Hard-boiled Wonderland und Das Ende der Welt - Haruki Murakami - E-Book + Hörbuch

Hard-boiled Wonderland und Das Ende der Welt Hörbuch

Haruki Murakami

4,5

Beschreibung

Sein frühes Meisterwerk: Haruki Murakami hat einen einmalig fantasievollen, wahnwitzigen und melancholischen Roman geschrieben! Mit kühner Fantastik und Fabulierkunst erzählt Japans größter zeitgenössischer Romancier in seinem Roman von zwei parallelen und wundersamen Reisen. In einem futuristisch brutalen Tokio der fernen Gegenwart tobt ein Datenkrieg zwischen dem ›System‹ der Kalkulatoren und einer Datenmafia, der ›Fabrik‹ der Semioten. Ein genialer und greiser Professor hat durch ein sicheres Codierverfahren im Unterbewusstsein allen Datendiebstahl unmöglich gemacht. Der Held und Ich-Erzähler in ›Hard-boiled Wonderland und Das Ende der Welt‹ überlebt die Bearbeitung seines Gehirns, aber nach einem Überfall auf das unterirdische Geheimlabor des Professors ist der implantierte ›Psychokern‹ wie eine Bombe im Hirn nicht mehr beherrschbar. ›Hard-boiled Wonderland und Das Ende der Welt‹ ist ein faszinierendes Leseabenteuer, rasant konstruiert zwischen den beiden Welten – einer realen an der Schwelle des Todes und einer anderen zeitlosen und zugleich seelenlosen. »Haruki Murakamis bester Roman« Hubert Winkels, DIE ZEIT

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Zeit:17 Std. 39 min

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HARUKI MURAKAMI

HARD-BOILED WONDERLAND

UND DAS ENDE DER WELT

ROMAN DUMONT

AUS DEM JAPANISCHEN

VON ANNELIE ORTMANNS

ANNELIE ORTMANNS ÜBERTRUG DEN TEIL »DAS ENDE DER WELT«.

DER ÜBERSETZER VON »HARD-BOILED WONDERLAND« VERZICHTET AUF NENNUNG SEINES NAMENS. ER IST BEI DIESER NEUAUSGABE NICHT EINVERSTANDEN MIT DER IN DEN ÜBERSETZUNGEN HARUKI MURAKAMIS GEBRÄUCHLICHEN ANPASSUNG AN DIE NEUREGELUNG DER DEUTSCHEN RECHTSCHREIBUNG.

DIE JAPANISCHE ORIGINALAUSGABE ERSCHIEN 1985 UNTER DEM TITEL

»SEKAI NO OWARI TO HĀDOBOIRUDO WANDĀRANDO« BEI SHINCHŌSHA, TOKYO

© 1985 HARUKI MURAKAMI

DEUTSCHE ÜBERSETZUNG NACH DER VOM AUTOR ÜBERARBEITETEN VERSION IN DEN »GESAMMELTEN WERKEN 1979–1989« (»MURAKAMI HARUKI ZENSAKUHIN 1979–1989 ④«, KŌDANSHA, TOKYO 1990).

ZWEITE AUFLAGE 2006

© 1995 FÜR DIE DEUTSCHE ÜBERSETZUNG: INSEL VERLAG, FRANKFURT AM MAIN UND LEIPZIG

© 2006 FÜR DIE NEUAUSGABE: DUMONT LITERATUR UND KUNST VERLAG, KÖLN

ALLE RECHTE VORBEHALTEN

UMSCHLAG: GROOTHUIS, LOHFERT, CONSORTEN (HAMBURG)

DATENKONVERTIERUNG: CPI BOOKS GMBH, LECK

ISBN EBOOK: 978-3-8321-8604-3

WWW.DUMONT-BUCHVERLAG.DE

Why does the sun go on shining?

Why do the birds go on singing?

Don’t they know it’s the end of the world?

The End of the World

(Sylvia Dee / Arthur Kent)

1  HARD-BOILED WONDERLAND

DER AUFZUG, GERÄUSCHLOSIGKEIT, LEIBESFÜLLE

Der Aufzug fuhr ungemein träge aufwärts. Jedenfalls vermutete ich, dass er sich aufwärts bewegte, genau wusste ich es nicht. Er fuhr so langsam, dass ich mein Richtungsgefühl verlor. Möglicherweise war es auch abwärts gegangen, oder er hatte sich überhaupt nicht bewegt. Den Zustand des Davor und des Danach im Kopf, entschied ich, dass es aufwärts gegangen sein musste. Das war alles. Eine bloße Vermutung, die jeder Grundlage entbehrte. Möglicherweise war er auch zwölf Stockwerke auf- und drei abwärts gefahren oder hatte einmal die Erde umrundet. Ich wusste es nicht.

Der Aufzug unterschied sich in allen nur denkbaren Punkten von dem in meinem Mietshaus, einem billigen Fahrstuhl von der Schlichtheit eines weiterentwickelten Flaschenzuges. Er unterschied sich so sehr, dass man kaum glauben mochte, dass es sich hier um eine zum selben Zweck gebaute, den gleichen Mechanismus besitzende und denselben Namen tragende maschinelle Vorrichtung handelte. Die beiden Fahrstühle waren so weit voneinander entfernt, wie man sich überhaupt nur vorstellen kann.

Punkt Nr. 1 betraf die Geräumigkeit. Der Aufzug, in dem ich mich befand, hatte etwa die Größe eines gemütlichen Büros. Wenn man einen Schreibtisch hineinstellte, einen Spind, einen Schrank und dazu eine Kochnische installierte, bliebe immer noch Platz. Drei Kamele und eine mittelgroße Palme hätten natürlich auch hineingepasst. Punkt Nr. 2 betraf die Sauberkeit. Der Aufzug war sauber wie ein nagelneuer Sarg. Die Wände und die Decke bestanden aus makellos glänzendem Edelstahl, der Boden war mit einem langflorigen, moosgrünen Teppich ausgelegt. Punkt Nr. 3: Es war erschreckend still. Als ich eingestiegen war, glitt lautlos – im wahrsten Sinne des Wortes: ohne jeden Laut – die Tür zu, und danach war nicht mehr das geringste Geräusch zu hören, sodass ich nicht sagen konnte, ob der Aufzug nun stillstand oder ob er sich bewegte. Tiefe Flüsse rauschen nicht.

Zudem fehlte der größte Teil jener Armaturen, die gemeinhin zur Grundausstattung eines Aufzuges gehören. Zunächst einmal fehlte das Paneel mit den diversen Knöpfen und Schaltern. Es gab weder Knöpfe für die einzelnen Etagen noch für die Schließfunktion der Tür noch eine Notstoppvorrichtung. Überhaupt alles fehlte. Ich kam mir reichlich hilflos vor. Und nicht nur die Schalter: Die Etagenleuchtanzeige fehlte, es fehlten die Hinweise zur Benutzung und zur zugelassenen Personenzahl, sogar das Metallschildchen mit dem Namen des Herstellers war nirgends zu entdecken. Unklar war auch, wo sich der Notausstieg befand. Ein regelrechter Sarg, ohne Zweifel. Eine baupolizeiliche Zulassung könnte dieser Aufzug nie und nimmer bekommen. Ein Aufzug hat die Merkmale eines Aufzugs zu tragen.

Während ich die vier Edelstahlwände taxierte, die so gar keinen Angriffspunkt boten, fielen mir die Bravourstücke Houdinis ein, die ich als Kind in einem Film gesehen hatte. Er ließ sich mehrfach mit Ketten und Stricken fesseln, in einen großen Koffer stecken, um den wiederum schwere Ketten gewickelt wurden, und mitsamt Koffer die Niagarafälle hinabstoßen oder in der Arktis unter Eis begraben. Nachdem ich einmal tief durchgeatmet hatte, verglich ich kühl meine Lage mit der Houdinis. Für mich sprach, dass ich nicht gefesselt war, gegen mich, dass ich den Trick nicht kannte.

Nein, genau genommen kannte ich nicht nur nicht den Trick: Ich wusste ja nicht einmal, ob der Aufzug sich bewegte oder ob er stand. Ich räusperte mich. Das Räuspern klang allerdings irgendwie seltsam – nicht wie ein Räuspern. Nur ein merkwürdig dumpfes Klatschen war zu hören, wie von weichem Lehm, der an eine glatte Betonwand geworfen wird. Das sollte mein Räuspern gewesen sein? Vorsichtshalber räusperte ich mich noch einmal, aber das Ergebnis blieb sich gleich. Resigniert stellte ich das Räuspern ein.

Ziemlich lange stand ich einfach nur still da. Die Tür ging ewig nicht auf. Der Aufzug und ich verharrten ruhig wie ein Stillleben mit dem Titel »Mann im Aufzug«. Allmählich wurde ich unsicher.

Vielleicht war die Mechanik defekt, vielleicht hatte auch der Aufzugführer – vorausgesetzt natürlich, dass irgendwo jemand dieses Amtes existierte – einfach vergessen, dass ich mich in dem Kasten befand. Hin und wieder kommt es schon mal vor, dass jemand vergisst, dass ich existiere. Aber was auch der Fall sein mochte, letztendlich war ich in dieser Zelle aus Edelstahl eingeschlossen. Ich lauschte angestrengt, aber nicht das kleinste Geräusch drang an meine Ohren. Ich presste ein Ohr an eine der stählernen Wände, konnte aber auch so nichts hören. Nur der weiße Abdruck meines Ohres blieb zurück. Der Aufzug kam mir vor wie ein zum Zweck der Schallabsorption sondergefertigter Metallkasten. Versuchsweise pfiff ichDanny Boy,brachte aber nur etwas heraus, das sich anhörte wie das Seufzen eines Hundes mit fortgeschrittener Lungenentzündung.

Ich gab’s auf, lehnte mich an eine Wand und vertrieb mir die Zeit mit der Berechnung des Kleingeldes in meinen Hosentaschen. Für Leute meines Berufes ist das allerdings ein eher wichtiges Training, so wie Profiboxer dauernd Gummibälle in den Händen kneten. Also kein Zeitvertreib im eigentlichen Sinne. Stetig wiederholtes Tun allein ermöglicht den Ausgleich tendenzieller Ungleichgewichte.

Jedenfalls achte ich darauf, immer eine größere Menge Kleingeld in den Hosentaschen zu haben. In die rechte Tasche stecke ich 100- und 500-Yen-Stücke, in die linke Fünfziger und Zehner, 1- und 5-Yen-Stücke verstaue ich in den Hüfttaschen, benutze sie aber beim Rechnen grundsätzlich nicht. Ich stecke die Hände in die Hosentaschen und zähle mit der rechten den Betrag der 100- und 500-Yen-Münzen sowie parallel dazu mit der linken den der Fünfziger und Zehner.

Wer so eine Berechnung noch nicht angestellt hat, wird es sich nur schwer vorstellen können, aber anfangs ist das eine recht mühsame Prozedur. Mit der rechten und der linken Hirnhemisphäre werden zwei völlig verschiedene Berechnungen durchgeführt, die zuletzt wie die Teile einer geborstenen Wassermelone zusammenzubringen sind. Ohne Üben gelingt das kaum.

Ob das rechte und das linke Hirn dabei wirklich getrennt arbeiten, weiß ich nicht genau. Hirnphysiologen würden das vermutlich ganz anders ausdrücken. Ich bin jedoch kein Hirnphysiologe, und in der Praxis habe ich den Eindruck, dass meine rechte und meine linke Hirnhemisphäre beim Rechnen tatsächlich getrennt arbeiten. Das Gefühl der Ermüdung nach dem Zählen scheint mir ebenfalls von ganz anderer Natur zu sein als das nach einer gewöhnlichen Berechnung. Der Einfachheit halber glaube ich deshalb, dass ich mit dem rechten Hirn die rechte und mit dem linken die linke Hosentasche berechne.

Ich halte mich für einen, der die Erscheinungen, Ereignisse und Dinge dieser Welt eher praktisch begreift. Nicht, weil ich praktisch veranlagt wäre – obwohl das, zugegeben, natürlich eine gewisse Rolle spielt –, sondern weil man in sehr vielen Fällen durch praktische Herangehensweise dem Wesen der Dinge besser auf die Spur kommt als durch orthodoxe Interpretation.

Welche Nachteile ergäben sich denn im Alltagsleben, wenn man beispielsweise die Erde nicht als Kugel, sondern als riesigen Kaffeetisch auffasste? Das ist natürlich ein ziemlich extremes Beispiel, und nicht alles und jedes lässt sich mir nichts, dir nichts auf diese Weise ummodeln. Gleichwohl ist Tatsache, dass sich durch die praktische Auffassung von der Erde als riesigem Kaffeetisch eine ganze Reihe trivialer Probleme, wie sie die Auffassung von der Erde alsKugelmit sich bringt – die Schwerkraft zum Beispiel, die Datumsgrenze, der Äquator und ähnliches nicht sonderlich nützliches Zeug – überzeugend beiseite wischen lassen. Wie oft im Leben hat denn der normale Mensch mit dem Äquator zu tun?

Deshalb bemühe ich mich, die Dinge immer möglichst praktisch zu betrachten. Ich bin der Ansicht, dass die Welt sich aus tausenderlei, um nicht zu sagen, aus einer Unendlichkeit von Möglichkeiten zusammensetzt. Und die Auswahl ist zu einem gewissen Grade den die Welt strukturierenden Individuen anheim gestellt. Die Welt ist ein aus kondensierten Möglichkeiten bestehender Kaffeetisch.

Parallel – um zum Ausgangspunkt zurückzukehren – mit der rechten und der linken Hand völlig verschiedene Berechnungen anzustellen ist beileibe nicht einfach. Auch ich habe ziemlich lange gebraucht, bis ich es beherrschte. Wenn man es aber einmal kann, wenn man, anders gesagt, den Trick einmal drauf hat, geht man dieser Fähigkeit so leicht nicht wieder verlustig. Das ist wie beim Fahrradfahren oder Schwimmen. Was aber nicht heißt, dass man nicht der Übung bedürfte. Nur durch unablässiges Üben erzielt man Fortschritte und stilistisches Raffinement. Deshalb achte ich immer darauf, Kleingeld in den Hosentaschen zu haben, und wenn ich Muße habe, berechne ich es.

In meinen Hosentaschen befanden sich drei 500- und achtzehn 100-Yen-Stücke sowie sieben Fünfziger und sechzehn Zehner. Das ergab in der Summe 3810 Yen. Die Berechnung machte nicht die geringste Mühe. Bei solchen Beträgen ist das einfacher, als die Finger einer Hand abzuzählen. Zufrieden lehnte ich mich an die Wand aus Edelstahl und starrte auf die Tür. Sie öffnete sich immer noch nicht.

Warum der Aufzug dermaßen lange geschlossen blieb, war mir ein Rätsel. Nach kurzem Überlegen kam ich allerdings zu dem Schluss, dass sowohl die These des mechanischen Defektes als auch die These, der zuständige Angestellte habe aus Unachtsamkeit vergessen, dass ich existierte, getrost verworfen werden konnten. Sie waren nicht realistisch. Damit will ich natürlich keineswegs sagen, dass maschinelle Defekte oder unachtsame Angestellte realiter nicht vorkommen können. Ich bin ganz im Gegenteil der Auffassung, dass es in Wirklichkeit solche Störfälle häufig gibt. Was ich sagen will, ist, dass in einer spezifischen Wirklichkeit – und damit meine ich selbstredend diesen idiotischen Gleitaufzug – Aspezifika als paradoxe Spezifika verworfen werden müssen. Würden Leute, die zu nachlässig sind, eine Mechanik instand zu halten, würden Leute, die einen Besucher in den Aufzug stecken und dann vergessen, diesen zu bedienen, einen solch kunstvoll exzentrischen Aufzug bauen?

Die Antwort lautete natürlich:No, Sir.

Das konnte nicht sein.

Bisher war man – waren sie – erschreckend vorsichtig, bedachtsam und präzise vorgegangen. Sie hatten, gleichsam, als ob sie beim Laufen jeden Schritt mit dem Lineal vermäßen, noch auf das kleinste Detail geachtet.

Im Eingangsbereich des Gebäudes hatten mich zwei Wachmänner angehalten, gefragt, wen ich besuchen wolle, das mit der Liste derer verglichen, die Besucher erwarteten, hatten meinen Führerschein gecheckt, im Zentralcomputer meine Personalien überprüft, mich mit einem Metalldetektor abgetastet und zu guter Letzt in diesen Aufzug geschoben. So rigide kontrollierte nicht einmal die Nationalbank ihre Besucher. Dass sie nach alldem nun plötzlich ihre Wachsamkeit verloren haben sollten, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

Damit blieb als letzte Möglichkeit nur, dass sie mich absichtlich in dieser Lage hielten. Vermutlich wollten sie nicht, dass ich die Bewegung des Aufzuges durchschaute, und betrieben ihn deshalb mit so geringer Geschwindigkeit, dass die Fahrtrichtung unklar bleiben musste. Vielleicht war sogar eine Kamera installiert. In der Wachloge am Eingang hatten sie ein ganzes Spalier von Monitoren gehabt, und es wäre nicht weiter verwunderlich, wenn einer davon die Kabine des Aufzuges wiedergäbe.

Ich spielte mit dem Gedanken, das Auge der Kamera zu suchen, um die Zeit totzuschlagen, aber genau besehen brächte mir das, selbst wenn ich etwas in der Art entdeckte, rein gar nichts. Man würde nur misstrauisch werden und den Aufzug womöglich noch verlangsamen. Das wollte ich nicht auf mich nehmen. Es würde mich nur unnötig verspäten.

Am Ende harrte ich gelassen der Dinge, ohne etwas Besonderes zu tun. Schließlich war ich nur hierher gekommen, um meinen mir auferlegten, völlig legitimen Dienstpflichten nachzukommen. Ich hatte nichts zu befürchten, es gab keinen Grund zur Nervosität.

Ich lehnte mich an die Wand, steckte die Hände in die Hosentaschen und begann noch einmal, das Kleingeld zu berechnen. 3750 Yen. Absolut mühelos. Im Handumdrehen war ich fertig.

3750 Yen?

Die Rechnung war falsch.

Irgendwo hatte ich einen Fehler gemacht.

Ich fühlte, wie ich an den Handflächen zu schwitzen begann. Gepatzt hatte ich bei der Berechnung des Taschen-Geldes in den drei Jahren noch nie. Nicht ein einziges Mal. Das war zweifellos ein schlechtes Omen. Bevor es offen als Unglück zutage trat, musste ich das verlorene Terrain restlos zurückerobern.

Ich schloss die Augen und leerte, so wie man Brillengläser putzt, meine Hirnhälften. Dann zog ich die Hände aus den Hosentaschen und spreizte sie, um den Schweiß zu trocknen. Diese vorbereitenden Prozeduren erledigte ich schnell und professionell, wie Henry Fonda inWarlock,bevor er zum Duell schreitet. Es tut hier eigentlich nichts zur Sache, aber ich liebe diesen Film.

Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass beide Hände völlig trocken waren, steckte ich sie wieder in die Hosentaschen und machte mich das dritte Mal an die Berechnung. Wenn die dritte Summe mit einer der beiden vorigen übereinstimmte, wäre das Problem erledigt. Einen Fehler macht jeder mal. Ich war in einer besonderen Lage nervös geworden und hatte mich außerdem, zugegeben, eine Kleinigkeit überschätzt. Das hatte meinen dilettantischen Fehler verursacht. Auf alle Fälle die korrekte Zahl bestimmen – das sollte mich retten. Bevor es jedoch zur Rettung kam, öffnete sich die Tür des Aufzuges. Ohne jedes Vorzeichen glitt sie völlig geräuschlos nach beiden Seiten weg.

Zuerst erfasste ich gar nicht richtig, dass die Tür aufging, weil ich mich auf das Kleingeld in den Hosentaschen konzentriert hatte. Das heißt, um es etwas genauer auszudrücken: Ich hatte zwar optisch wahrgenommen, dass sie sich öffnete, war aber eine Zeit lang nicht imstande zu begreifen, was das konkret bedeutete. Natürlich bedeutete es die Wiederherstellung des bis dahin durch die Tür unterbrochenen Kontinuums zweier Räume. Und es bedeutete gleichzeitig, dass der Aufzug, in dem ich mich befand, an seinem Ziel angelangt war.

Ich stellte das Fingerspiel in den Taschen ein und blickte nach draußen. Draußen lag ein Korridor, und auf dem Korridor stand eine Frau. Sie war dick und jung und trug ein rosafarbenes Kostüm und rosafarbene Stöckelschuhe. Das Kostüm war gut geschnitten und aus glattem Stoff, und ihr Gesicht war etwa ebenso glatt. Sie sah mich eine Weile an, wie um sich zu vergewissern, und nickte mir dann zu. Das war offenbar das Signal: ›Bitte sehr‹. Ich entsagte der Berechnung des Kleingeldes, zog die Hände aus den Hosentaschen und stieg aus. Sobald ich draußen war, schloss sich hinter mir der Aufzug, als hätte er darauf gewartet.

Auf dem Korridor schaute ich mich einmal gründlich um, entdeckte aber nichts, was meine Lage hätte erhellen können. Klar war mir, dass es sich um einen Korridor innerhalb eines Gebäudes handeln musste, aber das wäre auch jedem Grundschüler klar gewesen.

Jedenfalls war es ein Gebäude mit einer geradezu befremdlich ausdruckslosen Innenausstattung. Wie bei dem Aufzug, mit dem ich gekommen war, waren die verwendeten Materialien vom Besten, aber sie boten keinen Angriffspunkt. Der Boden bestand aus fein poliertem, glänzendem Marmor, und die Wände waren gelblich-weiß wie die Semmeln, die ich immer zum Frühstück esse. Zu beiden Seiten des Korridors reihten sich massive Holztüren, jede mit einem die Zimmernummer anzeigenden Metallschild versehen; die Nummern waren allerdings blödsinnig unregelmäßig. Auf ›936‹ folgte ›1213‹, die nächste war ›26‹. So verrückte Zimmeranordnungen gibt’s nicht. Irgendetwas lag hier schief.

Die junge Frau redete fast nichts. Sie hatte zwar ›Hier entlang, bitte‹ zu mir gesagt, aber das waren nur die entsprechenden Lippenbewegungen gewesen, die Stimme fehlte. Vor meinem jetzigen Job hatte ich zirka zwei Monate lang einen Lippenlesekursus besucht, und deshalb konnte ich in etwa verstehen, was sie sagte. Anfangs dachte ich, mit meinen Ohren wäre etwas nicht in Ordnung. Erst der lautlose Aufzug, dann das klanglose Räuspern und Pfeifen, das hatte mich in Sachen Akustik ziemlich fertiggemacht.

Versuchsweise räusperte ich mich. Es war immer noch gedämpft, klang aber wesentlich besser als das Räuspern im Aufzug. Ich war erleichtert und gewann wieder ein Stück Vertrauen in meine Ohren. Alles bestens: Meine Ohren waren okay. Demnach lag das Problem am Mund der Frau.

Ich ging hinter ihr her. Das Geklapper ihrer spitzen Absätze hallte in dem leeren Korridor wie ein Steinbruch kurz nach der Mittagspause. Der Marmor spiegelte ihre bestrumpften Waden.

Die Frau war fett. Sie war jung und schön, nichtsdestoweniger aber fett. Dicke Frauen, die jung und schön sind, haben etwas Merkwürdiges. Ich sah mir, während ich hinter ihr herging, ihren Nacken, ihre Arme und Beine an. Ihr Körper war in einem Maße fleischig, als wäre über Nacht eine Menge leisen Schnees darauf gefallen.

In Gesellschaft junger, schöner, dicker Frauen gerate ich immer ganz durcheinander. Warum, weiß ich selber nicht. Das heißt, vielleicht deswegen, weil ich mir dann einfach die Essgewohnheiten der Betreffenden ausmalen muss. Wenn ich eine dicke Frau sehe, schwirren mir automatisch Szenen im Kopf herum, wie sie genüsslich die mitten auf dem Teller liegen gebliebene Kresseverzierung verspeist oder mit einem Stück Brot liebevoll den letzten Tropfen Buttersahnesoße aufwischt. Ich kann nicht anders. Wie Säure, die sich durch Metall frisst, habe ich dann den Kopf so voll von ihren Tischszenen, dass die diversen anderen Funktionen lahm gelegt werden.

Wenn sie bloß dick sind, hat es sein Bewenden. Dicke Frauen sind wie Wolken am Himmel. Sie schweben dort und gehen mich nichts an. Wenn sie aber dick sind und jung und schön, dann ist das etwas anderes. Solche Frauen nötigen mich zu einer gewissen Haltung ihnen gegenüber. Das heißt, womöglich mit ihnen zu schlafen. Vermutlich ist es das, was mich so verwirrt. Mit einer Frau schlafen, wenn der Kopf nicht richtig funktioniert, das ist nicht einfach.

Was aber keineswegs heißt, dass ich dicke Frauen hasse. Verwirrung und Hass sind nicht synonym. Ich hatte schon mit einer Reihe dicker, junger und schöner Frauen geschlafen, und im Ganzen gesehen war das wirklich keine schlechte Erfahrung. Wenn man die Verwirrung in die richtigen Bahnen lenkt, kann etwas Schönes dabei herauskommen, etwas, dessen man sonst nicht teilhaftig wird. Natürlich klappt das nicht immer. Sex ist ein sehr delikates Geschäft, etwas ganz anderes, als sonntags im Kaufhaus eine Thermoskanne zu erstehen. Frauen mögen gleichermaßen jung und schön und dick sein und doch in ihrer Fleischlichkeit sich unterscheiden; eine gewisse Art von Leibesfülle kann ich in die rechte Bahn lenken, eine andere dagegen stürzt mich in helle Verwirrung.

Mit dicken Frauen ins Bett zu gehen war in diesem Sinne für mich eine Herausforderung. Es gibt mindestens ebenso viele und verschiedene Arten des Dickseins wie Arten des Sterbens.

Das war in etwa, was ich dachte, als ich hinter der jungen, schönen und dicken Frau den Korridor entlanglief. Um den Kragen ihres modisch fein abgestimmten, rosafarbenen Kostüms hatte sie einen weißen Schal geschlungen. Von ihren angenehm fleischigen Ohrläppchen hingen viereckige Goldohrringe, die bei jedem Schritt aufblitzten wie Signalleuchten. Im Ganzen hielt sie sich für ihre Fülle leise und leicht. Natürlich konnte es sein, dass ein Korsett oder Ähnliches ihre Figur zusammenhielt, aber der Schwung ihrer Hüften war, selbst wenn man das mit einbezog, von angenehmer Festigkeit. Ich fand Gefallen an ihr. Ihre Dicke war von der Art, die ich mochte.

Ich will mich nicht rechtfertigen, aber es ist nicht so, dass ich an fast jeder Frau Gefallen finde. Eher das Gegenteil ist der Fall. Und deshalb möchte ich, wenn ich denn schon einmal ein solches Gefallen hege, dieses Gefallen testen, will mich auf meine Weise vergewissern, ob es echt ist und, wenn ja, wie es funktioniert.

Ich schloss also zu ihr auf und entschuldigte mich dafür, acht oder neun Minuten später als verabredet gekommen zu sein.

»Ich wusste nicht, dass die Formalitäten am Eingang so viel Zeit kosten«, sagte ich. »Und dass der Aufzug so langsam ist. Ich war pünktlich zehn Minuten vor der Zeit am Gebäude.«

›Ich weiß‹, bedeutete sie, kurz nickend. Ihr Nacken duftete nach Eau de Parfum. Ein Duft, als stünde man an einem Sommermorgen in einem Melonenfeld. Der Duft befremdete mich irgendwie, ein seltsames, paradoxes und doch auch wehmütiges Gefühl, als ob zwei verschiedenartige Erinnerungen an einem mir unbekannten Ort verbunden wären. Ich komme öfters in solche Stimmungen. Und meistens werden sie von einem besonderen Duft ausgelöst. Warum das so ist, kann ich mir auch nicht erklären.

»Ein ziemlich langer Korridor ist das«, sagte ich zu ihr, um ein Gespräch anzuknüpfen. Sie sah mich im Gehen an. Ich schätzte sie auf zwanzig, einundzwanzig. Sie hatte ausgeprägte Gesichtszüge, eine hohe Stirn und schöne Haut.

Sie sah mich weiter an und sagte »Proust«. Das heißt, sie artikulierte nicht präzise »Proust«, sondern ich hatte lediglich den Eindruck, dass sie ihre Lippen in dieser Form bewegte. Nach wie vor fehlte der Ton. Nicht einmal ihr Atmen war zu hören. Es war gerade so, als ob sie von jenseits einer dicken Glasscheibe zu mir spräche.

Proust?

»Marcel Proust?«, erkundigte ich mich.

Sie sah mich verwundert an. ›Proust‹, wiederholte sie. Ich gab’s auf, ließ mich auf meinen alten Platz zurückfallen und suchte intensiv nach Wörtern, die den Lippenbewegungen von ›Proust‹ entsprachen. »Prusten«, »Brust«, »Blues«; leise artikulierte ich ein bedeutungsloses Wort nach dem andern, aber keines passte exakt zu den Lippenbewegungen. Sie hatte ohne Zweifel ›Proust‹ gesagt. Unklar war mir allerdings, wo die Verbindung zwischen Proust und dem langen Korridor lag.

Möglicherweise hatte sie Marcel Proust als Metapher für den langen Korridor angeführt. Aber selbst wenn dem so wäre, käme es als Gedanke doch allzu plötzlich und wäre vom Ausdruck her immerhin unhöflich. Hätte sie den langen Korridor als Metapher für Prousts Werke angeführt, gut, dem hätte ich folgen können. Aber umgekehrt? Das war rätselhaft.

Ein langer Korridor wie Marcel Proust?

Jedenfalls lief ich ihr den langen Korridor entlang hinterher. Er war wirklich lang. Wir bogen um tausend Ecken und stiegen kurze, fünf- oder sechsstufige Treppen hinauf und wieder hinab. Wir liefen Korridore für fünf oder sechs gewöhnliche Gebäude. Vielleicht gingen und kamen wir auch immer nur wie in einem Escherschen Vexierbild. Jedenfalls änderte sich, soviel wir auch liefen, die Umgebung nicht im Geringsten. Marmorboden, eiergelbe Wände, verrückte Zimmernummern und Holztüren mit Knäufen aus Edelstahl. Wir bekamen kein einziges Fenster zu Gesicht. Der Korridor hallte rhythmisch korrekt vom ewig gleichen Absatzgeklapper der Frau, und ich folgte in meinen Joggingschuhen, die ein Geräusch verursachten wie zäh sich auflösendes Gummi. Meine Schuhe schmatzten derart über Gebühr, dass ich fast befürchtete, die Gummisohlen seien tatsächlich dabei, sich aufzulösen. Da ich zum ersten Mal in meinem Leben in Joggingschuhen über Marmorboden lief, konnte ich nicht genau beurteilen, ob das Geräusch normal war oder eher abnorm. Ich sagte mir, dass es wohl zur Hälfte normal und zur anderen Hälfte abnorm sei. Ich hatte nämlich den Eindruck, dass hier alles in diesen Proportionen verwaltet wurde.

Die Frau blieb abrupt stehen, und weil ich mich die ganze Zeit auf das Schmatzen meiner Schuhe konzentriert hatte, nahm ich es nicht wahr und prallte mit der Brust gegen ihren Rücken. Er war angenehm weich wie eine wohlgefüllte Regenwolke, und von ihrem Nacken ging der besagte Melonenduft aus. Sie war im Begriff, durch die Wucht des Aufpralls vornüber zu fallen, und deshalb fasste ich sie rasch mit beiden Händen um die Schultern und zog sie hoch.

»Verzeihung«, entschuldigte ich mich. »Ich war ein bisschen in Gedanken.«

Die Dicke sah mich leicht errötend an. Genau kann ich es nicht sagen, aber sie schien nicht böse zu sein. »Tazser«, sagte sie und lächelte unmerklich. Dann zuckte sie mit den Achseln und sagte »Sela«. Natürlich sagte sie das nicht wirklich, sondern bewegte nur, ich wiederhole mich, die Lippen in dieser Form.

»Tazser?«, artikulierte ich, wie um es mir beizubringen. »Sela?«

»Sela«, bestätigte sie.

Das klang wie Türkisch, irgendwie; das Problem war nur, dass mir Türkisch noch nie zu Ohren gekommen war. Demnach war es also kein Türkisch. Langsam geriet ich durcheinander und beschloss deshalb, mich nicht weiter mit ihr zu unterhalten. Meine Lippenlesekünste bedurften noch der Entwicklung. Lippenlesen ist ein überaus heikler Prozess, nichts, was man so eben mal in einem Zweimonatskurs an der Volkshochschule lernen kann.

Sie zog einen elektronischen Schlüssel aus ihrer Jackett-Tasche, ein kleines, flaches Oval, und presste ihn auf das Schloss der Tür mit dem Schild ›728‹. Knackend entriegelte es sich. Ein tolles Gerät.

Sie öffnete. Dann sagte sie zu mir, auf der Schwelle stehend und die Tür mit einer Hand aufhaltend: »Somto, sela.«

Ich nickte natürlich und trat ein.

2  DAS ENDE DER WELT

DIE GOLDENEN TIERE

Wenn es Herbst wird, überzieht dicker goldener Pelz ihre Körper. Im wahrsten Sinne golden. Kein anderer Farbton hätte sich daruntermischen können. Ihr Gold kommt als Gold auf die Welt und existiert auf der Welt als Gold. Golden gefärbt ohne den geringsten Zwischenton sind sie da zwischen allem Himmel und aller Erde.

Als ich in die Stadt kam – das war im Frühling –, trugen die Tiere kurzes Fell in unterschiedlichen Farben. Es gab schwarze, graubraune, helle und rotbraune. Bunt gescheckte waren auch dabei. In alle erdenklichen Fellfarben gehüllt strich das Vieh leise wie vom Wind zerstoben über die mit jungem Grün bedeckte Erde. Die Tiere waren schon fast beschaulich zu nennen, so still waren sie. Selbst ihr Atem ging leise wie Morgennebel. Lautlos fraßen sie das grüne Gras, und waren sie satt, lagen sie mit untergeschlagenen Läufen auf der Weide und nickten ein.

Frühling und Sommer gingen vorüber, und als das Licht matte Klarheit bekam und die ersten Herbstwinde im stockenden Flusswasser kleine Wellen aufwarfen, machte sich der Wandel im Aussehen der Tiere bemerkbar. Die goldenen Stellen tauchten zunächst ganz vereinzelt auf, wie ein paar zufällig und zur Unzeit sprießende Pflänzchen, doch bald wurden daraus unzählige Fühler, die das kurze Fell durchsetzten, um schließlich alles in leuchtendes Gold zu hüllen. Der ganze Prozess dauerte nicht länger als eine Woche. Die Verwandlung begann fast gleichzeitig bei allen Tieren und endete fast gleichzeitig. Nach einer Woche hatten alle ohne Ausnahme ein vollkommen goldenes Vlies. Und als am Morgen danach die Sonne aufging und die Welt in frisches Gold tauchte, hatte der Herbst Einzug gehalten.

Nur das eine lange Horn, das ihnen mitten aus der Stirn wuchs, war und blieb von edlem Weiß. Es sah weniger wie ein Horn, eher wie ein Stück gebrochener Knochen aus, das die Haut durchstoßen hatte und so festgewachsen war. Einzig und allein das Weiß des Horns und das Blau ihrer Augen hatte sich nicht in vollkommenes Gold verwandelt. Die Tiere warfen den Kopf ein paar Mal hoch und stießen ihr Horn in den hohen Herbsthimmel, als wollten sie ihr neues Gewand ein wenig testen. Dann tauchten sie die Läufe in das kühler gewordene Flusswasser und reckten die Hälse nach den roten Herbstbeeren.

Als die Abenddämmerung die Silhouette der Stadt blau zu färben beginnt, steige ich auf einen Hochsitz am Westwall, um zu sehen, wie der Torwächter das Hörn bläst und das Vieh zusammentreibt. Das Horn tönt einmal lang und dreimal kurz. So lautet die Vorschrift. Immer, wenn das Horn erklingt, schließe ich die Augen und lasse mich von dem weichen Ton durchdringen. Der Klang des Horns unterscheidet sich von allen anderen Klängen. Wie ein durchsichtiger, bläulich schimmernder Fisch gleitet er durch die in Dunkelheit versinkenden Straßen, legt sich über Kopfsteinpflaster, Gemäuer und die Mäuerchen am Weg entlang des Flusses. Als schlängele er sich durch eine in die Atmosphäre eingeschlossene, unsichtbare Zeitschicht, breitet sich der Ton leise bis in den letzten Winkel der Stadt aus.

Sobald das Signal ertönt, heben die Einhörner in uralter Erinnerung den Kopf. Mehr als tausend Tiere nehmen gleichzeitig ein und dieselbe Haltung an und wenden den Kopf in die Richtung, aus der das Horn ertönt. Eines hält inne, träge seine Goldregenblätter zu kauen, ein anderes hört auf, mit dem Huf das Kopfsteinpflaster, auf dem es liegt, zu beklopfen, wieder ein anderes wacht aus seinem Nachmittagsschlaf im letzten sonnigen Fleckchen auf – und alle heben den Kopf.

Alle stehen still in diesem Augenblick. Allein ihr goldenes Vlies bewegt sich leise im Abendwind. Keine Ahnung, an was sie jetzt denken oder was sie da anstarren. Sie drehen den Kopf im selben Winkel in die eine Richtung, und während sie so in die Luft starren, regen sie sich keinen Deut. Dann spitzen sie die Ohren und lauschen dem Klang des Horns. Und schließlich, wenn der letzte Nachklang in der blassen Abenddämmerung verhallt ist, stehen sie auf und setzen sich alle in dieselbe Richtung in Bewegung, als wäre ihnen gerade etwas eingefallen. Der kurze Bann ist gebrochen, und in der Stadt hallt es von Hufgetrommel. Ich stelle mir dabei immer unzählige aus dem Untergrund hervorquellende, winzige Bläschen vor. Dieser Schaum bedeckt die Straßen, kriecht die Häuserwände hinauf und begräbt schließlich sogar den Uhrturm unter sich.

Doch das ist bloß eine abendliche Sinnestäuschung. Sobald ich die Augen öffne, ist der Schaum augenblicklich verschwunden. Es ist bloß das Trommeln der Hufe, und die Stadt sieht aus wie immer. Der Zug der Tiere zieht sich wie ein Fluss über das Pflaster, durch die gewundenen Straßen. Ohne Führung, ohne Leittier. Mit gesenktem Haupt und wankenden Schultern trotten sie einfach ihren verschwiegenen Flusslauf entlang. Sie wirken wie fest verbunden durch enge Stricke der Erinnerung, die ohne jeden Zweifel vorhanden sind, auch wenn man sie den einzelnen Tieren nicht direkt ansehen kann.

Sie kommen von Norden, überqueren die Alte Brücke, treffen ihresgleichen, die von den südlichen Flussufern nach Osten gezogen sind, laufen am Kanal entlang über das Fabrikgelände, weiter nach Süden durch die Unterführung an der Gießerei und passieren den Fuß des Westhügels, an dessen Hängen die alten und ganz jungen Tiere, die sich nicht weit vom Tor wegbewegen können, auf die Herde warten. Dort drehen sie dann nordwärts, überqueren die Westbrücke und erreichen schließlich das Tor.

Sobald die ersten Tiere dort ankommen, öffnet der Wächter das Tor. Zur Verstärkung ist es kreuz und quer mit mächtigen Eisenbeschlägen versehen und sieht schwer und fest aus. Es ist ungefähr vier bis fünf Meter hoch, und damit man nicht hinüberklettern kann, ist es oben wie ein Nadelkissen mit scharfen, spitzen Nägeln gespickt. Der Wächter zieht dieses wuchtige Tor mühelos auf und treibt die versammelten Tiere hinaus. Das Tor hat zwei Flügel, aber der Wächter zieht immer nur einen auf.

Der linke Flügel bleibt gewöhnlich fest verschlossen. Sobald alle Tiere das Tor passiert haben, schließt der Wächter es und schiebt den Riegel vor.

Soweit ich weiß, ist das Westtor der einzige Ein- und Ausgang der Stadt. Sie ist von einer sieben bis acht Meter hohen, gewaltigen Mauer umschlossen, die nur Vögel überwinden können.

Bei Anbruch des Morgens öffnet der Wächter das Tor wieder, bläst ins Horn und lässt die Tiere ein. Befinden sich alle innerhalb der Stadtmauern, schließt er, wie gehabt, das Tor und schiebt den Riegel vor.

»Eigentlich nicht nötig, den Riegel vorzuschieben«, erklärt mir der Wächter. »Außer mir könnte sowieso niemand das schwere Tor aufziehen. Auch mehrere zusammen nicht. Aber was soll man machen, Vorschrift ist Vorschrift.« Und damit zieht er sich die Wollmütze bis kurz über die Augenbrauen und schweigt.

Der Wächter ist der gewaltigste Mann, den ich je gesehen habe. Er wirkt fleischig, jeden Moment, bei der kleinsten Bewegung seiner Muskeln, scheinen Hemd und Jacke aufplatzen zu wollen. Aber mitunter schließt er die Augen und versinkt in dieses gewaltige Schweigen. Ich weiß nicht, ob es nur so eine Art Melancholie ist, die ihn befällt, oder ob seine inneren Körperfunktionen lediglich durch irgendeinen Prozess von der Außenwelt abgeschnitten werden. Wie auch immer, wenn das Schweigen von ihm Besitz ergriffen hat, bleibt mir nichts anderes übrig, als zu warten, bis er wieder zu Bewusstsein kommt. Der Wächter schlägt dann langsam die Augen auf, sieht mich lange mit trägem Blick an und reibt dabei die Hände aneinander, als suche er sich angestrengt den Grund für mein Dasein zu erklären.

»Warum treiben Sie abends die Tiere zusammen und aus der Stadt hinaus, nur um sie am nächsten Morgen wieder hereinzulassen?«, frage ich ihn, sobald er wieder bei Bewusstsein ist.

Der Wächter starrt mich eine Weile völlig ausdruckslos an. »Weil es Vorschrift ist«, antwortet er. »Deshalb. Genauso wie die Sonne, die im Osten auf- und im Westen untergeht.«

Abgesehen vom Öffnen und Schließen des Tores scheint er den Rest der Zeit beinahe ausschließlich auf die Pflege seiner Werkzeuge zu verwenden. In der Wachhütte liegen sie in allen möglichen Formen und Größen: Äxte, kleine Handbeile, Messer, und wann immer er Zeit hat, schärft er sie mit größter Sorgfalt am Schleifstein. Die geschliffenen Schneiden blitzen eisig weiß und gefährlich. Sie scheinen das Licht nicht zu reflektieren, vielmehr ist mir, als besäßen sie selbst irgendeine rätselhafte Lichtquelle.

Sehe ich mir die Reihe von Werkzeugen an, macht sich in den Mundwinkeln des Wächters immer ein zufriedenes Lächeln breit. Aufmerksam verfolgt mich sein Blick.

»Pass auf, die schneiden sofort, schon bei der kleinsten Berührung!« Der Wächter zeigt mit seinen knorrigen Fingern auf die Messer. »Das ist was anderes als die Massenware dieser Stümper, die’s überall gibt! Jede einzelne Klinge habe ich selbst geschmiedet. Das ist ordentliches Handwerk, ich war nämlich früher Schmied. 1 a gepflegt, liegen hervorragend in der Hand. Gar nicht einfach, einen Griff zu wählen, der genau zum Gewicht der Klinge passt. Nimm ruhig mal eins in die Hand, egal welches, aber pass auf, komm nicht an die Schneide!«

Aus der Reihe Werkzeuge auf dem Tisch suche ich mir das kleinste Messer aus und nehme es in die Hand. Tatsächlich, es reagiert so scharf wie ein abgerichteter Jagdhund und zerschneidet mit trockenem Zischen die Luft. Der Wächter kann wirklich stolz auf sich sein.

»Die Griffe mache ich auch selbst. Ich schnitze sie aus zehn Jahre alter Esche. Über das beste Material für die Griffe kann man geteilter Meinung sein, ich jedenfalls bevorzuge zehn Jahre alte Esche. Nicht jünger und nicht älter, mit zehn Jahren hat sie genau die richtige Stärke, Feuchtigkeit und Spannkraft. Gute Esche wächst im Ostwald.«

»Wozu brauchen Sie all die Messer?«

»Ganz verschieden«, sagt der Wächter. »Im Winter ständig. Du wirst es sehen, wenn der Winter kommt. Der Winter dauert hier lang.«

Außerhalb des Tores haben die Tiere ihren Platz, wo sie während der Nacht schlafen. Ein Bach ist auch da, aus dem sie trinken können. Dahinter erstreckt sich ein Meer von Apfelbäumen.

Entlang des Westwalls stehen drei Hochsitze mit einfachen Dächern zum Schutz gegen Regen, von denen aus man die Tiere durch eisenvergitterte Fenster beobachten kann.

»Außer dir schaut sich kein Mensch die Tiere an«, sagt der Wächter. »Aber das wird sich auch bei dir legen, du bist ja kaum da. Hast du erst mal eine Zeit lang hier gelebt, wirst du das Interesse schon verlieren. Wie alle anderen. Die allererste Frühlingswoche ausgenommen.«

Der Wächter erzählt mir, dass die Stadtbewohner in der ersten Frühlingswoche auf die Hochsitze steigen, um den Tieren beim Kämpfen zuzusehen. Nur in dieser einen Woche wandelt sich der sonst so friedliche Anblick drastisch, nur in dieser Zeit – wenn die Tiere gerade den Winterpelz verlieren, kurz bevor die Weibchen Junge werfen – stürmen die Böcke mit unvorstellbarer Brutalität aufeinander los. Die unermesslichen Mengen Blut, die zu Boden fließen, gebären dann eine neue Ordnung und neues Leben.

Jetzt im Herbst kauert ein jedes still an seinem Platz, ihr langes goldenes Vlies leuchtet in der Abendsonne. Vollkommen regungslos wie in den Boden eingelassene Statuen warten die Tiere mit erhobenen Köpfen, bis die letzten Lichtstrahlen des Tages im Ästemeer des Apfelwäldchens versunken sind. Als die Sonne schließlich untergeht und sich blaue Dunkelheit über ihre Leiber legt, senken sie die Köpfe, betten ihr weißes Horn auf den Boden und schließen die Augen.

So geht ein Tag in der Stadt zu Ende.

3  HARD-BOILED WONDERLAND

ÖLZEUG, SCHWÄRZLINGE, ZAHLENWASCHEN

Das Zimmer, in das sie mich geführt hatte, war groß und leer. Die Wände und die Decke waren weiß, der Teppichboden kaffeebraun, jeweils geschmackvolle, edle Farben. Weiß, sagt man, aber es gibt edles Weiß und ordinäres Weiß, auch die Farben haben ihre Herkunft. Die Milchglasscheiben des Fensters ließen einen prüfenden Blick nach draußen nicht zu, aber das von dort kommende diffuse Licht war ohne Zweifel das der Sonne. Was hieß, dass ich mich nicht in einem unterirdischen Geschoss befand, der Aufzug musste sich aufwärts bewegt haben. Das beruhigte mich ein bisschen. Mein Gefühl hatte nicht getrogen. Da die Frau mir bedeutete, mich zu setzen, nahm ich auf dem Ledersofa in der Mitte des Zimmers Platz und schlug die Beine übereinander. Sobald ich saß, verließ die Frau durch eine andere Tür als jene, durch die wir eingetreten waren, den Raum.

In dem Zimmer befand sich fast nichts, was man als Mobiliar hätte bezeichnen können. Auf dem Couchtisch standen ein Feuerzeug, ein Aschenbecher und ein Zigarettenkästchen, alles aus Keramik. Ich lupfte den Deckel, aber das Kästchen war leer. An den Wänden kein Bild, keine Fotos, kein Kalender. Es gab nichts Überflüssiges.

Seitlich am Fenster stand ein großer Schreibtisch. Ich erhob mich vom Sofa, trat ans Fenster und warf dabei einen Blick auf den Schreibtisch. Er bestand aus einer massiven Platte mit großen Schubladen an beiden Seiten. Auf der Platte waren eine Tischlampe, drei Bic-Kugelschreiber und ein Tischkalender, daneben lag verstreut eine Hand voll Büroklammern. Ich warf einen prüfenden Blick auf den Kalender, das Datum stimmte. Das Datum von heute.

In einer Ecke standen drei gewöhnliche Stahlspinde, wie man sie fast überall findet. Sie passten nicht recht zu dem Zimmer. Sie wirkten zu geschäftsmäßig, zu direkt.Ichhätte elegante Holzkommoden in das Zimmer gestellt, aber es war nicht mein Zimmer. Ich war dienstlich hier, und ob nun mausgraue Stahlspinde herumstanden oder Musikboxen in Pfirsichpastell, ging mich nichts an.

Die Wand links barg einen Einbauschrank mit langen, schmalen Falttüren. So viel zum Mobiliar. Es gab keine Uhr, kein Telefon, keinen Bleistiftspitzer, keine Wasserkanne. Kein Bücherregal, keine Ablage. Die Funktion und der Zweck dieses Zimmers waren mir ein Rätsel. Ich setzte mich wieder aufs Sofa, schlug die Beine übereinander und gähnte.

Nach etwa zehn Minuten kam die Frau zurück. Ohne mich auch nur anzusehen, öffnete sie eine der Spindtüren, holte etwas Schwarzes, Glänzendes heraus und trug es, an die Brust gepresst, zum Tisch. Es handelte sich um säuberlich zusammengelegtes Ölzeug und Stiefel. Ganz obenauf lag gar eine Schutzbrille der Art, wie Piloten sie im Ersten Weltkrieg getragen haben mögen. Ich hatte keinen Schimmer, was sich abspielte.

Die Frau sagte etwas zu mir, aber ihr Mund bewegte sich zu schnell, ich konnte nichts lesen.

»Könnten Sie bitte etwas langsamer sprechen? So gut bin ich im Lippenlesen nun auch wieder nicht.«

›Ziehen Sie das bitte über.‹ Sie sprach nun langsam und mit weit geöffnetem Mund. Große Lust, das Ölzeug anzuziehen, hatte ich eigentlich nicht, aber da ein Wortwechsel zu viel Mühe gemacht hätte, folgte ich stumm ihren Anweisungen. Ich zog meine Joggingschuhe aus und die Stiefel an und streifte mir den Gummimantel übers Sporthemd. Er war schwer wie Blei, und die Schuhe waren ein oder zwei Nummern zu groß, aber auch dazu sagte ich nichts.

Die Frau trat vor mich hin, knöpfte mir den Mantel bis zu den Knöcheln zu und zog mir die Kapuze über den Kopf. Dabei berührte meine Nasenspitze ihre glatte Stirn. »Wie das duftet!«, sagte ich. Ein Lob für ihr Eau de Parfum.

›Danke‹, sagte sie und hakte mir den Kapuzenverschluss bis unter die Nase zu. Dann zog sie mir über der Kapuze die Schutzbrille zurecht. Ich sah aus wie eine für Regenwetter zurechtgemachte Mumie.

Anschließend öffnete sie eine Tür des Einbauschrankes, zog mich an der Hand hinein, machte Licht und zog mit der freien Hand die Tür hinter uns zu. Wir befanden uns in einem Kleiderschrank. Kleider hingen allerdings keine da, nur ein paar Bügel und Mottenkugeln. Das musste, stellte ich mir vor, ein als Schrank camouflierter geheimer Durchgang oder etwas in der Art sein. Mich in Ölzeug verpackt in einen gewöhnlichen Kleiderschrank zu schieben hätte keinen Sinn gemacht.

Die Frau fummelte an einem Metallgriff in der Ecke, worauf sich schließlich wie erwartet die Stirnwand zu uns auftat – ein Loch von der Größe eines Kleinwagenkofferraumes. Das Loch war rabenschwarz, und deutlich war zu spüren, wie es kalt und feucht daraus hervorwehte. Eine nicht gerade angenehme Brise. Außerdem war ununterbrochenes Rauschen zu hören, wie von einem Flusslauf.

»Da drinnen fließt ein Bach«, sagte die Frau. Das Rauschen, schien mir, verlieh ihrem tonlosen Sprechen ein wenig mehr Realität. Als ob sie wirklich spräche, die Stimme aber vom Rauschen des Baches unterdrückt würde. Ich hatte den Eindruck, sie so besser verstehen zu können. Merkwürdig, aber wahr.

»Gehen Sie einfach nur bachauf, dann kommen Sie an einen großen Wasserfall; den durchqueren Sie. Dahinter liegt das Labor meines Großvaters. Das sehen Sie dann schon.«

»Dort erwartet mich Ihr Großvater, ja?«

»Ja«, sagte sie und reichte mir eine große, mit einer Riemenschlaufe versehene wasserdichte Taschenlampe. Eigentlich hatte ich nur wenig Lust, mich in das schwarze Loch zu begeben, aber was sollte ich jetzt noch groß drumrum reden. Ich riss mich zusammen und stellte ein Bein in die Finsternis, die weit das Maul aufsperrte. Dann duckte ich mich, steckte Kopf und Schultern hinein und zog das andere Bein nach. In dem steifen Ölzeug war das eine ziemlich mühselige Angelegenheit, aber dann hatte ich den Ortswechsel vom Kleiderschrank zur rückwärtigen Seite der Wand geschafft. Dann schaute ich das dicke Mädchen im Kleiderschrank an. Durch die Schutzbrille gesehen wirkte es von dem dunklen Loch aus unendlich süß.

»Nehmen Sie sich in Acht! Nicht vom Bach entfernen, und auf keinen Fall abbiegen. Immer geradeaus!«, sagte sie. Sie beugte sich vor und sah mir ins Gesicht.

»Geradeaus: Wasserfall«, sagte ich laut.

»Geradeaus: Wasserfall«, wiederholte sie.

Versuchsweise formte ich die Lippen zu einem lautlosen ›Sela‹. Sie lächelte und grüßte zurück: ›Sela‹. Dann schloss sich krachend die Tür.

Als die Tür zu war, stand ich in völliger Dunkelheit. In völliger Dunkelheit im wahrsten Sinne des Wortes, keine Nadelspitze Licht drang herein. Ich konnte nichts, absolut nichts sehen. Nicht einmal meine Hand, die ich mir vor die Augen hielt. Benommen, wie von etwas niedergestreckt, blieb ich erst mal eine Weile stehen. Kalte Hilflosigkeit überkam mich, ich fühlte mich wie ein Fisch, schön verpackt in Frischhaltefolie und ab in den Kühlschrank: Tür zu, peng! Wenn man unvorbereitet in völlige Dunkelheit geworfen wird, weicht einen Moment lang alle Kraft aus dem Körper. Das Mädchen hätte mich, wenn es die Tür schon zumachte, wenigstens warnen müssen.

Als ich den Schiebeschalter der Taschenlampe ertastet hatte, durchbrach in kerzengeradem Strahl altvertrautes gelbes Licht die Dunkelheit. Zunächst strahlte ich meine Füße an, dann leuchtete ich nach und nach den Boden ringsum ab. Ich stand auf einer etwa drei Meter im Quadrat messenden Betonbühne; jenseits davon fiel steil eine Felswand ab, die Sohle war nicht auszumachen. Und es gab weder Geländer noch Absperrung. Ich war einigermaßen verärgert: Auch darauf hätte das Mädchen mich aufmerksam machen müssen.

Seitlich an der Bühne war eine Aluminiumleiter angebracht, für den Abstieg. Ich schlang mir die Taschenlampe schräg um die Brust und stieg vorsichtig Stufe für Stufe die glitschige Leiter hinab. Mit jeder Stufe wurde das Rauschen des Wassers lauter und deutlicher. Hinter dem Wandschrank im Zimmer eines Hochhauses ein Felseinschnitt, auf dessen Grund ein Bach floss: Das gab’s doch nicht! Und noch dazu mitten in Tokyo! Je länger ich über alles nachdachte, desto heftiger schmerzte mir der Kopf. Zuerst der grässliche Aufzug, dann das dicke Mädchen, das sprach, ohne einen Ton hervorzubringen, und nun dies. Vielleicht hätte ich den Auftrag einfach ablehnen und nach Hause gehen sollen. Das Ganze war zu gefährlich und von vorne bis hinten verrückt. Trotzdem stieg ich in der Dunkelheit weiter die Felswand hinab. Zum einen aus einem Gefühl von Berufsehre, und zum anderen wegen der dicken Kleinen in dem rosafarbenen Kostüm. Irgendwie machte ich mir Sorgen um sie, den Auftrag zu schmeißen und mich zurückzuziehen brachte ich einfach nicht fertig.

Nach zwanzig Stufen verschnaufte ich ein bisschen, nach weiteren achtzehn stand ich auf Grund. Vorsichtig leuchtete ich vom Fuß der Leiter aus in die Runde. Ich stand auf einer harten, flachen Felsplatte, etwas weiter vorn floss ein zirka zwei Meter breiter Bach. Im Licht der Taschenlampe tanzte die Wasseroberfläche wie eine Fahne im Wind. Der Bach schien ziemliche Strömung zu haben, aber wie tief er war und welche Farbe das Wasser hatte, konnte ich nicht erkennen. Ich sah nur, dass er von links nach rechts floss. Mehr nicht.

Den Boden ableuchtend, marschierte ich die Felsplatte entlang bachauf. Hin und wieder hatte ich das Gefühl, dass irgendetwas um mich herumlungere, und riss dann die Taschenlampe hoch, bekam aber nichts zu Gesicht. Nur der Bach und die zu beiden Seiten lotrecht aufragenden Felswände waren zu sehen. Wahrscheinlich spielten mir meine Nerven in der Dunkelheit einen Streich.

Nach fünf, sechs Minuten Fußweg merkte ich am Hall des Wasserrauschens, dass die Decke wesentlich niedriger geworden sein musste. Ich richtete den Strahl der Taschenlampe nach oben, konnte die Decke aber wegen der undurchdringlichen Dunkelheit nicht ausmachen. Danach kamen, wie das Mädchen gesagt hatte, auf beiden Felsseiten ein paar Abzweigungen, die aber besser als Felsspalten zu bezeichnen waren. Unten sickerte Wasser heraus, das sich in dünnen Bahnen zum Bach schlängelte. An eine dieser Spalten trat ich heran und versuchte sie auszuleuchten, konnte aber nichts sehen. Klar war nur, dass sie sich nach hinten zu enorm verbreiterte. Hineinzugehen hatte ich nicht im Entferntesten Lust.

Die Taschenlampe fest in der linken Hand, tappte ich durch die Dunkelheit weiter bachauf; ich kam mir vor wie ein Fisch auf der Evolutionsleiter. Der felsige Boden war vom Wasser des Baches so glitschig, dass ich bei jedem Schritt höllisch aufpassen musste. Wenn ich in dieser Rabenschwärze ausglitt und in den Bach fiel oder die Taschenlampe zerschlüge, säße ich ganz schön in der Tinte.

Ich konzentrierte mich voll und ganz auf meine Füße, sodass ich das weiter vorn hin und her schwankende schwache Licht zuerst gar nicht bemerkte. Als ich dann hochsah, war es schon auf sieben, acht Meter herangekommen. Automatisch machte ich die Taschenlampe aus, fuhr mit der Hand durch den Schlitz im Gummimantel und zog mein Messer aus der Gesäßtasche. Ich tastete nach der Klinge und richtete sie auf. Um mich herum nur Schwärze und das Rauschen des Baches.

Als ich die Taschenlampe ausgeknipst hatte, hatte das schwache gelbe Licht drüben sofort seine Bewegungen eingestellt. Jetzt beschrieb es in der Luft zwei große Kreise. Das sollte offenbar ›Keine Sorge, alles okay‹ bedeuten. Ich blieb aber so stehen, ganz gespannte Aufmerksamkeit, und wartete ab, was mein Gegenüber tun würde. Schließlich wurde das Licht wieder hin und her geschwenkt. Es kreiselte auf mich zu wie ein vernunftbegabter Riesenleuchtkäfer. Wie gebannt starrte ich auf das Licht, in der Rechten mein Messer, in der Linken die ausgeknipste Taschenlampe.

In etwa drei Metern Entfernung blieb das Licht stehen, bewegte sich in die Höhe und verharrte dann so. Es war ziemlich schwach, sodass ich zuerst nicht richtig sehen konnte, was es anstrahlte, aber nach angestrengtem Starren erkannte ich, dass es ein von einer schwarzen Kapuze verhüllter Kopf war. Auf der Nase saß eine Schutzbrille, wie ich sie trug. Der Mann hatte eine kleine Handlampe, wie man sie in Sportgeschäften verkauft. Damit leuchtete er sein Gesicht an. Er redete in einem fort und eindringlich, wegen des Rauschens konnte ich aber nichts verstehen; zum Lippenlesen war es zu dunkel, und die Mundbewegungen waren zu undeutlich.

»… liegt an … anzunehmen. Da Ihre … leid, damit …«, schien der Mann zu formulieren, aber das sagte mir wenig. Da aber immerhin keine Gefahr zu bestehen schien, knipste ich die Taschenlampe an, leuchtete von der Seite her mein Gesicht an und gab dem Mann, indem ich mir ans Ohr tippte, zu verstehen, dass ich absolut nichts hören konnte.

Der Mann nickte ein paar Mal, dass er verstanden habe, setzte seine Handlampe ab, steckte die Hände in die Taschen seines Gummimantels und fummelte darin herum; bald darauf ließ das Getöse um uns langsam nach, als hätte auf einmal Ebbe eingesetzt. Ich dachte, ich sei im Begriff, in Ohnmacht zu fallen, dachte, die Geräusche verschwänden deshalb aus dem Kopf, weil das Bewusstsein sich zurückzog. Und spannte deshalb in der Erwartung umzukippen – warum ich hätte in Ohnmacht fallen sollen, war mir zwar nicht klar – alle Muskeln an.

Die Sekunden verrannen, doch ich fiel weder um noch wurde mir schlecht. Nur der Geräuschpegel um uns hatte sich gesenkt.

»Ich bin Ihnen entgegengekommen«, sagte der Mann. Diesmal konnte ich ihn klar und deutlich verstehen.

Ich schüttelte den Kopf, klemmte mir die Taschenlampe unter den Arm, klappte das Messer zu und verstaute es wieder in der Hosentasche. Was für ein Tag!

»Was ist denn mit dem Geräuschpegel los?«, fragte ich.

»Ah ja, der Geräuschpegel. Man verstand ja nichts. Ich habe den Ton leiser gestellt. Entschuldigen Sie. Alles in Ordnung jetzt«, sagte der Mann, immer wieder nickend. Das tosende Rauschen das Baches hatte sich zu einem bloßen Murmeln abgeschwächt.

»Dann wolln wir mal.«

Der Mann drehte mir den Rücken zu und stapfte sicheren Schrittes bachauf. Ich ging hinter ihm her, den Boden mit der Taschenlampe ausleuchtend.

»Den Ton leiser stellen, heißt das, die Geräusche hier sind künstlich?«, sagte ich dorthin, wo ich den Rücken des Mannes vermutete.

»Nein«, sagte der Mann. »Das sind natürliche Geräusche.«

»Und Sie können die Natur leiser stellen?«, fragte ich.

»Genau genommen stelle ich sie nicht leiser«, antwortete der Mann. »Ich nehme Ton weg.«

Ich schwankte ein bisschen, verzichtete dann aber lieber auf weitere Fragen. Jemanden mit Fragen zu überhäufen stand mir nicht zu. Ich war hergekommen, um meinen Auftrag zu erledigen, und ob mein Auftraggeber nun Ton leiser stellte oder wegnahm oder mit Wodka-Lime verrührte, hatte mit dem Auftrag nicht das Geringste zu tun. Also hielt ich den Mund und lief stumm hinter ihm her.

Da der Mann das Wasserrauschen weggenommen hatte, war es ringsum sehr still. Sogar das Quietschen der Gummistiefel war deutlich zu hören. Ein paar Mal knirschte es über uns, als ob jemand Kiesel aneinander riebe, dann war es wieder still.

»Es gab Anzeichen, dass Schwärzlinge hier herumlungern, da bin ich Ihnen lieber entgegengegangen. Normalerweise wagen die sich auf keinen Fall bis hierher vor, aber es ist schon vorgekommen, Teufel auch«, sagte der Mann.

»Schwärzlinge …«, sagte ich.

»Sie werden doch nicht wollen, dass die Ihnen auf den Pelz rücken, oder?«, sagte der Mann und lachte, dass es dröhnte.

»Nur das nicht«, gab ich heiter zurück. Schwärzlinge oder was auch immer – in dieser Rabenschwärze würde ich niemandem und nichts begegnen wollen, was nicht ganz geheuer war.

»Deshalb bin ich Ihnen entgegengekommen«, wiederholte der Mann. »Mit den Schwärzlingen ist nicht zu spaßen.«

»Sehr nett von Ihnen«, sagte ich. Nach einer Weile war weiter vorn ein Rauschen zu hören, als hätte jemand vergessen, einen Hahn abzudrehen. Es war der Wasserfall. Ich strahlte ihn nur kurz an und konnte deshalb nichts Genaues sehen, aber er schien ziemlich groß zu sein. Es musste hier, wenn der Ton nicht weggenommen worden wäre, gewaltig tosen. Die Gischt stäubte bis zur Schutzbrille hoch.

»Da müssen wir durch, nicht?«, fragte ich.

»Ja«, sagte der Mann. Dann ging er ohne jedes weitere Wort der Erklärung auf den Wasserfall zu – und verschwand. Eilig, was sollte ich machen, lief ich hinterher.

Glücklicherweise führte der Wasserfall an unserem Durchgang am wenigsten Wasser; gleichwohl schlug mich seine Wucht fast zu Boden. Ein Forschungslabor nur betreten und verlassen zu können, indem man sich, Ölzeug hin, Ölzeug her, jedes Mal von einem Wasserfall bearbeiten ließ, war einfach idiotisch, auch bei wohlwollender Betrachtung. Selbst unter Geheimhaltungserwägungen musste es doch einen gescheiteren Weg geben. Mitten unter dem Wasserfall glitt ich aus und schlug mir an einem Felsen das Knie auf. Das Fehlen des Tones hatte das Gleichgewicht zwischen den Geräuschen und der die Geräusche hervorbringenden Wirklichkeit empfindlich gestört und mich völlig durcheinander gebracht. Ein Wasserfall muss seiner Wassermenge entsprechend tosen!

Hinter dem Wasserfall tat sich ein Grottengang auf, gerade breit genug für eine Person; er führte auf eine Eisentür. Der Mann zog so etwas wie einen kleinen Rechner aus der Tasche seines Gummimantels, steckte ihn in den an der Tür angebrachten Schlitz und betätigte ihn eine Zeit lang, bis die Tür lautlos nach innen aufglitt.

»Wir sind da. Treten Sie bitte ein«, sagte der Mann, mir den Vortritt lassend, um anschließend die Tür von innen zu verriegeln. »Das war schlimm, was?«

»Ich kann beim besten Willen nicht behaupten, dass dem nicht so gewesen wäre«, hielt ich mich vornehm zurück.

Der Mann lachte, auf der Nase noch die Schutzbrille, die Kapuze auf dem Kopf und an einem Riemen um den Hals die Handlampe. Er lachte tief und gurgelnd, ein merkwürdiges Lachen.

Der Raum, in dem wir uns befanden, war groß, aber kalt und unfreundlich wie der Umkleideraum einer öffentlichen Badeanstalt; an und auf Regalen hingen, standen und lagen in Reih und Glied ein halbes Dutzend schwarze Gummimäntel, Gummistiefel und Schutzbrillen. Ich nahm meine Brille ab, hängte den Mantel auf einen Bügel und stellte die Gummistiefel ins Regal. Die Taschenlampe hängte ich an einen Haken an der Wand.

»Tut mir leid, dass ich Ihnen so viel Mühe machen musste«, sagte der Mann, »aber wir müssen auf der Hut sein. Nachlässigkeiten können wir uns nicht leisten, denn da draußen lungern welche, die es auf uns abgesehen haben.«

»Die Schwärzlinge?«, fragte ich listig.

»Die auch«, sagte der Mann und nickte. Dann führte er mich in das hinter dem Umkleideraum gelegene Empfangszimmer. Ohne das schwarze Ölzeug war der Mann nur mehr ein kleiner, vornehmer alter Herr. Nicht dick, aber von kräftiger, untersetzter Statur. Er hatte eine gesunde Gesichtsfarbe, und als er eine randlose Brille aus der Tasche zog und aufsetzte, sah er aus, wie vor dem Krieg hochrangige Politiker ausgesehen haben.

Er wies mir einen Platz auf dem Sofa zu und ließ sich selbst hinter dem Büroschreibtisch nieder. Das Zimmer entsprach genau dem, in das ich zuallererst geführt worden war. Die Farbe des Teppichs, die Beleuchtung, die Tapete, das Sofa, alles gleich. Auf dem Couchtisch stand die gleiche Rauchergarnitur. Auf dem Schreibtisch ein Tischkalender und eine Hand voll Büroklammern, auf dieselbe Art und Weise verstreut. Man konnte den Eindruck haben, nach einer hübschen Runde wieder im selben Zimmer gelandet zu sein. Vielleicht war dem so, vielleicht auch nicht. Schließlich konnte ich mich nicht an die genaue Lage jeder einzelnen Büroklammer erinnern.

Der alte Mann sah mich eine Weile an. Dann nahm er eine Büroklammer, bog sie gerade und pickte damit eine Zeit lang an der Nagelhaut des linken Zeigefingers herum. Als er fertig war, warf er die geradegebogene Büroklammer in den Aschenbecher. Ich überlegte mir, dass ich, falls ich je in irgendeiner Form wiedergeboren werden sollte, jedenfalls keine Büroklammer werden wollte. Die Nagelhaut eines albernen alten Herrn zurückzuschieben und anschließend im Aschenbecher zu landen, das waren wenig berauschende Aussichten.

»Nach meinen Informationen arbeiten die Schwärzlinge und die Semioten jetzt Hand in Hand«, sagte der Alte. »Was natürlich nicht heißt, dass sie eine richtiggehende Allianz gebildet hätten. Dazu sind die Schwärzlinge zu vorsichtig, und die Semioten planen zu weit voraus. Die Verbindung ist also noch auf sehr kleine Gruppen beschränkt. Aber es ist ein schlechtes Zeichen. Jetzt lungern sogar schon hier, wo sie gar nichts zu suchen haben, Schwärzlinge herum. Wenn das so weitergeht, wird es über kurz oder lang von denen nur so wimmeln. Das brächte mich allerdings in Schwierigkeiten.«

»Zweifellos«, sagte ich. Ich hatte keine Ahnung, wer oder was die Schwärzlinge waren, aber wenn die Semioten sich mit irgendeiner Macht verbündet haben sollten, dann hätte das auch für mich äußerst unangenehme Folgen. Wir und die Semioten standen in einem ohnehin nur sehr notdürftig austarierten Konkurrenzverhältnis, bei der geringsten Erschütterung konnte alles über den Haufen geworfen werden. Die Balance war allein schon dadurch nicht mehr gegeben, dass wir von den Schwärzlingen nichts wussten, die anderen aber wohl. Vielleicht hatte aber auch nur ich, ein kleiner Kalkulator, der selbständig vor Ort arbeitete, von den Schwärzlingen keine Ahnung, und die Führung wusste das alles schon seit langem.

»Nun ja, wie auch immer«, sagte der alte Herr. »Wenn es Ihnen recht ist, würde ich gern gleich mit der Arbeit beginnen.«

»Jederzeit«, sagte ich.

»Ich hatte die Agentur gebeten, mir den fähigsten Kalkulator zu empfehlen, und die Wahl fiel auf Sie. Man hat Sie allenthalben gelobt. Sie seien technisch beschlagen, hätten Courage und arbeiteten gewissenhaft. Abgesehen von mangelndem Teamgeist gäbe es nichts auszusetzen.«

»Verbindlichsten Dank«, sagte ich. Aus reiner Bescheidenheit.

»Hohoho«, dröhnte der alte Herr wieder. »Aber der Teamgeist ist schnurz. Auf die Courage kommt es an. Ohne Courage kann man kein erstklassiger Kalkulator werden. Nun, dafür beziehen Sie ja auch ein gutes Gehalt.«

Ich hatte darauf nichts zu entgegnen und hielt den Mund. Der alte Herr lachte wieder und führte mich dann in das benachbarte Arbeitszimmer.

»Ich bin Biologe«, sagte er. »Aber mein Arbeitsbereich umfasst viel mehr, mit dem bloßen Wort Biologie lässt sich das kaum umreißen. Er erstreckt sich von der Hirnphysiologie über die Akustik und Linguistik bis hin zur Religionswissenschaft. Meine Arbeiten sind, wenn ich das sagen darf, originär und eminent bedeutsam. Zurzeit beschäftige ich mich hauptsächlich mit dem Palatum von Säugetieren.«

»Palatum?«

»Gaumen und Mund. Die Architektonik des Mundes. Wie bewegt er sich, wie wird artikuliert und so weiter. Darüber forsche ich. Schauen Sie sich doch das mal an.« Er betätigte einen Wandschalter, im Arbeitszimmer flammte das Licht auf. Die ganze Stirnwand wurde von einem Regal eingenommen, auf dem dicht an dicht Schädelknochen von allen nur denkbaren Säugetieren lagen. Von der Giraffe zum Pferd zum Panda zur Maus, Schädel von allen Säugetieren, die ich nur benennen konnte, lagen dort. Bestimmt drei- oder vierhundert. Natürlich auch Menschenschädel. Schädel von Weißen und Schwarzen, von Asiaten und Indios, jeweils ein männlicher und ein weiblicher.

»Die Wal- und Elefantenschädel habe ich im Keller. Die nehmen, wie Sie sich denken können, ziemlich viel Platz weg«, sagte der Alte.

»Weiß Gott«, sagte ich. Bei zwei Walschädeln wäre der Raum ohne Zweifel voll.

Alle Schädel hatten wie auf Verabredung das Maul weit aufgesperrt, und jeder starrte aus zwei leeren Höhlen auf die gegenüberliegende Wand. Es waren zu Forschungszwecken präparierte Exemplare, gewiss, doch besonders angenehm war es nicht, von so vielen Schädeln umgeben zu sein. Auf einem anderen Regal stand ein ganzes Spalier von in Formaldehyd eingelegten Zungen, Ohren, Lippen und Kehlköpfen, wenn auch nicht in der Anzahl der Schädel.

»Eine schöne Sammlung, finden Sie nicht?«, sagte der Alte zufrieden. »Manche sammeln Briefmarken, manche Schallplatten. Andere legen sich einen Weinkeller an, ein Krösus stellt sich womöglich Panzer in den Garten. Ich sammle Schädel. Die Welt ist bunt. Und gerade das macht sie interessant. Finden Sie nicht?«

»Doch, doch«, sagte ich.

»Ich hatte schon in verhältnismäßig jungen Jahren ein nicht unbeträchtliches Interesse an Säugetierschädeln und habe eifrig gesammelt. Na, warten Sie, seit bald vierzig Jahren jetzt. Einen Schädel zu begreifen dauert wesentlich länger, als man denkt. Einen Menschen aus Fleisch und Blut zu verstehen ist ein Kinderspiel dagegen. Das meine ich ganz ernst. Wenn man allerdings so jung ist wie Sie, interessiert man sich mehr fürs Fleisch, nicht wahr?«, sagte der Alte und lachte wieder dröhnend. »Ich habe volle dreißig Jahre gebraucht, bis ich die Töne hören konnte, die von den Schädeln ausgehen. Dreißig Jahre, mein Freund, das ist keine Kleinigkeit!«

»Töne?«, sagte ich. »Von den Schädeln gehen Töne aus?«

»Aber sicher«, sagte der Alte. »Jeder Schädel hat seinen eigenen Ton. Eine Art Geheimsignal, könnte man sagen. Die Schädel sprechen, und das meine ich nicht metaphorisch, sondern ganz wörtlich. Zurzeit arbeite ich an der Analyse dieser Signale. Wenn sie erst analysiert sind, eröffnet sich die Möglichkeit, sie künstlich zu beherrschen.«

»Allerhand«, sagte ich. Bis in die Details war mir das nicht klar, aber wenn es sich so verhielt, wie der Alte sagte, dann war seine Arbeit zweifellos von eminenter Bedeutung. »Das ist ja von eminenter Bedeutung«, sagte ich.

»In der Tat«, sagte der Alte und nickte. »Dass die Burschen jetzt wild darauf sind, ist kein Wunder. Die hören das Gras wachsen. Und wollen meine Forschungsergebnisse zu üblen Zwecken missbrauchen. Wenn sich aus den Schädeln beispielsweise Erinnerung herausfiltern ließe, könnte man sich Folter sparen. Man brauchte sein Opfer nur umbringen, das Fleisch ablösen und den Schädel reinigen, das wäre alles.«

»Das ist ja furchtbar«, sagte ich.

»So weit bin ich aber noch nicht, ob zum Glück oder Unglück, sei dahingestellt. Zurzeit kommt man noch zu präziseren Erinnerungen, wenn man unmittelbar das ausgelöste Hirn filtert.«

»Na großartig«, sagte ich. Ob Schädel oder Hirn, was machte das für einen Unterschied?