Handlungsfeldorientierung in der Sozialen Arbeit -  - E-Book

Handlungsfeldorientierung in der Sozialen Arbeit E-Book

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Beschreibung

Unter den konkurrierenden Ansätzen und Konzepten der Sozialen Arbeit hat in letzter Zeit die "Handlungsfeldorientierung" als ein integrierender Ansatz erheblich an Bedeutung gewonnen und bildet inzwischen an vielen Hochschulen zentrales Strukturierungsprinzip des Studiums. Kennzeichen der Handlungsfeldorientierung ist der systematische Bezug auf bestimmte Handlungsfelder der Sozialen Arbeit, die in ihrem gesellschaftlichen und demografischen Wandel zu erfassen sind. Daraus abgeleitet werden dann der notwendige Handlungsbedarf und die darauf abgestimmten Aktionen und Interventionen der Sozialen Arbeit. Von hier aus werden die Studierenden an die Handlungskonzepte und Methoden der Sozialen Arbeit herangeführt. Charakteristisch für den handlungsfeldorientierten Ansatz, wie er in diesem Buch einführend dargestellt wird, ist also neben der kritischen Wahrnehmung der Problemlagen im jeweiligen Handlungsfeld die strikte Anwendungsorientierung und damit der konsequente Theorie-Praxis-Transfer.

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Die Herausgeber*innen

Prof. Dr. Martin Becker lehrt und forscht seit 2007 an der Katholischen Hochschule Freiburg. Nach dem Studium der Sozialen Arbeit war er über zehn Jahre in verschiedenen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit tätig. Nach dem Studium der Soziologie, Erziehungswissenschaften und Arbeits-/Organisationspsychologie wurde er an der Universität Freiburg zum Dr. phil. Promoviert. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Stadt- und Quartierentwicklung, Sozialraumorientierung und Bürger*innenbeteilung. Seine wichtigsten Publikationen und Forschungsprojekte beschäftigen sich mit sozialer Stadtentwicklung auch im internationalen Kontext, Quartierstudien, Sozialraumanalysen sowie Studien zu freiwilligem Engagement.

Prof. Dr. Cornelia Kricheldorff, Dipl. Sozialgerontologin und Dipl. Sozialpädagogin, ist seit 2008 Prorektorin für Forschung und Weiterbildung an der Katholischen Hochschule Freiburg und gleichzeitig auch Leiterin des Instituts für Angewandte Forschung, Entwicklung und Weiterbildung (IAF). Sie ist als Professorin zuständig für die Lehrgebiete Soziale Gerontologie, Soziale Arbeit im Gesundheitswesen und empirische Sozialforschung. Als Sprecherin des Forschungsschwerpunkts Versorgungsforschung hat sie in diesem Kontext zahlreiche einschlägige Forschungsprojekte geleitet, vielfach publiziert und ein hochschulübergreifendes kooperatives Promotionskolleg, das den Absolvent*innen der Sozialen Arbeit Promotionsmöglichkeiten und -stipendien eröffnet, in Freiburg initiiert und erfolgreich verankert.

Prof. Dr. phil. Jürgen E. Schwab ist Professor an der Katholischen Hochschule Freiburg für Bildung und Sozialisation, Studiendekan Soziale Arbeit und leitet den Studiengang B. A. Soziale Arbeit. Er lehrt Geschichte, Theorien, Konzepte und Profession Sozialer Arbeit sowie empirische Sozialforschung, qualitative Methoden und Evaluation. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Bildung (Jugend- und Erwachsenen-B.), Informelles Lernen, Mentoren und Peer Konzepte, Intergenerationales Lernen, Sozialpädagogik und Schulsozialarbeit sowie (Technik-)Sozialisation und Mediendidaktik (Film, Internet).

Martin Becker, Cornelia Kricheldorff, Jürgen E. Schwab (Hrsg.)

Handlungsfeldorientierung in der Sozialen Arbeit

2., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-038350-0

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-038351-7

epub:   ISBN 978-3-17-038352-4

mobi:   ISBN 978-3-17-038353-1

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Handlungsfeldorientierung in der Sozialen Arbeit

Martin Becker, Cornelia Kricheldorff, Jürgen E. Schwab

1 Handlungsfeld Soziale Arbeit in der Straffälligenhilfe

Werner Nickolai, Annette Bukowski

2 Soziale Arbeit in gerontologischen Handlungsfeldern und im Gesundheitswesen

Cornelia Kricheldorff

3 Handlungsfeld Soziale Arbeit mit Kindern in unterschiedlichen Lebenslagen

Matthias Hugoth

4 Handlungsfeld Soziale Arbeit in und mit Gemeinwesen

Martin Becker

5 Handlungsfeld Soziale Arbeit und Migration: Migration nach Deutschland und ihre Herausforderung für die Soziale Arbeit

Nausikaa Schirilla

6 Handlungsfeld Soziale Arbeit mit Familien

Christian Roesler

7 Handlungsfeld und Konzepte Sozialer Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen

Jürgen E. Schwab

8 Handlungsfeld Soziale Arbeit mit verhaltensauffälligen und seelisch behinderten jungen Menschen

Mone Welsche/Sabine Triska

9 Soziale Arbeit im Handlungsfeld Sucht und Sozialpsychiatrie

Jürgen Sehrig

Die Autor*innen

Einleitung: Handlungsfeldorientierung in der Sozialen Arbeit

Martin Becker, Cornelia Kricheldorff, Jürgen E. Schwab

Ein Modell curricularer Systematik für Bachelor-Studiengänge Sozialer Arbeit

Die wissenschaftliche Profilierung der Sozialen Arbeit bekam etwa ab Mitte der 1990er Jahre, mit der Debatte um die Sozialarbeitswissenschaft als eigene Disziplin, neue Schubkraft (vgl. Engelke 1999; Engelke et. al 2008 und 2009; Mühlum 2004). Mit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (früher DGfS, heute DGSA) 1989, die sich der »Förderung der Disziplin und Profession Sozialer Arbeit« verschrieb, war der Grundstein für eine Profilierung der Sozialen Arbeit in Lehre, Forschung und Praxis gelegt. Dies führte in der Konsequenz zu einer zunehmenden Emanzipation von der fachlichen Logik und der Fremdbestimmung durch ihre traditionellen Bezugswissenschaften (Psychologie, Soziologie, Erziehungs- und Bildungswissenschaft, Recht, Politikwissenschaft, Medizin).

Seit dem Jahr 2001 ist die Soziale Arbeit auch in Deutschland offiziell als eigenständige Fachwissenschaft anerkannt. Entsprechende Beschlüsse erfolgten durch die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) und die Kultusministerkonferenz (KMK). Die DGSA legte Ende Januar 2005 ein Kerncurriculum für das Hauptfachstudium Soziale Arbeit vor, mit dem die gemeinsamen Empfehlungen der DGSA, des Deutschen Berufsverbandes für Soziale Arbeit (DBSH), des Fachbereichstags Soziale Arbeit (FBTS) und des Fachausschusses Soziale Berufe des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (DV) zur Strukturierung von Studiengängen Sozialer Arbeit weitergeführt und konkretisiert wurden. Dieses Kerncurriculum knüpfte an die Rahmenordnung für den Diplomstudiengang Soziale Arbeit von HRK und KMK aus dem Jahre 2001 an. Grundlage und Leitlinien bildeten darüber hinaus die gemeinsame »Definition of Social Work« der International Federation of Social Workers (IFSW) und der International Association of Schools of Social Work (IASSW) aus dem Jahre 2000 sowie die »Global Standards for Social Work Education and Training« aus dem Jahre 2004 (www.ifsw.org).

In Folge des »Bologna-Prozesses« wurde ein Europäischer Qualifikationsrahmen für Hochschulbildung (EQR) entwickelt, der durch nationale Qualifikationsrahmen umgesetzt werden soll. Die Deutschen Hochschulen haben bereits 2005 einen »Qualifikationsrahmen für deutsche Hochschulabschlüsse« beschlossen. Für Studiengänge der Sozialen Arbeit wurde neben dem Kerncurriculum der DGSA, durch den Fachbereichstag Soziale Arbeit im März 2006, ein Qualifikationsrahmen Soziale Arbeit (QR SArb) entwickelt. Beide Papiere haben lediglich Empfehlungscharakter für die Hochschulen. Zur Abstimmung der beiden Grundlagen wurde anlässlich der Jahrestagung der DGSA im November 2010 ein Diskussionsprozess zwischen Silvia Staub-Bernasconi von der DGSA und Uli Bartosch vom FTS vereinbart.

Somit existieren mittlerweile mehrere Grundlagen zur Gestaltung der Curricula von Studiengängen Sozialer Arbeit, an denen sich die Hochschulen in Deutschland orientieren können.

Unter dem Aspekt der Entwicklung einer eigenen professionellen Identität, wird auch aktuell immer noch nach dem ganz eigenen, sozialarbeitswissenschaftlichen Profil und den damit verbundenen notwendigen Orientierungen im Studium und in der Praxis der Sozialen Arbeit gefragt (Otto/Thiersch 2005; Thole 2005). In diesem Kontext werden in den nach der Bologna-Logik überarbeiteten und neu akkreditierten Studiengängen der Sozialen Arbeit, jeweils abhängig von der Wahl ihrer zentralen Perspektive, alle Inhalte des Studiums und die der Bezugswissenschaften, nach unterschiedlichen Modellen auf einander bezogen und zugeordnet.

So kann beispielsweise eine zentrale Orientierung unter ethischen Aspekten erfolgen, mit der Definition Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession (Staub-Bernasconi 2006 und 2003). Ein anderes Modell ist die Orientierung an Lebenswelten und der darin erkennbaren Bedarfe an Unterstützung, Begleitung und Intervention (Thiersch 2005). Soziale Arbeit in der Definition als Handlungswissenschaft setzt vorrangig auf Konzepte sozialpädagogischen Handelns (Geißler/Hege 2007) oder auf die zentrale Rolle von Methoden Sozialer Arbeit (Galuske 2009). Auch Perspektiven internationaler Sozialer Arbeit oder die Trägerorientierung, wie sie beispielsweise an den Dualen Hochschulen (ehemals Berufsakademien) praktiziert werden, sind derzeitige Modelle curricularer Systematik an deutschen Hochschulen Sozialer Arbeit.

Die Handlungsfeldorientierung, wie sie auch im »Freiburger Modell« gewählt wurde, das in der vorliegenden Publikation im Mittelpunkt steht, ist ein integrierender Ansatz, der aktuell an verschiedenen Hochschulen praktiziert und von einer Reihe von Autoren aufgegriffen wird. Nicht zuletzt geschieht dies auch vor dem Hintergrund der Kompetenzorientierung, als Erfordernis im Zuge des Bologna-Prozesses. Allerdings ist festzustellen, dass sich die Kompetenzorientierung in der Sozialen Arbeit bislang immer noch im Aufbau befindet.

Einen sehr tauglichen Beitrag für die Bestimmung und Zuordnung zentraler Handlungskompetenzen in der Sozialen Arbeit, liefert aktuell Maja Heiner (2010) mit ihrem Kompetenzmodell. Darin verknüpft sie »bereichsbezogene Kompetenzmuster«, zu denen sie »Selbstkompetenz« (Qualifizierung, Identitätsentwicklung, Selbstregulation), »Fallkompetenz« (Fallanalyse und Fallbearbeitung) und »Systemkompetenz« (Angebotsvermittlung/-koordination, Organisationsentwicklung) zählt, mit »prozessbezogenen Kompetenzmustern« wie »Planungs- und Analysekompetenz«, »Interaktions- und Kommunikationskompetenz« sowie »Reflexions- und Evaluationskompetenz«. Aus der Kombination dieser Kompetenzmuster lassen sich, bezogen auf die Praxisanforderungen, differenzierte Kompetenzprofile entwickeln und erklären.

In ausdrücklicher Abgrenzung zu den gewachsenen Berufsfeldstrukturen setzt Heiner allerdings auf funktional begründete Handlungstypen, wie:

•  »Koordinierende Prozessbegleitung« (z. B. Sozialpsychiatrischer Dienst, Allgemeiner Sozialer Dienst/Jugendamt, Sozialdienst im Krankenhaus etc.),

•  »Fokussierte Beratung« (z. B. Erziehungs-/Ehe-/Sucht-/Schuldner-Beratungsstellen, Adoptionsvermittlung etc.),

•  »Begleitende Unterstützung und Erziehung« (Heimerziehung, Tagesgruppen, betreute Wohnformen, Sozialpsychiatrie, Erziehungsbeistandschaft etc.),

•  »Niedrigschwellige Unterstützung, Förderung und Bildung« (Bürgerhaus, Jugendhaus, Arbeitslosentreff, Tagesstätten für psychisch Kranke, Selbsthilfetreffs etc.).

Um eine Begriffsklärung im Sinne einer definitorischen Abgrenzung und damit einer reflektierten Handlungsorientierung bemühen sich Dieter Kreft und C. Wolfgang Müller (2010). Sie halten zwar an dem Paradigma der alten ›klassischen‹ drei Methoden: Einzelfallhilfe, Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit als Ordnungsschema fest, schlagen aber vor, zukünftig nur noch diese als Methoden zu bezeichnen und alle anderen bisher sog. Methoden als »Verfahren« umzubenennen. Ob sich diese Begriffsdefinition in der Fachwelt durchsetzen wird, darf bei allem Respekt vor dem Renommee und der Leistung der beiden Autoren in der und für die Soziale Arbeit bezweifelt werden.

Die ebenfalls im Band von Kreft und Müller vorgenommene Hierarchisierung der Bedeutung von »Handlungskonzepten – Methoden – Verfahren – Techniken«, wie sie auch zuvor schon von Geisler/Hege (2007) und Galuske (2009) skizziert wurde, darf dagegen als zukunftsweisend betrachtet werden, wenn auch sowohl die Trennschärfe, als auch die Zuordnungen nicht immer unumstritten sind, wie am Beispiel »Empowerment« (Handlungskonzept/Ansatz oder Methode?) leicht zu zeigen ist (Herriger 2010).

Auf der Grundlage des dreidimensionalen Kompetenzbegriffs, wie er im Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR) definiert wird, spielen sowohl theoriebegründete Handlungskonzepte, wie auch die Methoden der Sozialen Arbeit, eine wichtige Rolle beim integrierenden Modell der Handlungsfeldorientierung. Die Kombination von Wissensbeständen aus Bezugswissenschaften und originär sozialarbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse (Erklärungswissen), mit Kenntnissen und Fähigkeiten der Entwicklung und Anwendung von Methoden (Handlungswissen und Analyse-/Synthese-/Kritikfähigkeit), bildet auf der Grundlage von Wertorientierungen und Haltungen, die Basis der Ausbildung spezifischer Handlungskompetenzen Sozialer Arbeit.

Die alten drei ›klassischen‹ Methoden der Sozialen Arbeit, Soziale Einzelfallhilfe, Soziale Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit, haben in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Ausdifferenzierung erfahren und neue Ansätze und Methoden kamen hinzu. Allerdings ist die Entwicklung von Handlungskonzepten und Methoden nicht beliebig, sondern es spiegeln sich darin immer auch die gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen und Probleme wider. Methodenentwicklung ist, wie die Soziale Arbeit überhaupt, nur reaktiv zu gesellschaftlichen Prozessen und Veränderungen zu denken, also generell im Kontext gesellschaftlicher Einflussfaktoren zu begreifen.

Während die Systematisierung der Methodenlehre Sozialer Arbeit in den letzten Jahren durch auflagenstarke Werke (Kreft/Müller 2010; Galuske 2009; Spiegel 2008) neu belebt wurde und fortgeschritten ist, bleibt deren systematischer Bezug auf bestimmte Handlungsfelder, die durch den gesellschaftlichen und demografischen Wandel gekennzeichnet sind, noch eher unbefriedigend. So wird beispielsweise bei Galuske (2009) sein fachlicher Bezug zur Jugendarbeit sehr deutlich – andere Handlungsfelder, wie beispielsweise die Soziale Altenarbeit oder die Interkulturelle Soziale Arbeit, werden nicht explizit in den Blick genommen und damit ihre spezifischen Bedingungen vernachlässigt.

Handlungsfeldorientierung im Sinne des »Freiburger Modells« bedeutet deshalb, die aktuellen Bedingungen und Entwicklungen in verschiedenen Feldern der Sozialen Arbeit in den Blick zu nehmen und die daraus abzuleitenden Aktionen und Interventionen, mit denen die Soziale Arbeit fachlich antwortet, in Bezug zu setzen zu den jeweils passenden weil notwendigen Handlungskonzepten und Methoden. Dabei werden Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede in den verschiedenen Handlungsfeldern sichtbar. Handlungskonzepte, Methoden und Techniken werden also auf handlungsfeldspezifische Charakteristika von Aufgabenstellungen, Rechtsgrundlagen, Governance, Trägerlandschaften Situationen und Personen bezogen. Dadurch werden Gestaltungs- und Kontexterfordernisse

Abb. 0.1: Das »Freiburger Modell der Handlungsfeldorientierung« im Studiengang Bachelor Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule Freiburg

deutlich, die an Handlungskonzepte und Methoden zu stellen sind und es wird deren technokratischen Ver- und Anwendung vorgebeugt, die »reiner« Methodenlehre latent innewohnt. So lässt sich eine Systematik für die Gestaltung von Studiengängen Sozialer Arbeit entwickeln, wie sie an der Katholischen Hochschule Freiburg bereits seit einigen Jahren praktiziert wird.

Zentrale curriculare Prinzipien in diesem »Freiburger Modell« sind:

•  Handlungsfeldorientierung,

•  Anwendungsorientierung,

•  Verknüpfung von Praxis- und Wissenschaftsorientierung

•  professionelle Grundhaltungen und ethische Orientierung

Didaktik der Handlungsfeldorientierung – Lehr- und Lernformen

Im Setting von Studiengang und Hochschule ist das Prinzip der Handlungsfeldorientierung auch didaktisch verankert. Zur Aufgabe, zur beruflichen Rolle und komplexen Anforderungen soll am Fall, passend zu Handlungsfeld und Problem, recherchiert, analysiert, entwickelt und fiktiv gehandelt werden. Der Ansatz des forschenden und problemlösenden Lernens mit aktiver Rolle und Selbstorganisation (in Peer-Teams) entspricht dem aktiven Lernhabitus und ist schon Teil der Studieneingangsphase (vgl. StudPo B. A. Soziale Arbeit) (vgl. Rohr/den Ouden/Rottlaender 2016). Dies bedeutet, reale Arbeitsroutinen und berufliche Praxen im Studium nicht einfach abzubilden oder Abläufe nachzuahmen. Vielmehr lernen Studierende in Praktika Fragen und Formen des beruflichen Alltags kennen, und diese fachlich zu reflektieren. In mehreren Praxisphasen lernen sie so berufliche Praxen als reale Modelle kennen. Daran reflektieren sie kritisch fremdes wie eigenes Verhalten und Handeln mit erforderlichen Kompetenzen. Die besondere akademische Chance des B. A.-Studiums liegt in einer reflexiven, wissenschaftlichen Systematisierung der Analyse gesellschaftlicher Realitäten mit Lebenswelten, Sozialräumen und sozialen Problemen. Theoretische Modelle liefern da allgemeingültige Zugänge zu Verstehens-, Erklärungs- und Begründungswissen für mögliches Handeln. Dies regt an und erweitert Denk- und Handlungsräume anders als an einer Fachschule. Für lehrende Dozenten an der Hochschule für Angewandte Wissenschaft bedeutet dies eine didaktische Aufgabe. Inwieweit »berufliche Praxen und Praktiker« mit wissenschaftlichem Wissen arbeiten und unter alltäglichem Handlungsdruck es nutzen, ist immer wieder vielfältiger Anlass für Untersuchung und Fachdiskussionen (vgl. Dewe 2012).

Im modularisierten, kompetenzorientierten Studium gilt es von Anfang an, Lehr- und Lern-Räume in Modulen zu gestalten, die es Studierenden ermöglichen, ihre Potentiale zu entdecken und zu entwickeln. Persönlichkeitsentwicklung und Bildung als zentrale Dimensionen des Studiums von jungen Erwachsenen gilt es, in besonderem Maße für die Studiengänge Soziale Arbeit und Pädagogik zu sehen. Absolventen sollen diese beruflich in ihrer Arbeit auch umsetzen und integrieren können (vgl. Rohr/den Ouden/Rottlaender 2016). Passend zu beruflichen Aufgaben und Anforderungen in Handlungsfeldern (Kompetenz- und Berufsorientierung) sind Kompetenzprofile als Modell in eine reflexive Auseinandersetzung der Studierenden einzubringen (vgl. Schwab 2018). Module lassen sich didaktisch so gestalten, dass sie es fördern, Grundlagenwissen und Theorie mit Formen der Anwendung kompetenzorientiert zu verbinden. Die Arbeit an Fall- und Feldbeschreibungen oder in Projekten mit hohem Realitätsbezug können dies systematisch unterstützen. Das »Freiburger Modell der Handlungsfeldorientierung« setzt auf dieses Potential der Fall- und Feldarbeit als didaktischen Erprobungsraum, der ein reflexives Bedenken in Peer-Arbeitsgruppen von analytisch-diagnostischen bis zur Entwicklung von Interventions-Optionen in Schritten ermöglicht (Schwab 2019).

Handlungsfeldorientierung

Handlungsfeldorientierung meint, Lebens- und Problemlagen in der wechselseitigen Bedingtheit von individueller Ausprägung und gesellschaftlicher Kontextualisierung kritisch wahrzunehmen und zu verstehen und dafür das relevante Erklärungs- und Handlungswissen zu vermitteln. Dazu werden die Studierenden mit den aktuellen Fragestellungen sowie den Handlungskonzepten und Methoden in exemplarischen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit vertraut gemacht.

Begleitend zu den handlungsfeldorientierten Seminaren sieht das Curriculum entsprechende Lehrveranstaltungen vor, in denen für die jeweiligen Handlungsfelder Sozialer Arbeit relevante Theorien, Ansätze und Konzepte vermittelt werden, deren Kenntnisse sowohl als Voraussetzungen in die Seminare zu Handlungsfeldern einfließen als auch dort weiterbearbeitet und transferiert werden.

In (Lehr-)Forschungsprojekten werden Studierende einerseits an den aktuellen Stand der Forschungsmethoden herangeführt, machen aber auch erste eigene Erfahrungen mit der systematischen Bearbeitung eines eigenen Forschungsanliegens in exemplarischen Handlungsfeldern, meist in Kooperation mit Praxiseinrichtungen.

Praxisprojekte, die in jeweils unterschiedlichen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit angesiedelt sind und zusammen mit Praxispartnern in weitgehender Selbstorganisation der Studierenden durchgeführt werden, bieten einen Erfahrungsrahmen für die jeweils relevanten Handlungskonzepte und Methoden und schaffen damit Gelegenheiten zum Kompetenzerwerb.

Anwendungsorientierung

Die curriculare Handlungsfeldorientierung verbindet sich mit einer Betonung des Theorie-Praxis-Bezugs, also einer Anwendungsorientierung. Andererseits muss professionelles Handeln in den unterschiedlichen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit theoriegeleitet sein. Soll also im Studium erworbenes Wissen in Bezug auf die Theorien und Konzepte der Sozialen Arbeit zum Fundament professioneller Praxis werden, muss dieses Wissen auf seine Anwendbarkeit hin überprüft werden können. Dazu bieten sich Praxisphasen an, die das Studium durchgehend begleiten. In den Anfangssemestern sollen Studierende in berufsorientierenden Seminaren nicht nur mit der Geschichte, den unterschiedlichen Handlungsfeldern und Berufsrollen in der Sozialen Arbeit vertraut gemacht werden, sondern können sich in Kleinprojekten selbst in der Praxis erleben und erste Rollenerfahrungen machen. Dabei lassen sich eigene Vorstellungen vom Beruf der Sozialen Arbeit aufbauen, reflektieren und klären.

Im Praxissemester können Studierende das erworbene Wissen unter professioneller Anleitung gezielt in der Praxis anwenden, reflektieren und entsprechend erweitern. Eine intensive Vorbereitung und Begleitung ermöglicht die Entwicklung und Überprüfung persönlicher Lernziele und die Profilierung der eigenen Berufsidentität. Dies regt Studierende dazu an, ihre Erfahrungen aus dem Praxissemester in das weitere Studium einzubringen, zu verarbeiten und Studienschwerpunkte entsprechend den individuellen Interessen zu setzen.

Auch in der Methodenlehre stellt die Anwendungsorientierung im Sinne des Handlungsfeldbezugs, ein kennzeichnendes Merkmal dar: neben der Vermittlung von Überblicks- und Hintergrundwissen zu den Besonderheiten der Methodenlehre Sozialer Arbeit, stellen begleitende Methodenseminare exemplarisch die Anwendung von Methoden Sozialer Arbeit in den Mittelpunkt.

Die Verbindung von Handlungsfeld- und Anwendungsorientierung des Studiums wird weiter durch die Arbeit in und an Projekten forciert, die unterschiedlichen Handlungsfeldern zugeordnet werden können. Die Verbindung von Projektarbeit mit einem gezielten Kompetenzerwerb im Sozialmanagement wird angesichts aktueller Veränderungen in der Fachpraxis verständlich. Zunehmend ist das Projekt die Form, in der Soziale Arbeit organisiert ist und sich teilweise auch finanziert. Die Befähigung, Projekte zu initiieren, nach rechtlichen und ökonomischen Aspekten zu realisieren, auf Nachhaltigkeit hin zu reflektieren und zu evaluieren, wird zur Grundqualifikation, die im Studium der Sozialen Arbeit zu erwerben ist.

Verknüpfung von Praxis- und Wissenschaftsorientierung

Wenn Studierende in der Lage sein sollen, soziale Probleme durch eine qualifizierte berufliche Tätigkeit wissenschaftlich zu bearbeiten, bedarf es einer Verknüpfung von Fähigkeiten, bestimmte Lebens- und Problemlagen in der wechselseitigen Bedingtheit von Individuum und Gesellschaft. kritisch wahrzunehmen, zu verstehen und erklären zu können, verbunden mit zielorientiertem und situationsadäquatem methodischen Handeln.

Dazu bedarf es sowohl eines differenzierten Wissens um die komplexen Strukturen moderner Gesellschaften, als auch der Fähigkeit zu einer multiperspektivischen Analyse der dadurch bedingten prekären Lebenslagen. Neben der Vermittlung von relevantem Erklärungs- und Handlungswissen, sollen Studierende auch dazu befähigt werden, eigenverantwortlich soziale Phänomene wahrzunehmen, berufsrelevante Fragen zu stellen und sich das zur Erklärung erforderliche Wissen zu erarbeiten. Die Verbindung von Lerngelegenheiten für Techniken wissenschaftlichen Arbeitens und der Anleitung zum eigenständigen wissenschaftlichen Denken und Arbeiten fordert zur Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen von Forschung auf. In Lehrforschungsprojekten, die in Kooperation mit der Fachpraxis durchgeführt werden lassen sich die o. g. Ansprüche umsetzen.

Professionelle Grundhaltungen und ethische Orientierung

Selbständiges berufliches Handeln in den unterschiedlichen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit basiert auf professionellen Grundhaltungen. Folglich sind Studierende der Sozialen Arbeit herausgefordert, eine berufliche Identität auszubilden, wozu die Reflexion des eigenen Standpunktes in Bezug auf motivationale Grundlagen und Grundhaltungen erforderlich ist.

Durch das Kennenlernen unterschiedlicher Handlungsfelder Sozialer Arbeit in den Eingangssemestern, können Orte geschaffen werden, an denen berufliches Handeln und Berufsrollen erschlossen und reflektiert werden.

Für die Ausbildung einer beruflichen Identität braucht es entsprechende Lernformen und vertrauensvolle Kontexte. Diese können in kleinen und kontinuierlich über mehrere Semester zusammenarbeitenden Seminargruppen zu Handlungsfeldern Sozialer Arbeit geschaffen werden.

Mit der Intention, Studierende im Sinne einer ganzheitlichen Persönlichkeitsbildung zur Reflexion des eigenen weltanschaulichen und ethischen Standpunktes anzuregen, verbindet sich das Ziel, ihre ethischen Kompetenzen zu fördern.

Aufbau des Buches

Dem vorgestellten Modell folgt die vorliegende Publikation, die exemplarisch folgende Handlungsfelder Sozialer Arbeit in den Blick nimmt:

•  Soziale Arbeit in der Straffälligenhilfe (Kap. 1)

•  Soziale Arbeit in gerontologischen Handlungsfeldern und im Gesundheitswesen (Kap. 2)

•  Soziale Arbeit mit Kindern in unterschiedlichen Lebenslagen (Kap. 3)

•  Soziale Arbeit in und mit Gemeinwesen (Kap. 4)

•  Soziale Arbeit mit Migrant*innen (Kap. 5)

•  Soziale Arbeit mit Familien (Kap. 6)

•  Soziale Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen (Kap. 7)

•  Soziale Arbeit mit verhaltensauffälligen und seelisch behinderten jungen Menschen (Kap. 8)

•  Soziale Arbeit mit Suchtkranken und psychisch kranken Menschen (Kap. 9)

Diese Handlungsfelder werden im Folgenden jeweils in einzelnen Kapiteln nach einer allen Kapiteln gemeinsamen Struktur beschrieben. Nach einer kurzen Vorstellung geschichtlicher Hintergründe und Entwicklungen werden gesellschaftliche, politische, rechtliche, finanzielle und organisatorische Rahmenbedingungen des jeweiligen Handlungsfeldes dargestellt. Auf der Basis aktueller Entwicklungen und Fragestellungen werden die notwendigen Handlungsbedarfe abgeleitet und mit der Frage nach den dafür geeigneten Konzepten und Methoden verknüpft. Diese Auseinandersetzung mit den Handlungskonzepten und Methoden erfolgt auf der Basis der exemplarischen Bearbeitung von Fallbeschreibungen und der Schilderung typischer handlungsrelevanter Situationen, die auch in den handlungsfeldorientierten Seminaren im Studium Anwendung finden können. An solchen praktischen (Fall-)Beispielen werden der Einsatz von und der Bezug auf Konzepte und Methoden der Sozialen Arbeit exemplarisch dargestellt und erläutert So können einerseits die spezifischen Charakteristika der verschiedenen Handlungsfelder verdeutlicht werden, während andererseits die Interventionen nachvollziehbar dargestellt sind. Auf diese Weise erfolgt eine Auseinandersetzung mit den aktuellen Herausforderungen und Rahmenbedingungen der Sozialen Arbeit in typischen Handlungsfeldern, im Sinne einer reflektierenden Analyse und eines Praxis-Theorie-Transfers.

Trotz dieser gemeinsamen Struktur lässt die Darstellung nach Handlungsfeldern prägnante Unterschiede der Gestaltung und Anwendung von Handlungskonzepten und Methoden erkennen, die sowohl auf unterschiedlichen Rahmenbedingungen als auch auf unterschiedlichen Schwerpunkten bezüglich der begründenden Theorien und Konzepte und damit auch auf den Zielsetzungen beruhen können.

Aufgrund des Anspruches an dieses Buch, einerseits ein möglichst umfassendes Spektrum an Handlungsfeldern Sozialer Arbeit abbilden zu können und andererseits einen noch kompakten Umfang einzuhalten, müssen die einzelnen Kapitel sehr komprimiert gestaltet sein. Dies hat zur Folge, dass nicht alle handlungsfeldspezifischen Einrichtungen und Dienstleistungen gleichermaßen Berücksichtigung finden können.

Ähnliches gilt für die Darstellung von Handlungskonzepten und Methoden Sozialer Arbeit in den jeweiligen handlungsfeldspezifischen Kapiteln. Weil diese ausgehend von einem Fall oder orientiert an einer typischen Situation vorgestellt werden, ist auch hier eine Konzentration auf bestimmte fallbezogen oder situativ geeignete Methoden und damit eine Einschränkung der Vielfalt des möglichen Spektrums von Interventionen verbunden. Ein Anspruch dieser Publikation ist es aber, einen Überblick über die aktuellen Entwicklungen in den unterschiedlichen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit zu geben und damit Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihnen sichtbar zu machen. Damit ist dieses Buch auch eine Orientierungshilfe im Studium der Sozialen Arbeit, eine Art Wegweiser für die individuelle Richtungsentscheidung, mit welchem Handlungsfeld eine vertiefende exemplarische Auseinandersetzung erfolgen soll. Für Berufsein- oder Umsteiger bietet es eine fundierte und gleichzeitig nützliche Einführung in neue Handlungsfelder zur ersten Orientierung. Und selbst für Praktiker*innen dürfte sich dieses Buch als hilfreiche Anleitung zur Reflexion der eigenen Alltagsroutinen und damit zur Weiterentwicklung von Konzeption und deren Umsetzung eignen.

Literatur

Dewe B. (2012) Akademische Ausbildung in der Sozialen Arbeit – Vermittlung von Theorie und Praxis oder Relationierung von Wissen und Können im Spektrum von Wissenschaft, Organisation und Profession. In: Becker-Lenz, R./Busse, S./Ehlert, G./Müller-Hermann, S. (Hrsg.): Professionalität Sozialer Arbeit und Hochschule. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 111–128.

Engelke, E. (1999): Soziale Arbeit als Wissenschaft – eine Orientierung. 3. Aufl. Freiburg: Lambertus.

Engelke, E./Borrmann, S./Spatscheck, Ch. (2008): Theorien der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. 4. Aufl. Freiburg: Lambertus.

Engelke, E./Spatscheck, Ch./Borrmann, S. (2009): Die Wissenschaft Soziale Arbeit – Werdegang und Grundlagen. 3. Aufl. Freiburg: Lambertus.

EQR (2008): Der Europäische Qualifikationsrahmen. http://ec.europa.eu/education/lifelong-learning-policy/doc44_de.htm

Galuske, M. (2009): Methoden der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. 8. Aufl. Weinheim/München: Juventa.

Geißler, K. A./Hege, M. (2007): Konzepte sozialpädagogischen Handelns. Ein Leitfaden für soziale Berufe. 11. Aufl. Weinheim/München: Juventa.

Heiner, M. (2010): Kompetent handeln in der Sozialen Arbeit. München: Reinhardt.

Herriger, N. (2010): Empowerment in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer.

Mühlum, A. (Hrsg.) (2004): Sozialarbeitswissenschaft – Wissenschaft der Sozialen Arbeit. Freiburg: Lambertus.

Kreft, D./Müller, W. (Hrsg.) (2010): Methodenlehre in der Sozialen Arbeit. Konzepte, Methoden, Verfahren, Techniken. Stuttgart: UTB.

Otto, H. U./Thiersch, H. (Hrsg.) (2005): Handbuch Sozialarbeit/Sozialpädagogik. 3. Aufl. München: Reinhardt.

Rohr, D/den Ouden, H/Rottlaender, E-M. (2016): Hochschuldidaktik im Fokus von Peer Learning und Beratung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.

Schwab, J. E. (2018): Entwicklungs- und Analysezirkel. Ansatz der Konzeptionsentwicklung. Unveröffentlichtes Skript. Wintersemester 2018. Katholische Hochschule Freiburg.

Schwab, J. E. (2020): Handlungsfeld und Konzepte Sozialer Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Sozialisation, Persönlichkeitsbildung und Konzeptionsentwicklung. In: Kricheldorff, C./Becker, M./Schwab, J. E. (Hrsg.): Handlungsfeldorientierung in der Sozialen Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer.

Staub-Bernasconi, S. (2006): Der Beitrag einer systemischen Ethik zur Bestimmung von Menschenwürde und Menschenrechten in der Sozialen Arbeit. In: Dungs, S./Gerber, U./Schmidt, H./Zitt, R. (Hrsg.): Soziale Arbeit und Ethik im 21. Jahrhundert. Ein Handbuch. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, S. 267–289.

Staub-Bernasconi, S. (2003): Soziale Arbeit als (eine) Menschenrechtsprofession. In: Sorg, R. (Hrsg.): Soziale Arbeit zwischen Politik und Wissenschaft. Münster: LIT, S. 17–54.

Thiersch, H. (2005): Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Aufgaben der Praxis im sozialen Wandel. 6. Aufl. Weinheim/München: Juventa.

Thole, W. (Hrsg.) (2005): Grundriss Soziale Arbeit – Ein einführendes Handbuch. Wiesbaden: VS-Verlag.

Spiegel, H. von (2008): Methodisches Arbeiten in der Sozialen Arbeit. Grundlagen und Arbeitshilfen für die Praxis. 3. Aufl. München, Basel: Reinhardt.

1         Handlungsfeld Soziale Arbeit in der Straffälligenhilfe

Werner Nickolai, Annette Bukowski

1.1       Einleitung

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem Handlungsfeld Straffälligenhilfe. An unserer Hochschule findet dazu ein Handlungsfeldseminar mit dem Titel »Soziale Arbeit mit straffällig gewordenen Menschen« statt. Darüber hinaus wird ein Fall-/Feldseminar zum Handlungsfeld angeboten.

Im Modulhandbuch werden für diese Seminare u. a. folgende Ziele formuliert:

•  Studierende sind in der Lage ihre Berufsrolle/n zu reflektieren und sich kritisch mit beruflichen Dienstleistungen auseinanderzusetzen;

•  die Studierenden sind in der Lage, bezugswissenschaftliche Grundlagen in die Ziele und Aufgaben der Sozialen Arbeit zu integrieren;

•  die Studierenden kennen unterschiedliche Theorien und Handlungsansätze und können diese auf aktuelle Fragestellungen anwenden;

•  sie analysieren theoriegeleitet Fälle, Problemkonstellationen und Handlungsanforderungen aus der Fachpraxis;

•  sie entwickeln durch die exemplarische Bearbeitung von Fällen, Problemkonstellationen und aktuell erkennbaren Handlungsanforderungen ihr professionelles Handeln;

•  sie können berufliches Handeln theoretisch begründen, planen, reflektieren und evaluieren.

An Inhalten werden genannt:

•  Berufsrolle/n

•  Strukturprinzipien (Partizipation, Subsidiarität, Mandatierung Sozialer Arbeit)

•  Sozialpolitische Strukturen

•  Hilfesysteme und Hilfestrukturen

•  Rechtliche Rahmenbedingungen

•  Konzepte der Lebenswelt, Lebenslage, des Sozialraums

•  Rekonstruktive Fallbetrachtung und Handlungsanalyse

•  Interventions- und Hilfeplanung in interdisziplinären Settings

Die im Handlungsfeldseminar sowie in einem weiteren Seminar zu Kriminalitätstheorien angebotenen Lehrinhalte sollen im interdisziplinären Fallseminar, das von beiden Autor*innen verantwortet wird, angewandt werden. Dies geschieht im Rahmen der Bearbeitung von authentischen Fällen aus der Jugendgerichtshilfe/Jugendhilfe im Strafverfahren. Dabei haben die Studierenden die Aufgabe, den vorgegebenen Fall aus der Perspektive der Jugendgerichtshilfe/Jugendhilfe im Strafverfahren zu bearbeiten.

Die Darstellung und Bearbeitung eines solchen Falles sollen im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen. Es würde den Rahmen sprengen, alle Inhalte der Seminare anzusprechen.

Im weiteren Verlauf werden wir zunächst die Zielgruppe, mit der wir es in der Straffälligenhilfe zu tun haben, kurz umreißen. Es schließt sich eine Darstellung der Arbeitsfelder in der Straffälligenhilfe an, wobei wir hier insbesondere auf die Jugendgerichtshilfe/Jugendhilfe im Strafverfahren eingehen. Nach der Darstellung eines konkreten Falls der Jugendgerichtshilfe/Jugendhilfe im Strafverfahren werden wir den methodischen Ablauf der Fallbearbeitung vorstellen. Mit der (exemplarischen und damit auch nicht vollständigen) Falllösung enden unsere Ausführungen.

1.2       Zielgruppe

Als Straffällige werden solche Jugendlichen oder Erwachsenen bezeichnet, bei denen gerichtlich das Vorliegen einer Straftat festgestellt wurde. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Angebote und Aktivitäten der Straffälligenhilfe nur konzipiert wurden oder nur erreichbar sind für verurteilte Straftäter*innen. So ist etwa die Jugendgerichtshilfe damit befasst, bereits vor der Entscheidung des Gerichts »die erzieherischen, sozialen und fürsorgerischen Gesichtspunkte im Verfahren vor den Jugendgerichten zur Geltung« zu bringen (§ 38 Jugendgerichtsgesetz –JGG). Dabei gilt bis zum rechtskräftigen Urteil die Unschuldsvermutung.

Klient*innen der Straffälligenhilfe können auch Strafentlassene sein, die ohne vorzeitige Entlassung ihre ganze Strafe verbüßt haben und in Anspruch nehmen dürfen, nicht weiter als Straftäter*innen abgestempelt zu werden. Nicht zuletzt ist die Straffälligenhilfe auch eine Anlaufstelle für die Angehörigen eines straffällig gewordenen Menschen.

Voraussetzung für die Straffälligkeit ist die Strafmündigkeit. Kinder bis zum 14.Lebensjahr gelten als strafunmündig. Das Jugendgerichtsgesetz (JGG) unterscheidet in § 1 Abs. 2 zwischen Jugendlichen und Heranwachsenden. »Jugendlicher ist, wer zur Zeit der Tat vierzehn, aber noch nicht achtzehn, Heranwachsender, wer zur Zeit der Tat achtzehn, aber noch nicht einundzwanzig Jahre alt ist.«

Die Bezeichnung Straffälligenhilfe drückt also nur aus, dass Menschen im Zusammenhang mit dem Entstehen und dem Verlauf von Kriminalität in Situationen kommen, in denen sie einen spezifischen Hilfebedarf haben können, der mit dem Straf- und Vollstreckungsverfahren zusammenhängt und mit Problemen ihrer gesellschaftlichen (Wieder-)Eingliederung.

1.3       Arbeitsfelder der Straffälligenhilfe

Der Begriff Straffälligenhilfe steht für alle öffentlichen und privaten Hilfs- und Unterstützungsangebote Sozialer Arbeit, die auf die Resozialisierung von Straftäter*innen abzielen. Soziale Arbeit als Straffälligenhilfe verfolgt das Ziel, die Lebenssituation und die gesellschaftliche Lage straffällig gewordener Menschen, aber auch deren Angehöriger dauerhaft zu verbessern (Maelicke/Simmedinger 1987).

Die klassischen Arbeitsfelder, in denen Straffälligenhilfe geleistet werden, sind:

•  die freie Straffälligenhilfe, die meist von den Wohlfahrtsverbänden geleistet wird und überwiegend (erwachsene) Männer und Frauen anspricht;

•  die Jugendgerichtshilfe, oder auch Jugendhilfe im Strafverfahren genannt, die eine Aufgabe des Jugendamtes darstellt;

•  die Gerichtshilfe (nur für Erwachsene);

•  die Bewährungshilfe;

•  die Führungsaufsicht;

•  die Soziale Hilfe in der Untersuchungshaft, im Strafvollzug wie auch in der Jugendarrestanstalt.

Die Arbeitsfelder ließen sich auch nach der freien und kommunalen Hilfe für Straffällige (freie Träger und Kommunen) und der justiziellen Straffälligenhilfe (Gerichtshilfe, Bewährungshilfe, Führungsaufsicht, Soziale Arbeit in der Untersuchungshaft, im Strafvollzug und in der Jugendarrestanstalt als Aufgabe der Justiz) gliedern. Hier sei nur am Rande vermerkt, dass sich die Trägerlandschaft gerade in dem etablierten justiziellen Bereich verändern kann. So wurden beispielsweise in Baden-Württemberg die Gerichtshilfe, die Bewährungshilfe und die Führungsaufsicht privatisiert. Träger war der Verein »Neustart« (gemeinnützige GmbH). Eine erste Teilprivatisierung fanden wir auch im Strafvollzug. So waren in der Justizvollzugsanstalt Offenburg die Mitarbeiter*innen des Sozialen Dienstes, mit Ausnahme der beiden geschäftsführenden Sozialarbeiter, nicht bei der Justiz, sondern bei der Firma Kötter angestellt. Dies traf auch auf die Mitarbeiter*innen des psychologischen Dienstes und des pädagogischen Dienstes zu. Während der Verein »Neustart« schon seit vielen Jahren in Österreich die Bewährungshilfe durchführt, ist die Firma Kötter auch in völlig anderen Bereichen außerhalb der Sozialen Arbeit, etwa in der Chemischen Industrie, in der Immobilienverwaltung oder im Maschinenbau tätig. Es wäre lohnend, hier nochmals genauer zu hinterfragen, inwieweit sich eine »privatisierte« Straffälligenhilfe von einer »justiziellen« Straffälligenhilfe unterscheidet. Heute befindet sich wieder alles unter staatlicher Obhut. Die Trägerlandschaft kann sich auch von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich darstellen.

Jugendgerichtshilfe/Jugendhilfe im Strafverfahren

Wird strafrechtlich gegen Jugendliche oder Heranwachsende ermittelt, ist immer das Jugendamt zu beteiligen.

Nach § 1 Abs. 1 SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz) hat jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Um dieses Recht zu gewährleisten, soll die Jugendhilfe junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligung zu vermeiden oder abzubauen (§1 Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII).

Erstmals wurde die Jugendgerichtshilfe (JGH) im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (1922) und im Reichsjugendgerichtsgesetz (1923) verankert. Historisch war die JGH zunächst völlig auf die gerichtliche Hauptverhandlung ausgerichtet. Die wesentliche Aufgabe sah man darin, Jugendrichter zu unterstützen. Seit dem Jugendgerichtsgesetz (JGG) von 1953 soll die JGH im Jugendstrafverfahren die »erzieherischen und fürsorgerischen Gesichtspunkte zur Geltung bringen und dabei insbesondere die in § 38 JGG normierten Aufgaben erfüllen« (Trenczek 2009).

§ 38 Jugendgerichtsgesetz

(1)  Die Jugendgerichtshilfe wird von den Jugendämtern im Zusammenwirken mit den Vereinigungen für Jugendhilfe ausgeübt.

(2)  Die Vertreter der Jugendgerichtshilfe bringen die erzieherischen, sozialen und fürsorgerischen Gesichtspunkte im Verfahren vor den Jugendgerichten zur Geltung. Sie unterstützen zu diesem Zweck die beteiligten Behörden durch Erforschung der Persönlichkeit, der Entwicklung und der Umwelt des Beschuldigten und äußern sich zu den Maßnahmen, die zu ergreifen sind. In Haftsachen berichten sie beschleunigt über das Ergebnis ihrer Nachforschung. In die Hauptverhandlung soll der Vertreter der Jugendgerichtshilfe entsandt werden, der die Nachforschungen angestellt hat. Soweit nicht ein Bewährungshelfer dazu berufen ist, wachen sie darüber, dass der Jugendliche Weisungen und Auflagen nachkommt. Erhebliche Zuwiderhandlung teilen sie dem Richter mit. Im Fall der Unterstellung nach § 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 üben sie die Betreuung und Aufsicht aus, wenn der Richter nicht eine andere Person damit betraut. Während der Bewährungszeit arbeiten sie eng mit dem Bewährungshelfer zusammen. Während des Vollzugs bleiben sie mit dem Jugendlichen in Verbindung und nehmen sich seiner Wiedereingliederung in die Gemeinschaft an.

(3)  Im gesamten Verfahren gegen einen Jugendlichen ist die Jugendgerichtshilfe heranzuziehen. Dies soll so früh wie möglich geschehen. Vor der Erteilung von Weisungen (§ 10) sind die Vertreter der Jugendgerichtshilfe stets zu hören; kommt eine Betreuungsweisung in Betracht, sollen sie sich auch dazu äußern, wer als Betreuungshelfer bestellt werden soll.

Wenn auch die Aufgabe der Jugendgerichtshilfe dem Jugendamt obliegt, kann sie aber auch von einem anerkannten Träger der freien Jugendhilfe übernommen werden. Die rechtliche Grundlage hierzu finden wir in § 52 SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz). In größeren Städten ist die Jugendgerichtshilfe ein eigenständiger Fachdienst, während in Landkreisen die JGH meist eine von vielen Aufgaben des Allgemeinen Sozialen Dienstes ist.

§ 52 SGB VIII – Mitwirkung in Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz

(1)  Das Jugendamt hat nach Maßgabe der §§ 38 und 50 Abs. 3 Satz 2 des Jugendgerichtsgesetzes im Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz mitzuwirken.

(2)  Das Jugendamt hat frühzeitig zu prüfen, ob für den Jugendlichen oder den jungen Volljährigen Leistungen der Jugendhilfe in Betracht kommen. Ist dies der Fall oder ist eine geeignete Leistung bereits eingeleitet oder gewährt worden, so hat das Jugendamt den Staatsanwalt oder den Richter umgehend davon zu unterrichten, damit geprüft werden kann, ob die Leistung ein Absehen von der Verfolgung (§ 45 JGG) oder eine Einstellung des Verfahrens (§ 47 JGG) ermöglicht.

(3)  Der Mitarbeiter des Jugendamtes oder des anerkannten Trägers der freien Jugendhilfe, der nach § 38 Abs. 2 Satz 2 des Jugendgerichtsgesetzes tätig wird, soll den Jugendlichen oder den jungen Volljährigen während des gesamten Verfahrens betreuen.

Bis Anfang der 1980er Jahre überwog in der Jugendgerichtshilfe die Hilfe für das Gericht bzw. den*die Jugendrichter*in als zentrale Person des Prozesses, sozialpädagogische Aufgaben erschienen nachrangig.

Trenczek (2009) verweist mit Recht darauf, dass die einerseits jugendhilfeorientierte und andererseits jugendstrafrechtliche Aufgabenstellung zwangsläufig zu Konflikten im Aufgaben- und Selbstverständnis der Sozialen Arbeit führt. Die Praxis, so Trenczek, habe sich in weiten Teilen pragmatisch eingerichtet und sich auf die Vorlage von Jugendhilfeberichten, die Wahrnehmung von Gerichtsterminen, die Äußerung von Sanktionsvorschlägen und die Umsetzung gerichtlich angeordneter Weisungen und Auflagen konzentriert.

Das SGB VIII hebt nun die sozialpädagogische Verantwortung der Jugend-(Gerichts-)Hilfe hervor. Auch wenn das Jugendamt seine Dienste aus Anlass eines Strafverfahrens anbietet, handelt es sich stets um ein sozialpädagogisch intendiertes Angebot (Trenczek 2009). In dem oben zitierten § 52 Absatz 2 SGB VIII wird das Jugendamt dazu verpflichtet »frühzeitig zu prüfen, ob für den Jugendlichen oder den jungen Volljährigen Leistungen der Jugendhilfe in Betracht kommen.« Das SGB VIII vermeidet bewusst den Begriff »Jugendgerichtshilfe« und spricht stattdessen von der Mitwirkung der Jugendhilfe im Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz. Inzwischen wird statt des Begriffs Jugendgerichtshilfe vielfach der Begriff der Jugendhilfe im Strafverfahren verwendet, der das Selbstverständnis der Jugendgerichtshilfe als Teil der Jugendhilfe und als Hilfe für den Jugendlichen und seine Familie besser beschreibt. Die Jugendhilfe hat aus Anlass und während eines Strafverfahrens die Aufgabe, Krisen zu managen, Hilfestellungen zu leisten, Lebenslagen zu verbessern, zu beraten und Wege in die soziale Integration aufzuzeigen. Jugendgerichtshilfe, so Trenczek (2010), ist Aufgabe des Jugendamtes und damit – ungeachtet des strafrechtlichen Verfahrens – eine sozialrechtliche und sozialpädagogisch angelegte Hilfe zugunsten noch in der Entwicklung befindlicher junger Menschen und ihrer Familien. Deshalb besteht die Mitwirkung der Jugendhilfe im jugendstrafrechtlichen Verfahren vor allem darin, zu prüfen, ob ein (erzieherischer) Bedarf für Leistungen nach dem SGB VIII besteht, um damit zuvörderst ein strafrechtliches Verfahren bzw. eine entsprechende strafrechtliche Sanktion überflüssig zu machen (Diversion nach §§ 45, 47 JGG). Das Jugendamt muss deshalb frühzeitig, also unverzüglich nach Eingang der ersten Information und vor Anklageerhebung, von Amts wegen prüfen, ob Jugendhilfemaßnahmen in Betracht kommen und diese gegebenenfalls initiieren.

Die Freiburger Jugendgerichtshilfe hat sich konsequenterweise in »Jugendhilfe im Strafverfahren« umbenannt. In der Praxis bedeutet das, dass die Freiburger Jugendhilfe im Strafverfahren neben der bislang klassischen Arbeit der Jugendgerichtshilfe die Aufgaben des Allgemeinen Sozialen Dienstes für die jungen Menschen mit übernimmt, für die sie anlässlich eines Strafverfahrens nun zuständig ist.

Zusammenfassend lassen sich folgende Aufgaben der Jugendgerichtshilfe bzw. der Jugendhilfe im Strafverfahren benennen (Klier u. a. 2002):

1.  Beratung des jungen Menschen bezüglich seiner Rechte im Strafverfahren, der Jugendhilfe und anderer Leistungen, frühzeitige Prüfung des Hilfebedarfs, Vermittlung und Durchführung dieser Hilfen auch zur Vermeidung von (Untersuchungs-) Haft oder zur Vermeidung eines förmlichen Verfahrens (Diversion), Vorbereitung auf die Verhandlung, Einbeziehung der Erziehungsberechtigten und Bezugspersonen in die Beratung.

2.  Vertretung der Belange der Jugendhilfe bei Staatsanwaltschaft und Gericht, d. h. Darstellung der persönlichen, familiären und sozialen Gegebenheiten des jungen Menschen unter Berücksichtigung seiner aktuellen Lebenssituation, Unterbreitung von Jugendhilfeleistungen, Beratung der Justizorgane zur Findung angemessener Reaktionen im Sinne eines Entscheidungsvorschlages.

3.  Koordination der sozialpädagogischen Fachkräfte, die im Jugendstrafverfahren tätig sind. Zu diesem Zweck hat sie verschiedene Beteiligungsrechte im gesamten Verfahren (z. B. Informationsrechte, Verkehrs- und Kontaktrechte). Ambulante »Maßnahmen« der Jugendhilfe können wie andere Leistungen der Jugendhilfe auch letztlich nur im Einvernehmen mit der Jugend-(Gerichts-)Hilfe durchgeführt werden. Die diesbezügliche fachliche Entscheidung des Jugendamtes kann nicht durch das Urteil ersetzt werden.

1.4       Exemplarisches Fallbeispiel

Die folgenden Materialien beziehen sich auf einen authentischen Fall der Jugendgerichtshilfe Freiburg. Dieser ist exemplarisch für jene Fälle, welche im interdisziplinären Seminar bearbeitet werden. Personennamen wurden verändert.

Auszug aus der Anklageschrift vom 22.02.2018 an das Amtsgericht – Jugendschöffengericht – Freiburg

Anklageschrift

in der Strafsache gegen

Santino Krämer

geb. am 04.07.2001 in Freiburg, Schüler, ledig,deutscher Staatsangehöriger,wohnhaft SchwarzwaldstraßeGesetzliche Vertreterin:Frau Helga Krämer

Boris Müller-Wohlfahrt

geb. am 05.01.2002 in Freiburg, Schüler, ledig,

Alexander Fritz

geb. am 02.05.2002 in Freiburg, Schüler, ledig

Renaldo Bayram

geb. am 7.10.2002 in Freiburg, Schüler, ledig

Die Staatsanwaltschaft legt aufgrund ihrer Ermittlungen den Angeschuldigten folgenden Sachverhalt zur Last:Am 29.10.2017 gegen 0:45 Uhr stiegen die Angeschuldigten und der spätere Geschädigte, der 16-jährige Denis Herzog, an der Haltestelle Lassbergstraße in Freiburg in den Bus in Richtung Freiburg-Kappel. Denis Herzog wandte sich im Bus sogleich an die ihm bekannten Zeugen Moritz und Sascha, die ebenfalls nach Freiburg-Kappel fuhren, weil er zuvor auf der Fahrt mit der Straßenbahn von den Angeschuldigten provoziert worden war und beim Verlassen der Straßenbahn von einem der Angeschuldigten einen Schlag ins Gesicht erhalten hatte. Er befürchtete deshalb weitere Angriffe der Angeschuldigten. Die Zeugen Moritz und Sascha erklärten sich bereit, bei Denis Herzog zu bleiben und ihn zu schützen.

An der Haltestelle Peterbergstraße in Freiburg-Kappel verließen alle den Bus. Die Angeschuldigten waren bis dorthin mitgefahren, obwohl sie früher hätten aussteigen sollen, um nachhause zu kommen. Unmittelbar nach Verlassen des Busses gingen die Angeschuldigten auf Denis Herzog zu, drohten ihm, in »aufzuschlitzen«, und schlugen und traten auf ihn ein. Der Angeschuldigte Müller-Wohlfahrt ergriff einen etwa faustgroßen Stein und schlug ihn gegen den Kopf von Denis Herzog, während die übrigen Angeschuldigten weiterhin auf Denis Herzog eintraten und ihn so zu Boden brachten. Die Zeugen Moritz und Sascha versuchten erfolglos, die Angeschuldigten von Angriffen auf Denis Herzog abzuhalten. Die Angeschuldigten drohten ihnen und hielten sie davon ab, einzugreifen. Der Zeuge Moritz entfernte sich dann, um die Polizei zu informieren. Der Angeschuldigte Müller-Wohlfahrt schlug dem Zeugen Sascha mit der Faust ins Gesicht, wobei er den Stein noch in der Hand hielt. Der Zeuge Sascha zog sich daraufhin etwas zurück.

In dieser Situation griff der bis dahin am Geschehen unbeteiligte 31-jährige Zeuge Gabriel Dietrich ein. Er hatte das provozierende Verhalten der Angeschuldigten bemerkt und war entgegen seinem ursprünglichen Plan bereits an der Haltestelle Petersbergstraße mit allen anderen ausgestiegen. Als die Angeschuldigten Denis Herzog zu Boden schlugen und verletzten, wollte der Zeuge Gabriel Dietrich die Angeschuldigten am weiteren Vorgehen hindern. Dies nahmen alle vier Angeschuldigten zum Anlass, sogleich von Herzog abzulassen und sich dem Zeugen Dietrich zuzuwenden. Sie schlugen ihn zu Boden und traten heftig auf ihn ein, der Angeschuldigte Müller-Wohlfahrt schlug zudem mit einem Stein auf Dietrich ein oder warf den Stein gegen seinen Kopf. Denis Herzog konnte unterdessen fliehen.

Der Angeschuldigte Müller-Wohlfahrt bedrohte schließlich den Geschädigten Dietrich und die Zeugen Moritz und Sascha, sie »aufzuschlitzen«, wenn sie die Polizei riefen oder gegenüber der Polizei etwas erwähnten. Hiermit wollte er erreichen, dass die Tat und seine Beteiligung daran nicht bekannt werden.

Der Geschädigte Herzog erlitt eine Platzwunde am Hinterkopf, eine Gehirnerschütterung, zahlreiche länger anhaltende schmerzhafte Prellung, vor allem an den Oberschenkeln und den Rippen, Schmerzen am Kiefer und tagelange Kopfschmerzen.

Der Geschädigte Dietrich erlitt eine blutende Kopfplatzwunde, die genäht werden musste, eine Schürfwunde am Ohr, eine Lippenplatzwunde, die ebenfalls genäht wurde, und eine Verstauchung und Zerrung am Fuß.

Der Zeuge Sascha erlitt eine schmerzhafte Prellung an der linken Wange.

Strafanträge wurden form- und fristgerecht gestellt.

Die Angeschuldigten waren zur Tatzeit 15 bzw. 16 Jahre alt und besaßen die erforderliche Reife, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.

Die Angeschuldigten werden daher beschuldigt,als strafrechtlich verantwortliche Jugendlichein drei tateinheitlichen Fällen einen anderen mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich und mittels einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs körperlich misshandelt oder an der Gesundheit beschädigt zu haben,

strafbar als gefährliche Körperverletzung nach §§ 224 Abs. 1 Nr. 2, 25 Abs. 2, 52 StGB, §§ 1, 3 JGG.

Wesentliche Ergebnisse der Ermittlungen:Der 16-jährige Angeschuldigte Santino Krämer wohnt bei seinen Eltern in Freiburg in der Schwarzwaldstraße. Er besucht die 9. Klasse einer Hauptschule und macht dieses Jahr den Hauptschulabschluss.

Zur Tat haben sich alle Angeschuldigten dem Grunde nach geständig gezeigt, ihre Tatbeteiligung jedoch jeweils heruntergespielt.

Die Zuständigkeit des Jugendschöffengerichts ergibt sich aus der wegen der vorliegenden schädlichen Neigung und wegen der Schwere der Schuld zu erwartenden Jugendstrafe.

gez. XXXStaatsanwalt

 

Auszüge aus dem Hilfeplan des Jugendamts Freiburg vom 23.06.2018 Krämer, Santino geb. 04.07.2001

 

I. Psychosoziale Diagnose

1. Bisherige Entwicklung und FamilienanamneseSantino wohnt mit seiner einjährigen Schwester und dem 11-jährigen Bruder im Haushalt seiner Eltern. Sein Vater ist Angestellter in der Verwaltung der Uni-Klinik, seine Mutter gelernte Krankenschwester, geht aber aufgrund der Kinderbetreuung Nebenjobs nach.

Nach dem Besuch der Weiherhofgrundschule ging Santino auf die Emil-Thoma-Realschule, wo er in der 8. Klasse Lernschwierigkeiten bekam und mit seinem Verhalten auffiel und nur auf Probe in die 9. Klasse versetzt werden konnte. Während der Probezeit wurde festgestellt, dass Santino doch die 8. Klasse wiederholen sollte. Im Halbjahr verließ Santino die Realschule und wechselte auf die Turnseehauptschule, wo er derzeit die 9. Klasse besucht. Anschließend wünscht er sich, die Werkrealschule mit dem Realschulabschluss abschließen zu können.

Santino berichtet, dass er über zehn Jahre aktiv im Fußballverein gespielt hat. Vor ca. 1,5 Jahren habe er aufgehört, weil er unter zu viel Leistungsdruck stand und begann sich auch für andere Dinge zu interessieren.

2. Aktuelle Situation/ProblemlageSantino wurde am 22.02.2017 angezeigt wegen Diebstahls und Sachbeschädigung. Bereits dem Schlussvermerk des Jugendsachbearbeiters der Polizei konnte entnommen werden, dass sich Santino uneinsichtig zeigte und überheblich wirkte. Die Arbeitsstunden aus dem Urteil vom 19.10.2017 erledigte Santino unzuverlässig, das Urteil ist noch nicht erfüllt.

Am 29.11.2017 wurde Santino mit drei weiteren Jugendlichen wegen Gewalttaten angezeigt, die Hauptverhandlung findet am 24.06.2018 statt.

Die Eltern von Santino haben sich nach dem Vorfall Ende Dezember zeitnah an die Jugendhilfe im Strafverfahren (JuHiS) gewandt, da sie sehr erschrocken waren und sich hilflos fühlten. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Familie mit Drobs e. V.1 bereits Kontakt aufgenommen und nahm familientherapeutische Hilfe in Anspruch, da Santinos Cannabis- und Alkoholkonsum den Alltag der Familie sehr beeinträchtigte. Der Jugendliche wechselte 2017 aufgrund seiner Verhaltensschwierigkeiten und Lernunlust im laufenden Schuljahr in der wiederholten 8. Klasse von der Emil-Thoma-Realschule auf die Turnsee-Hauptschule, die er dieses Jahr mit dem Hauptschulabschluss abschließen will.

Insbesondere Santinos Widerstand gegen Regeln in der Familie, seine Distanzeinnahme gegenüber den Eltern und seine Selbstüberschätzung machen den Eltern zu schaffen, so dass bereits über eine Unterbringung außerhalb der Familie nachgedacht wurde. Santino wehrt sich vehement gegen diese Idee, gibt an, seine Familie zu brauchen, und kann sich nicht vorstellen, in einer Wohngruppe zu leben. Nachdem Santino in der Wohnung nach einem Streit randalierte, gab er im Gespräch an, er sei in der Pubertät, man müsse mit ihm Nachsicht üben, Jugendlichen sollte überlassen werden, sich Freiheiten rauszunehmen, und seine Eltern würden mit ihrer Sorge übertreiben.

3. Sicht des jungen Menschen/der Eltern/des/der PersonensorgeberechtigtenSantino bezeichnet sich selbst als unzufrieden mit der familiären Situation, da er sich nicht verstanden fühlt in seinen Interessen und Vorstellungen vom Leben. Er möchte Freiheiten in Anspruch nehmen, um sich austesten zu können.

Santinos Eltern haben das Gefühl, ihr Sohn würde ihnen entgleiten und sie hätten keinen Einfluss mehr auf ihn. Ihr gesamtes Familienleben würde unter Santinos Verhalten leiden. Eine Herausnahme aus der Familie wurde bereits angedacht.

In Folge einer Auseinandersetzung zwischen Santino und seiner Mutter, in der die Mutter körperliche Übergriffe befürchten musste, da der Jugendliche alkoholisiert war, fand eine Inobhutnahme statt, auf die sich Santino einlassen konnte. Nach der Inobhutnahme hat sich Santino auf die Klärung des Zusammenlebens in der Familie wieder einlassen können.

Die Eltern möchten in ihrer Erziehungsarbeit nachhaltig unterstützt werden und neue, verlässliche Strukturen für ihr Familienleben erarbeiten können.

4. Bisherige Lösungsversuche und Ressourcen der BeteiligtenDie Familie hatte regelmäßig familientherapeutische Beratungsgespräche bei Drobs e. V.

 

II. Hilfeplan

1. Fachliche Einschätzung der fallführenden Fachkraft zum bestehenden erzieherischen Bedarf sowie zur Art und zum Umfang der notwendigen und geeigneten HilfeVom Fachteam wurde eine parteiliche Arbeit über die Familienberatung der Ohlebusch-Gruppe empfohlen, auch aufgrund des großen Widerstands von Santino, sich auf eine Unterbringung außerhalb der Familie einzulassen, damit sich die aktuelle Situation hätte entspannen können. Die Beratung soll die Erreichbarkeit über das ›Nothandy‹ in akuten Krisensituationen umfassen.

Außerdem sollten die Eltern in ihrer erzieherischen Haltung unterstützt werden, um mit Santino und der Restfamilie Regeln zu erarbeiten, an die sich alle konsequent halten können.

2. Ziele der Hilfe für den jungen Menschen/die Eltern/die Familie und die Konkretisierung mit Teilzielen nach Möglichkeit mit Zeitangabe

Die Kommunikation zwischen Eltern und Sohn soll verbessert werden.

Es sollen Absprachen getroffen werden für die Zeit nach den Hauptschulabschlussprüfungen bis zum Schulbeginn im September, um die Übergangszeit sinnvoll gestalten zu können.

Santino soll seinen Alkohol- und Cannabismissbrauch reflektieren können.

Es sollen Regeln erarbeitet werden, die das Zusammenleben für alle Familienmitglieder möglich und erstrebenswert machen.

1.5       Methodische Fallbearbeitung

Die Fallbearbeitung im interdisziplinären Seminar erfolgt im klassischen methodischen Dreischritt der Sozialen Einzelhilfe – Befund, Diagnose (vielleicht besser Hypothese), Intervention. Dabei soll das im Studium Erlernte, auch über die Inhalte des Zielgruppenseminars hinaus (s. o.) in die Bearbeitung des Falls einfließen.

1.5.1     Ausgangsituation

In der Ausgangssituation wird zunächst die derzeitige Realität des Klienten erfasst und gegebenenfalls eine erste Intervention vorgeschlagen. In einem zweiten Schritt wird die berufliche Legitimation diskutiert. Es geht um die rechtliche Grundlage meines Tuns, sowie um mein Selbstverständnis als Sozialarbeiter*in bzw. Jugendgerichtshelfer*in. Der Intrarollenkonflikt, dem besonders die Sozialarbeit der Justiz, aber auch die Jugendgerichtshilfe ausgesetzt ist, soll hier diskutiert werden.

1.5.2     Befund

Hier soll zunächst der »Fall« nach verschiedenen Kriterien strukturiert werden. Ein erster Überblick wird durch die Erstellung der Chronologie des Lebenslaufes erreicht. Empfehlenswert wäre auch die Chronologisierung der »kriminellen Karriere«. Mit Blick auf die Erfassung der Ressourcen macht es Sinn, den Fall nach den von Pierre Bourdieu (1983) eingeführten Kapitalien – er nennte sie ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital – zu durchforsten. Da nicht alle Ressourcen mit den Kapitalien benannt werden können, bietet es sich an, in einer offenen Kategorie die Erfassung zu vervollständigen. Mit Blick auf den Handlungsentwurf ist die Darstellung der Ressourcen enorm wichtig, da hier insbesondere an den Fähigkeiten des Jugendlichen angeknüpft werden kann.

In einem zweiten Schritt soll mit Hilfe von Theorien abweichenden Verhaltens (soziologische, psychologische und sozialpsychologische Theorien) der Versuch unternommen werden, die Hintergründe der den Jugendlichen vorgeworfenen Straftaten zu erklären. Die Theorien abweichenden Verhaltens wurden im Laufe des Studiums im Rahmen der Fächergruppe Theorien und Konzepte der Sozialen Arbeit vermittelt. Neben den genannten Theorien spielen auch die Erkenntnisse der Kriminologie, insbesondere der Jugendkriminologie eine wichtige Rolle. Hier wäre etwa der Gedanke der Normalität, Ubiquität und Episodenhaftigkeit2 von Jugendkriminalität zu nennen.

1.5.3     Diagnose

In der Diagnose sollen die Studierenden ihre Hypothese, mit der sie die Straftaten des Jugendlichen erklären, zusammenfassend darstellen. Es geht um eine Verdichtung der zuvor geführten Diskussion.

1.5.4     Handlungsentwurf

Im interdisziplinären Seminar erwarten wir von den Studierenden einen Sanktionsvorschlag. Dabei wird der Streit um die Frage, ob die Jugendgerichtshilfe oder Jugendhilfe im Strafverfahren in der Hauptverhandlung dem Gericht einen Strafvorschlag unterbreiten soll oder nicht, aus didaktischen Gründen ausgeblendet. Im Handlungsentwurf sollen die Studierenden zum einen auf die entsprechenden Paragraphen des Jugendgerichtsgesetzes verweisen können und zum anderen eine sozialarbeiterische Begründung dafür liefern, was mit der Sanktion erreicht werden soll. Hier geht es also darum, rechtliche und sozialarbeiterische/sozialpädagogische Kompetenzen zu demonstrieren. Angefragt sind etwa das Lebenslagenkonzept (Thiersch 2005), die Philosophie des Empowerments (Herriger 1996) aber auch Erkenntnisse aus der Sanktionsforschung (Jehle/Heinz/Sutter 2003). An einer Katholischen Hochschule setzen sich die Studierenden auch mit der Straffälligenhilfe der verbandlichen Caritas auseinander. Sie hat ihren Ursprung in der Botschaft des Evangeliums und ist begründet im christlichen Gebot der Nächstenliebe. Die Katholische Bundes-Arbeitsgemeinschaft folgt der Maxime der »Integration statt Ausgrenzung« und der »Versöhnung statt Strafe«.

1.6       Falllösung

Jugendgerichtshilfe war, und ist es wohl auch heute noch, fast ausschließlich Einzelfallhilfe. Insofern bezieht sich die Fallbearbeitung hier nur auf einen der am angeklagten Delikt beteiligten Jugendlichen, auf Santino Krämer.

Angesichts des begrenzten Rahmens wollen wir uns hier darauf beschränken, vorzuführen, wie im Befund mit Hilfe von Kriminalitätstheorien der Versuch unternommen werden kann, die Hintergründe der Straffälligkeit des Jugendlichen zu erklären. Dabei sollen hier nur jene Theorien angesprochen werden, die für den vorliegenden Fall das größte Erklärungspotential bieten.3 Eine Diagnose und einen Handlungsentwurf werden wir nicht liefern.

Erklärungspotential verspricht zunächst einmal die von Hirschi (1979) formulierte Theorie der sozialen Bindungen. Diese geht davon aus, dass zwischen dem einzelnen Menschen und der Gesellschaft normalerweise ein Band oder eine Verbindung besteht, was ihn von abweichendem Verhalten abhält. Ist diese Bindung zu schwach ausgeprägt, kann es zu Kriminalität kommen. Dabei lassen sich vier Ausprägungen sozialer Bindungen unterscheiden:

•  Mit Attachment ist die emotionale Bindung zu Bezugspersonen gemeint. Hier spielen insbesondere die Eltern, aber auch Schule und Peergroup eine Rolle. Aufgrund der Bindung zu konformen Personen fühlt sich das Individuum zu konformem Verhalten verpflichtet. Es verhält sich konform, um die Erwartungen von Bezugspersonen nicht zu enttäuschen (Janssen 1997).

Im vorliegenden Fall erscheint die Beziehung zu den Eltern problematisch. Diese fühlen sich angesichts von Regelverstößen und Grenzüberschreitungen ihres Sohnes hilflos und erschrocken, befürchten, dass er ihnen entgleitet. Der Jugendliche dagegen erlebt seine Eltern als Personen, die seine Freiheiten beschneiden, überbesorgt sind und ihn nicht verstehen. Trotzdem ist er noch nicht bereit, sich von ihnen abzunabeln, die Beziehung ist also erkennbar ambivalent. Die emotionale Bindung zu den Eltern erscheint jedenfalls nicht stark genug, Santino von abweichendem Verhalten abzuhalten.

Was die Schule angeht, ist über die aktuelle Situation wenig bekannt, im zweiten Jahr wird eine Hauptschule besucht. Bezüglich der früher besuchten Realschule ist jedoch von Lernunlust und Verhaltensauffälligkeiten die Rede. So kann auch hier nicht von einer starken emotionalen Bindung ausgegangen werden.

Über den Freundeskreis erfahren wir wenig. Als einzige Gleichaltrige werden die Mittäter erwähnt, denen zuliebe er wohl eher Straftaten begeht als darauf zu verzichten.

•  Commitment bezeichnet eine rationale Bindung an konventionelle Ziele und Zukunftspläne. Wer etwas zu verlieren hat, etwa eine Ausbildungsstelle, berücksichtigt langfristige Ziele in seinen Entscheidungen (Janssen 1997).

Im vorliegenden Fall werden Hauptschul- und Realschulabschluss als Zukunftspläne genannt. Über weitere Berufspläne und Perspektiven wird nichts mitgeteilt. Es ist aber von Vorstellungen vom Leben die Rede, welche von den Eltern nicht verstanden werden. Dies spräche eher gegen konventionelle Ziele, denen zuliebe auf Straftaten verzichtet werden würde. Generell ist anzuzweifeln, dass im Vorfeld der angeklagten Tat langfristige Zukunftspläne eine Rolle gespielt haben.

•  Mit Involvement