Harrass - Thomas Pfann - E-Book

Harrass E-Book

Thomas Pfann

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Beschreibung

In dieser turbulenten Geschichte kommen irgendwann alle auf den Hund. Allen voran Harrass, der freche Vierbeiner auf Monsterjagd. Auch Velofahrer Sven und seine Arbeitskollegin Bettina manövrieren sich beharrlich von einer Bredouille in die nächste. Und schliesslich gerät Duschvorhangproduzent Frantisek Hrdina immer tiefer in den Strudel der Ereignisse. Auf jeden Fall spitzt sich die Lage zwischen Zürich-West, dem Gotthardpass und Interlaken gehörig zu und endet zwangsläufig in einer amüsanten Katastrophe.

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Seitenzahl: 326

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Epilog

Prolog

So etwas Grausiges hatte Harrass noch nie gesehen. Vorsichtig schlich er am Türrahmen vorbei, drehte sich um und lugte um die Ecke. Doch, da hinten sass die Kreatur. Etwas Unheimliches, Bedrohendes, etwas Schlimmes. Harrass standen alle Haare zu Berge. Er, der sonst so sicher auf seinen vier Beinen stand. Er, der sich zwischen Teppich und Türschwelle keilte, wenn ein Sturm im Anzug war. Aber jetzt zitterte er von der Pfote bis zur Ohrspitze und fühlte sich gar nicht mehr wie der Harrass, der er vor wenigen Minuten noch war. Sich fürchten – das gab es bei ihm nicht.

Gut, eines Morgens lag da dieses rot-weisse Ding neben seinem Bett. Kein angenehmer Anblick, zugegeben.

Harrass fasste sich damals ein Herz und beschnupperte das kleine Figürchen. Es war kleiner als er und roch nach nichts. Was nicht riecht, ist auch nicht gefährlich, schloss er daraus und biss herzhaft zu.

War das ein Genuss! Nicht, dass es ihm besonders schmeckte, da war er andere Delikatessen gewohnt. Aber wie sich seine Eckzähne tief in den Schaumstoff gruben! Herrlich! Harrass rüttelte und schüttelte wie besessen. Schon nach kurzer Zeit löste sich bei der roten Mütze, die die Beute auf dem Kopf trug, ein weisses Bällchen und flog in hohem Bogen über den Teppich. Harrass schleuderte den Kerl haarscharf an seinem Korb vorbei und bereitete den nächsten Angriff vor. Das Opfer hatte keine Chance. Es wehrte sich auch nicht. Wahrscheinlich steht der Rot-Weisse unter Schock, dachte Harrass. Oder er traut sich nicht, mit mir zu kämpfen und stellt sich tot.

Harrass packte ihn von Neuem und schlenzte ihn hin und her, so dass ihm Hören und Sehen verging. Schon konnte der Kerl nichts mehr sehen, weil seine Augen aus dem Kopf heraussprangen, auf dem Parkett auf und ab hüpften und sich unter dem Sofa verloren. Sein roter Mantel hing zerschlissen über den dicken, weissen Bauch und einen Schuh konnte Harrass auch Tage später nicht finden. Vermutlich wurde er irgendwann vom langen Rüssel des Staubsaugers verschluckt.

Auch trug der Kerl zu Beginn des Kampfes einen weissen Bart, der plötzlich an Harrass' Nase klebte. Das kitzelte und er musste heftig niesen. War das der Gegenangriff? Mit perfider Methode? Von ehrlichem Kampf keine Spur. Sand in die Augen streuen - oder Watte in die Nase - das war des Kerls Strategie! Aber nicht mit Harrass. Seine Zunge reichte ja bis weit über die Nasenspitze heraus und nach ein paar Schlenzern war der Wattebart weg.

Endlich lag der Kerl leblos vor ihm, im rot-weissen Kostüm, ohne Augen und Bart. Harrass fühlte kein Mitleid. Zufrieden und stolz legte er sich nach erkämpftem Sieg in seinen Korb. So schnell erschütterte ihn nichts, dachte Harrass, als er langsam einnickte, da halfen weder rote Kleider noch Zipfelmütze. Er erwachte kurz, als er Bettina sagen hörte, es sei jammerschade, dass er dem Stoff-Samichlaus den Garaus gemacht habe. Doch Harrass schlief weiter, dieser «Chlaus» interessierte ihn nicht mehr.

Daran dachte er, als er in diesem Augenblick schlotternd neben seinem Korb stand und sich hundeelend fühlte. Der grosse Harrass hatte grosse Angst. Er, der mit der Schnauze die eine oder andere Leckerei vom Esstisch klauben konnte, wenn er sich ganz lang machte und sich zum Tisch hinaufstreckte. Lag das Wursträdchen am Tischrand, war es seins. Schnell wie ein Geschoss schnappte er sich den Happen und verschlang ihn sofort, ohne zu kauen. Das war Harrass. Unerschrocken und mutig.

Einmal gelang es ihm sogar, ein Stück Speck direkt aus dem Teller zu stibitzen. Keiner beobachtete den cleveren Harrass und er schritt - oder besser schnappte - zur Tat. Speck war eine ganz besondere Köstlichkeit, so dass er gleich den ganzen Teller leer frass. Dumm nur, dass der blöde Teller an seiner Schnauze kleben blieb und sich mit lautem Klirren auf dem Boden verteilte.

Zum Glück fiel der restliche Speck neben den Scherbenhaufen. Harrass nutzte die günstige Gelegenheit und verschlang die feinen Speckscheiben mit einem Biss. Bettina wetterte und nannte ihn einen frechen Hund. Das konnte er schon verstehen. Trotzdem – er war eben Harrass. Und so einer braucht Speck – auch wenn er ihn sich selber holen muss.

Der grosse Harrass stand nun zitternd neben dem Korb und fühlte sich ganz klein. Erstarrt spähte er durch den Türrahmen ins Zimmer, als hätte er einen Geist gesehen – oder noch schlimmer.

Eine fürchterliche Kreatur, ein Monster. Dort hinten stand kein «Chlaus» mit roter Zipfelmütze, sondern ein grausig schwar-zes Wesen und verwandelte den grossen, starken Harrass in einen Hasenfuss.

Bebend verharrte er neben seinem Korb und traute sich weder vor noch zurück. Am liebsten hätte er sich unter dem Sofa verkrochen, aber dazu war er nicht schlank genug. Also blieb er mucksmäuschenstill und bewegte sich nicht. Harrass wusste: Solche Monster verstehen keinen Spass!

Kapitel 2

«Ja, was glauben Sie denn, meine liebe Frau... Wie?»

«Zurückgeben? Den Vorh...» Bettina Breitenmoser konnte nicht weitersprechen, die Frau am anderen Ende kam so richtig in Fahrt.

«Aber verstehen Sie doch! Wir können doch gebrauchte Vorh...»

Keine Chance, Bettina hörte sich den Sermon an und wartete geduldig, bis die Frau am Telefon einmal Luft holte. «Gebrauchte Unterwäsche können Sie auch nirgends zurückbringen, dass müssen Sie doch verstehen... Aber natürlich kann man das vergleichen. Einen Duschvorhang wählt man einmal aus und wenn Sie einmal geduscht haben, dann gehört er nur noch Ihnen. Was heisst das, Sie ziehen den Duschvorhang ja nicht an? Natürlich nicht, trotzdem ist so ein Vorhang etwas Intimes.»

Bettina schaute hilflos über ihren Bürotisch und verdrehte die Augen. «Gefällt er Ihnen nicht? Ja, dann hätten Sie halt das Sujet mit den blauen Delfinen wählen müssen. Nein, blaue Schildkröten haben wir nicht!»

Die Frau lamentierte weiter und erläuterte bis ins letzte Detail, wieso die Delfine nicht in Frage kamen. Es war wegen ihres Gatten. Dieser habe als elfjähriger Bub während eines Schulausflugs in ein Delphinarium einen derartigen Harndrang verspürt, dass er es nicht mehr bis zur rettenden Toilette schaffte – nur noch bis zum Fischbecken.

Die Meerestiere reagierten zwar nicht darauf, wohl aber seine Klassenlehrerin. Sie tadelte den Schüler und jammerte, das sei eine Sauerei gegenüber den Tieren und was ihre Kolleginnen im Lehrerzimmer jetzt wieder zu spotten hätten. Das war dem armen Bub damals äusserst peinlich und heute sei ihr Mann traumatisiert deswegen. Darum könne sie keine dieser Meeressäuger im Badezimmer aufhängen - aus verständlichen Gründen.

Bettina sagte schon lange nichts mehr, es hatte keinen Sinn. Sven sass ihr gegenüber und schmunzelte. Bettina versuchte, die Kundin zur Räson zu bringen: «Meine geschätzte Frau, das können wir nun wirklich nicht machen, extra für Sie einen Vorhang mit blauen Schildkröten... Nein, der Geschäftsführer ist in einer Sitzung, ich kann ihn nicht stören. Ja, nehmen Sie sich einen Anwalt! Oder am besten einen anderen Mann, der keine Probleme hat mit Delfinen.»

Das war dann offensichtlich zu viel. Die Frau legte auf und Bettina Breitenmoser atmete tief durch. Heute war wieder so ein Tag. Schon am frühen Morgen kamen die unmöglichsten Anrufe.

Sven sass immer noch da und schaute sie lächelnd an. «Kompliment Frau Breitenmoser, der haben Sie aber eine Breitseite gegeben», sagte er bewundernd.

Bettina Breitenmoser und Sven Tirebeg arbeiteten bei der Courtena AG; sie als Sachbearbeiterin, er als Duschvorhang-Designer. Seine Spezialität waren Meereslandschaften jeglichen Couleurs. Blaue Schildkröten hatte Sven tatsächlich noch nie als Design vorgeschlagen.

«Wissen Sie, Frau Breitenmoser, die Idee mit den blauen Schildkröten ist vielleicht gar nicht so schlecht. So was gibt‘s noch nicht auf Duschvorhängen», bemerkte er beiläufig.

Ein Lächeln auf den Stockzähnen konnte er sich dennoch nicht verkneifen. Breitenmoser starrte ihn ungläubig an: «Meinen Sie das im Ernst?» Sie wusste bei diesem Sven nie recht, ob er scherzte oder nicht. Grundsätzlich waren Humor und Spontanität nicht seine Stärken.

Aufgewachsen war Sven in der Nähe von Andelfingen. Seine Eltern zogen in den 60ern aus Schweden in die Kleinstadt im Zürcher Weinland. Svens Vater, Ingwar Tirebeg, fand Arbeit in einem Betrieb für Filteranlagen, die dank eines Bundesauftrags den Angestellten eine sichere Stelle bot.

Die Mutter besetzte eine Teilzeitstelle als Administratorin bei einem Weinhändler und besorgte den Haushalt. Während Svens Jugendzeit gab es selten Anlass, sich Sorgen um den heranwachsenden Jüngling zu machen.

Die Primar- und Sekundarschule durchlief er problemlos. Auffällig war höchstens sein Name. Und er war irgendwie langweilig. Dafür umso sportlicher in gewissen Bereichen. Beim Geräteturnen - ausgerechnet da war der Lehrer besonders beschlagen – konnte Sven überhaupt nicht mithalten.

Hiess es, beim Reckturnen eine Welle zu drehen, brachte der schmächtige Bub mit Müh und Not einen Felgaufzug zu Stande. An den Ringen hing er wie ein Sack. Nach ein paar Turnstunden verbot ihm der Lehrer den Aufenthalt in der Nähe des Barrens, nachdem er mehrmals von den hölzernen Holmen gerutscht war. Für Spiele konnte sich Sven genauso wenig begeistern. Fussball empfand er schon beim Zuschauen als zu hektisch, und wenn er trotzdem einmal den Rasen betrat, knallte ihm das Leder garantiert nach wenigen Minuten an den Kopf.

Ging es aber nach draussen zum Konditionstraining, blühte der junge Sven auf. Keiner konnte ihm im Dauerlauf das Wasser reichen. Beim Velofahren fuhr er Mitschüler und die gesamte Lehrerschaft in Grund und Boden. Kein Wunder sagte man ihm eine Profikarriere als Velorennfahrer voraus.

Ein Gedanke, mit dem Sven tatsächlich liebäugelte. Aus mehreren Gründen. Ein Velofahrer fährt und sonst nichts, dachte er immer. Das gefiel ihm. Da war zum Beispiel keine kreative Spielgestaltung gefragt. Auch musste man sich nicht jede Sekunde eine andere Strategie ausdenken. Einen vorgegebenen Weg zu beschreiten lag ihm näher, als ständig neue Ideen zu entwickeln.

Schliesslich war es dann sein Vater, der Svens berufliche Zukunft massgeblich beeinflusste – allerdings nicht so, wie er das für seinen Sohn geplant hatte.

Es begann damit, dass er sich schon früh nach einer Lehrstelle für seinen Schützling umsah. Immerzu schwärmte Ingwar Tirebeg von der spannenden Montagearbeit, vom nahtlosen Zusammenfügen, Stahlrohr an Stahlrohr. Er referierte darüber, wie schlechte Luft nach draussen und frische ins Innere eines Raums gelangt, und verglich seine Arbeit gerne mit dem täglichen Leben.

Oft wurde er dabei philosophisch: «Die Filter zwischen den Rohren spielen eine wichtige Rolle. Es ist wie in unserer Gesellschaft, wo es doch auch darum geht, störende und schmutzige Elemente zu sammeln und zu eliminieren. Ein engmaschiges Sieb, ein feinster Filter, hat noch immer die Spreu vom Weizen getrennt.»

Sven war zwar nicht derselben Meinung wie sein Vater, spielte aber durchaus mit dem Gedanken, eine Lehre als Klimatechniker mit Fachrichtung Filter zu absolvieren. Immerhin wäre dann seine Zukunft schon in der 2. Sekundarschule geregelt gewesen. Die lästige Lehrstellensuche überliess er lieber seinen Schulkollegen.

Was ihm beim Klimatechniker aber fehlte, waren die Farben. Konnte er doch zu Hause stundenlang ins Aquarium schauen und die farbigen Fische beim Nichtstun beobachten. Metallene Abluftrohre und bleifarbene Spritzgussfilter faszinierten ihn dagegen viel weniger.

Auch liebte er Fische, ihrer klaren Formen wegen. Wie sich ihre messerscharfen Konturen in der künstlichen Meereswelt des Aquariums abzeichneten. Die Tiere animierten ihn schliesslich zum Malen und Zeichnen. Bald hegte er eine kleine Sammlung farbiger Fische in seiner Zeichenmappe. Sven malte ausschliesslich Exemplare, die er im hauseigenen nautischen Kleinzoo beobachtete. Eigene Kreationen mit Fantasiefarben und erfundenen Formen hatten in der Mappe nichts zu suchen.

Definitiv für eine Lehre als Maler entschied sich Sven, als dem Papa seine Zeichnungen in die Hände fiel. Die Fische aus dem Aquarium erkannte er sofort, sein Urteil über die Zeichnungen gab Sven dann den Rest: «Das sind ja unsere Fische, Sven. Die erkennt man sofort. Nicht schlecht, ja, ja ... Aber ich hätte alles mit Bleistift gemalt. Bleistiftzeichnungen haben diesen glitzern-den, metallischen Charakter. Sie erinnern mich immer an verzinkte Halbzollrohre oder sandgestrahlte Muffen.«

Papa machte eine Pause und schaute sich ein weiteres Bild an. «Zudem würden bei mir alle Fische in die gleiche Richtung schauen. Dann wäre das Bild noch viel schöner.»

Sven hatte genug gehört. «Mit Bleistift! Und wo sind die Farben?», rief er laut und entschied sich in diesem Augenblick. Maler war sein Beruf. Eine Wand malen oder ein Treppengeländer einfärben verlangte zwar nicht so viel Kreativität, trotzdem ging es meistens bunt zu und her.

Kurze Zeit später offenbarte er den Eltern seine Pläne. Die Mutter war sofort einverstanden. Sie wünschte sich schon lange, die Küche neu streichen zu lassen 0 ihr Mann hatte dafür aber kein offenes Ohr. Nun nahm sich der Sohn der Sache an. Der Vater schwieg vorerst und Sven wusste nicht, was jetzt auf ihn zukam. «Ja, mein Sohn, Maler braucht es auch, da hast du recht. Wir müssen auch ab und zu ein Rohr übermalen mit Silberfarbe, da-mit es natürlich und metallisch aussieht.»

Sven freute sich, bald ins Berufsleben einzusteigen und fand schon nach kurzer Zeit eine Lehrstelle. Seine Freude an den Farben stieg von Monat zu Monat. Der Lehrmeister lobte ihn über seine gekonnte Pinselführung und war von seiner geschmackvollen Farbabstimmung ganz begeistert.

Insbesondere für anspruchsvolle Kundinnen mit speziell hohen Ansprüchen bei den Farbnuancen im Badezimmer entwickelte sich Sven zum Fachmann. Im letzten Lehrjahr übernahm er alle heiklen Aufträge und bei einem solchen hatte er dann sein Schlüsselerlebnis.

Eines Tages wünschte eine Kundin, ihr riesiges Badezimmer mit Fischen schmücken zu lassen. Gemalt in allen Farben. Svens Chef runzelte die Stirn und schaute zweifelnd auf seinen Lehrling. Ob er sich denn vorstellen könne, anstatt Flächen einen Fisch zu malen.

Sven war ganz aufgeregt, und beteuerte, dass Fische malen insgeheim seine Spezialität war. Er erzählte von seinen Malereien daheim beim Aquarium und versprach, die Kunstwerke am nächsten Tag mitzubringen. Dem Chef genügte ein Blick und er wusste, Sven würde sich von nun an auf Fisch-Malerei spezialisieren. Und er hatte per Zufall eine Marktlücke in der Malerbranche entdeckt.

Schade nur, dass Sven kurz vor dem Lehrende stand und er ihm schon bald den vollen Lohn bezahlen musste.

Fische bildeten nun Svens Lebensinhalt. Die Anfragen für gemalte Aquarien in den Badezimmern nahmen täglich zu. Sogar bei der Abschlussprüfung konnte er seinen Trumpf ausspielen. Sein Ruf als Fischmaler eilte ihm längst voraus und so nahm ihn der Prüfungsexperte während einer Pause diskret zur Seite.

Er wolle seiner Frau ein Geschenk machen und ob denn so eine kleine Meerlandschaft im Badezimmer nicht zu malen wäre. Nach Feierabend, gegen einen hübschen Betrag. Selbstverständlich steuerfrei. Sven sagte zu und wusste, dass einem Lehrabschluss mit Höchstnoten nichts mehr im Weg stand.

Eine erfolgreiche berufliche Zukunft war ihm gewiss. Zwar versuchten sich Konkurrenten nun auch in der Fischmalerei, ihre farbigen Kreaturen an den Badezimmerwänden erinnerten aber nur entfernt an Fische.

Viele der Meerlandschaften präsentierten sich als wildes Durcheinander von skurrilen Lebewesen und tintenfisch-ähnlichen Geschöpfen mit schwabbeligen Tentakeln, die den Aufenthalt in der Nasszelle zur Tortur machten. Svens Fische dagegen hatten klare Konturen, waren bunt und freundlich. Sein Chef wusste schnell, welche Perle in seinem Malerteam arbeitete und machte tüchtig Reibach.

Wahrscheinlich wäre Sven als Fischmaler in Pension gegangen, hätte es da nicht diese folgenschwere Begegnung gegeben. Eines Morgens, er färbte gerade einem Schwertfisch den Rücken rot ein, sprach ihn ein Herr an.

Im feinen Anzug, mit Krawatte und glänzenden Lackschuhen. Sie befanden sich im Badezimmer eines Neubaus mit Stockwerkeigentum, die Wohnungsinhaberin wollte ihre Dusche mit Fischmalerei verziert haben.

«Herr Tirebeg. Das ist kein Zufall, dass wir uns hier treffen, glauben Sie mir. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie oft ich Ihre Malereien schon bewundert habe. Ich verbringe viele Stunden in Badezimmern, von Berufs wegen», sagte der Mann.

Soweit Sven beurteilen konnte, stand der Herr im Zwirn nicht nur von Berufs wegen lange im Badezimmer. So wie er aus-sah, investierte er für die tägliche Hautpflege und Frisur Stunden, da war Sven sicher. Aalglatt stand er da. Unmöglich, auch nur einen einzigen Makel zu entdecken. Von der Schuhsohle bis zur Haarspitze bildete der Mann eine polierte Einheit.

«Darf ich Ihnen meine Visitenkarte überreichen und Sie bitten, sich umgehend bei mir melden zu wollen, höflichst», sagte der Mann geschwollen. Sven bemerkte den seltsamen Akzent in seiner Sprache und nickte verwundert. Er konnte nicht einmal antworten, der Schönling hatte sich bereits aus dem halbfertigen Badezimmer entfernt.

«Courtena AG, Duschvorhänge, Frantisek Hrdina, Geschäftsführer», stand auf der eleganten Visitenkarte, das Papier duftete süss nach Parfüm.

Am nächsten Tag dachte Sven weder an den Besucher im Neubau, noch an die Karte. Erst als er seinen Maler-Overall in die Waschmaschine stopfte, fiel sie ihm wieder in die Hände. Schon wollte er sie in den Abfalleimer werfen, da überlegte er es sich doch anders. Er beschloss, am nächsten Tag anzurufen. Die Neugier, was der rausgeputzte Mann von ihm wollte, war zu gross.

«Arbeiten Sie für uns», sagte Hrdina mit viel Überzeugungskraft. «Sie sind der Beste in ihrem Metier, Herr Tirebeg.» Sven liess sich die Sache erklären.

Die Courtena AG, ihres Zeichens Marktführerin in der Duschvorhangbranche, wollte neue Wege beschreiten. Neues Design, neue Ideen. Weg von den geometrischen Mustern und den ewiggestrigen Blumensujets. Etwas Kreatives musste her. Schön, aber nicht zu forsch oder gar zu modern.

«Unsere Kundschaft braucht Zeit, um sich an ein neues Design zu gewöhnen. Duschvorhänge lösen Gefühle aus, wissen Sie. Sensible Menschen reagieren da schnell einmal irritiert.»

Sven verstand. Hrdina wollte Fische auf den Vorhängen und Sven sollte sie malen. Er überlegte nicht lange. Ob er jetzt Fische für Duschvorhänge oder Badezimmerwände entwarf, war ihm einerlei.

Für die Duschvorhänge und die Courtena AG sprachen zudem weitere Vorteile: Der Lohn war beträchtlich höher als in seinem Malerbetrieb. Zudem erklärte sich die Firma mit einer besonderen Bedingung von Sven einverstanden.

Er wollte von seinem Wohnort – eine kleine Gemeinde im Süden von Zürich – mit dem Velo zur Arbeit fahren. Bei jedem Wetter und wenn möglich bei Tageslicht. Das bedeutete, dass sich Svens Arbeitszeiten im Winter eher kurz gestalteten und dass er zu unterschiedlichen Zeiten im Geschäft eintraf.

Velofahren betrieb Sven als Hobby. Eine Profikarriere hatte er nach langen Überlegungen nicht weiterverfolgt, dennoch betrieb Sven den Velosport äusserst gewissenhaft und mit Akribie. Wann immer es eine Möglichkeit gab, trainierte er.

Beim Material liess er absolut nichts anbrennen. Keines seiner Fahrräder wies auch nur den Hauch eines Mangels auf. Dementsprechend teuer waren die Räder. «O.k., ich nehme das Jobangebot an», sagte er dem nervös wartenden Hrdina am Telefon.

Frantisek Hrdina hatte ein feine Nase, nicht nur was Parfüm anbelangte. Mit Sven landete er einen Glückstreffer und die stagnierenden Verkaufszahlen der Courtena AG gehörten der Vergangenheit an. Die Vorhänge mit den Fischen gingen weg wie warme Semmeln.

Sven entwarf immer wieder neue Meerlandschaften. Seine einfachen Fische und die schönen Farben passten perfekt zur Kundschaft. Dass ihn Hrdina zum Chefdesigner er-nannte, war nur eine Frage der Zeit.

Das Unternehmen konnte nicht zuletzt wegen ihm die Spitzenposition im Markt halten, die Konkurrenz lag weit zurück. Sven entwarf einen Kassenschlager nach dem anderen, seine Fische wollten einfach alle haben. Die Courtena AG befand sich auf der Erfolgsstrasse, bis eines Tages ein aussergewöhnlicher Auftrag bei der Firma einging. Dieser brachte einen Teil der Belegschaft ganz ordentlich durcheinander.

Der Auftrag kam aus dem Rotlichtmilieu, wie sich bald herausstellte. Vorerst schien alles ganz einfach. Das Material der gewünschten Vorhänge konnte man wie üblich fabrizieren, die Masse entsprachen den durchschnittlichen Normen. Die Stückzahl hielt sich zwar in Grenzen, die Produktion lohnte sich trotzdem. Arg ins Grübeln kam die Geschäftsleitung aber bei den Sujets. Die Duschvorhänge sollten ein erotisches Flair haben. So wünschte es die Auftraggeberin, eine Clubbesitzerin aus Interlaken.

Am Anfang schien auch dieses Problem lösbar. Solche Motive wären bei der Produktion zwischen den Fischen und Meerlandschaften kaum aufgefallen.

Im Verlauf der Verhandlungen zeigte sich aber die unterschiedliche Auffassung von Erotik, die zwischen der Auftraggeberin und der Courtena AG bestanden. Die Clubchefin wünschte auf den Duschvorhängen eindeutige Darstellungen.

Die Vorhänge sollten sämtliche Tabus brechen und die männlichen Gäste des Etablissements schon bei der Dusche auf Touren bringen.

Die Chefin versprach sich davon schnellere Abfertigungszeiten und folglich eine höhere Kundenfrequenz. Frantisek Hrdina war ratlos. Wie und wo konnte er solche Vorhänge produzieren, ohne den seriösen Ruf der Courtena AG zu gefährden? Schliesslich ritt man mit den farbigen Fischen auf einer Erfolgs-welle. Die Frau aus Interlaken drängte, eine Lösung musste her.

«Ja, klar, meine ich das ernst», lachte Sven.

«Vielleicht gibt es ja blaue Schildkröten. Und wenn nicht – etwas Fantasie kann nie schaden.»

Bettina Breitenmoser überlegte und antwortete dann provokativ: «Also, wenn Sie bereit sind, blaue Schildkröten zu entwerfen – können Sie dann auch andere Tiere zeichnen? Einen Hund zum Beispiel.»

Sven winkte ab. Malen könne er einen Hund schon, aber was hätte dieser im Badezimmer zu suchen.

«Und Sie kennen ja den Chef. Die Fische gefallen ihm und bringen einen Haufen Geld. Ob er da gewillt ist, plötzlich auf den Hund zu kommen?»

Bettina wollte von Ausflüchten nichts wissen und blieb hartnäckig. «Der Chef bekommt den Hund nie unter die Augen.»

Sven blieb eisern. Ein Hund zeichnen – das fehlte gerade noch! Er war sicher, dass er das nicht konnte.

Bettina gab nicht auf. Sie vermutete, dass Sven vermutlich tausend Fische im Schlaf malen konnte, jedoch keinen Hund. Sie wollte es genauer wissen.

«Bitte, zeichnen Sie doch ein kleines Hündchen. Gleich jetzt, und nur ganz einfach. Für mich, Herr Tirebeg», bat sie mit süsser Stimme.

Sven stand vor einem grossen Problem. Zeitlebens hatte er noch nie einen Hund gemalt. Auch keine Kuh, kein Pferd und kein Schwein. Die waren für Duschvorhänge nicht vorgesehen und er selbst hatte ja ausschliesslich Fische im Aquarium studiert.

«Würde ich gerne machen für Sie, Frau Breitenmoser, aber jetzt muss ich die neue Fisch-Kollektion ‹Kabeljau› vorbereiten. Morgen ist Präsentation.»

Bettina kannte kein Pardon. «Ach kommen Sie, ich helfe Ihnen nachher. Sie sind Profi, so ein Hündchen schütteln Sie doch aus dem Ärmel», versuchte sie ihn zu überzeugen.

«Und es ist ja für mich, ich werde die Skizze gerne behalten."

Svens Dilemma präsentierte sich vielfältig. Einen anständigen Hund brachte er spontan nicht aufs Papier, das wusste er.

Versuchte er, sich aber rauszureden, gab es von Breitenmosers Seite keine Ruhe. Wenn sie etwas unbedingt wollte, war sie besonders hartnäckig. Dazu kam aber noch eine andere Sache. Seit Bettina bei der Courtena AG arbeitete – rund ein Dreivierteljahr – hatte Sven ein Auge auf die attraktive Frau geworfen.

Nur war er viel zu schüchtern, um der selbstbewussten Dame den Hof zu machen. Die wenigen Erfahrungen im Umgang mit Frauen halfen ihm auch nicht weiter.

Einen Campagnolo-Kettenwechsel am Rennrad reparierte er mit wenigen Handgriffen auch bei Kerzenlicht. Wie man aber das Interesse einer Frau auf sich lenkte, das wusste Sven nicht genau. Folglich gab es nur selten die Möglichkeit, dass er dazu kam, einer Frau - und dazu einer, die ihm gefiel – einen Dienst zu erweisen.

«Also, geben Sie mir Papier. Malen wir den Hund», sagte er forsch.

Sven war selber überrascht über seinen Mut und reichlich nervös, denn er wusste genau: Kam kein Hund heraus beim Zeichnen, sah er seine sowieso schon kleinen Chancen bei Bettina dahinschmelzen wie die Butter im Backofen.

Seine ersten Linien definierten weder Hund noch sonst einen Vierbeiner. Am ehesten glichen die Umrisse einem Fisch.

Sven war nicht wohl. Hätte er wenigstens über Nacht etwas üben können! Die Trainingsfahrt mit seinen Velo-Kollegen nach Feierabend über die Sattelegg hätte er dazu mit Vergnügen abgesagt. Grundsätzlich wusste er ja einen Stift zu führen und bei der Farbenwahl war er stark.

Aber jetzt war ein Hund gefragt. Ausgerechnet mit Bleistift! Er erinnerte sich an seinen Vater. Hätte er doch damals wenigstens einmal einen Fisch mit Bleistift gemalt! Oder Klimatechniker gelernt, Rohre zusammengeschraubt, Filter eingesetzt und Kreativität denen überlassen, die tatsächlich welche besassen.

Sven schwitzte und der Bleistift lag rutschig in den Fingern. Nach einer Weile zeichnete sich auf dem Blatt endlich etwas mit vier Beinen ab. Sven schöpfte Hoffnung.

Wenn nur die Breitenmoser nicht gewesen wäre. Anstatt für eine Zigarette auf die Terrasse zu verschwinden – was sie sonst oft tat während des Tages – blieb sie ausgerechnet jetzt im Büro. Dazu beobachtete sie jede Bewegung von Svens Hand. Zuerst vom gegenüberliegenden Bürotisch aus, dann kam sie näher und beugte sich ganz dicht über Svens Schultern.

Er konnte ihre Nähe spüren, was ihn noch nervöser machte. Bettina sah nicht nur gut aus, sie trat auch selbstsicher auf und scherte sich keinen Deut um zufälligen Körperkontakt. Sven war das pur Gegenteil von ihr, zumindest was sein Selbstbewusstsein betraf. Ansonsten war er aber durchaus attraktiv und sportlich gebaut. Das intensive Velofahren tat seine Dienste.

Im Moment wäre er aber lieber mit dem ältesten Drahtesel über einen Pass gefahren – als einen Hund zu zeichnen und die attraktive Frau neben ihm zu wissen. Leider waren die beiden schicksalhaft miteinander verbunden, sowohl Frau als auch Hund.

Es war eine Sau, die schliesslich auf dem Blatt verklärt in Richtung Fenster schaute. Sven wusste es, Bettina sah es.

Die Proportionen konnte man noch gelten lassen, Hunde sind ja in ihrer Statur auch verschieden. Aber die Beine waren die eines Paarhufers. Die Schnauze schmeichelte jedem Schwein und die Ohren des Fabelwesens entsprangen einem Mutanten, den die Welt noch gar nicht kannte.

Bettina fragte höflich, ob dies jetzt der Hund sei, oder ob es sich dabei erst um konstruktive Hilfslinien handelte. Sven murmelte etwas von spezieller Gattung und ungewöhnlicher Perspektive. Er wusste aber, dass das Spiel aus war.

«Ha, ha, ha, Herr Tirebeg, Sie haben einen ‹Schwund› gezeichnet. Eine ganz seltene Mischung von Schwein und Hund, eben einen Schwund. Grossartig! Sie sind wirklich ein Spassvogel!»

Sven wäre am liebsten in eines der Filterrohre gekrochen, von denen sein Vater immer schwärmte. Und augenblicklich gefiltert und entsorgt, so peinlich war ihm das alles.

«Äh, ich geh jetzt. Die ‹Kabeljau›-Kollektion sammeln. Schönen Tag noch», sagte Sven zerknirscht und ging schnell zur Tür. «Herr Tirebeg, danke für die lustige Skizze. Ich komme ihnen gleich helfen bei der Kollektion.»

Vor wenigen Minuten hätte Sven noch Freudensprünge gemacht, um mit der hübschen Kollegin zusammenzuarbeiten. Nun wollte er nur noch weg und sich dem spöttischen Blick ihrer Augen entziehen. Zwar konnte er bei Bettina keinen Spott ausfindig machen, aber es war klar, dass sie sich über ihn lustig machte.

«Danke, aber ich schaff das allein», antwortete er hastig.

«O.k, dann ein anderes Mal. Aber kommen Sie morgen in mein Büro, ich habe eine Überraschung für Sie», rief sie hinterher.

Sven sass in Gedanken schon im Velosattel Richtung Sattelegg. Ohne Hund, ohne Breitenmoser, und auch ohne Überraschung. Nur noch die Strasse und er – das war ehrlich und das war gut so.

Kapitel 3

Bettina Breitenmoser war froh, als nach einem ruhigen Tag im Büro endlich Feierabend war. Bereits zeigte der warme Juni seine Wirkung. Alles strömte nach draussen, an die Sonne, an die frische Luft. Sie dachte an die Geschichte mit Sven und dem Hund – oder besser, dem «Schwund» – während sie in der Tiefgarage ihr Auto suchte. Sie hatte es doch gewusst. Sven konnte Fische in Perfektion zeichnen und sonst nichts. Bettina musste lachen. Dieser «Schwund» war echt ein Knüller. Die Skizze hatte sie sorgfältig in eine Mappe gesteckt und in ihrer Tasche verschwinden lassen.

Es ging ihr nicht darum, den Arbeitskollegen schlecht zu machen. Die Zeichnung war einfach lustig anzuschauen. Schadenfreude war nicht ihr Ding, im Gegenteil.

Schon an ihrem ersten Arbeitstag bei der Courtena AG fiel ihr der Chefdesigner auf. Abgesehen von seiner sportlichen Erscheinung beeindruckte sie Svens Eigenschaft, durch nichts aufzufallen. Er war weder ganz humorlos noch besonders witzig, zeigte Initiative bei der Arbeit, war aber kein Eiferer. Und vor allem: er schwieg, wenn andere sprachen, ob aus Desinteresse oder weil er zuhörte – das wusste Bettina noch nicht genau. Auf jeden Fall hatte sie das Gefühl, Svens unauffällige Art passte eigentlich ganz gut zu ihr.

Im Prinzip war Sven tatsächlich nicht der Typ für eine Frau wie Bettina. Im Gegensatz zu ihm, wusste sie sich gut in Szene zu setzen. Sie ging gegen die Dreissig zu, war schlank und attraktiv. Früher glich ihre Frisur einer blonden Löwenmähne. Jetzt aber hatte Bettina halblange, brünette Haare, elegant und schon fast etwas streng geschnitten. Das passte zu ihr, denn sie trat stets selbstbewusst und unabhängig auf. Letzteres nicht ganz freiwillig, in gewissem Sinne.

Bis vor rund einem Jahr wohnte sie noch zusammen mit ihrem Freund in einem St. Galler Vorort. Gemeinsam pflügten sie sich durch den Sumpf einer untergehenden Partnerschaft. Zu Beginn verursachten Unentschlossenheit und Karrieresucht bei beiden erste Überschwemmungen der Gefühle.

Auf der einen Seite verfügten sie über zu wenig Antrieb, in der Partnerschaft weiterzukommen, auf der anderen Seite stand der Eifer, überall der oder die Beste zu sein. So standen sie schon bald hüfthoch in den Beziehungsproblemen.

Bettinas Partner arbeitete als Verkaufsleiter bei einem Inseratmonopolisten für die Schweizer Medien. Um bei diesem Geschäft ganz vorne dabei zu sein, war mehr als hundertprozentiger Einsatz gefordert. Das hiess für ihn, bei jedem kleinsten Anlass dabei zu sein, um allfällige Kunden gleich für Inserate und Aufträge gewinnen zu können. Irgendwann würde er dann vom Schreibtisch aus die Geschäfte machen können – soweit war er aber noch nicht.

Daraus ergab sich die Konsequenz, dass Bettina oft allein zu Hause sass, weil sich ihr Partner an irgendeiner Autoshow oder Gewerbemesse auf Kundenfang befand. Ihr Partner arbeitete viel und er hatte Perspektiven – aber die lagen in ferner Zukunft. Irgendwann wollte er einmal eine ruhigere Kugel schieben und mit wenig Aufwand viel Geld verdienen. Dann würden sie auch zusammen mehr Zeit verbringen, sagte er immer und forderte von seiner Partnerin Geduld.

Bettina trug genauso ihren Anteil für das Scheitern der Beziehung bei. Fragte man sie, wie sie sich ihre Zukunft vorstelle, wusste sie nichts Genaues zu antworten. Glücklich sein, zufrieden leben, vielleicht mal Familie haben – oder auch nicht. Für sie war vieles möglich, konkrete Pläne hatte sie keine.

Nach rund fünf Jahren stand ihnen das Wasser schliesslich bis zum Hals und es gab nur noch eine Lösung. Jeder ging seine eigenen Wege. Ein Funken Liebe war zwar noch im Spiel – oder wenigstens der gegenseitige Respekt und das Wissen, dass beide für die Trennung verantwortlich waren.

In dieser Hinsicht hatten sie anderen Paaren in der gleichen Situation einiges voraus, welche vor lauter Vorwürfen und Anschuldigungen vergassen, dass sie früher wenigstens in einigen Punkten derselben Meinung waren.

Bettina erinnerte sich mit gemischten Gefühlen an diese Zeit. Am ehesten dann, wenn sie im Auto sass. Den kleinen schwarzen Wagen hatten sie und ihr Freund noch gemeinsam gekauft. Er blieb nach der Trennung in Bettinas Besitz.

Die Courtena AG befand sich im südlichen Teil Zürichs am Fusse des Üetlibergs, Bettinas Wohnung lag auf der anderen Seeseite im Seefeldquartier. Mit dem Tram zur Arbeit fahren, wäre durchaus möglich gewesen.

Für Bettina kam dies aber nicht in Frage, sie fühlte sich zu stark gebunden an Fahrpläne, und das ständige Achten aufs Wetter war ihr zu mühsam. Schien morgens noch die Sonne, kleidete sie sich sportlich elegant. Klatschten am Feierabend dicke Regentropfen auf den Asphalt, ärgerte sie sich über fehlende Regenjacke oder den Schirm.

Das Auto bedeute ihr darum viel. Es war eine Art der Selbstbestimmung, wenigstens bis zum Arbeitsplatz. Da hatte ihr Chef, Frantisek Hrdina, das Sagen.

Die Ausfahrt aus der Tiefgarage bereitete ihr zu Beginn der Anstellung bei der Courtena AG einige Probleme. Normalerweise durchaus geübt im hektischen Strassenverkehr, mühte sie sich täglich ab mit der Garagenausfahrt. Die Ausfahrspur war derart eng berechnet, dass schon am ersten Arbeitstag der rechte Seitenspiegel knirschend mit einer Betonsäule Bekanntschaft machte und sich mit einem kurzen Knacken vom Auto verabschiedete. Bettina stieg schnell aus, las den Spiegel vom ölverschmierten Betonboden auf und warf ihn verärgert auf den Beifahrersitz.

Zum Glück hatte niemand ihr Missgeschick bemerkt. Ein paar Tage später jedoch gingen gerade einige Mitarbeiter der Firma an ihrem Wagen vorbei, als sich der neue Spiegel mit lautem Jaulen zur Seitenscheibe hin krümmte und dann scheppernd vors nahende Hinterrad fiel.

Dieses gab dem Spiegel den Rest, übrig blieb ein Haufen Glassplitter und Plastik. «Ho, ho, Frau Breitenmoser! Fahre rechts und die Strasse wird breiter, gell! Das müssen Sie aber nicht allzu wörtlich nehmen», kicherten die Kollegen verschämt.

An diesem Junitag gelang Bettina die Ausfahrt problemlos. Ihre Gedanken waren noch immer beim «Schwund», der verstohlen in ihrer Tasche schlummerte. Sie dachte an den armen Sven, dem die Schweissperlen auf der Stirn standen, als er den Hund zu zeichnen versuchte. Ein bisschen tat er ihr sogar leid. Schliesslich war er ihr gegenüber immer fair und hilfsbereit.

Und auch sonst: Sein durchtrainierter Körper beeindruckte sie von Anfang an – auf dem Velo machte Sven bestimmt eine gute Figur. Für einen Moment erwischte sie sich bei der Vorstellung, wie ihr Arbeitskollege im hautengen Velodress an ihr vorbeifuhr und sie in Gedanken seine kräftigen Beine und den strammen Hintern bewunderte.

Lautes Hupen weckte sie aus ihren Träumen und ein wild fuchtelnder Autofahrer hinter ihr drängte zur Weiterfahrt.

Ja, es war ruhig geworden bei Bettina in Sachen Freundschaft und Beziehung. Viel Zerstreuung gab es zurzeit nicht in ihrem Leben, ausser der Arbeit und einem gelegentlichen Schwatz mit der Kollegin. Sie war deswegen nicht einmal besonders betrübt. Es war einfach ungewöhnlich für sie.

Früher blieb sie selten einen Abend zu Hause. Wenn sich die Möglichkeit für einen unterhaltsamen Abend bot, überlegte sie keine Sekunde. Als dann die Schwierigkeiten in der Beziehung begannen, war sie umso mehr bis spät in die Nacht in den Zürcher In-Lokalen anzutreffen.

Zeit dazu hatte sie ja genug. Jetzt wohnte sie allein und konnte sich täglich für ein neues Happening in den Clubs entscheiden. Aber ihr fehlte die Energie dazu. Das Lebenstheater ging offensichtlich zum nächsten Akt über. Welche Rolle in welchem Stück sie dabei spielte, wusste Bettina nicht.

Ganz unvorbereitet betrat sie diese Bühne ja auch wieder nicht. Verschwanden einige gewohnte Menschen und Dinge aus ihrem alten Leben, so kamen neue dazu. Die neue Arbeit, die neue Wohnung – und beides mitten in Zürich. Da, wo sie früher durchs Nachtleben streifte, ging nun das alltägliche Leben vonstatten. Ein Abonnement fürs Fitnessstudio gehörte eigentlich auch zum Aufbruch in Bettinas neuen Lebensabschnitt.

Es spielte aber eine Nebenrolle. Richtig auf Trab hielt sie der Hauptprotagonist in ihrem Leben, eine ganz spezielle Figur: Jung, mit glänzendem schwarzgelocktem Haar, unternehmungslustig und spontan, gesund und kräftig und mit einem kräftigen Schwanz, der sofort in die Höhe schnellte, wenn sie nur schon in seine Nähe kam: Harrass.

Der knapp einjährige Terrier schaute ihr während einer Fernsehsendung vor ein paar Wochen ganz tief in die Augen. Durch die Linse der Kamera, digitalisiert über das Kabelnetz und schliesslich auf Bettinas neuem Flachbildschirm bettelte der kleine Harrass um ein neues Zuhause und wedelte dazu ganz wild.

Nie trug sie sich vorher mit dem Gedanken, ein Haustier zu halten. Die Idee traf sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sie beschloss spontan, sich bei der eingeblendeten Nummer zu melden und den jungen Harrass zu sich zu nehmen. Es war eine Art Liebe auf den ersten Blick.

Einzig der Name machte sie etwas stutzig, verstand sie doch unter dem Begriff «Harrass» viel eher eine Kiste Bier als ein putziges Hündchen. Den Namen würde sie wohl ändern, dachte sie. Nicht aber ihren Entschluss, fortan einen vierbeinigen Mitbewohner zu haben.

Im Mietvertrag stand nichts von einem Haustierverbot, die Sache war geritzt. Und schon zwei Tage später zog der quirlige Harrass bei ihr ein.

Für die ersten Tage mit Hund nahm Bettina ein paar Tage frei, Ferienpläne hatte sie sowieso keine konkreten. Zum Glück hatte der kleine Wirbelwind schon die grundlegenden Regeln des Zusammenlebens mit Menschen gelernt und bereitete ihr erstaunlich wenig Umtriebe. Zwei ausgiebige Spaziergänge tagsüber genügten ihm, und am Abend genoss er einen weiteren Rundgang am See. Bettina hatte weiteres Glück, indem eine Nachbarin im selben Haus ebenfalls an Harrass einen Narren gefressen hatte und sich sofort bereit erklärte, mit ihm zwei-mal am Tag eine Runde zu drehen, während Bettina arbeitete.

Ansonsten verbrachte er die Stunden allein zu Hause und entdeckte die grosse Welt der kleinen Wohnung. Tagsüber durfte er auf den Balkon, um frische Luft zu schnappen, gegen Abend lag er meist zufrieden in seinem Korb und wartete, bis Bettina von der Arbeit zurückkehrte. Die Nachbarin gab ihm am Mittag etwas zu fressen und verwöhnte ihn ab und zu mit kleinen Überraschungen.

Einmal brachte die liebe Nachbarin Harrass ein Geschenk, eingewickelt in farbiges Papier, und legte es neben seinen Korb. Bettina bemerkte das Paket erst am Abend und dankte ihr für die Aufmerksamkeit.

Harrass interessierte sich aber keinen Deut für das bunte Ding und liess es links liegen. Bettina wartete während des ganzen Abends darauf, dass er doch wenigstens einmal an seinem Geschenk schnupperte. Daraus wurde nichts. Harrass rollte sich nach dem Spaziergang in seinem Korb ein und schlief bald, ohne sich um die Überraschung zu kümmern.

Bettina wollte nun wissen, was die Nachbarin wohl eingepackt hatte und entfernte das Papier. Zum Vorschein kam ein «Samichlaus» mit roter Mütze und weissem Bart. Sie musste lachen: Ein Restposten aus der vergangenen Weihnachtszeit...

Trotzdem empfand sie das Geschenk als eine nette Geste ihrer Nachbarin und war gespannt, ob Harrass den Stoff-Samichlaus als neuen Freund gewinnen würde.

In diesen Gedanken versunken, parkte Bettina das Auto neben dem klotzigen Geländewagen ihres Nachbarn. Der Parkplatz kostete zwar ein Heidengeld, war aber praktisch. So konnte es sich Bettina leisten, auch mit hohen Absätzen zur Arbeit zu gehen – keine nassen Strassen und unebene Trottoirs lagen jeweils zwischen Haustür und Lenkrad.

Im Treppenhaus kramte sie ihren Schlüssel hervor und wartete gespannt auf das aufgeregte Bellen von Harrass. Normalerweise ging das freudige Begrüssungsritual los, kaum liess sie das Parterre hinter sich.

Von da bis hinauf zum dritten Stock dauerte das Konzert von Jaulen und Winseln ununterbrochen an, bis die Tür nach dem Aufsperren wieder ins Schloss fiel. Dann gab es einen wilden Willkommenstanz, der Bettina es kaum erlaubte, ihre Handtasche und ihre Jacke aufzuhängen.

Aber heute war es ruhig. Verdächtig ruhig. Weder im Treppenhaus, noch beim Drehen des Schlüssels und beim Öffnen der Tür gab es irgendeinen Laut zu hören. Bettina war erstaunt und beunruhigt. Was war los mit Harrass? Etwas Schlimmes konnte es nicht sein, die Nachbarin hätte sich längst gemeldet.

Bettina betrat die Wohnung. Keine Spur von euphorischem Wedeln und Betteln. Sie eilte am halb offenen Schlafzimmer vorbei durch den kurzen Korridor und stürzte in die Stube.

Dort sah sie den verstörten Harrass, der wie angewurzelt neben seinem Korb stand und zitternd zu ihr und dann wieder Richtung Korridor schaute. Es verging eine ganze Weile, bis er wenigstens ein bisschen wedelte. Bettina hatte keine Ahnung, was mit ihrem Kleinen passiert war. Sie machte einen Kontrollgang durch die Wohnung, entdeckte aber nichts Aussergewöhnliches. Auch die Nachbarin zeigte sich am Telefon erstaunt über das Verhalten des Hundes und versicherte, am Nachmittag sei er so lebendig wie immer gewesen. Bettina schüttelte den Kopf.

Es schien, als hätte Harrass einen Geist gesehen. «Er ist halt noch jung – oder etwas launisch», dachte sie sich. Und tatsächlich. Als sie aus dem Schlafzimmer in den Korridor trat und die Tür hinter sich schloss, kam Harrass voller Begeisterung auf sie zugerannt. Als wäre nichts geschehen.

Kapitel 4

Sven fackelte nicht lange mit der neuen Kollektion. Die Fische schimmerten bunt über dem blaufarbigen Meereshintergrund und schauten lustig in alle Richtungen.

Zugegeben, die neuen Varianten für die Duschvorhänge glichen sich in Stil und Design recht stark, besonders virtuos hatte Sven die Sammlung nicht gestaltet. Sie entsprachen aber dem Geschmack der Kundschaft und hingen ja später auch in verschiedenen Badezimmern.