfältigen Praxiskontexte Sozialer Arbeit. Auf diese Weise entsteht eine besondere Einführung in die Soziale Arbeit: eine umfassende, aktuelle und systematische Darstellung der Handlungsfelder mit Fokus auf das grundlegende emanzipatorische Ziel Sozialer Arbeit - die Förderung von Teilhabe und Selbstbestimmung ihrer Adressatinnen und Adressaten.

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Die Herausgeber:innen

Prof. Dr. phil. Anne van Rießen vertritt an der Hochschule Düsseldorf das Fachgebiet Methoden Sozialer Arbeit und ist Co-Leiterin der Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und -entwicklung. Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind Partizipation und Demokratisierung Sozialer Arbeit, Nutzer:innenforschung, Sozialraumbezogene Soziale Arbeit sowie interdisziplinäre Stadtentwicklung.

 

Prof. Dr. phil. Christian Bleck vertritt an der Hochschule Düsseldorf das Fachgebiet Wissenschaft Soziale Arbeit. Seine Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind Grundlagen Sozialer Arbeit mit alten Menschen, Konzepte der Sozialraumorientierung und Teilhabeförderung in der Altenhilfe, Sozialräumliche Handlungsforschung, Evaluations- und Wirkungsforschung in der Sozialen Arbeit.

Anne van Rießen, Christian Bleck (Hrsg.)

Handlungsfelder und Adressierungen der Sozialen Arbeit

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-039846-7

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-039847-4

epub:   ISBN 978-3-17-039848-1

Inhalt

 

 

 

1     Alles eine Frage der Perspektive? Handlungsfelder und Adressierungen Sozialer Arbeit – zur Einführung

Anne van Rießen & Christian Bleck

I   Lebensphasenbezogene Handlungsfelder

2   Kindheit und Familie

2.1   Beratung bei familiären Pflege- und Sorgearbeiten

Marc Weinhardt

2.2   Frühe Hilfen und Familienbildung

Michaela Hopf & Katja Gramelt

2.3   Kindertageseinrichtungen und Kindertagesbetreuung

Katja Gramelt & Michaela Hopf

2.4   Kinderschutz

Kathinka Beckmann

2.5   Hilfen zur Erziehung und sozialpädagogische Familienhilfe

Matthias Müller

2.6   Pflegekinderhilfe und Adoption

Samuel Keller & Daniela Reimer

2.7   Heimerziehung

Zoë Clark, Fabian Fritz & Tilman Lutz

2.8   Leaving Care – Übergänge aus stationären Erziehungshilfen ins Erwachsenleben

Severine Thomas

3   Jugend

3.1   Ganztagsschule

Katharina Gosse

3.2   Schulsozialarbeit

Kathrin Aghamiri

3.3   Offene Kinder- und Jugendarbeit

Ulrich Deinet & Jens Pothmann

3.4   Jugendverbandsarbeit

Wibke Riekmann

3.5   Jugendsozialarbeit

Ruth Enggruber

4   Alter(n)

4.1   Offene Altenhilfe

Marina Vukoman

4.2   Beratung im Hinblick auf Unterstützung im Alter und zur Pflege

Kathrin Bieler

4.3   Ambulante, teilstationäre und stationäre Altenhilfe

Christian Bleck

4.4   Hospiz und Palliative Care

Falko Müller

II   Lebenslagenbezogene Handlungsfelder

5   Armut

5.1   Sozialberatung

Harald Ansen

5.2   Soziale Schuldenberatung

Kerstin Herzog

6   Behinderung

6.1   Beratung und Unterstützung für Menschen mit Behinderung und deren Vertrauenspersonen

Harry Fuchs

6.2   Ambulante und stationäre Betreuung und Begleitung im Alltag für Menschen mit Behinderungen

Benjamin Freese

6.3   Eingliederungshilfe – Schwerpunkt: Teilhabeförderung von Menschen mit psychischen Erkrankungen

Dieter Röh

6.4   Teilhabe an Erwerbsarbeit

Mario Schreiner

7   Delinquenz

7.1   Jugendarrest und Jugendvollzug

Lisa Schneider, Annika Krause & Anne Kaplan

7.2   Jugendhilfe im Strafverfahren

Stephanie Ernst & Annemarie Schmoll

7.3   Erwachsenenstrafvollzug

Johannes Lohner & Willi Pecher

7.4   Bewährungshilfe

Christian Ghanem & Gabriele Grote-Kux

7.5   Opferhilfe: Fachberatung und Zeug:innenbegleitung

Jutta Hartmann & Rosmarie Priet

7.6   Psychosoziale Prozessbegleitung

Gaby Temme

8   Drogen und Sucht

8.1   Prävention und Suchtvorbeugung

Frank Schulte-Derne

8.2   Beratung suchterfahrener Menschen

Rebekka Streck

8.3   Niedrigschwellige, lebensweltunterstützende, akzeptierende Drogenarbeit

Rebekka Streck & Ursula Unterkofler

9   Erwerbsarbeit

9.1   Soziale Arbeit im Betrieb

Kerstin Herzog

9.2   Erwerbslosigkeit

Christoph Gille & Thomas Münch

10   Gender und Sexualities

10.1   Mädchen* und Frauen*

Linda Kagerbauer

10.2   Jungen und Männer

Christoph Blomberg

10.3   Queer

Christoph Gille, Katharina Mangold & Kim Alexandra Trau

10.4   Sexuelle Bildung

Eva Kubitza & Maika Böhm

10.5   Sexarbeit/Prostitution

Claudia Steckelberg & Nanne Mieritz

10.6   Geschlechterspezifische digitale Gewalt

Nivedita Prasad

11   Gesundheit und Krankheit

11.1   Gesundheitsbezogene Soziale Arbeit im Sozialwesen

Anna Lena Rademaker

11.2   Soziale Arbeit im Gesundheitswesen

Stephan Dettmers

11.3   Klinische Sozialarbeit

Christine Kröger, Helmut Pauls & Silke Birgitta Gahleitner

III   Lebensraum- und lebenskontextbezogene Handlungsfelder

12   Demokratie

12.1   (Politische) Bildung

Stefan Schäfer

12.2   Nachhaltigkeit und Bildung für nachhaltige Entwicklung

Constanze Berndt & Eric Mührel

12.3   Diskriminierung

Gökçen Yüksel

12.4   Radikalisierung(sprävention)

Michaela Köttig

12.5   Rechtsextremismus

Fabian Virchow

13   Kultur, Ästhetik und Medien

13.1   Bildende Kunst

Birgit Dorner

13.2   Musik

Marion Gerards & Elke Josties

13.3   Theater

Johanna Kaiser

13.4   Soziokultur

Jochen Molck

13.5   Medienpädagogik

Stefanie Henke

13.6   Sportsozialarbeit

Birgit Steffens, Julie Kunsmann & Heiko Löwenstein

14   Migration, Flucht und Rassismuskritik

14.1   Rassismus und Rassismuskritik in der Sozialen Arbeit

Birgit Jagusch

14.2   Soziale Arbeit in Sammelunterkünften für Geflüchtete

Sebastian Muy

15   Sozialer Raum

15.1   Gemeinwesenarbeit

Michael May

15.2   Stadtteilarbeit und Quartiersmanagement

Anne van Rießen & Reinhold Knopp

15.3   Transnationaler Sozialraum

Sebastian Kurtenbach & Katrin Rosenberger

15.4   Digitale Räume

Michael Fehlau

16   Wohnen

16.1   Prävention – Beratung zur Vermeidung von Wohnungsnotfällen

Kai Hauprich

16.2   Notversorgung wohnungsloser Menschen

Katja Maar

16.3   Unterstützung im Wohnraum

Daniel Niebauer

17   Zivilgesellschaft

17.1   Zivilgesellschaftliches Engagement

Katja Jepkens & Anne van Rießen

17.2   Selbstorganisation und Selbsthilfe

Michael May

IV   Disziplin- und professionsbezogene Handlungsfelder

18   Entwicklung und Professionalisierung

18.1   Aus- und Weiterbildung

Jörgen Schulze-Krüdener

18.2   Supervision

Gertrud Siller

19   Forschung, Evaluation und Planung

19.1   Forschung

Armin Schneider

19.2   Evaluation

Bettina Müller & Susanne Zeller

19.3   Sozialberichterstattung und Sozialplanung

Marcus Hußmann

20   Politik

20.1   Individuelle und organisatorische Selbstvertretung

Michael Leinenbach

20.2   Protest

Christiane Leidinger

20.3   Politisches Handeln und Soziallobbying

Sigrid Leitner, Stefan Schäfer & Simone Leiber

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Autor:innenverzeichnis

1          Alles eine Frage der Perspektive? Handlungsfelder und Adressierungen Sozialer Arbeit – zur Einführung

Anne van Rießen & Christian Bleck

Zweifelsohne ist eine Systematisierung der Handlungsfelder Sozialer Arbeit nicht voraussetzungslos. Bereits vor gut 20 Jahren konstatierten Karl August Chassé und Hans Jürgen von Wensierski in dem einführenden Herausgeberwerk zu Praxisfeldern Sozialer Arbeit, dass der Versuch einer konsistenten Gliederung der ausdifferenzierten und vielfältigen Handlungsfelder Sozialer Arbeit »dem Bemühen des Sisyphos« gleiche (Chassé & von Wensierski 1999, 13)1. Ob diese Mühen bei fortbestehenden Uneindeutigkeiten, die mit Differenzierungsversuchen von Handlungsfeldern Sozialer Arbeit einhergehen, »Teil des Spezifikums Sozialer Arbeit« sind (Schilling & Klus 2015, 210), lässt sich dabei nur vermuten. Trotz all dieser offenkundigen Unübersichtlichkeiten in der Profession Soziale Arbeit und den damit verbundenen Herausforderungen für mögliche Sortierungsoptionen legen wir mit diesem Band eine weitere Systematisierung der Handlungsfelder Sozialer Arbeit vor, die zugleich die Adressierung der Inanspruchnehmenden fokussiert, obwohl wir fraglos auch nicht von der Existenz einer finalen Antwort ausgehen. Doch – frei nach der Band Die Sterne (1999): »Es hat keinen Sinn zu warten, bis es besser würde: Das bisschen besser wär’ das Warten nicht wert«.

Blickt man zurück, so lassen sich historisch (1) Angebote, die für die Betreuung, Erziehung und Versorgung von Kindern und Jugendlichen innerhalb und außerhalb der Familien, (2) Kleinstkinderschulen und Bewahranstalten für Kinder und Jugendliche erwerbstätiger Eltern, (3) das Feld der Armen- und Gesundheitsfürsorge sowie (4) die Jugendpflege und -fürsorge als zentrale Handlungsfelder Sozialer Arbeit rekonstruieren (Schweppe 2015, 123; Thole 2010, 23 f). Sie strukturieren sich um klassische Ungleichheitsrelationen, die Ausgangspunkte der sozialen Frage und damit Gegenstand Sozialer Arbeit sind: Lebensaltersbezogene Ungleichheiten zwischen Erwachsenen und Noch-Nicht-Erwachsenen in der Spannung von Unmündigkeit versus Autonomie verbunden mit Fragen des Aufwachsens, der Bildung und der Sozialisation sowie lebenslagenbezogene Ungleichheiten in der Spannung zwischen Teilhabe versus Ausgrenzung, Herstellung von Partizipationsfähigkeit, Partizipation versus Ausschluss-von-Partizipation verbunden mit Fragen nach Strukturen, Ressourcen und Kompetenzen, um Leben zu gestalten und zu bewältigen (vgl. Thole et al. 2017; Schweppe 2015; Stimmer 2012).

Spätestens seit den 1960er Jahren kann man jedoch von einer erheblichen Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung der Handlungsfelder Sozialer Arbeit sprechen: Insbesondere die Sozialpädagogisierung der Lebensalter, eine adressat:innenbezogenen Ausdifferenzierung, die Entstehung und Ausweitung neuer Problemlagen durch gesellschaftliche Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse sowie die Spezialisierung und Erschließung neuer Arbeitsfelder (Schweppe 2015, 123) haben zu einer »sehr differenzierte[n] berufliche[n] Landschaft« (Schilling & Klus 2015, 207) der Sozialen Arbeit geführt. Damit umfassen Handlungsfelder der Sozialen Arbeit gegenwärtig im Hinblick auf das Lebensalter Personengruppen von Kleinstkindern bis hin zu Hochaltrigen und im Hinblick auf die Lebenslagen umspannen sie spezifische soziale Notlagen bis hin zu allgemeinen Problemlagen der Lebensgestaltung und -bewältigung (Schweppe 2015, 124). Besonders expandieren Aufgaben Sozialer Arbeit im Bereich der Frühen Hilfen, des Kinderschutzes, der Schulsozialarbeit aber anteilig auch in der Altenarbeit sowie in der Kooperation und Vernetzung im sozialen Raum zwischen Sozialer Arbeit und zivilgesellschaftlichen Akteur:innen (Thiersch 2013, 205). Mit der Ausdifferenzierung der Handlungsfelder und der Zunahme an Aufgaben hat auch die Anzahl der Fachkräfte Sozialer Arbeit erheblich zugenommen.

Mit diesen historisch gewachsenen, rechtlich und/oder professionell begründeten sowie wissenschaftlich gerahmten Ausdifferenzierungen von Handlungsfeldern Sozialer Arbeit gehen unvermeidlich Adressierungen einher. Einerseits sind diese bereits in den Bezeichnungen von Handlungsfeldern Sozialer Arbeit sowie in den Unterscheidungen, die zwischen ihnen vorgenommen werden, mehr oder minder konkret eingelassen. Andererseits erfolgen innerhalb der Handlungsfelder auf jeweils institutioneller und personaler Ebene spezifische Adressierungen von Menschen und Menschengruppen durch die Soziale Arbeit – wenngleich nicht nur durch sie. Wenn Adressierungen hierbei als soziale Konstruktionsprozesse verstanden werden, über die Menschen zu Adressat:innen Sozialer Arbeit werden, dann sind die Handlungsfelder jeweils als Terrains sozialer Praxen zu begreifen, in denen »die Konstitution und Konstruktion von Adressat_innen als hochkomplexer Prozess erfolgt« (Bitzan & Bolay 2016, 15). Dementsprechend werden in dem vorliegenden Band nicht nur Handlungsfelder einführend beschrieben, sondern auch dort vorfindbare Adressierungen beleuchtet, die dafür sensibilisieren können, wer in den jeweiligen Handlungsfeldern unter welchen Voraussetzungen als »hilfe- oder unterstützungsbedürftig markiert« wird und damit erst »in den Geltungsbereich der Sozialen Arbeit« gelangt (ebd., 73).

Daran anknüpfend haben wir zudem vorgeschlagen, die Funktionen und Aufgaben Sozialer Arbeit im jeweiligen Handlungsfeld aus einer emanzipatorischen Perspektive zu beleuchten und somit die Selbstbestimmung und Teilhabe von Inanspruchnehmenden der Angebote Sozialer Arbeit zu fokussieren. Eine emanzipatorische Perspektive als Reflexionsfolie ermöglicht es u. E. nicht nur die Situationen der Einzelnen, sondern insbesondere auch die strukturellen und gesellschaftlichen Begrenzungen und Barrieren mit in den Blick zu nehmen, und diese daraufhin zu befragen, ob und inwieweit diese ursächlich sind, gesellschaftliche Teilhabe zu begrenzen und zu verhindern und soziale Probleme somit nicht weiterhin zu individualisieren und zu pädagogisieren (vgl. bspw. Schaarschuch 1999; van Rießen 2016). Aus einer solchen Perspektive ist der normative Bezugspunkt Sozialer Arbeit die Autonomie und umfassende Partizipation der Inanspruchnehmenden (vgl. Schaarschuch 1995; s. a. die Internationale Definition Sozialer Arbeit: DBSH 2016). Damit zielt sie zwar weiterhin mittels pädagogischer Inventionen darauf ab, die Besonderheit des ›Falls‹ mit der Generalität der Bezugsnorm auszutarieren, ihr normativer Bezugspunkt ist so auch die »Gewährleistung gesellschaftlicher ›Normalzustände‹« (Offe 1987, 174, Herv. i. O.) und somit die Regulierung und Gestaltung von Lebensführungsweisen, die als sozial problematisch oder potenziell sozial problematisch markiert werden (Kessl 2013). Gleichsam findet jedoch so Beachtung, dass das, was als ›sozial problematisch‹ oder ›normal‹ gilt, stets in den konkreten historischen gesellschaftlichen Bedingungen und Verhältnissen entschieden wird. Damit werden einseitige Zuschreibungen verhindert und der Blick dafür geöffnet, was es gebraucht, damit gesellschaftliche Teilhabe überhaupt möglich wird und auch was in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontexten Teilhabe behindert und begrenzt.

Gleichsam geraten so aber auch die Adressat:innen selbst als aktiv Handelnde in den Blick und es wird deutlich, dass nicht die Institutionen und die Programme Sozialer Arbeit, sondern die Menschen diejenigen sind, die ihre individuelle Wohlfahrt selbst erzeugen (vgl. Gille 2019) – sei es dienstleistungstheoretisch begründet als eigentliche Produzent:innen der sozialen Dienstleistungen (Oelerich & Schaarschuch 2013) oder gesellschaftstheoretisch begründet durch die Arbeitsweise am Sozialen, die innerhalb und in Widerspruch zu hegemonialen Produktionsweisen realisiert werden muss (Bareis & Cremer-Schäfer 2013). Die damit in der Disziplin Sozialer Arbeit einhergehende zunehmende Forderung nach einer neuerlichen kritischen Reflexivität gegenüber der (Sozial-)Politik in Anbetracht des Auseinanderdriftens sozialer Ungleichheiten, der neoliberalen Aktivierungs- und Effektivierungspolitiken gegenüber Adressat:innen Sozialer Arbeit sowie der Deprofessionalisierungs- und Umbautendenzen in der Sozialen Arbeit selbst (Bütow, Chassé & Lindner 2014, 8) findet so entsprechend Berücksichtigung.

Dabei knüpfen wir in der Systematisierung der Handlungsfelder an das bestehende Schema von Franz Stimmer (2012) an und bündeln dieses entsprechend nach (1) lebenslagen- und (2) lebensaltersbezogenen Handlungsfeldern. Diese Systematisierung haben wir jedoch um zwei weitere Dimensionen erweitert: (3) den lebensraum- und lebenskontextbezogenen Handlungsfeldern sowie (4) jenen Handlungsfeldern, die sich auf die Disziplin und Profession Sozialer Arbeit beziehen.

Die Systematisierung der Handlungsfelder Sozialer Arbeit in lebenslagen- und lebensaltersbezogenen Handlungsfelder lässt sich historisch darauf zurückführen, dass der Terminus Soziale Arbeit als Oberbegriff auf sozialpädagogisches und sozialarbeiterisches Handeln verweist (Kreft & Mielenz 2008). Pointiert ließe sich formulieren, dass die zentralen Handlungsfelder der Sozialpädagogik primär entlang eines (sozial-)pädagogischen Generationsverhältnisses nach Lebensaltern systematisiert wurden, während die originären Handlungsfelder der Sozialarbeit eine Differenzierung nach Lebenslagen mit den zentralen Handlungsformen ›Hilfe und Unterstützung‹ erfuhren. Diese historische Benennung und Zuordnung anhand eines adressierten Subjektstatus ist somit heute noch analytisch immanent und prägend in der Differenzierung der Handlungsfelder. Dahingegen verstehen wir lebensraum- und lebenskontextbezogene Handlungsfelder explizit nicht subjektzentriert, sondern als eine räumliche und gesellschaftliche Kontextualisierung der lebenslagenbezogenen und lebensaltersbezogenen Handlungsfelder, denen wir insbesondere daher eine eigene Dimension einräumen, da sie primär nicht die einzelnen Adressat:innen selbst in den Fokus rücken, sondern die Bedingungen und Gegebenheiten, die räumlich und gesellschaftlich dazu führen, zu partizipieren und selbstbestimmt leben zu können. Mit jenen Handlungsfeldern, die sich auf die Disziplin und Profession Sozialer Arbeit beziehen, sind letztlich jene gemeint, die Rahmenbedingungen und -setzungen für die Soziale Arbeit (auch in den anderen Handlungsfeldern) analysieren, entwickeln oder einbringen, die so u. E. auch in das zentrale Professions- und Disziplinprofil Sozialer Arbeit passen.

Der Aufbau des Bandes beginnt mit der Darstellung der lebensphasenbezogenen Handlungsfelder. Im Kontext dieser ersten Differenzierung werden jene Handlungsfelder dargestellt, die primär den Lebensphasen Kindheit und Familie, Jugend sowie Alter(n) zugeordnet werden können. Im Weiteren erfolgt die Darstellung der lebenslagenbezogenen Handlungsfelder. Diese sind untergegliedert in die Lebenslagen Armut, Behinderung, Delinquenz, Drogen und Sucht, Erwerbsarbeit, Gender und Sexualities sowie Gesundheit und Krankheit. Anschließend erfolgen die lebensraum- und lebenskontextbezogenen Handlungsfelder, in denen jene Handlungsfelder dargestellt werden, die sich primär innerhalb der Lebensräume und -kontexte Demokratie, Kultur, Ästhetik und Medien, Migration, Flucht und Rassismuskritik, Sozialer Raum, Wohnen sowie Zivilgesellschaft verordnen lassen. Abschließend haben wir die disziplin- und professionsbezogenen Handlungsfelder aufgeführt. Diese sind differenziert in Entwicklung und Professionalisierung, Forschung, Evaluation und Planung sowie Politik. Ausgehend von dieser Darstellung haben wir im Weitern den Fokus auf Handlungsfelder gelegt, die u. E. erstens eine solche Perspektive bedienen und/oder zweitens das Kriterium erfüllen, dass es sich um »öffentlich organisierte, soziale, unterstützende beziehungsweise pädagogische Hilfen und Dienste zur sozialen Lebensbewältigung oder Bildung« (Thole 2010, 26) handelt.

Innerhalb der Darstellung der einzelnen Handlungsfelder liegt der Schwerpunkt neben der Beschreibung der Geschichte und der strukturellen Gründe für die Entstehung des Handlungsfelds – wie bereits begründet – auch auf der spezifischen Adressierung der Teilnehmenden und damit verbundenen zugeschriebenen Problemlagen. Davon ausgehend werden aus einer emanzipatorischen Perspektive die spezifischen Aufgaben und Funktionen Sozialer Arbeit, im Hinblick auf umfassende Teilhabe und Selbstbestimmung der Inanspruchnehmenden fokussiert.

Diese unsere theoretische Vorstellung von der Systematisierung und der Darstellung des Bandes und der einzelnen Beiträge, geht in der Praxis der Umsetzung des Bandes mit einigen Herausforderungen, aber auch mit Chancen, einher. So liegt die Herausforderung erstens in der Zuordnung und Systematisierung der Handlungsfelder zu den entsprechenden Kategorien. Wir sind uns dieser Uneindeutigkeiten und Ambivalenzen bewusst, denn die jeweils einzelnen Handlungsfelder lassen sich verschiedenen Kategorien zuordnen. Wir haben jeweils die Unter- und Entscheidung getroffen, zu welcher Kategorie die einzelnen Handlungsfelder primär mehr Verknüpfungen enthalten. Dies ist analytisch weder trennscharf noch stets eindeutig. Zweitens erfolgt dadurch in den einzelnen Beiträgen insbesondere die Darstellung der Adressierung der Inanspruchnehmenden sehr different und macht deutlich, was in den jeweiligen Handlungsfeldern in den Vordergrund gestellt werden kann, wie die Entstehung der sozialen Probleme dargestellt und begründet werden und welche Funktion und Aufgaben so Sozialer Arbeit zugeschrieben werden. Diese Differenzierungen machen noch einmal bewusst, dass die Trennung innerhalb der Systematisierung nicht immer analytisch eindeutig ist und die Ursachen, die dazu führen, dass jemand Angebote Sozialer Arbeit in Anspruch nimmt bzw. nehmen muss, neben erstens dem Blick auf die gesellschaftlichen und strukturellen Ursachen auch zweitens eine Verknüpfung von gesellschaftlichen, strukturellen und subjektiven Dimensionen zugrunde liegt. Diese Fokussierung der Verknüpfung und die damit einhergehende Gewichtung der einzelnen Dimensionen unterscheidet sich in den Beiträgen. Damit einhergehend werden drittens auch unterschiedliche Begrifflichkeiten für die Inanspruchnehmenden genutzt und davon ausgehend auch die damit einhergehenden Adressierungen jener sehr deutlich. Wir haben diese Uneindeutigkeiten an dieser Stelle bewusst nicht vereinheitlicht, denn so wird nicht nur tendenziell die Konstruktion sozialer Probleme in den verschiedenen Handlungsfeldern sichtlich, sondern auch die spezifische oder allgemeine Adressierung.

Neben diesen Herausforderungen und Differenzierungen werden aber auch Gemeinsamkeiten erkennbar: So wird insbesondere in der Darstellung der Geschichte der jeweiligen Handlungsfelder nochmal spezifisch, aber auch verallgemeinernd deutlich, dass ein veränderter gesellschaftlicher Kontext einerseits zu veränderten sozialen Problemlagen führt, andererseits auch die Ausrichtung der einzelnen Handlungsfelder selbst beeinflusst. Damit einhergehend wird unverkennbar, dass die Geschichte und Entwicklung der jeweiligen Handlungsfelder nicht unabhängig von den historisch-gesellschaftlichen Bedingungen und Verhältnissen betrachtet werden können: Denn erst durch die Kontextualisierung wird deutlich, dass die Zielstellungen oder das was als soziales Problem definiert wird, stets auf gesellschaftliche Bedingungen und Verhältnisse reagiert. Insofern ist die Konstruktion des sozialen Problems nicht ohne die Analyse gesellschaftlicher Kontexte zu verstehen. Darüber hinaus ermöglicht erst diese Analyse die Aufdeckung von gesellschaftlichen Konstruktionen und damit einhergehenden Herrschaftsverhältnissen. Denn, und dies zeigen die Beiträge deutlich: individuell zugeschriebene Probleme werden von den Inanspruchnehmenden als Individualbelastungen und somit als privates Verschulden erlebt und häufig im Weiteren tabuisiert. Ob es in den Handlungsfeldern gelingt – oder überhaupt als Aufgabe und Funktion betrachtet wird – diese Individualisierung und Pädagogisierung strukturell verursachter Probleme zu begegnen, erfolgt wiederum in der Darstellung der Handlungsfelder sehr different.

Abschließend möchten wir uns herzlich als Herausgeber:innen bedanken: Zuallererst gilt unser großer und herzlicher Dank allen Autor:innen, die sich mit großem Interesse und Engagement auf dieses Projekt eingelassen haben. Der Inhalt dieses Herausgeber:innenbandes ist letztlich primär durch ihre jeweiligen Expertisen geprägt, die eben damit auch die Differenzierungen, Uneindeutigkeiten und Ambivalenzen in den verschiedenen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit deutlich machen. Ausdrücklich bedanken möchten wir uns schließlich bei unserer Lektorin Dr. Elisabeth Häge vom Kohlhammer Verlag, die mit der Anfrage nach der Konzeptionierung eines solchen Bandes nicht nur zuerst unsere Motivation geweckt, sondern uns auch auf der ›langen Strecke‹ mit viel Vertrauen begleitet hat. Insofern hat die Herausgabe dieses Bandes auch für uns einen wichtigen Lernprozess eröffnet und dazu geführt, den Versuch einer Systematisierung zu wagen, der hoffentlich eine Grundlage zu weiterführenden Diskussionen in Disziplin und Profession Sozialer Arbeit bildet. Wir jedenfalls würden uns freuen.

Literatur

Bareis, Ellen & Cremer-Schäfer, Helga (2013): Empirische Alltagsforschung als Kritik. Grundlagen der Forschungsperspektive der »Wohlfahrtsproduktion von unten«. In: Graßhoff, Gunther (Hrsg.): Adressaten, Nutzer, Agency. Akteursbezogene Forschungsperspektiven in der Sozialen Arbeit (139–159). Wiesbaden: Springer VS.

Bieker, Rudolf & Niemeyer, Heike (Hrsg.) (2022): Träger, Arbeitsfelder und Zielgruppen der Sozialen Arbeit (2. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.

Bitzan, Maria & Bolay, Eberhard (2017): Soziale Arbeit – die Adressatinnen und Adressaten. Opladen u. a.: Budrich.

Bütow, Birgit, Chassé, Karl August & Linder, Werner. (Hrsg.) (2014): Das Politische im Sozialen. Historische Linien und aktuelle Herausforderungen der Sozialen Arbeit. Opladen: Budrich.

Chassé, Karl August & von Wensierski, Hans-Jürgen (Hrsg.) (1999): Praxisfelder der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Weinheim/München: Beltz.

DBSH (2016): Deutschsprachige Definition Sozialer Arbeit des Fachbereichstag Soziale Arbeit und DBSH. Unter: https://www.dbsh.de/media/dbsh-www/redaktionell/bilmeder/Profession/20161114_Dt_Def_Sozialer_Arbeit_FBTS_DBSH_01.pdf, Zugriff am 12.11.2021.

Gille, Christoph (2019): Junge Erwerbslose in Spanien und Deutschland. Alltag und Handlungsfähigkeit in wohlfahrtskapitalistischen Regimen. Wiesbaden: Springer VS.

Graßhoff, Gunther, Renker, Anne & Schröer, Wolfgang (Hrsg.) (2018): Soziale Arbeit. Eine elementare Einführung. Wiesbaden: Springer VS.

Farrenberg, Dominik & Schulz, Marc (2020): Handlungsfelder Sozialer Arbeit. Eine systematisierende Einführung. Weinheim/Basel: Beltz.

Heiner, Maja (2010): Soziale Arbeit als Beruf. Fälle-Felder-Fähigkeiten (2. Aufl.). München/Basel: Reinhardt.

Kessl, Fabian (2013): Soziale Arbeit in der Transformation des Sozialen. Eine Ortsbestimmung. Wiesbaden: Springer VS.

Kreft, Dieter & Mielenz, Ingrid (Hrsg.) (2008): Wörterbuch Soziale Arbeit. Aufgaben, Praxisfelder, Begriffe und Methoden der Sozialarbeit und Sozialpädagogik (6., überarb. u. akt. Aufl.). Weinheim/München: Beltz.

Müller, C. Wolfgang (Hrsg.) (1995): Einführung in die Soziale Arbeit (4. Aufl.). Weinheim/Basel: Beltz.

Oelerich, Gertrud & Schaarschuch, Andreas (2013): Sozialpädagogische Nutzerforschung. In: Graßhoff, Gunther (Hrsg.): Adressaten, Nutzer, Agency. Akteursbezogene Forschungsperspektiven in der Sozialen Arbeit (85–98). Wiesbaden: Springer.

Offe, Claus (1987): Das Wachstum der Dienstleistungsgesellschaft: Vier soziologische Erklärungsansätze. In: Olk, Thomas & Otto, Hans-Uwe (Hrsg.): Soziale Dienste im Wandel 1. Helfen im Sozialstaat (171–198). Neuwied/Darmstadt: Luchterhand.

Schaarschuch, Andreas (1995): Spaltung der Gesellschaft und soziale Bürgerrechte. In: Widersprüche, Jahrgang 15 (54), 47–59.

Schaarschuch, Andreas (1999): Theoretische Grundelemente Sozialer Arbeit als Dienstleistung. Ein analytischer Zugang zur Neuorientierung Sozialer Arbeit als Dienstleistung. In: neue praxis 29 (6), 543–560.

Schilling, Johannes & Klus, Sebastian (2015): Soziale Arbeit. Geschichte – Theorie – Profession (6., vollst. überarb. Aufl.). München/Basel: Reinhardt.

Schweppe, Cornelia (2015): Handlungsfeder der Sozialpädagogik. In: Thole, Werner, Höblich, Davina & Ahmed, Sarina (Hrsg.): Taschenwörterbuch Soziale Arbeit (2. Aufl.). Bad Heilbrunn.

Stimmer, Franz (2012): Grundlagen des methodisches Handelns in der Sozialen Arbeit (3., überarb. u. erw. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.

Thiersch, Hans (2013): Soziale Arbeit in den Herausforderungen des Neoliberalismus und der Entgrenzung von Lebensverhältnissen. neue praxis 43 (3), 215–219.

Thole, Werner (Hrsg.) (2010): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch (3., überarb. u. erw. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS.

Thole, Werner, Kessl, Fabian, Kruse, Elke & Stövesand, Sabine (2017): Soziale Arbeit: Kernthemen und Problemfelder. In: Kessl, Fabian, Kruse, Elke, Stövesand, Sabine & Thole, Werner (Hrsg.): Soziale Arbeit – Kernthemen und Problemfelder (7–13). Opladen/Toronto: Budrich.

van Rießen, Anne (2016): Zum Nutzen Sozialer Arbeit. Theaterpädagogische Maßnahmen im Übergang zwischen Schule und Erwerbsarbeit. Wiesbaden: Springer VS.

Wendt, Peter-Ulrich (2018): Lehrbuch Soziale Arbeit. Weinheim/Basel: Beltz.

1     Vgl. für weitere Systematisierungen Farrenberg & Schulz 2020; Graßhoff, Renker & Schröer 2018; Wendt 2018; Bieker & Niemeyer 2022; Heiner 2010; Thole 2010; Chassé & von Wensierski 1999; Müller 1995.

I           Lebensphasenbezogene Handlungsfelder

2          Kindheit und Familie

2.1       Beratung bei familiären Pflege- und Sorgearbeiten

Marc Weinhardt

Familie wird in diesem Beitrag als Ort verstanden, an dem unterschiedliche Pflege- und Sorgearbeiten stattfinden, die Beratungsanlässe für die Soziale Arbeit generieren können, wenn dabei Fragen auftauchen oder innerfamiliäre Bewältigungsressourcen nicht ausreichen. Zwei Merkmale von Familie sind für den vorliegenden Text dabei zentral: Familie ist zunächst ein generationaler Ort, in der die Eltern-Kind-Beziehung konstituiert und gelebt wird, und sie ist weiterhin ein Ort spezifischer Solidaritäts- und Kooperationsbeziehungen zwischen Eltern, Kindern und weiteren nahen Angehörigen (Konietzka & Zimmermann 2020). Kennzeichnende Konsequenz für einen solchen familienbezogenen Zugriff auf Beratung ist dann jedoch, dass eine einfache Systematik nicht greifen kann. Akzeptiert man die familienbezogene Genese von Beratungsanliegen im weiten Kontext von Sorgearbeit, werden zwangsläufig sehr unterschiedliche Fragen thematisch, z. B. der Kindererziehung, des Zusammenlebens der Eltern als Paar oder der Pflege von älteren Angehörigen. Hinzu kommt das Aufgreifen neuer Sorgethemen, die sich in der Familie manifestieren, etwa die Sorgearbeit von Kindern und Jugendlichen (Young Carers), die chronisch kranke Eltern, Großeltern oder eigene Geschwister pflegen (Kavanaugh & Stamatopoulos 2021; Kaiser 2019).

Das mit dieser familienbezogenen Vielfalt von Sorgethemen benannte Problem für Beratungsangebote zeigt sich sowohl auf der theoretisch-konzeptionellen als auch der praktischen Ebene. So ist z. B. die theoretische Vergewisserung darüber, was Familien- oder Erziehungsberatung jenseits methodischer Definitionen (Schubert et al. 2019, 63 ff) oder der knappen Verortung in den Sozialgesetzbüchern genau ist und auf welche Weise ein Fall bspw. als Fall für Erziehungsberatung, Paarberatung oder auch z. B. als Pflegeberatung konstituiert werden kann, auf Dauer gestellt (Schrapper 2015; Heiner 2012; Graffmann-Weschke et al. 2021; Koch & Krampe 2020) und aktualisiert sich in der Sozialen Arbeit sowohl organisationsbezogen (Bauer 2010) als auch im interaktionellen Geschehen (Rüegger 2021). In der Praxis zeigt sich diese theoretische Unabgeschlossenheit zweifach: Zum einen gibt es eine Gruppe entsprechend gekennzeichneter Beratungsstellen, die absichtlich thematisch offen z. B. als Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstellen firmieren und so die multithematische Inaugenscheinnahme aller in der Familie anfallenden Beratungsanlässe ermöglichen sollen, zum anderen wählen auch spezialisierte Beratungsstellen, wie sie in der Sozialen Arbeit z. B. für Sucht- ( Kap. 8.2) oder Verschuldungsfragen ( Kap. 5.2) etabliert sind, einen indirekten Zugriff auf Familie, indem sie neben Einzelberatung Paar-, Familien- und Angehörigengespräche anbieten oder den Familienbegriff als Vermittlungskonzept zur multiprofessionellen Fallarbeit nutzen (Höfling & Schrappe 2021).

Wie Beratung zu Fragen von Erziehung und Pflege in einer Ein-Eltern-Familie aussehen kann, zeigt die folgende Situationsbeschreibung.

Daniela und ihre Mutter Jenny werden in einer kommunalen Beratungsstelle für Familien-, Erziehungs- und Lebensberatung vorstellig. Als Stichwort für die Erstanmeldung, die Jenny vorgenommen hat, wurden Erziehungsprobleme und eskalierende Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Tochter vermerkt.

Im Erstgespräch zeigt sich: Daniela ist 14 Jahre alt, geht auf eine Gemeinschaftsschule und wohnt mit ihrer 34-jährigen Mutter Jenny in einer Ein-Eltern-Familie zusammen. Zum Vater besteht seit der Trennung der Eltern, als Daniela ein Baby war, kein Kontakt. Daniela und Jenny schildern aus ihrer je unterschiedlichen Perspektive, dass es entlang von schulischen Fragen (hohe Motivation bei nachlassenden Noten, verhaltensbedingte Ermahnungen) und im Organisieren des häuslichen Zusammenlebens (abendliches nachhause kommen, Mitbringen des ersten Freundes von Daniela) im letzten halben Jahr zu eskalierenden Streitereien gekommen ist, die beide im Nachhinein bedauern, aber nicht verhindern können.

Jennys Lebenssituation ist durch eine chronische Erkrankung gekennzeichnet. Sie leidet an fortgeschrittener amyotrophen Lateralsklerose, sitzt im Rollstuhl und ist als schwerbehindert eingestuft. Sie kann stundenweise nach einem Studium der Germanistik für einen Schulbuchverlag arbeiten, was sie gerne tut. Ein Pflegedienst kommt nachhause und hilft ihr bei der Körperpflege; viele tägliche Pflegeverrichtungen und große Teile des Haushalts (Wäsche waschen, Einkäufe) werden von Daniela mit übernommen. Jenny erzählt, dass Daniela ein Wunschkind war, sie sehr stolz auf ihre Tochter ist und häufig unter Gefühlen der Beschämung leidet, weil sie im Alltag durch Daniela unterstützt werden muss. Der zunehmende Eigensinn von Daniela, die überlegt, die Schule zu wechseln und sehr viel Zeit mit ihrem ersten Freund verbringen möchte, macht sie hilflos. Zahlreiche von ihr als sehr kränkend empfundene Bemerkungen ihrer Tochter, in der diese ihre Überlastung mit der Pflege und die Beschämung, ihren Freund mit nachhause zu bringen, thematisiert, haben zur Vereinbarung des Beratungstermins geführt.

Danielas Lebenssituation ist stark durch die Schule geprägt, die sie im Ganztag besucht. So bleibt aus ihrer Sicht wenig Zeit, Freund:innen und ihren ersten Freund zu sehen, und es entsteht oft Stress, wenn sie nach der Schule noch Haus- und Pflegearbeiten übernehmen muss. Sie gibt an, das prinzipiell gerne zu tun, aber immer mehr an ihre Grenzen zu kommen. Ein großes Ziel von ihr ist »später mal raus« zu kommen und Medizin zu studieren. Sie gibt an, die Schule mit hoher Motivation anzugehen, aber immer mehr unter den zunehmend schlechter werdenden Noten zu leiden. Sie möchte auf ein reguläres Gymnasium ohne Ganztag wechseln, fordert mehr Freiheiten in ihrer Lebensführung von der Mutter und bringt die Bitte vor, das Miteinander zwischen Mutter und erwachsenwerdender Tochter sowie konkrete Fragen der Pflege in der Beratung zu besprechen.

Die fallzuständige Fachkraft Frau Müller bietet nach dem ersten Termin, in dem dies alles zur Sprache kam, weitere Beratungstermine an. Diese sollen dazu dienen, Themen zu sammeln, zu priorisieren und danach mit Daniela und Jenny zu überlegen, welche Hilfen in Form von fortgesetzter Beratung oder weiterführenden Angeboten sinnvoll sind. Frau Müller, die nach einem Studium der Sozialpädagogik eine systemische Weiterbildung absolviert hat (Eickhorst & Röhrbein 2019), will dazu die Anliegen von Daniela und Jenny intensiv in der multiprofessionellen Teambesprechung erörtern und dabei hauptsächlich die Überschneidung von Erziehungs- und Pflegeberatungsthemen bearbeiten.

In der Situationsbeschreibung tritt eine typische Eigenheit in der Adressierung familienbezogener Beratungsthemen zutage. Im Sinne einer lebensweltorientierten, niederschwellig erreichbaren und möglichst wenig stigmatisierenden Sozialen Arbeit (Thiersch 2020), in der vorausgesetzt wird, dass die Lebenspraxis der reflexiven Moderne zahlreiche Bewältigungstatsachen bereithält (Böhnisch 2017), können Daniela und Jenny entlang des Containerbegriffs Familie ihre je eigenen und unterschiedlichen Anliegen einbringen, ohne im Vorfeld eine potenziell einengende oder sogar unangemessene Reformulierung ihrer Lebensführungsfragen vornehmen zu müssen. Eine solche Adressierungslogik, die weitgehend unhinterfragte Begriffe wie die Familie nutzt, lässt sich dabei nicht nur in der Beratung, sondern auch anderen familienbezogenen Hilfen aufweisen (z. B. in der Sozialpädagogischen Familienhilfe – SPFH, der Familienzentrumsarbeit oder den Frühen Hilfen etc.). Aber nicht nur der thematisch weite Oberbegriff der Familie, sondern auch die Adressierung von Beratung als reflexive Hilfeform (Weinhardt 2018a) folgt einer möglichst wenig stigmatisierenden Logik. Aufgerufen wird mit familienbezogener Beratung also eine Hilfe, die als Koproduktion auf Augenhöhe markiert ist und in der es nicht um die Heilung beschädigter Identität oder das bloße Instruieren geht, was sozialpädagogische Beratung deutlich von Psychotherapie oder edukativen Angeboten abgrenzt. Vielmehr steht das gemeinsame Nachdenken im Modus noch erhaltener oder wiederherstellbarer Handlungsfähigkeit im Mittelpunkt (Bauer & Weinhardt 2014), wobei die Adressat:innen als Expert:innen für ihre Lebenswelt und Beratungsfachkräfte als Expert:innen für die beraterische Prozessgestaltung positioniert werden.

Familienbezogene Beratungsarbeit ermöglicht also entlang zentraler Theorieannahmen einer lebenslauf- und bewältigungsorientierten Sozialpädagogik (Böhnisch 2017; Thiersch 2020) die Einrichtung thematisch offener Unterstützungsangebote mit hohem reflexivem und emanzipatorischem Potenzial. So verstanden ist familienbezogene Beratung wesentlich mehr als die klassische Erziehungsberatung (Menne 2019), die als Maßnahme der Hilfen zur Erziehung (HzE) hier nur einen Aspekt generationaler Sorge adressieren kann. Bezogen auf neuere Diskurse der Sozialen Arbeit, in denen wieder vermehrt Fragen der Sorge und Solidarität im intergenerationalen Kontext rethematisiert werden (thematisch in der Beschäftigung mit dem Care-Begriff, praktisch beobachtbar z. B. als Generationenhäuser oder generationenübergreifende Einzelmaßnahmen), sind familienbezogene Beratungsangebote damit das Mittel der Wahl. Familienbezogene Beratungsangebote helfen in diesem Sinne dabei mit, die Familie selbst als (Re-)Produktionsinstanz von Sorgearbeit in den Blick zu nehmen. So gerät dann konsequent das interaktive Geschehen dieser wichtigen und exklusiven Bezugsgruppe in den Fokus und kann sowohl ressourcen- als auch problemorientiert besprochen werden, ohne zu schnell auf einzelne Mitglieder und deren (vermeintliche) Bewältigungsdefizite fokussieren zu müssen. Im Beispiel von Daniela und Jenny kann so die spezielle Situation einer Ein-Eltern-Familie mit erhöhtem Sorgebedarf im Alltag thematisiert werden, zu dessen Erfüllung die Bewältigungslagen von Daniela und Jenny systematisch befragt werden können, ohne dass sofort das stereotype Bild einer defizitären Mutter und einer pubertierend-auflehnenden Tochter entsteht. Dabei dürfen, dies gilt für alle familienorientierten Beratungsangebote, die individuellen Perspektiven selbstverständlich nicht aus dem Blick geraten, die gerade bei Betrachtungen im Rahmen von Generationenbeziehungen als wechselseitige, aber asymmetrische Sorgebeziehungen sichtbar werden: Im obigen Beispiel wird Daniela noch eine längere Zeit ein Kind bleiben, das trotz der spezifischen Situation des Sorgens um die Mutter auch auf deren Sorge existenziell angewiesen ist. Diese spezifische Perspektivierung von Sorgearbeit als Sorgearbeit im familialen Kontext lässt sich im Sinne einer auf Bildung und Emanzipation verstehenden Sozialpädagogik noch erweitern. Durch die Adressierung und Unterstützung familienbezogener Handlungspraktiken (und nicht nur deren individuellen Akteur:innen) wird Sorgearbeit und ihre Thematisierung als solidarisches Handeln in Gemeinschaft sichtbar. So verstanden, kann familienbezogene Beratung einer zu starken Individualisierung Sozialer Arbeit entgegenwirken und macht zudem den großen Anteil nicht-professionell geleisteter Sorgearbeit sichtbar.

Ein so verstandener emanzipatorischer Gehalt der Stärkung familienbezogener Sorgearbeit durch Beratung birgt dann besonders gute Chancen in Prävention und Intervention, wenn eine leichte Teilhabe und ein Maximum an Selbstbestimmung für alle Adressat:innen sichergestellt ist. Das Abstellen auf Freiwilligkeit und die für gute Beratung notwendige Themen-, Ziel- und Prozessoffenheit sowie die zugehörige hohe methodische Fachlichkeit (Bauer & Weinhardt 2016, 2020) sind dabei unhintergehbare Prämissen.

Dabei verweisen familienbezogene Beratungsangebote, in denen die unterschiedlichen Aspekte von Pflege und Sorge thematisiert werden können, auf eine lange Tradition beginnend mit der klassischen Fürsorgearbeit (Gröning 2016), aus der sich die Erziehungsberatung in ihrer heutigen, im SGB VIII definierten Form, entwickelt hat (Menne 2019). Dies zum Ausgangspunkt nehmend lässt sich also eine zeitlich stabile Adressierung von Familie als Sorgeinstanz beobachten. Erziehungsberatung als wichtige Pflichtaufgabe Sozialer Arbeit ist im Kern jedoch immer ein Beratungsangebot der HzE, in denen es um ein spezifisches Sorgeverhältnis geht, nämlich der elterlichen Sorge. Deshalb hat sich um diesen für die Soziale Arbeit klassischen Nukleus herum in den letzten Dekaden eine weit ausdifferenzierte Beratungslandschaft etabliert, die zunehmend den erstarkenden Diskurs um einen erweiterten Sorgebegriff (Erbe & Jurczyk 2017; Seeck 2021; Bomert et al. 2022) aufnimmt und diesen auf familiale Anschlüsse hin befragt. Nicht umsonst ist das in diesem Text gewählte Beispiel an der Schnittstelle von Erziehungs- und Pflegeberatung (in einem weit verstandenen Sinne) angesiedelt, denn pflegende Angehörige treten zunehmend als noch zu wenig unterstützte Adressat:innengruppe in den Fokus moderner Sozialer Arbeit. Dass sich im gewählten Beispiel dazu noch die klassische Generationenasymmetrie in der Sorgearbeit umdreht, zeigt, wie vielgestaltig bereits die Verschränkung von Erziehungs- und Pflegefragen sein kann, wenn Kinder ihre Eltern pflegen.

Es ist, gemessen an der zeitlichen Konstanz in der Adressierung von Familie als Sorgeinstanz, die beraten werden kann und muss, erwartbar, dass eine weitere Ausdifferenzierung nach Formen und Themen erfolgt. Hierfür können vier thematische Entwicklungsbereiche skizziert werden.

In einem ersten Entwicklungsbereich müssen familienbezogene Beratungsangebote Veränderungen hinsichtlich des Familienbegriffs selbst antizipieren. Ausgegangen werden kann hier von einem sich weiter pluralisierenden Familienbild (Ecarius & Schierbaum 2020). In diesen pluralisierten Familienbildern werden Differenzierungen nach Lebensform (z. B. als Ein-Eltern-, Zwei-Eltern- oder Patchworkfamilien) sowie unterschiedliche biologische, genetische, rechtliche und sozial-normative Begründungsaspekte eine Rolle spielen (Vaskovics 2020), die Auswirkungen auf das Selbst- und Fremdbild von Familien und der von ihnen geleisteten Sorge- und Pflegearbeit haben. Erwartbar notwendig werden hier empowernde Formen von Beratungsangeboten für diejenigen Familien sein, die historisch neuen Formen und Aspekten entsprechen und damit häufig einer erhöhten Stigmatisierungsgefahr ausgesetzt sind. Solche Stigmatisierungen lassen sich bspw. gegenüber Familien beobachten, in denen queere Eltern mit einem adoptierten, aus einer Samenspende oder einer Leihmutterschaft herrührenden Kind eine Familie bilden (Mühling et al. 2017). Mit fortschreitender Integration familialer Pluralität in familienbezogene Beratungskonzepte wird möglicherweise auch beobachtbar sein, dass Familien, die als Pflegefamilien an der Grenze zwischen professioneller und privater Sorge- und Pflegearbeit angesiedelt sind, mehr und selbstverständlicher mit ihrer Lebensform berücksichtigt werden – ein wichtiger Schritt zu Entstigmatisierung der Differenz zwischen öffentlicher und privater Erziehung und Fürsorge.

In einem zweiten Entwicklungsbereich müssen familienbezogene Beratungsangebote offen und sensibel für neue oder bisher zu wenig gesehene Themen der Sorgearbeit sein. Young Carers (Raynor 2021), der Umgang mit einer Transgenderkindheit (Baltes-Löhr & Schneider 2018; Conis et al. 2021) oder Bedürfnisse migrantischer/geflüchteter Familien (Yanik-Şenay 2017) sind Beispiele, die besondere Herausforderungen in der Sorgearbeit skizzieren und über klassische Konzepte der Familien- und Erziehungsberatung hinausweisen. Bezogen auf die häusliche Pflege und Erziehung von Kindern mit einer Behinderung sind im Kontext der SGB-VIII-Reform und dem eingeschlagenen Weg zu einer inklusiven Jugendhilfe notwendige Entwicklungsimpulse absehbar (Sarimski 2021; Walter 2020). Fragen der Unterstützung psychisch erkrankter Eltern bei ihrer Sorgearbeit oder die beraterische Hilfe für pflegende Angehörige, die Eltern oder Partner:innen pflegen, sind hingegen ein Beispiel für familienbezogene Sorgethemen, die bereits lange bekannt, aber durch die generell geringe Wertschätzung von überwiegend weiblicher, non-professionell geleisteter Sorgearbeit zu wenig verhandelt werden (Häußler 2019).

In einem dritten Entwicklungsbereich müssen familienbezogene Beratungsangebote neue konzeptionelle Formen und die zugehörigen Erreichbarkeiten entwickeln, die wesentlich durch eine weit fortgeschrittene Digitalität im Alltag bedingt ist (Weinhardt 2021b). Familienbezogene Beratungsanliegen spielen sich in einem meist dichten Interaktionsgeschehen ab, das bereits jetzt in vielen Familien als hybrider Alltag aus kopräsenten und digitalen Begegnungen stattfindet (Graßhoff & Weinhardt 2022). Der klassische, lange geplante Gang zur Beratungsstelle, wie er im gewählten Beispiel dargestellt ist, wird daher nur einen Teil der notwendigen Beratungsangebote abdecken können. Digitale Erweiterungen in der Bewerbung und Durchführung familienbezogener Beratungsangebote sind deshalb ein wichtiges Zukunftsthema (Weinhardt 2021a; Sickendieck et al. 2014; Rietmann & Sawatzki 2019).

Und schließlich – viertens – verweist die thematische Vielfalt von Beratungsthemen, die entlang familienbezogener Sorge- und Pflegearbeit entstehen können, auf die Notwendigkeit hoher fachlicher Standards bezogen auf organisationale Konzepte und personale Kompetenzen (Bauer & Weinhardt 2017; Bauer & Wiezorek 2021). Eine fundierte Methodenausbildung, die realistisch erwartbar ab dem MA-Abschluss, einer beratungsspezifischen Weiterbildung und der zugehörigen kumulierten Praxis vorausgesetzt werden kann (Weinhardt 2017, 2018b, 2019; Schubert et al. 2019, 263) muss hierbei der Zielhorizont für beraterischer Professionalität im Umgang mit Familie sein.

Weiterführende Literatur

Eickhorst, Andreas & Röhrbein, Ansgar (2019): Systemische Methoden in Familienberatung und -therapie. Was passt in unterschiedlichen Lebensphasen und Kontexten? Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Wiezorek, Christine & Bauer, Petra (2017): Familienbilder zwischen Kontinuität und Wandel. Analysen zur (sozial-)pädagogischen Bezugnahme auf Familie.

Bauer, Petra & Weinhardt, Marc (2020): Systemische Kompetenzen entwickeln. Grundlagen, Lernprozesse und Didaktik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Literatur

Baltes-Löhr, Christel & Schneider, Erik (Hrsg.) (2018): Normierte Kinder. Effekte der Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz. Bielefeld: transcript.

Bauer, Petra (2010): Organisatorische Bedingungen der Fallkonstitution in der Sozialen Arbeit. Ein Literaturbericht. In: Zeitschrift für Pädagogik 56 (2), 249–266.

Bauer, Petra & Weinhardt, Marc (2014): Perspektiven sozialpädagogischer Beratung. Empirische Befunde und aktuelle Entwicklungen. Weinheim: Beltz.

Bauer, Petra & Weinhardt, Marc (Hrsg.) (2016): Professionalisierungs- und Kompetenzentwicklungsprozesse in der sozialpädagogischen Beratung. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.

Bauer, Petra & Weinhardt, Marc (2017): Familienbilder in der psychosozialen Beratung. Familienbezogene Orientierungen in frühen Phasen des Kompetenzerwerbs in der psychosozialen Beratung. In: Bauer, Petra & Wiezorek, Christine (Hrsg.): Familienbilder zwischen Kontinuität und Wandel: Analysen zur (sozial-)pädagogischen Bezugnahme auf Familie (166–180). Weinheim: Beltz.

Bauer, Petra & Weinhardt, Marc (Hrsg.) (2020): Systemische Kompetenzen entwickeln. Grundlagen, Lernprozesse und Didaktik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Bauer, Petra & Wiezorek, Christine (2021): Familienbilder im Kontext von Kinderschutz. In: Familiendynamik 46 (4), 268–277.

Böhnisch, Lothar (2017): Sozialpädagogik der Lebensalter. Eine Einführung. Weinheim/Basel: Beltz.

Bomert, Christiane, Landhäuser, Sandra, Lohner, Eva-Maria & Stauber, Barbara (Hrsg.) (2022): Care! Zum Verhältnis von Sorge und Sozialer Arbeit. Wiesbaden: Springer VS.

Conis, Elena, Eder, Sandra & Madeiros, Aimee (Hrsg.) (2021): Pink and blue. Gender, culture, and the health of children. New Brunswick/New Jersey: Rutgers University Press.

Ecarius, Jutta & Schierbaum, Anja (Hrsg.) (2020): Handbuch Familie. Gesellschaft, Familienbeziehungen und differentielle Felder. Wiesbaden: Springer VS.

Eickhorst, Andreas & Röhrbein, Ansgar (Hrsg.) (2019): Systemische Methoden in Familienberatung und -therapie. Was passt in unterschiedlichen Lebensphasen und Kontexten? Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Erbe, Birgit & Jurczyk, Karin (2017): Politische Initiativen zur unsichtbaren Sorgearbeit. In: Forum Erwachsenenbildung 50 (2).

Graffmann-Weschke, Katharina, Otte, Marina & Kempchen, Anne (2021): Familienbezogene Bedarfslagen in Pflegesituationen. In: Jacobs, Klaus, Kuhlmey, Adelheid, Greß, Stefan, Klauber, Jürgen & Schwinger, Antje (Hrsg.): Pflege-Report 2021. Sicherstellung der Pflege: Bedarfslagen und Angebotsstrukturen (103–116). Wiesbaden: Springer VS.

Graßhoff, Gunther & Weinhardt, Marc (2022): Familie in smarten Zeiten: Kinder – Eltern – digitale Dinge. In: Müller-Giebeler, Ute & Zufacher, Michaela (Hrsg.): Familienbildung – Praxisbezogene, empirische und theoretische Perspektiven (525–536). Weinheim: Beltz.

Gröning, Katharina (2016): Geschichte der Beratung. In: Nittel, Dieter & Gieseke, Wiltrud (Hrsg.): Pädagogische Beratung über die Lebensspanne (42–49). Weinheim: Beltz.

Häußler, Angela (2019): Who cares? Sorgearbeit als individuelle Aufgabe und gesellschaftliche Herausforderung. In: Haushalt in Bildung & Forschung 8 (2), 41–53.

Heiner, Maja (2012): Handlungskompetenz »Fallverstehen«. In: Becker-Lenz, Roland, Busse, Stefan, Ehlert, Gudrun & Müller-Hermann, Silke (Hrsg.): Professionalität Sozialer Arbeit und Hochschule. Wissen, Kompetenz, Habitus und Identität im Studium Sozialer Arbeit (201–217). Wiesbaden: Springer VS.

Höfling, Atilla & Schrappe, Andreas (2021): Familienberatungsstellen: Arbeiten an den Verbindungsstellen zwischen Unterstützung, Beratung und Therapie. In: PiD – Psychotherapie im Dialog 22 (1), 69–72.

Kaiser, Steffen (2019): Heranwachsen im Spannungsfeld von Schule und Pflegetätigkeiten. Zur schulischen Situation von pflegenden Jugendlichen. Berlin: Logos.

Kavanaugh, Melinda S. & Stamatopoulos, Vivian (2021): Young Carers, The Overlooked Caregiving Population: Introduction to a Special Issue. In: Child and Adolescent Social Work Journal 38 (5), 487–489.

Koch, Katja & Krampe, Danja (2020): Handbuch Pflegeberatung. Beratung, Schulung und Anleitung strukturiert organisieren und durchführen. Mit den Arbeitshilfen zum Download. Regensburg: Walhalla.

Konietzka, Dirk & Zimmermann, Okka (2020): Die Familie in der Gegenwart. In: Ecarius, Jutta & Schierbaum, Anja (Hrsg.): Handbuch Familie. Gesellschaft, Familienbeziehungen und differentielle Felder (1–21). Wiesbaden: Springer VS.

Menne, Klaus (2019): Erziehungsberatung im Zentrum. Zu ihrer Positionsbestimmung in der Jugendhilfe. In: Das Jugendamt: Zeitschrift für Jugendhilfe und Familienrecht 92 (2), 64–73.

Mühling, Tanja, Mayer-Lewis, Birgit, Buschner, Andrea & Bergold, Pia (2017): Familien mit multipler Elternschaft. Opladen: Budrich.

Raynor, Mike (2021): Guidebook for Young Carers. Children who provide care. La Vergne: Grosvenor House.

Rietmann, Stephan & Sawatzki, Maik (2019): Blogs, Apps und EB? – Ein Digitalisierungsprojekt der Erziehungs- und Familienberatung. In: Rietmann, Stephan, Sawatzki, Maik & Berg, Mathias (Hrsg.): Beratung und Digitalisierung. Zwischen Euphorie und Skepsis. Band 15 (371–379). Wiesbaden/Heidelberg: Springer VS.

Rüegger, Cornelia (2021): Fallkonstitution in Gesprächen Sozialer Arbeit. Prozesse und Praktiken der organisationalen und interaktiven Produktion des Falles. Wiesbaden: Springer VS.

Sarimski, Klaus (2021): Familien von Kindern mit Behinderungen. Ein familienorientierter Beratungsansatz. Göttingen: Hogrefe.

Schrapper, Christian (2015): Durchblicken und verstehen, was der Fall ist? Zur ›Unendlichen Geschichte‹ der Kontroversen um eine sozial(pädagogische) Diagnostik. In: Bolay, Eberhard, Iser, Angelika & Weinhardt, Marc (Hrsg.): Methodisch Handeln. Beiträge zu Maja Heiners Impulsen zur Professionalisierung der Sozialen Arbeit (61–75). Wiesbaden: Springer VS.

Schubert, Franz-Christian, Rohr, Dirk & Zwicker-Pelzer, Renate (2019): Beratung. Grundlagen – Konzepte – Anwendungsfelder. Wiesbaden: Springer VS.

Seeck, Francis (2021): Care trans_formieren: Humboldt-Universität zu Berlin.

Sickendieck, Ursel, Nestmann, Frank & Engel, Frank (Hrsg.) (2014): Handbuch der Beratung: Neue Beratungswelten. Tübingen: dgvt.

Thiersch, Hans (2020): Lebensweltorientierte soziale Arbeit – revisited. Grundlagen und Perspektiven. Weinheim: Beltz.

Vaskovics, Laszlo A. (2020): Soziale Elternschaft. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 23 (2), 269–293.

Walter, Annette (2020): Inklusive Erziehungs- und Familienberatung. Familien mit Kindern und Jugendlichen mit einer Behinderung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Weinhardt, Marc (2017): Subjektorientierte Professionalisierung, Lebenslanges Lernen und der EQR/DQR in der Systemischen Fort- und Weiterbildung. In: Kontext 47 (3), 262–327.

Weinhardt, Marc (2018a): Beraten. In: Graßhoff, Gunther, Renker, Anna & Schröer, Wolfgang (Hrsg.): Soziale Arbeit. Eine elementare Einführung (485–500). Wiesbaden: Springer VS.

Weinhardt, Marc (2018b): Beratungskompetenzerwerb im Studium: Lern- und Bildungsprozesse im Horizont subjektorientierter Professionalisierung. In: Dörner, Olaf, Iller, Carola, Schüßler, Ingeborg, Maier-Gutheil, Cornelia & Schiersmann, Christiane (Hrsg.): Beratung im Kontext des Lebenslangen Lernens. Konzepte, Organisation, Politik, Spannungsfelder (143–156). Leverkusen: Budrich.

Weinhardt, Marc (2019): Die Professionalisierung sozialpädagogischer Fachkräfte. Das Beispiel psychosoziale Beratung. Tübingen: Unveröffentlichte Habilitationsschrift.

Weinhardt, Marc (2021a): Digitalität und Digitalisierung in der psychosozialen Beratung. Überlegungen zum digitalen Wandel der Beratungskultur. In: Sozialmagazin. Sonderband Zukunft der Beratung (5), 76–86.

Weinhardt, Marc (2021b): Professionelles Handeln zwischen Digitalisierung und Digitalität: Überlegungen zum Kulturwandel digitaler Beratung. In: Zeitschrift für klinische Sozialarbeit 17 (4), 7–9.

Yanik-Şenay, Aylin (2017): Familienberatung in muslimischen Migrantenorganisationen. Zielgruppenspezifische Beratungsbedürfnisse und Konzeption. Wiesbaden: Springer VS.

2.2       Frühe Hilfen und Familienbildung

Michaela Hopf & Katja Gramelt

Es gibt keine allgemeingültige Definition, was ›Familien‹ sind. Im allgemeinen Verständnis bestehen Familien aus mindestens einem Elternteil und einem Kind. Neben dem Merkmal der Generationendifferenz bestehen in Familien spezifische Beziehungen, die durch eine besondere Stabilität und Verantwortlichkeit gekennzeichnet sind. D. h., sie sind nicht (nur) formal durch Elternschaft begründet. Vielmehr ist Familie eine Herstellungsleistung, die durch das Handeln und Tätig-Werden der Familienmitglieder entsteht (Jurczyk 2020, 26 ff). Dieses Verständnis von Familie beruht auf dem Konzept des ›Doing family‹, das Familie als soziales Konstrukt beschreibt. Familie, verstanden als Herstellungsleistung, ist heute vielfältiger und herausfordernder geworden. Während die persönlichen Freiheiten in der Lebensplanung und -gestaltung in der Vormoderne für die meisten Menschen sehr eingeschränkt waren, angefangen von beruflichen Möglichkeiten bis hin zur Wahl der:des Ehepartner:in oder die Frage nach einem Leben mit oder ohne Kinder, sind dies heute größtenteils individuelle Entscheidungen, die diverse Familienkonstellationen hervorbringen. Parallel dazu sind aber auch die Erwartungen an die Herstellungsleistung von Familie gestiegen. Familie soll für die:den Einzelnen sinnstiftend und erfüllend sein, dabei aber auch normative Erwartungen erfüllen wie z. B. die Gleichwertigkeit der Beziehungspartner:innen, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und eine optimale Entwicklungs- und Bildungsförderung der Kinder. Familie umfasst damit weit mehr als eine Reproduktionsfunktion oder die Versorgung und Pflege von Kindern.

»Der Wandel der Familie zum spezialisierten gesellschaftlichen System erstreckte sich über Jahrhunderte« (Nave-Herz 2014, 1). Als ein solches System werden Familien heute mit vielfältigen gesellschaftlichen Erwartungen konfrontiert, die nicht nur fürsorgerische Aspekte, sondern auch eine angemessene Erziehung und eine optimale Entwicklungs- und Bildungsförderung umfassen. Familien gelten als erste und zentrale Bildungs- und Erziehungsinstanzen, die den gestiegenen Erwartungen einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft entsprechen sollen (vgl. Heitkötter & Thiessen 2011, 421). Die Leistungen, die Familien erbringen, sind für die Gesellschaft hochbedeutsam. Zugleich sind die kulturellen, ökonomischen und sozialen Ressourcen, auf die Familien für die Erbringung dieser Leistungen zurückgreifen, ungleich verteilt. D. h., nicht alle Familien haben in gleicher Weise die Möglichkeit, die gesellschaftlichen Erwartungen zu erfüllen. Die Frühen Hilfen und die Familienbildung bieten ein umfassendes und vielfältiges Unterstützungsangebot für Familien. Beide zielen ab auf die Entwicklung und Stärkung von elterlichen Handlungskompetenzen, die auf Fürsorge und Erziehung, Förderung und Bildung bezogen sind sowie Orientierung und Sicherheit für die Gestaltung des Lebens mit Kindern vermitteln sollen. Dieses Angebot ist grundsätzlich an alle Eltern gerichtet. Verschiedene Untersuchungen haben in den letzten Jahren gezeigt, dass sich Familien in unterschiedlichsten Lebenslagen zunehmend unter Druck fühlen und Unterstützungsbedarfe haben können, nicht nur Familien »aus bildungsfernen Milieus am unteren Rand der Gesellschaft« (Henry-Huthmacher 2008; vgl. auch Jurczyk 2020). Jedoch sind die Lebenslagen und Bedarfe der Familien enorm unterschiedlich, wodurch das Erkennen dieser Unterstützungsbedarfe deutlich erschwert wird (vgl. Buschhorn 2012).

Samra ist Mitarbeiterin in einer Familienbildungseinrichtung und für ein Modellprojekt im Rahmen der Frühen Hilfen verantwortlich, das verschiedene Unterstützungs- und Beratungsangebote für frischgeborene Familien bündelt und vernetzt anbietet. Sie selbst bietet Familienberatung an, kümmert sich um Ehrenamtliche, organisiert ihre Einsätze und arbeitet im Team mit einer Hebamme. Gerade ist Samra im Gespräch mit Lena, einer jungen Mutter, die sich eigentlich für einen Babymassagekurs mit ihrer vier Monate alten Tochter Emily angemeldet hat, heute aber den Weg zu ihr gefunden hat, weil sie den Eindruck hat, das alles doch nicht meistern zu können. Lena hat bereits einen dreieinhalbjährigen Sohn, Tim, der schon in die Kita geht. Lena berichtet: »Die [Emily] hat halt so krasse Bauchprobleme und spuckt ständig alles wieder aus. Irgendwie hab ich immer das Gefühl, dass es Emily nicht gut geht, sie weint so viel und muss ständig auf den Arm, ich kann sie nicht mal zum Schlafen ablegen, dann geht sofort das Geplärre los. Und Tim … um Tim kann ich mich fast gar nicht kümmern, letztens bin ich zu spät zur Kita gekommen, ich hab es einfach nicht geschafft. Aber die haben da gar kein Verständnis …«. Samra hört geduldig zu, fragt nach und beide überlegen gemeinsam, was Lena gerade helfen und entlasten würde. Sie vereinbaren ein Gespräch mit der Hebamme und Samra kann eine ehrenamtliche Mitarbeiter:in aus dem Projekt in die Familie vermitteln, die Lena beim Bringen und Abholen von Tim unterstützt und auch mit Emily eine Runde spazieren geht, so dass Lena zwischendurch eine halbe Stunde Zeit für sich oder auch für Tim hat. Samra bleibt in regelmäßigem Kontakt mit Lena, die es schafft, regelmäßig am Babymassagekurs teilzunehmen.

Mit den Frühen Hilfen und der Familienbildung wird der Blick auf ein Handlungsfeld gerichtet, das durch Multiprofessionalität gekennzeichnet ist und in dem sich (sozial-)pädagogische, sozialarbeiterische, kindheitspädagogische, psychologische und gesundheitsorientierte Professionen in Theorie und Praxis begegnen, um Familien zu unterstützen und Aufwachsens- und Entwicklungsbedingungen von Kindern zu fördern.

Angebote und Maßnahmen zur Stärkung der elterlichen Beziehungs- und Erziehungskompetenzen finden sich sowohl in den Frühen Hilfen als auch in der Familienbildung. Trotzdem unterscheiden sich beide in ihren Zielsetzungen, der rechtlichen Verankerung und Finanzierung und v. a. ihrer Entstehungsgeschichte. Die Frühen Hilfen sind im Kontext des Kinderschutzes in den 2000er Jahren installiert und seither entwickelt worden und haben entsprechend Familien und Kinder in belastenden Lebenssituationen im Fokus. Die institutionelle Familienbildung entstand dagegen bereits Ende des 19. Jahrhunderts mit den sog. Mütterschulen und bietet heute in einem non-formalen Kontext Bildungsangebote für Familien rund um die gesamte Lebensspanne. Sowohl die Frühen Hilfen als auch die Familienbildung verfolgen eine ressourcenorientierte Perspektive auf Familien. Trotz vieler Überschneidungsbereiche in ihren Leistungsversprechen ist nicht einfach zu beantworten, welche Rolle der Familienbildung bzw. einem Teil der institutionellen Familienbildung in der Definition der Aufgabenbereiche der Frühen Hilfen zugeschrieben wird, wie sie entsprechend finanziert und in die kommunalen Netzwerkstrukturen der Frühen Hilfen eingebunden wird. Die Frage nach Kooperationsmöglichkeiten zwischen Familienbildung und Frühen Hilfen ist eine relevante, aber nicht neue Frage.

Die Angebote der Familienbildung sind historisch gewachsen und entwickelten sich institutionell aus den zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandenen Mütterschulen (Fischer 2021). Diese sind als Reaktion auf die prekären Lebensverhältnisse in Arbeiterfamilien gegründet worden, in deren Folge u. a. die Sterblichkeit von Säuglingen und Kleinkindern durch Krankheiten und Unfälle stark gestiegen war. Die mangelnde Betreuung und Fürsorge von Kindern war in aller Regel auf die Abwesenheit beider Eltern zurückzuführen, deren Lohn für die Existenzsicherung notwendig war. Eine bloße »Information und Aufklärung« (Fischer 2021, 19) der Frauen hat somit wenig verändert. Erst als sich das bürgerliche Familienideal mit der Mutter als Hausfrau auch praktisch durchgesetzt hat, konnten die Mütterschulen in der ursprünglichen Idee der Familienbildung mit Müttern als Adressatinnen greifen. Die Frauen sollten mit den Angeboten auf Schwangerschaft, Geburt und Versorgen, Pflegen und Erziehen von Kindern sowie die Organisation eines Haushalts vorbereitet werden. Mütterschulen waren konzeptionell als Bildungsangebote gedacht und verstanden ihre Angebote weniger als Fürsorgeunterweisung. Sie waren an alle Mütter, proletarische wie bildungsbürgerliche, gerichtet (Fischer 2021). Hier wird ein Spannungsfeld deutlich, mit dem sich die Familienbildung auch heute noch auseinandersetzt. Auf der einen Seite (re-)produziert sie normative Vorstellungen über Familie, da sie über ihre Angebote eine Idee der ›richtigen‹ Art der Kindererziehung und Gestaltung des Lebens mit Kindern vorgibt. In diesem Sinn übt sie auch eine kontrollierende Funktion aus. Auf der anderen Seite unterstützt sie Familien in einer eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Lebenspraxis und fördert in einem kritisch-reflektierenden Sinn Bildungsprozesse, die auf individuelle Entwicklung, Selbstwirksamkeit und Teilhabe gerichtet sind.

»Familienbildung war und ist der Versuch einer Antwort auf die je unterschiedlichen gesellschaftspolitischen und ökonomischen Herausforderungen sowie sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen von Familien« (Heitkötter & Thiessen 2011, 422).

Familienbildung kommt in der Unterstützung der Herstellungsleistung ›Familie‹ somit mindestens eine doppelte Aufgabe zu. Sie initiiert und ermöglicht Bildung, um Familien darin zu unterstützen, ihr (Familien-)Leben eigenverantwortlich und selbstbestimmt zu gestalten. Auf der anderen Seite übernimmt Familienbildung die Aufgabe, Eltern und Familien so zu fördern, zu stärken und zu unterstützen, dass sie den gesellschaftlichen Anforderungen und Erwartungen, z. B. im Sinne einer erfolgreichen Erziehungs- und Bildungsarbeit, entsprechen können. Die Angebote der Familienbildung reichen von Schwangerschafts- und Geburtsvorbereitungskursen, Säuglingspflege, Erziehungskursen, Bildungs- und Förderangeboten bis zu Angeboten für unterschiedliche Zielgruppen (z. B. Väter, Alleinerziehende, Familien mit besonderen Bedürfnissen, Unterstützung von Eltern beim Übergang der Kinder in die Schule) und für Familien in unterschiedlichen Familienkonstellationen. Die meisten Familien lernen die Angebote der Familienbildung kennen, wenn sie sich selbst in der Phase des Übergangs zur Elternschaft befinden: von der Geburtsvorbereitung über die Säuglingspflege bis zur Stillberatung. Häufig bleiben die Familien dann auch in den ersten Lebensjahren der Kinder noch stärker an die Familienbildung angebunden, z. B. über Eltern-Kind-Gruppen und -Kurse. Praktisch ermöglicht ihnen die Familienbildung, Menschen in ähnlichen biografischen Lebensphasen kennenzulernen, und sie gibt ihnen Orte, um sich auszutauschen, gemeinsam Zeit zu verbringen und Kindern erste Peer-Kontakte zu ermöglichen. Darüber hinaus spannt sich das Angebot der Familienbildung über die Lebensphasen bis zu Angeboten für die ältere Generation.

Die Inanspruchnahme von Angeboten der Familienbildung ist grundsätzlich freiwillig. Dadurch wird die Familienbildung herausgefordert, Familien an der Themensetzung ihrer Angebote zu beteiligen. Familienbildungseinrichtungen sind Bestandteil des Gemeinwesens von Familien, sie sind lokal vernetzt und kooperieren bzw. arbeiten mit Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, den Frühen Hilfen und anderen Akteuren im Sozialraum zusammen.

Rechtlich verankert ist die Familienbildung im § 16 SGB VIII (KJHG), in dem festgelegt ist, dass Eltern einen Anspruch darauf haben, auf eine Weise in ihrer Erziehungskompetenz unterstützt und gefördert zu werden, die ihre Lebensumstände und -voraussetzungen berücksichtigt. Daneben wird die Familienbildung auf Länderebene unterschiedlich gefördert. In einigen Bundesländern (z. B. NRW) erfolgt eine ergänzende Förderung über Weiterbildungsgesetze mit der Folge, dass eine Finanzierung entsprechend der Erwachsenenbildung über Kursstunden möglich ist, was bezogen auf die Zielsetzung der Familienbildung und die Bedürfnisse der Familien kritisch betrachtet werden kann. Eine Weiterentwicklung der Familienbildung bzw. eine grundsätzlich ausreichende Ausstattung der Familienbildung wird über diese Art der Finanzierung nicht gesichert (vgl. hierzu weiter Fischer 2021, 45 ff). Für die Adressat:innen sind die Angebote der Familienbildung i. d. R. kostenpflichtig.

Auch die Frühen Hilfen verfolgen das primäre Ziel, Eltern in ihrer Beziehungs- und Erziehungskompetenz zu stärken und damit die Aufwachsens- und Entwicklungsbedingungen von Kindern zu unterstützen. Entsprechend beziehen sich auch die Leistungen der Frühen Hilfen in diesem Kontext auf § 16 Abs. 3 SGB VIII sowie ergänzenden rechtlichen Verankerungen im Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG). Die Angebote der Frühen Hilfen richten sich an werdende und junge Eltern mit Säuglingen und Kleinstkindern bis drei Jahren. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie über die Grenzen der unterschiedlichen Leistungssysteme hinweg konzipiert und angeboten werden, was auch im § 3 KKG festgehalten ist. Die Frühen Hilfen sind auf ein umfassendes, ganzheitliches Verständnis der Förderung positiver sozio-emotionaler und kognitiver Entwicklungsbedingungen für Kinder in Familien ausgerichtet (vgl. Küster, Mengel & Sann 2020, 629). Sie sind gekennzeichnet durch die Kooperation und Vernetzung von Gesundheitssystem, Kinder- und Jugendhilfe (KJH), Schwangerschaftsberatung und Frühförderung auf lokaler Ebene. Entsprechend werden diesbezügliche Angebote der Familienbildung auch zum Spektrum der Frühen Hilfen gezählt. Im kommunalen Einzelfall können sich die Angebote, Abstimmungsverfahren und Zusammenarbeit in den Frühen Hilfen unterschiedlich gestalten, was eine einheitliche Beschreibung der Frühen Hilfen erschwert (vgl. Sann 2016).

Familien leben in unterschiedlichen Lebenslagen und mit damit einhergehenden unterschiedlichen Bedürfnissen und Bedarfen nach Unterstützung. Dieses Dilemma kennzeichnet das Handlungsfeld der Frühen Hilfen, das darauf gerichtet ist, alle »Eltern in ihrer Beziehungs- und Erziehungskompetenz zu stärken und gemeinsam mit ihnen weitere soziale und professionelle Unterstützungsmöglichkeiten zu erschließen« (Küster, Mengel & Sann 2020, 630). Dabei sollen alle Kinder möglichst förderliche Entwicklungsbedingungen erhalten, um gesund und gewaltfrei aufwachsen zu können (vgl. NZFH 2014). Entsprechend einem Stufenmodell der Prävention ist ein Ziel der Frühen Hilfen aber auch, »insbesondere Familien in belastenden Lebenslagen« (vgl. Küster, Mengel & Sann 2020, 630) zu erreichen und diesen frühzeitig und niedrigschwellig Hilfs- und Unterstützungsangebote zu vermitteln. Die Frühen Hilfen umfassen damit nicht ein klar definiertes Standardprogramm oder -vorgehen. Vielmehr bündeln sich unter dem Begriff der Frühen Hilfen verschiedenste Angebote, die an den Schnittstellen von KJH, der Frühförderung sowie Angeboten des Gesundheitswesens und der Schwangerschaftsberatung angesiedelt sind (vgl. Buschhorn 2012). ›Früh‹ bezieht sich im Kontext der Frühen Hilfen dabei auf eine möglichst frühe Vermittlung von Beratung und Unterstützung, wenn entsprechende Bedarfe erkennbar sind. Daneben sind die Frühen Hilfen auf eine frühzeitige Unterstützung ausgerichtet, d. h. auf die Unterstützung für werdende Eltern und Eltern mit Kindern bis zum dritten Lebensjahr (vgl. NZFH 2014). Sie sind zudem ein Angebot, das von Familien freiwillig genutzt werden kann. Gleichzeitig sind die Fachkräfte in den Frühen Hilfen in besonderer Weise verantwortlich dafür, Anzeichen und Gefahren für eine Kindeswohlgefährdung wahrzunehmen und gemeinsam mit Fachkräften aus dem Jugendamt einen Übergang in entsprechende Maßnahmen sicherzustellen ( Kap. 2.4).

Um die Frühen Hilfen besser verstehen zu können, ist es wichtig, sich ihre Entwicklung vor Augen zu führen. Gravierende Fälle von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung haben ab 2006 eine breite Debatte um Kinderschutz in Deutschland ausgelöst. Dabei wurde schnell deutlich, dass v. a. Familien in besonders belasteten Lebenslagen ein umfassenderes Unterstützungsangebot benötigen, wenn man das Wohl der Kinder sicherstellen möchte. Wobei zu beachten ist, dass, wie Schutter (2020) nachdrücklich betont, Armut und prekäre Lebensbedingungen nur Bedingungsfaktoren für Belastungslagen sein können, aber nicht grundsätzlich eine Kindeswohlgefährdung nach sich ziehen. Zudem müssen die Angebote im doppelten Sinn möglichst früh ansetzen: früh bezogen auf das Lebensalter der Kinder und früh im Falle eines Unterstützungsbedarfs. In der Analyse der damals öffentlich gewordenen Fälle stand v. a. die Frage nach einer wirksamen Prävention im Sinne des Kinderschutzes im Zentrum, die man sich von einer systematischen Vernetzung und Zusammenarbeit verschiedener Akteure versprach. Mit einem 2006 vom BMFSFJ verabschiedeten Aktionsprogramm wurden die Frühen Hilfen dann als sektorenübergreifendes und interprofessionelles Handlungsfeld konzipiert (vgl. Sann 2016). Das Aktionsprogramm ergänzend wurde 2007 das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) eingerichtet, das mit und in den Bundesländern Modellprojekte realisiert, wissenschaftlich begleitet und ausgewertet hat. Der Auf- und Ausbau der Frühen Hilfen wurde im Anschluss an das Aktionsprogramm seit 2012 durch die Bundesinitiative Frühe Hilfen finanziell gefördert und 2018 in die Bundesstiftung Frühe Hilfen überführt, um die entwickelten Strukturen langfristig finanziell abzusichern.

Insbesondere die Vernetzung der Angebote aus dem Bereich der KJH mit dem Gesundheitswesen, aber auch mit der Schwangerschaftsberatung, der Frühförderung sowie mit Angeboten zur materiellen Grundsicherung sind dabei von zentraler Bedeutung und im § 3 KKG beschrieben. Im Fokus steht das Zusammenwachsen dieser verschiedenen Systeme und ihrer Logiken. Vor allem die Zusammenarbeit zwischen Fachkräften aus dem Gesundheitswesen und der KJH sollte im Rahmen der Frühen Hilfen strukturell verankert und systematisiert werden. Ziel ist es, vom weniger stigmatisierten Zugang der Kinder- und Jugendärzt:innen oder Gynäkolog:innen zu Familien zu profitieren. Innerhalb der sektorenübergreifenden, kommunalen Netzwerke der Frühen Hilfen hat sich dann ein Tätigkeitsfeld neu entwickelt, das zwischen Gesundheitswesen und KJH angesiedelt ist, den sog. Familienhebammen und Familien-Gesundheits-Kinderkrankenpfleger:innen, die Familien niedrigschwellig beraten und begleiten und ihnen den Zugang zu ergänzenden Unterstützungsangeboten erleichtern sollen. Obwohl die Frühen Hilfen grundsätzlich an alle (werdenden) Familien gerichtet sind, sind es v. a. Familien in belasteten Lebenslagen, die niedrigschwellig erreicht werden sollen. Eltern, die in sozio-ökonomisch gesicherten und guten Verhältnissen leben, neigen eher dazu, sich selbst Unterstützung, häufig im eigenen sozialen Umfeld, aber auch im Hilfesystem zu organisieren (vgl. Schutter 2020).

Eine Herausforderung besteht entsprechend darin, v. a. bei psychosozial belasteten Familien frühzeitig Überlastungssignale zu erkennen und eine Einschätzung der familiären Ressourcen zu leisten, um Familien auf konkrete Unterstützungs- und Beratungsangebote hinweisen zu können. Ausgangspunkt der Frühen Hilfen ist es zu vermeiden, dass ein Unterstützungsbedarf von Eltern, der aus unterschiedlichen Belastungslagen resultieren kann, dazu führt, dass kindliche Entwicklungsbedingungen negativ beeinflusst werden, im schlimmsten Fall bis hin zu einer Kindeswohlgefährdung. Elterliche Belastungen können u. a. begründet sein in beengten Wohnverhältnissen oder einer finanziellen Notlage, im Verhalten des Kindes (z. B. bei sog. Schrei-Kindern), in einer dysfunktionalen Partnerschaft, einer belasteten Eltern-Kind-Beziehung (z. B. einer eingeschränkten elterlichen Sensitivität für die kindlichen Bedürfnisse) oder fehlender sozialer Unterstützung. Je früher diese elterlichen Belastungen erkannt werden, desto früher können familiale Unterstützungsangebote angeregt und vermittelt werden (vgl. Sann 2016).

Für Schwangerschaft und Geburt gibt es einen sog. ›Betreuungsbogen‹, der von den Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen über die Geburt und Nachsorge bis zu den Gesundheitsuntersuchungen der Kinder reicht (vgl. NZFH o. J.). Während Eltern dem Gesundheitswesen eher mit Vertrauen begegnen und in den Mitarbeiter:innen Unterstützer:innen erkannt werden, ist der Kontakt zu Behörden häufiger durch Misstrauen geprägt (vgl. Schutter 2020). Insbesondere die kostenfreien Vorsorgeuntersuchungen für Kinder haben durch eine höhere Kontaktzeit zwischen Familien und Kinderärzt:innen ein Potenzial für primärpräventive Beratungen, die z. B. im Hinblick auf Ernährung, Zahnpflege oder Unfallprävention eine hohe Wirksamkeit haben können. Eine geringere Wirksamkeit lässt sich für Familien in belasteten Lebenssituationen festhalten (vgl. für eine Übersicht NZFH o. J.). Diese Tatsache ist verständlich, wenn davon ausgegangen wird, dass hier unter Umständen weniger Ressourcen vorhanden sind, um die entsprechenden Empfehlungen z. B. für die Gesunderhaltung der Kinderzähne oder eine gesunde Ernährung umzusetzen. Eine ergänzende Vermittlung in die Frühen Hilfen stellt hier eine bedeutsame Ergänzung dar, um familiären Belastungslagen frühzeitig begegnen und eine gesunde kindliche Entwicklung unterstützen zu können (vgl. ebd.). Denn während nichtbelastete, sozio-ökonomisch in sicheren Lebenslagen befindliche Familien häufiger selbst aktiv werden, wenn Entwicklungsabweichungen wahrgenommen werden (z. B. motorische oder sprachliche Auffälligkeiten), indem entsprechende Präventionsleistungen aktiv eingefordert werden (z. B. Physiotherapie oder Logopädie), werden Behandlungsbedarfe sozial benachteiligter Kinder häufig erst spät erkannt (vgl. Klein 2009).

Werden Belastungslagen wahrgenommen, kann mittlerweile in umfangreiche Angebote der Frühen Hilfen vermittelt werden. Von der Weitergabe aufbereiteter Informationen, z. B. zum Stillen, der Eltern-Kind-Interaktion oder den Gefahren des Schüttelns, über Beratungsangebote (z. B. in einer Schreiambulanz, Erziehungs- und Familienberatung), Angebote in der Familienbildung bis zu aufsuchenden Angeboten, die von Ehrenamtlichen (z. B. Wellcome, Familienpat:innen) und professionellen Fachkräften (z. B. Familienkinderkrankenschwestern, Familienhebammen, sozialpädagogischen Familienhelfer:innen) geleistet werden. Dabei können die Übergänge zu intensiveren sozialpädagogischen Hilfen fließend sein, wenn Fachkräfte und Eltern tiefergehende Bedarfe wahrnehmen. Küster, Mengel & Sann (2020, 630) heben hervor, dass es bedeutsam ist, die »Belastungen […] als subjektive Wahrnehmungen« zu verstehen. Diese Subjektivität gilt sowohl für die Wahrnehmung und Einschätzung, die Familien über sich haben, als auch für die Wahrnehmung von Fachkräften. Es stehen Instrumente, u. a. Fragebögen und Screenings, zur Verfügung, die Fachkräfte einsetzen können, um mögliche Belastungslagen zu erfassen (vgl. für eine Übersicht ebd., 632). Dieses Vorgehen ist jedoch nicht unproblematisch, da eine solche sozialpädagogische Diagnostik in der Gefahr steht, die Stigmatisierung von Familien in spezifischen Bedarfslagen zu fördern (vgl. NZFH o. J.).