»Hätte ich das bloß nie gesagt!« - Sven Michaelsen - E-Book
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»Hätte ich das bloß nie gesagt!« E-Book

Sven Michaelsen

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Beschreibung

»Was soll denn jetzt die Frage?« 25 prägende Figuren der Gegenwart treten vor den Spiegel und erzählen Sven Michaelsen mit verblüffender Wahrhaftigkeit von den Rissen und Abgründen, aus denen ihre Energie kommt. Da wächst einer unter Kindermördern und Vergewaltigern auf und wird zum bejubelten Charakterdarsteller im deutschen Film. Eine andere flieht mit 13 vor ihrer asozialen Mutter, bricht die Schule ab – und gewinnt am Ende den Deutschen Buchpreis. Über die Essenz ihres Lebens erzählen unter anderen Anselm Kiefer, Lars Eidinger, Ferdinand von Schirach, Helene Hegemann, Martin Mosebach, Alexander Kluge und Heinz Strunk.

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Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Motto

Sharon Stone

Heinz Strunk

Julia Franck

Joachim Meyerhoff

Helene Hegemann

David Hockney

Alexander Kluge

Balkrishna Doshi

Ferdinand von Schirach

Julian Schnabel

Peter Handke

Christian Thielemann

Anselm Kiefer

Donatella Versace

Peter Marino

Detlev Buck

Sebastião Salgado

Edgar Selge

Klaus Staeck

Peter Schmidt

Editorische Notiz und Dank

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

»Wenn Sie das Leben kennen, geben Sie mir doch bitte seine Anschrift.«

Jules Renard

»Ich habe einmal einen alten Priester gefragt: ›Sie haben 50 Jahre lang in der Verschwiegenheit des Beichtstuhls Leuten zugehört; was haben Sie über die menschliche Seele gelernt?‹ Darauf der alte Priester: ›Ich habe zweierlei gelernt. Erstens: Die Leute sind viel unglücklicher, als man glaubt. Und zweitens: Es gibt keine Erwachsenen.‹«

André Malraux

»Die Welt der Kunst & Fantasie ist die wahre, the rest is a nightmare.«

Arno Schmidt

Sharon Stone

»Entweder du hast Sex mit mir, oder du bist deine Rolle los!«

Die Schauspielerin Sharon Stone über Bestien in Hollywood und einen Bruder, der im großen Stil mit Kokain handelt und zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt wird, über ihre niederschmetternden Erfahrungen mit Dating-Apps und einen Arzt, der ohne ihre Zustimmung ihre Brüste vergrößert, über das Leben als Single mit drei adoptierten Kindern und wie es ist, wenn einem als Superstar und Inbild von Sexyness plötzlich Gesundheit, Geld und Ruhm genommen werden

Es gibt Ereignisse, die eine Biografie für immer in zwei Teile zerschneiden, in ein Davor und ein Danach. Der Wendepunkt in Ihrem Leben war ein Tag im September 2001.

Mein Leben wurde in Stücke geschlagen. Es begann mit einem Schlaganfall und schweren Blutungen in Kopf und Wirbelsäule, die neun Tage nicht zu stoppen waren. Die Ärzte im Krankenhaus sahen nur eine Möglichkeit, mein Leben zu retten: eine sieben Stunden lange Operation, bei der 23 haardünne Platindrähte in die geschädigte Arterie eingeführt werden sollten. Ich fragte, wie meine Chancen stehen, den Eingriff zu überleben. Die Antwort war vernichtend: »Ein Prozent.« Ich habe überlebt, aber der Schlaganfall hat mir Gesundheit, Geld und Ruhm genommen. Hollywood verzeiht es dir nicht, wenn du von heute auf morgen von der Bildfläche verschwindest. Als ich Jahre später wieder vor einer Kamera stehen konnte, galt ich bei Produzenten als beschädigte Ware. Meine Gagen waren entsprechend.

Was war Ihr erster Gedanke, als Sie im Krankenhaus aus der Narkose erwachten?

Dass es nicht nur um mich geht. Mein Adoptivsohn Roan war erst 18 Monate alt, als ich den Schlaganfall hatte. Als alleinerziehende Mutter Anfang 40 war ich doppelt dankbar, dass die Ärzte mir ein zweites Leben geschenkt hatten. Die ersten Monate brachten mich an meine Grenzen. Ich musste Pillen gegen die Schmerzen nehmen und Pillen gegen die durch die Schmerzen verursachten Depressionen. Es dauerte Jahre, bis ich genügend Kraft in mir spürte, um noch zwei weitere Söhne zu adoptieren. Heute sind meine Kinder 16, 17 und 22. Ihre Mutter zu sein war die beste Entscheidung meines Lebens. Wer von Film zu Film hetzt, bleibt immer im Modus des Rollenspielers. Irgendwann bist du besser darin, ein anderer zu sein als du selbst. Durch das ständige Nicht-du-selbst-Sein verlierst du deine wahre Stimme und verhältst dich immerfort so, als ob du in irgendeiner Filmszene aufträtest. Das Fatale ist, du selbst spürst nicht, dass du posierst statt zu leben. Von einem Star erwarten die Leute, dass er glücklich zu sein hat. Sonst heißt es: »Dieser Mensch hat doch alles. Warum beklagt der sich? Der sollte mal mein Leben kennenlernen!« Es kostet aber sehr viel Energie, für andere glücklich auszusehen, wenn man es nicht ist.

In welchem seelischen Zustand waren Sie, als Sie das Krankenhaus verließen?

In manchen Momenten hatte ich das unheimliche Gefühl, die Operation habe meine DNA verändert. Plötzlich aß ich Curry-Gerichte gern und reagierte allergisch auf einige meiner Lieblingsgerichte. Viel schlimmer war, dass mein Körper mir nicht mehr gehorchte. Mein Gesicht hing schief, ich stotterte fünf Monate lang, und beim Gehen zog ich ein Bein nach. Ich konnte zwei Jahre lang nicht lesen und hatte mein Kurzzeitgedächtnis verloren. Jeden Tag musste ich mir die gleichen demütigenden Fragen stellen: Wo ist die Teetasse, die du gerade abgestellt hast? Warum hast du ein Telefon in der Hand? Wen wolltest du damit anrufen? Dazu kam die Paranoia: Wem kann ich in meiner Hilflosigkeit vertrauen? Wer wird mir zur Seite stehen, statt mich an die Boulevardmedien zu verkaufen?

Nachdem Bruce Willis sich von ihr getrennt hatte, wurde Demi Moore süchtig danach, Spielwaren und Puppen für sich zu kaufen. Sie sagt über diese Zeit: »Ich weiß heute, dass meine Sammelobsession mich davon abhielt, etwas weitaus Schlimmeres zu tun.« Hatten Sie ebenfalls Suizidgedanken?

Nein. Die Mutter von Demi war eine Alkoholikerin, die ihre minderjährige Tochter als Lockvogel für Männer mit Geld missbraucht hat. Unsere Biografien sind nicht vergleichbar. Meine Großmutter pflegte zu sagen: »Wer damit droht, sich umzubringen, der soll es gefälligst auch tun.« Möglicherweise war es ihre Stimme in meinem Kopf, die Suizid für mich ausschloss.

Wie hat der Schlaganfall Ihre Persönlichkeit verändert?

Ich musste lernen, anderen wirklich zuzuhören und zu akzeptieren, mich wie ein Kind behandeln zu lassen, dem dauernd Vorschriften gemacht werden. Die wichtigste Veränderung war mein Entschluss, künftig stets bei der Wahrheit über mich zu bleiben. Wenn du kein Kurzzeitgedächtnis mehr hast, ist es sinnlos zu lügen. Um mit einer Lüge durchzukommen, musst du dich am nächsten Tag noch an sie erinnern können, denn sonst verhedderst du dich dauernd in Widersprüchen.

Leiden Sie bis heute unter körperlichen Spätfolgen?

Meine Hörfähigkeit ist beeinträchtigt, und wenn bei einer Besprechung fünf Leute durcheinanderreden, wird der Druck in meinem Kopf so stark, dass ich »Ruhe!« rufen muss. Auch meine Geschicklichkeit hat gelitten, und ich muss damit leben, dass ich seit 21 Jahren jeden Tag Schmerzen habe. Trotz allem halten die behandelnden Ärzte den Grad meiner Genesung für ein Wunder.

Vier Jahre nach dem Sensationserfolg als bisexuelle Eispickel-Killerin in Basic Instinct wurden Sie 1996 für Ihre Rolle in Martin Scorseses Casino mit einem Golden Globe und einer Nominierung für den Oscar geehrt. Fünf Jahre später kam wegen Ihres Schlaganfalls das Aus. Kann man einen Sturz vom Olymp jemals verwinden?

Ich war zehn Jahre lang ein Superstar. Aber egal wie glamourös deine Karriere war, wenn du längere Zeit aus dem Geschäft raus bist, musst du dich am Ende der Schlange anstellen, um wieder eine Rolle zu bekommen. John Travolta ist diesen dornigen Weg ebenso gegangen wie Robin Williams. Ich spiele bis heute Rollen, die mich gelegentlich stolz machen, und arbeite mit namhaften Regisseuren wie Steven Soderbergh. Neben der Schauspielerei habe ich viele Millionen Dollar Spenden gesammelt für Obdachlose und HIV-Infizierte. Im Scheinwerferlicht zu stehen, gibt dem Leben keinen Sinn, Menschen zu helfen schon. Ich vermisse die alte Version von Sharon Stone nicht. Ein großes Ego ist ein großes Hindernis auf dem Weg zu dir selbst.

Wie viel Geld haben Sie für Basic Instinct bekommen?

500 000 Dollar. Später erfuhr ich, dass Michael Douglas 14 Millionen Dollar bekommen hatte. In Hollywood galten Männer zu jener Zeit als das Steak auf dem Teller, Frauen waren lediglich die Salatbeilage. Fairerweise sollte ich hinzufügen, dass sich meine vorherigen Filme als Kassengift entpuppt hatten und ich bei der Vertragsunterzeichnung bereits 32 war. Ich wuchs aus einem Geschäft heraus, in das ich noch gar nicht richtig hineingewachsen war. Basic Instinct war meine letzte Chance, ein Star zu werden.

Nach Ihrem Schulabschluss wurden Sie Model, lebten in New York und verdienten bis zu 10 000 Dollar am Tag. Wie sind Sie an Ihre erste Filmrolle gekommen?

Ein Bekannter von mir vermittelte Statisten für Filmproduktionen. Er sagte: »Woody Allen sucht Komparsen für seinen neuen Film Stardust Memories. Bewirb dich.« Zum Casting kam ich auf Rollerskates. Woody Allen sah mich zehn Minuten lang schweigend an. Dann hieß es, ich könne jetzt gehen. Am nächsten Tag sagte man mir am Telefon, eine Nebenrolle sei frei geworden, ich könne sie haben. In der ersten Filmszene meines Lebens sollte ich in einem Zug die Fensterscheibe küssen. Woody Allen gefiel offenbar, was er sah, und er schrieb mir ein paar zusätzliche Sätze ins Drehbuch. Ich war 20 Jahre alt und glaubte, die Pforte zum Paradies habe sich aufgetan.

Bei Paul Verhoevens Science-Fiction-Film Total Recall bekamen Sie es mit Arnold Schwarzenegger zu tun. Eine angenehme Erfahrung?

Mehr als das. Arnold gab mir zwei entscheidende Tipps für den Umgang mit Journalisten. Erstens: Antworte auf die Fragen, die der Journalist hätte stellen sollen, statt auf die Fragen, die er dir stellt. Zweitens: Wenn ein Journalist dich bei einem Thema in die Ecke drängt, frag ihn was über sein Leben. Das schmeichelt seiner Eitelkeit so sehr, dass er sein Thema vergisst.

2021 haben Sie unter dem Titel The Beauty of Living Twice Ihre Memoiren veröffentlicht. Hatten Sie Vorbilder für Ihr Buch?

Ich schreibe seit meinem 14. Lebensjahr Kurzgeschichten und bin bis heute eine begeisterte Vielleserin. Niemanden bewundere ich mehr als Joan Didion. Sie hat das einzigartige Talent, Tragödien in einem lakonischen, fast beiläufigen Ton zu erzählen. Meine zweite Favoritin ist Flannery O’Connor. Sie kann Geschichten so intim und lebendig erzählen, als wären es Briefe an die beste Freundin. Den Erzählstil dieser beiden Frauen habe ich mir zum Vorbild genommen.

Eine Autobiografie zu schreiben, hat etwas von einer Psychoanalyse. Was haben Sie beim Schreiben über sich gelernt?

Dass unsere Körperzellen ein Gedächtnis haben für unsere Familiengeschichte der letzten hundert Jahre. Ich habe zum Beispiel erst beim Schreiben begriffen, wie sehr mich die Ehe meiner Eltern geprägt hat. Mein halbes Leben lang war ich felsenfest davon überzeugt, eine kaltherzige Mutter zu haben, die mich ablehnt und immer nur Augen für meinen Vater hat – ein Irrtum, wie ich inzwischen weiß. Wer sich mit seiner Familiengeschichte nicht auseinandersetzt, wird sich niemals selbst kennenlernen. Die Macht der Vergangenheit über unser Leben verschwindet erst, wenn wir uns dieser Vergangenheit stellen.

Was waren Ihre größten Hürden beim Schreiben?

Wie jeder Debütant musste ich erst einmal das Schamgefühl überwinden, dass andere meine Gedanken womöglich schon viel genauer und schöner formuliert haben. Als viel problematischer erwiesen sich jedoch die Menschen, die für den Verkauf meines Buches zuständig waren. Kurz nach der Abgabe des Manuskripts starb mein Verleger Sonny Mehta, einer der charismatischsten Menschen, die es im Verlagsgeschäft je gegeben hat. Sein Nachfolger wollte mein Buch als sensationelle Enthüllungsstory vermarkten, und der Werbechef erklärte mir allen Ernstes, soziale Medien wie Instagram seien für den Verkauf meines Buches völlig unerheblich. Mein Publicity-Manager war auch nicht besser. Er sagte Zeitschriften Celebrity-Geschichten über mich zu, ohne mich vorher zu fragen. Auch die Fernsehinterviews mit meiner Familie waren nicht mit mir abgesprochen. Hätte er mich gefragt, hätte ich kategorisch Nein gesagt. Wer in ein Becken voller Haie springt, sollte ihre bösartigen Seiten kennen.

Stimmt es, dass Sie beim Vermarkten Ihres Buches krank wurden?

Ja, als die Hälfte der Werbetour vorbei war, spielten meine Gesichtsmuskeln plötzlich verrückt, und ich konnte meine Augen nicht mehr öffnen. Ich glaube, mein Körper wollte mir damit sagen, dass ich etwas tue, das ich besser lassen sollte. Die Botschaft lautete: Lebe synchron mit deiner Seele, sonst macht sie dich krank. Ich wollte, dass mein Buch nicht wegen meiner Auftritte im Fernsehen gekauft wird, sondern wegen der Dinge, die drinstehen. Inzwischen ist es in 17 Ländern erschienen. In den USA stand es auf Platz vier der Bestsellerlisten, in Großbritannien auf Platz eins. Leider gibt es noch immer keine deutsche Ausgabe.

Sie haben viel Unheil und Leid erlebt: sexuelle Übergriffe des Großvaters, Ihr Jugendfreund wurde von einem betrunkenen Autofahrer getötet, Abtreibung mit 18, neun Fehlgeburten – drei davon nach fünfeinhalb Monaten Schwangerschaft, zwei Scheidungen, Anorexie, Ihr Bruder Michael wurde wegen des Handels mit Kokain zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt, 2021 starb Ihr Neffe und Patensohn mit nur elf Monaten an Multiorganversagen, im Februar 2023 starb Ihr Bruder Patrick mit 57. Tun Wunden, die man zu Papier bringt, hinterher weniger weh?

Ich kann diese Frage nicht beantworten, weil ich meine Verwundungen zuvor schon in Traumatherapien unterschiedlichster Art aufgearbeitet hatte. Dieser Prozess zog sich über viele, viele Jahre hin. Von Therapeuten habe ich gehört, man müsse einen Schmerz siebenmal zu Papier bringen. Erst das Lesen, Korrigieren und Wiederlesen ergebe für die Psyche einen reinigenden Effekt.

Haben Sie eine Art Katharsis gespürt, als Sie hinter den letzten Satz Ihres Manuskripts einen Punkt setzten?

Nein, aber Schreiben zwingt dich zur Genauigkeit. Wenn du Schwierigkeiten hast, einen Gedanken zu formulieren, dann liegt es wahrscheinlich daran, dass du diesen Gedanken noch nicht zu Ende gedacht hast. Wenn du dein Leben wie einen Zauberwürfel aus allen möglichen Perspektiven betrachtest, werden auch deine Erinnerungen auf den Prüfstand gestellt: Erinnern andere Beteiligte sich an dieselbe Szene womöglich ganz anders als du? Man lernt die eigenen Legenden und Halbwahrheiten kennen, die man erzählt, um sich das Leben erträglicher zu machen. Seine Memoiren zu schreiben macht einen nicht glücklich, aber am Ende hat man einen distanzierteren und objektiveren Blick auf sich. Man glaubt sich nicht mehr alles, was man denkt.

Sie galten viele Jahre als Sexsymbol. Ist es mit 65 ein Unglück, als ikonische Schönheit gegolten zu haben, weil man zu oft nur noch mit Heimweh nach dem Damals des eigenen Körpers beschäftigt ist?

Sie werden lachen, bis Anfang 30 mochte ich mein Spiegelbild nicht besonders. Als Teenager fand ich mich zu groß und zu kurvig und hatte die Stimme und Schultern eines Jungen. Niemand hielt mich für sexy, aber weil ich das Auftreten der begehrten Mädchen beobachtete, wusste ich irgendwann, wie man sexy wirkt, ohne sich sexy zu fühlen.

Auf Ihrer Instagram-Seite sieht man neben Glamourfotos auch Bilder aus Ihrem Alltag, auf denen Sie unvorteilhaft aussehen. Unter ein Foto, das Sie im Bikini zeigt, schrieben Sie: »Dankbar unperfekt an einem perfekten Tag.« Gelingt es Ihnen, dem Alter mit Selbstironie zu begegnen?

Mit was denn sonst? Haben Sie eine Alternative für mich, wenn die Haut tut, was sie in meinem Alter nun mal tut? Schauen Sie sich meine Knie an. Soll mich ihr Anblick zum Klageweib machen? Zur Lebenskunst gehört die Einsicht, dass einem die innere Entwicklung wichtiger sein sollte als das unvermeidbare Schrumpeln der Haut. Es ist spaßig, jung zu sein, weil man hübsch und dumm ist. Aber stellen Sie sich vor, man würde heute immer noch den gleichen Blödsinn wie damals von sich geben. Ab einem bestimmten Alter lieben Frauen eher mit den Ohren als mit den Augen.

2019 haben Sie sich für die portugiesische Vogue oben ohne fotografieren lassen. Gab es in Ihrem Kopf Stimmen, die Ihnen davon abrieten?

Sie denken offenbar, ich hätte dieses Foto sorgfältig erwogen, aber so war es nicht. Als ich mich beim Fotoshooting umzog, rief das Team plötzlich: »Stopp! Bleib so. Du siehst fantastisch aus.« Hätte ich eine große Sache daraus machen sollen? Ich habe mit Nacktheit nicht dieses typisch amerikanische Problem. Ich stamme aus einer ärmlichen Hillbilly-Gegend in Pennsylvania und bin ohne Körperscham und Prüderie aufgewachsen. Wir lebten zu sechst unter einem Dach, und es war nicht unüblich, in die Küchenspüle zu pinkeln, wenn die einzige Toilette im Haus besetzt war. Das ist das Erbe meiner irischen Vorfahren.

In Ihrem Buch findet sich der schwer übersetzbare Satz: »Style is what you do with what’s wrong with you.« Als Beispiele führen Sie Barbra Streisand, Danny DeVito und Cher an.

Stellen Sie sich vor, Sie kaufen ein Haus und entdecken später einen baulichen Makel. Lösung eins: Sie geben viel Geld aus, um den Makel von Handwerkern reparieren zu lassen. Lösung zwei: Sie machen aus dem Makel etwas Cooles. Wie das geht? Mit Stil, Geschmack, Chic, Allure. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus meinem Leben: Hosen, die am Bund passen, sind mir immer zu kurz. Irgendwann beschloss ich, sie mit High-Heels zu tragen und diese Kombination zu meinem Look zu erklären. Es funktionierte, die Leute waren begeistert. Auch beim Kochen kann man aus etwas Vermurkstem mit ein bisschen Geschick etwas Genießbares machen.

Ihr IQ soll 154 betragen. Was haben Sie in 43 Jahren als Hollywood-Schauspielerin über Ruhm gelernt?

Dass er eine Tag- und eine Nachtseite hat. Die mondänen Aspekte des Berühmtseins kennt jeder aus Glamour-Magazinen. Aber welcher Hollywood-Star von morgen weiß schon, wie es sich anfühlt, wenn du mit deinem Auto bei einem Stoppschild anhältst, und plötzlich springen zehn Verrückte auf das Wagendach, während zwei andere deine Nummernschilder abreißen, weil sie ein Souvenir von dir mit nach Hause nehmen wollen. Wie verhältst du dich? Aufs Gaspedal drücken und riskieren, Menschen zu verletzen? Nichts tun und zuschauen, wie dein Auto zu Schrott wird? Niemand bereitet dich auf solche Situationen vor. Ich werde nie vergessen, wie nach meinem Schlaganfall ein Arzt seine Diagnose an das Klatschblatt »People« gefaxt hat und darauf auch noch so stolz war, als hätte er gerade seine erste Rolle in einem Hollywood-Melodram gespielt. Es gibt noch einen anderen Arzt, dessen Verhalten mich bis heute aufbringt. 2001 wurden mir gutartige Tumore in beiden Brüsten entfernt. Als die Verbände abkamen, war ich geschockt: Meine Brüste waren um eine volle Körbchengröße vergrößert worden – ohne mein Wissen, ohne mein Einverständnis! Als ich den Arzt zur Rede stellte, hielt er mir einen selbstgerechten Vortrag: Größere Brüste würden viel besser zu meinen Hüften passen und meiner Filmkarriere bestimmt nützlich sein. In so einem Moment möchtest du solchen Leuten die Scheiße aus dem Leib prügeln.

Viele Ärzte oder Rechtsanwälte wünschen sich, ihre Kinder mögen ebenfalls Arzt oder Rechtsanwalt werden. Schauspieler dagegen schlagen die Hände überm Kopf zusammen, wenn ihr Nachwuchs denselben Beruf ergreifen will. Was ist so bedrohlich an dem, was Sie tun?

Jeder Beruf hat seine Härten, aber Schauspieler schneiden sich eine Rolle aus ihrem eigenen Fleisch heraus. Wenn du eine gebrochene, traumatisierte Figur spielst, musst du Tag für Tag extremste Gefühle in dir wachrufen. Wer glaubt, das könne er auch, sollte sich klarmachen, dass manche Szenen 13-, 14-mal gedreht werden. Viel Spaß dabei, auf Kommando 14-mal hintereinander einen kompletten Nervenzusammenbruch glaubhaft zu machen.

Welche Rolle hat Sie an Ihre Grenzen gebracht?

Als wir Casino drehten, war ich fünf Monate lang eine doppelzüngige, drogensüchtige Luxusprostituierte, die am Ende an einer Überdosis stirbt. Gedreht wurde meist nachts. Nachdem die letzte Klappe gefallen war, brauchte ich zehn Wochen, um meine Einzelteile wieder zusammenzusetzen. Wer wünscht seinen Kindern einen Beruf, in dem sie jeden Tag auf einem Hochseil ihr Innerstes nach außen kehren sollen? Außerdem respektieren uns die Menschen nicht. Wir Schauspieler gelten als egozentrisch, exaltiert und neurotisch. Keine Mutter wünscht sich, dass ihr Kind einen von uns heiratet.

Sie beschäftigen heute weder einen Agenten noch einen Manager. Wie kommen Sie an Rollen?

Wer mich erreichen will, weiß, wie das möglich ist. Warum soll ich einen Agenten entscheiden lassen, welche Drehbücher ich zu lesen bekomme und welche nicht? Diese Fremdbestimmung habe ich aus meinem Leben verbannt. Die Zeiten, in denen ich Probeaufnahmen mitgemacht habe, sind ebenfalls vorbei. Ich arbeite nur noch mit Regisseuren, von denen ich weiß, ich bin ihre erste Wahl.

Brennen Sie noch für die Schauspielerei?

Ich fühle mich vor der Kamera wohler als je zuvor, weil ich für meine Rollen mehr Lebenserfahrung mitbringe, aber der große Hunger ist vorbei. In eine fremde Haut zu schlüpfen, kann dich vergessen lassen, dass du es in deiner eigenen manchmal nicht gut aushältst, aber die Erfahrung sagt dir, dieser Effekt ist schnell wieder vorbei. Ich habe bewiesen, was ich kann und wert bin. Dennoch meinen manche Regisseure und Produzenten, mich wie ein junges Ding behandeln zu können, das unbedingt bei den Cheerleader-Mädchen mitmachen möchte. Diese Leute lernen meine unversöhnliche Seite kennen – was meine Beliebtheit in dieser Stadt nicht gerade steigert.

Dreifache Mutter, Schauspielerin, Spendensammlerin, Werbefigur für Dolce & Gabbana: Was machen Sie, wenn Sie nicht arbeiten?

Ich male, lese buddhistische Texte, meditiere, mache Fitnessübungen und schreibe an meinem ersten Roman, der im Milieu Organisierter Kriminalität spielt.

Laut Wikipedia hat Richard Gere Sie zur Buddhistin gemacht.

Das ist Bullshit – wie so vieles, was auf Wikipedia steht. Ich habe mit 14 den Steppenwolf von Hermann Hesse verschlungen. Seither lese ich buddhistische Texte. Wahr ist, dass Richard Gere mich dem Dalai Lama vorgestellt hat, als wir 1994 den Film Begegnungen gedreht haben.

Sie leben seit mehr als 20 Jahren ohne festen Partner. In der US-Fernsehsendung The Drew Barrymore Show kommentierten Sie das mit den Sätzen: »Ich habe es satt, Männer zu daten. Sie sind unehrlich, spielen Spielchen und sind meine Zeit nicht wert. Ich ziehe es vor, allein zu sein oder Zeit mit meinen Kindern oder Freunden von mir zu verbringen. Ich habe großartige Männerfreunde, aber wenn es um emotionale Reife in Beziehungen geht, leben Frauen und Männer auf verschiedenen Planeten.«

Gott weiß, dass ich Sex in meinem Leben hatte. Warum sollte ich mich schlecht fühlen, nur weil es keinen Mann gibt, mit dem ich unter einem Dach zusammenlebe? Ich habe es sogar mit der Dating-App Bumble versucht, aber seien Sie mal auf einer dieser Partnersuche-Plattformen als Sharon Stone unterwegs. Online-Dating führt zu gar nichts, wenn Sie einen berühmten Namen haben.

In seinem Roman Der Ghost Writer schrieb Philip Roth: »Zuerst schlafen sie mit deinem Image, und wenn sie das gehabt haben, schlafen sie mit deiner Maskenbildnerin.« Gibt der Satz Ihre Erfahrungen mit Männern wider, die mit einem Filmstar liiert sind?

Lassen Sie uns bitte das Thema wechseln, bevor ich mich wie bei einer Therapiestunde fühle.

Der wichtigste Mann in Ihrem Leben scheint Ihr Stylist Paris Libby zu sein. Alle Wege zu Ihnen führen über ihn. Auf Fotos sieht der Mann mit seinem langen Philosophenbart aus wie ein marxistisch gesinnter Denker der 68er-Gegenkultur.

In meinem Umfeld sagen einige, ich hätte hellseherische Fähigkeiten. Als ich nach Basic Instinct selbst entscheiden konnte, wer mein Make-up und mein Styling macht, sagte eine Freundin: »Ich kenne einen Mann, der ebenfalls hellseherische Fähigkeiten hat. Ich werde euch bekannt machen.« Paris hat früher der Kriminalpolizei bei der Aufklärung von Verbrechen geholfen. Als wir uns kennenlernten, war er Modedesigner und kleidete Celebrities ein. Heute ist er mein Seelenbruder und tagsüber eine Art Ehemann für mich. Wir wissen alles voneinander und halten uns seit mehr als 30 Jahren die Treue. Ich beschütze ihn und er mich.

Was ist für Sie seine wichtigste Eigenschaft?

Dass ich mein wahres Selbst vor ihm nicht verstecken muss. Mit jeder Lüge, die wir über uns erzählen, verschließen wir uns ein bisschen mehr vor anderen. Fehlende Aufrichtigkeit ist einer der Gründe, warum so viele von uns einsam sind. Wer sein Ego über die Wahrheit stellt oder die Lügen anderer akzeptiert, führt keine Beziehung, sondern hat sich in einem Arrangement eingerichtet. Wenn es ein Geheimnis für das Gelingen der Freundschaft zwischen Paris und mir gibt, dann ist es hundertprozentige Aufrichtigkeit. Wir sind wie zwei Zwiebeln, die sich so lange schälen, bis der Kern sichtbar wird, Herz und Seele. Das ist sowohl brutal als auch rasend komisch.

Ein langjähriger Freund sagte Ihnen einmal: »Sharon, du bist wie ein Ferrari: Du siehst von außen gut aus, gehst aber nach fünf Meilen jedes Mal kaputt.« Sind Sie heute immer noch ein Ferrari oder eher ein SUV?

Wenn ich will, kann ich immer noch wie ein sündhaft teurer Sportwagen aussehen, den sich kaum einer leisten kann. Aber anders als Rita Hayworth oder Marilyn Monroe akzeptiere ich, was das Älterwerden mit einem Körper macht, und bilde mir nicht ein, immer noch erotische Fantasien auszulösen. Dieser Realismus mir selbst gegenüber hat dafür gesorgt, dass meine. Selbstachtung intakt geblieben ist. Gewalttätige Männer haben mich ins Straucheln gebracht, aber ich bin jedes Mal wieder aufgestanden. Diese Robustheit verdanke ich meinem Vater. Er war viele Jahre Schichtarbeiter in einer Fabrik und brachte mir bei zu sagen: »Bis hierhin und keinen Schritt weiter!«

Wann wurden Sie das erste Mal sexuell belästigt?

In der Schule, von einem Lehrer. Später vom Leiter der McDonald’s-Filiale, wo ich Aushilfe war. Was mir in Hollywood so alles zugestoßen ist, steht in meiner Autobiografie.

Mit einem Satz aus Ihrem Buch zusammengefasst: »Es gab immer Bestien.«

Und es gab sie auch noch in den Zehnerjahren. Den erpresserischen Satz »Entweder du vögelst mit mir, oder du bist deine Rolle los!« habe ich in meinem Leben öfters gehört. Es gab auch von Produzenten und Regisseuren die Aufforderung, mit dem Hauptdarsteller Sex zu haben, um Filmszenen das gewisse Etwas zu geben. Die Studiobosse brüsteten sich mit dem Satz »Fuckable is hirable«. Heute tun diese Männer mir gegenüber so, als wäre nichts gewesen, oder sie sagen: »Sharon, andere Zeiten, andere Sitten.« Aber diese Unschuldsnummer akzeptiere ich nicht. Ich erwarte eine Entschuldigung und die Einsicht, dass ihre Taten kriminell waren.

Haben Ihre Erlebnisse einen schwarzen Fleck auf Ihrem Herzen hinterlassen?

Nein, ich habe in Therapien und Zwiegesprächen mit mir selbst lange daran gearbeitet, das Unverzeihliche zu verzeihen und ohne Vergeltungsfantasien zu leben. Wer andere hasst, schadet sich selbst am meisten. Das musst du begreifen, andernfalls wirst du ein bitterer und gehässiger Mensch. Nur wer in sich selbst einen sicheren Zufluchtsort hat, findet Seelenfrieden und lebt in Harmonie mit anderen.

Der Gerichtsprozess von Amber Heard und Johnny Depp war eins der größten Fernsehspektakel aller Zeiten. Mit welchen Gefühlen hat eine Hollywood-Veteranin wie Sie das öffentliche Schlammcatchen der beiden verfolgt?

Interessant, dass Sie diese menschliche Tragödie als »Spektakel« bezeichnen, aber vielleicht müssen Journalisten so ticken. Mein jüngster Sohn hat sich sehr viel mehr für den Prozess interessiert als ich. Wir haben lange darüber diskutiert, ob man die Fernsehübertragungen aus dem Gerichtssaal als großen Spaß sehen darf, so als wäre das Ganze eine Art Pausenshow beim Superbowl. Ich finde es fragwürdig, das Persönlichste zweier Menschen zur öffentlichen Besichtigung freizugeben. Im Kern ging es ja nicht um Beziehungsstreitigkeiten, sondern um so fundamentale Probleme wie Sucht und seelische Gesundheit. Daraus ein sensationalistisches Showformat zu machen, finde ich obszön.

Wenn Sie der 34 Jahre alten Sharon Stone, die gerade mit Basic Instinct weltberühmt geworden ist, einen Ratschlag geben könnten: Was würden Sie ihr mit der Erfahrung von heute mit auf den Weg geben?

Dasselbe wie allen, deren Karriere gerade durch die Decke geht: Mach dir immer wieder klar, dass jeder noch so große Erfolg eine Vorbedingung hat: den Zufall, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Das sollte einen demütig machen, aber die meisten erfolgreichen Menschen sind felsenfest davon überzeugt, sie hätten ihre Erfolge allein ihrem Talent und Können zu verdanken. War ich bei Basic Instinct auf der Wunschliste der Produzenten die Nummer eins? Nein, ich war die 13. Wahl. Die zwölf Schauspielerinnen, die vor mir gefragt wurden, hatten die Rolle wegen der vielen Nacktszenen abgelehnt. Die Wahrheit ist eben selten filmreif.

Heinz Strunk

»Schicksalsgerechtigkeit gibt es so wenig wie einen lieben Gott«

Der Schriftsteller Heinz Strunk über eine psychotische Mutter, die ihn für den Satan hält, die Versuchung, den preußischen Offizierstod zu sterben, den Glücksmoment, in dem »die Nüchternheit des Tages dem herrlichen ersten Alkohol-Glimmer weicht«, und die Entdeckung des »mutmaßlich widerlichsten Wortes der Welt«

Was wissen Sie über Ihren Vater?

Er war Historiker und hatte mit seiner Frau fünf Kinder. Ich habe ihn in meinem Leben vielleicht zehnmal getroffen, das erste Mal mit 15. Nach seinem Tod kam raus, dass er in der SS war.

Wer hat die erste Begegnung eingefädelt?

Ich vermute, meine Mutter. Ich war gar nicht so wahnsinnig scharf darauf, weil ich den Vater nie vermisst habe. Er war auf Vortragsreise in Bad Salzuflen und holte mich vom Bahnhof ab. Weil er natürlich einen guten Eindruck machen wollte, saßen wir rauchend in seinem Hotelzimmer und tranken Bier. Das fand ich mit 15 sehr aufregend, weil mir das zu Hause nicht gestattet war. Ich fand, das war ein Toptyp.

Sie sind als Einzelkind bei Ihrer Mutter groß geworden, einer FAZ lesenden Privatlehrerin für Klavier und Blockflöte, die Sie vor jeder Mahlzeit zum lieben Gott beten ließ.

Sie war schon 31, als sie aus ihrem Elternhaus auszog. Dass sie kurz darauf schwanger wurde, war das Unglück ihres Lebens. Es gab damals einen populären Film, dessen Titel ihre Lage beschreibt: Sie tanzte nur einen Sommer. Nach meiner Geburt zog sie zu ihren Eltern zurück, weil sie es sich nicht zutraute, allein mit einem unehelichen Kind zu leben. Ihr Vater nahm den Umstand, dass seine unverheiratete Tochter ein Kind empfängt, zum Anlass, aus dem Kirchenvorstand zurückzutreten. Eine größere Schande konnte er sich nur schwer vorstellen.

Ihre Mutter hatte zeitlebens nie einen Partner. Warum?

Sie war ein nach oben orientiertes Bildungsbürgermuttchen, das Herbert von Karajan bewunderte und darauf spekulierte, mit einem Professor oder Oberarzt zusammenzukommen. Was sich in ihrem Umfeld in Hamburg-Harburg auftat, hat ihr nicht genügt.

Zwei Jahre nach Ihrer Geburt wurde sie in die Psychiatrie eingeliefert und mit Elektroschocks behandelt.

Sie hat mehrfach versucht, mich abzutreiben, mit Hausmethoden wie vom Stuhl springen. Vielleicht hatten ihre schweren Depressionen anfangs damit zu tun, dass sie sich als Kindsmörderin sah. Als ich zwölf war, fragte sie mich, ob ich ihr alles verzeihen würde, was sie mir angetan hat. Ich habe die Frage mit Ja beantwortet, nicht genau wissend, was Sache ist. Im Laufe der Jahre wandelte sich ihre manisch-depressive Erkrankung in eine schizo-affektive Psychose. Sie war dann temporär vollkommen verrückt und fragte mich, ob ich eigentlich ein Mensch sei oder der Satan. Aus Angst, sie könnte mir im Schlaf etwas antun, schloss ich mich nachts in mein Zimmer ein. Sie lebte zeitweise in einem geschlossenen Wahnsystem mit immer neuen Halluzinationen. Einmal erzählte sie, nachts würden Haie um ihr Bett schwimmen und nach ihr schnappen. Wenn sie mal wieder für ein halbes Jahr in der Psychiatrie in Ochsenzoll war, sind wir immer gegenüber ins Café Torte essen gegangen, sie bis oben hin voll mit Psychopharmaka, wirklich zombiesk.

Mit 18 gerieten Sie selbst in eine Psychose, ausgelöst durch Cannabis.

Rückblickend war das die Zäsur meines Lebens. Meine Freunde kifften alle und erzählten von ihren beeindruckenden psychedelischen Erlebnissen. Ich konnte nicht mitreden, weil die Joints bei mir einfach nicht anschlugen. Aus Frust löste ich einen Riesenbobbel Haschisch in einer Thermoskanne mit sehr starkem Kaffee auf und quälte mir die abscheulich schmeckende Plörre rein. Da kam es mit Macht über mich. Ich war zwölf Stunden lang akut verrückt und hatte Erstickungsanfälle und Todesangst. Erst nach Monaten besserte sich mein Zustand. Mein Riesenfehler war, ein Jahr später an einem schönen Sommerabend an einem angebotenen Joint zu ziehen. Das hat mich so nachhaltig beschädigt, dass ich weder studierfähig war noch in der Lage, so was wie eine Ausbildung anzugehen. Bis Mitte 20 ging es ausschließlich darum, irgendwie den Tag zu überleben. Manchmal kam ich vor heller Angst nicht aus dem Bett raus und betete zwei Stunden lang mit der naiven Vorstellung, der liebe Gott wird schon irgendwie reagieren. Suizid war ein durchgehender Gedanke, in meinem Fall der klassische preußische Offizierstod: Pistole an die Schläfe und abdrücken. Das waren die schlimmsten Jahre meines Lebens.

Sie lebten von Sozialhilfe, hatten Depressionen und standen nicht vor Mittag auf. Beim Blick in den Spiegel blutete Ihr Selbstwertgefühl, weil Sie bis 26 unter schwerer Akne litten. Dann sprang auch noch Ihre Mutter aus dem Fenster, weil sie ihr Leben nicht mehr ertrug.

Aus dem dritten Stock, ein Wunder, dass sie überlebt hat. Allerdings war sie mehr tot als lebend, alles gebrochen, was man sich nur brechen kann. In ihren letzten vier Jahren habe ich sie zu mir geholt. Sie konnte das Bett nicht mehr verlassen, Katheter, dreimal täglich Betreuung durch einen ambulanten Pflegedienst, das volle Programm. 1998 ist sie nach einem Darmverschluss an einer Lungenentzündung gestorben – ein typischer Tod von Menschen, die lange bettlägerig sind. Da war ich 36. Zufällig hatte ich an dem Tag einen Auftritt in Köln bei der Sat.1-Wochenshow. Der einzige Mensch, der ihr etwas bedeutete, war also in der Stunde ihres Todes nicht bei ihr. Ein populärer Schlager heißt Über sieben Brücken musst du geh’n. Sehr viele Menschen, zu ihnen zählte auch meine Mutter, hätten auch über 700 Brücken latschen können, ohne dass am Ende ein heller Schein auf sie gewartet hätte. Das Leben ein einziges Höllenabwärts. Wenn ich eines gelernt habe: Schicksalsgerechtigkeit gibt es so wenig wie einen lieben Gott.

In Ihrem Roman Es ist immer so schön mit dir erzählen Sie die Liebesgeschichte eines Tontechnikers und einer Schauspielerin. Nach 20 Monaten zwischen manischer Aufgedrehtheit und abgrundtiefer Depression trennen sich die beiden.

Der Mann quält sich mit dem Unbehagen rum, ständig etwas falsch zu machen und neben sich zu stehen. Jeder Satz dumm, jeder Schritt ein Fehltritt, in keinem Augenblick ist er er selbst. Die beiden ertrinken in einem Meer von Missverständnissen, ohne dass die Schuldfrage zu klären ist, und werden zu paranoiden Hysterikern, die bei jeder unbedeutenden Kleinigkeit sofort den Weltuntergang wittern. Am Ende sind sie sich auf kranke Art ähnlich geworden, verschmolzen im Unglück. Sie können nicht anders, als sich gegenseitig runterzuziehen.

Ihr Buch liest sich wie ein Manifest fürs Alleinleben.

Für das Modell Familie bin ich offensichtlich nicht geeignet. Von Fragen à la »Schatz, wie war dein Tag?« bin ich daher verschont geblieben.

Hatten Sie je den Wunsch, Vater zu werden?

Nein, ich sehe bei anderen diesen unendlichen Aufwand, dessen es bedarf, ein Kind vernünftig großzuziehen. Dieser Aufgabe fühlte ich mich nicht gewachsen. Mit 60 würde ich jetzt als sogenannter Spätzeuger gelten, in einer Riege mit Bernie Ecclestone, Fritz Wepper und Donald Trump. Der Refrain meines Songs Alter Vater lautet: »Alter Vater, Arsch mit Ohren, geh nach Hause, leg dich hin, alter Vater, schlechte Gene, mach’n Abgang, hör auf zu spinnen.«

Mit Ihrem Debütroman Fleisch ist mein Gemüse gelang Ihnen 2004 ein spektakulärer Bestseller. Hat Erfolg Ihre Seelenverfassung geändert?

Meine Erfahrung: 500 000 verkaufte Bücher machen vielleicht für eine kurze Weile glücklich, aber nicht auf Dauer. Jeder Mensch hat einen Was-wäre-wenn-Traum. Hätten Sie mir vor 2004 einen Bestsellererfolg prophezeit, hätte ich gesagt, ab dann ist in meinem Leben alles paletti. Ist aber nicht so. Ich glaube, jeder Mensch wird mit einer bestimmten Fähigkeit zum Glück geboren, die unveränderbar ist. Wer Millionen im Lotto gewinnt oder bei einem Unfall ein Bein verliert, ist nach einem Jahr so glücklich oder unglücklich wie zuvor. Bei Botho Strauß gibt es den Satz: Der Mensch kommt fertig gestimmt zur Welt.

Ihr Fleiß als Schriftsteller, Musiker, Humorist, Hörspielproduzent und Schauspieler ist beängstigend. Kann man Depressionen mit Arbeit betäuben?

Ja, geht, ist aber extrem ambivalent. Ich wünschte mir, ich hätte in meinem Leben etwas weniger gemacht und wäre dafür ein bisschen fröhlicher. Wenn ich morgens aufwache, geht es mir grundsätzlich erst mal nicht besonders gut. Ich muss mich in den Tag immer erst reinkämpfen.

Woher nahmen Sie das Selbstbewusstsein, mit 42 als Schriftsteller zu debütieren?

Meine berufliche Laufbahn zeichnete sich bis dahin durch eine unablässige Folge von Rohrkrepierern aus. Meine damalige Freundin sagte mit einer Mischung aus wohlwollender Sorge und Mitleid, ich könne doch ganz gut mit Sprache umgehen, ob ich nicht mal ein Buch schreiben wolle, statt in Depression und Alkoholismus zu versinken. Auf die Idee war ich nie gekommen.

Ihr Erstling ist bis heute Ihr meistverkauftes Buch. Kränkt Sie das?

Das Buch hängt an mir wie Fiesta Mexicana an Rex Gildo, aber nach 20 Jahren vollständiger Erfolglosigkeit empfand ich es als Glücksfall. Anfangs fürchtete ich, es würde mir so gehen wie Patrick Süskind oder Benjamin Lebert: ein Riesenwurf, und dann kommt nicht mehr viel. Die stehen ja auch morgens auf und haben 16 Stunden zur freien Verfügung. Was macht man mit dieser Zeit?

Ist es eine Erlösung, wenn man eine Lebensgeschichte wie die Ihre in autobiografische Romane verwandelt?

Schreiben als Selbsttherapie? Ich halte es für ein frommes, leider unausrottbares Märchen, dass es möglich sein soll, sich Probleme von der Seele zu schreiben. Aber immerhin liegt eine gewisse Befriedigung darin, dass die bleiernen Jahre wenigstens zu etwas gut waren.

Der zweite Wendepunkt Ihres Lebens war Ihr 2016 erschienener Roman Der goldene Handschuh über den vierfachen Frauenmörder Fritz Honka. Plötzlich lobpreiste Sie auch das gehobene Feuilleton.

Ich hatte mich bis dahin nahezu ausschließlich aus meinem biografischen Fundus bedient, und weil der irgendwann auserzählt war, musste ich mich nach fiktionalen Inhalten umsehen. Ich war 2009 das erste Mal im Goldenen Handschuh, einer 24 Stunden geöffneten Absturzkneipe in St. Pauli, in der Honka seine Opfer suchte. Es dauerte aber noch eine Weile, bis ich auf die Idee kam, die Geschichte Honkas mit der vom Goldenen Handschuh zu verknüpfen. Ich habe dann einen Rechercheantrag beim Staatsarchiv gestellt und 18 Ordner mit Gerichtsakten durchgearbeitet. Es mag für den Leser unwichtig sein, aber für mich war es ein schönes Gefühl, zu wissen, dass das Fichtennadelspray, mit dem Honka den Leichengeruch in seiner Wohnung übertünchte, »Patrizia« hieß.

Sie sollen vom Goldenen Handschuh 18 Fassungen geschrieben haben.

Dass ich von meinen Büchern so viele Fassungen schreibe, ist der Wille, genau und realistisch zu sein. Ich sitze oft mit Stift und Block vorm Fernseher und notiere unfreiwilligen Humor. Eine zuverlässige Fundgrube sind Die Wollnys. Von Silvia Wollny habe ich Hunderte Formulierungen gesammelt wie: »Jetzt ist es aber mal gut, gebt euch die Hand und dann Schwamm weg.« Als ihr Mann ein Bier trinken geht, schimpft sie: »Jetzt sitze ich hier allein zu Haus, und er haut sich die Falten aus dem Sack.« Oder: »Ich dreh am Kabel, ich könnte literweise Wandfarbe saufen.« Diese Formulierungen wären geeignet, der alimentierten deutschen Berufsschriftstellerkaste etwas Leben einzuhauchen. Ein Quell der Freude sind auch die Idiotien sogenannter Motivationstrainer. Von Bodo Schäfer habe ich gerade den Satz aufgeschnappt: »Ich habe heute Morgen zwei Geschenke aufgemacht – es waren meine Augen.« Das ist doch unerreicht.

Bei Ihnen liest man die Wortschöpfung »Analtunke«. Aufgeschnappt?

Nein, auf der langwierigen Suche nach dem mutmaßlich widerlichsten Wort der Welt bin ich irgendwann auf Analtunke gekommen. Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf. Wer mir vorwirft, ich würde die Welt in übertrieben düsteren Farben malen, den lade ich ein, sich mal einen ganzen Tag lang auf einer deutschen Autobahnraststätte aufzuhalten. Ein Ort echten, zutiefst deutschen Grauens.

In Ihren Romanen sind die Männer extrem triebhaft und empfinden ihre Sexualität oft als entsetzliche Qual.

Der Mensch windet sich unter dem Feuer, das unablässig seine Lenden leckt. Luis Buñuel sagte im Alter, er hätte erst dann ein menschenwürdiges Leben führen können, als er von der Libido befreit war. Die meisten Männer, mit denen ich gesprochen habe, empfinden die Libido als dauerhaften und oftmals entwürdigenden Druck. Sie wären diese Last gerne öfter mal los.

Stimmt es, dass Sie eine Liste führen mit allen Büchern, die Sie seit 2006 gelesen haben, und alle paar Monate Ihre aktuellen 50 Lieblingsromane und Tagebücher küren?

Ja, einen privaten Kanon sollte jeder an Literatur Interessierte für sich anlegen. Bei mir ist gerade Elfriede Jelineks dann doch eher schwacher Roman Lust rausgeflogen und durch William Faulkners Licht im August ersetzt worden. Meine ewige Nummer eins ist J. M. Coetzee mit Schande. Es folgen derzeit John Cheever, Richard Ford, Denis Johnson, Philip Roth, alles von Franz Kafka, Charles Bukowski, Cormac McCarthy und, bedingt, Michel Houellebecq. Eins-a-Plotter, aber eher mittelmäßiger Stilist.

Auf Ihrem Klingelschild stehen zwei Namen: Heinz Strunk und Mathias Halfpape.

Für meine erste CD habe ich mir 1992 den maximal doofen Metzgernamen Heinz Strunk ausgesucht, weil ich die unendliche Klanglosigkeit passend fand. Heute wäre ich lieber der andere auf dem Klingelschild. Klingt tausendmal besser, wenn es um Literatur geht.

Sagt noch jemand Mathias zu Ihnen?

Nur ein paar ganz alte Seilschaften, denen ich die Namensänderung nicht mehr zumuten möchte.

Warum dann das Klingelschild?

Post von Ämtern und Behörden. Meinen Künstlernamen beim Einwohnermeldeamt registrieren zu lassen, ist mir zu affig.

Auf Pressefotos tragen Sie meist maßgeschneiderte Retro-Anzüge des Hamburger Labels Herr von Eden, eine goldene Rolex Day-Date und eine getönte Brille wie aus einem Siebzigerjahre-Porno.

Bei der Tanzband Tiffany’s war ich zwölf Jahre lang der linkische Spacken am Saxofon aus Hamburg-Harburg. Das Kokettieren mit diesem etwas halbseidenen Luden-Revival-Look hat sich dann im Laufe der Jahre entwickelt. Auch in puncto Style hat es bei mir eben etwas länger gebraucht. Ein Schriftsteller muss doch nicht zwangsläufig so aussehen, wie deutsche Schriftsteller gemeinhin aussehen. In dem Zusammenhang ein hervorragender Satz von Karen Duve: »Ein Schriftsteller ist jemand, der nicht richtig scheißen kann, aber statt einmal um den Block zu gehen, setzt er sich an den Schreibtisch und schreibt darüber, dass er nicht richtig scheißen kann.«

Wann haben Sie angefangen, sich Tattoos stechen zu lassen?

2009 habe ich mir zwei jämmerliche Tattoos überstechen lassen, die nach RTL Zwei aussahen: ein kleines Herz mit Banderole und das Yin-Yang-Zeichen. Als der Tätowierer fertig war, entstand dieser eigentümliche Sog, es sollte weitergehen. Wir haben uns dann auf eine inhaltliche Linie geeinigt: maritime Motive, oldschool, Seepferdchen, eine Nixe, ein Segelschiff, so was.

Kommen noch neue Tattoos hinzu?

Nein, ich bin durch. Allerdings, ein Freund von mir hat zwei Erdmännchen auf den Waden. Das wäre eine Idee für ein Alterswerk.

Sie fasten seit mehr als 30 Jahren regelmäßig. Ihr Rekord liegt bei 35 Tagen am Stück.

Karl Lagerfeld ist insofern ein Vorbild für mich, als er auf die Frage, was ihm im Leben wichtig sei, antwortete, er möchte bis an Ende seiner Tage die Konfektionsgröße nicht mehr wechseln. Einar Schleef hat etwas Ähnliches gesagt: Um Inspiration müsse er nicht kämpfen, sondern darum, dass die Speckrolle am Bauch nicht noch weiterwächst. Der zweite Grund für mein Fasten ist, dass ich immer wieder Alkoholpausen brauche.

Als Sie nach Ihrer großen Leidenschaft gefragt wurden, antworteten Sie: »Automatenspiel. Ich bin begeisterter Casinobesucher. Dazu Wodka, Bier und Wasabinüsse. Inbegriff von großem Glück.«

Es gibt das gesellige Glücksspiel wie Roulette oder Blackjack. Habe ich alles probiert, nicht mein Ding. Bei mir ist es diese konzentrierte Zwiesprache mit dem Automaten. Dass man eben genau nicht mit anderen Leuten redet, sondern allein für sich sitzt und einen Kampf mit dem Daddelautomaten ausficht, der ganz oft mit Verzweiflung zu tun hat, weil man ja leider meistens verliert. Wenn das Casino morgens um vier schließt, bin ich oft der letzte Gast und muss mich bemühen, nicht so sehr zu schwanken, dass die Angestellten mir unter die Arme greifen oder gleich einen Krankenwagen rufen. Die wissen in der Regel ja, wer ich bin, und haben eh schon den nicht gerade schmeichelhaften Eindruck von einem, dessen Glück offenbar darin besteht, acht Stunden lang vor einem Scheißautomaten zu sitzen.

Ihr höchster Gewinn?

Um die 1500 Euro, höchster Verlust 3000. Es ist halt eine Sucht, die ich, so viel darf ich nach 40 Jahren Spielerkarriere behaupten, halbwegs im Griff habe. Nach hohen Verlusten verordne ich mir immer mindestens sechs Wochen Spielpause. An dieser Quarantäne wird auch nicht gerüttelt.

Das Thema Alkohol durchzieht jedes Ihrer Bücher. Trinken Sie, um depressive Schübe zu betäuben?

Ich darf aus den Tagebüchern von Richard Burton zitieren: »Ich weiß nicht, warum ich so viel trinke. Ich liebe meine Frau, ich bin Millionär, ich kann jede Rolle spielen, die ich will.« Das Geheimnis ist groß, nur so viel: Der Moment, wo die Nüchternheit des Tages dem herrlichen ersten Alkohol-Glimmer weicht, ist unerreicht. Ich brauche das stumpfe Vor-sich-hin-Dämmern, um das andere Extrem zu ertragen: das gestochen Scharfe des Schreibens. Die Vorstellung, abends noch Thomas Mann zu lesen, ist vollkommen absurd. Ich trinke auch wahnsinnig gern allein, weil ich Suffgespräche als ebenso anstrengend wie sinnlos erachte. Abends auf meiner Dachterrasse auf die beleuchteten Kräne im Hafen zu schauen und dabei eiskalten Aquavit hinter die Binde zu kippen, das ist wirklich fantastisch.

Was war Ihr schlimmster alkoholbedingter Aussetzer?

Das für mich Peinlichste war, dass ich einmal mir und mich verwechselt habe.

Julia Franck

»Liebe hat sich für mich nie in Luft aufgelöst«

Die Schriftstellerin Julia Franck über das Aufwachsen bei einer Anti-Mutter und die Monate im Flüchtlingslager, über den tragischen Tod ihrer großen Liebe und Schönheit als Malus in der Literaturszene, und wie es ist, acht Jahre lang an drei Romanen zu schreiben, die am Ende im Papierkorb landen

 

Ihr Vater war acht Jahre alt, als ihn seine Mutter 1945 an einem Bahnsteig allein zurückließ und nie wiederkam. Als er mit 49 an einem Hirntumor starb, hatte Julia Franck, damals 17, ihn gerade erst kennengelernt. Ihre jüdische Urgroßmutter, Großmutter und Mutter gehörten zur kulturellen Bohème der DDR und waren mit Robert Havemann, Thomas Langhoff, Heiner Müller und Thomas Brasch befreundet. Eins der Kindermädchen, die auf Julia Franck aufpassten, war Nina Hagen. Nach einem 1979 genehmigten Ausreiseantrag und neun Monaten im Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde lebte ihre alleinstehende Mutter mit ihren fünf Töchtern von vier Vätern in einem baufälligen Bauernhaus in Schleswig-Holstein und wurde von den Behörden als Sozialfall geführt. Julia Franck, wie ihre Mutter unehelich geboren, hat diese Lebensgeschichten in ihren Büchern Lagerfeuer, Die Mittagsfrau, Rücken an Rücken und Welten auseinander verarbeitet.

 

Sie sind bei einer Anti-Mutter aufgewachsen, die Tobsuchtsanfälle hatte, ihre Zähne nicht putzte und Besucher oft nackt empfing. Wenn Sie ihr Gefühle zeigten, hieß es: »Kitsch dich nicht ein!« Hatten Sie Hunger oder waren krank, nahm Ihre Mutter das ebenso wenig zur Kenntnis wie Ihr Einser-Abitur. Haben Sie sie mal gefragt, warum sie fünf Kinder hat, obwohl sie sich augenscheinlich kaum für sie interessiert?

Meine Mutter ist ein sonderbarer und seltener Mensch. Frauen wie Männer sind schon bei den ersten Begegnungen von ihr fasziniert und finden sie äußerst charismatisch. Sie wuchs in einer Familie aus Wissenschaftlern und Künstlern auf und war Theater- und Filmschauspielerin. Wenige Monate nach dem Bau der Mauer nahm sich ihr Bruder zusammen mit seiner Geliebten das Leben. Zuvor hatte er flehentliche Bittbriefe an Verwandte und Freunde der Familie im westlichen Ausland geschrieben in der Hoffnung, irgendjemand könnte ihn aus dieser DDR retten. Er war 18, als er starb. Meine Mutter hat der Schmerz fast wahnsinnig gemacht. Sie war nur ein Jahr älter, und beide waren sehr eng miteinander.

Ihre Mutter war in ihren Zwanzigern eine Schönheit, hatte zahlreiche Affären und war als Schauspielerin auf dem Weg, ein Superstar des DDR-Films zu werden, bis man ihr aus politischen Gründen Berufsverbot erteilte. Was ist ihre hervorstechendste Eigenschaft?

Eine überwältigende, dramatische Fantasie und weitgehende Zwanglosigkeit. Sie hat eine magische Fähigkeit, jemanden in ihre ganz eigene Welt zu ziehen. Da verschwimmen die Grenzen von Ich und Du. Ihre unwillkürliche Eigenschaft, sich ganz und gar in andere hineinzuspielen, hat etwas Faszinierendes und Unheimliches. Mit ihren fühlerhaften Augen greift sie nach deiner Seele und sieht dich so an, dass dir das Herz zu Boden fällt und du denkst: Was will sie jetzt von mir? Wer bin ich? Manchmal überwältigt sie ihr Gegenüber mit mythologischen Pirouetten, die kaum Bezug zur Wirklichkeit haben, und im nächsten Moment ist sie verschwunden. Da gibt es kaum Kontinuität und Verlässlichkeit. Arbeit und Struktur sind ihr vollkommen fremd. Als wir auf dem Land in Schleswig-Holstein lebten, schaffte sie unzählige Tiere an, Schafe, Ziegen, Schweine, Gänse, Kaninchen, Hund und Katze. Wir Kinder fragten uns im Stillen: Mama, warum so viele Tiere, wenn du erst am frühen Nachmittag aufstehst und es nicht schaffst, auch nur uns Kinder zu versorgen?

Welche Reaktionen löste das Verhalten Ihrer Mutter in Ihnen aus?

Als Kind litt ich unter neurotischen Angstfantasien. An vielen Tagen hatte ich höllische Angst, dass meiner Mutter die schlimmsten Dinge zustießen. Unser Verhältnis war umgekehrt: Nicht die Mutter passt auf das Kind auf, sondern das Kind versucht die ganze Zeit, auf die unverantwortliche, entrückte und abwesende Mutter aufzupassen und ihr Schutz zu geben. Ein anderes Kind hätte vielleicht mit Wut und Rebellion reagiert. Ich habe gelitten und mich still empört. Weil ich mich schwach fühlte, zog ich mich immer weiter von allen anderen zurück.

Bei Ihrer Aussiedlung aus der DDR 1978 waren Sie acht Jahre alt. Weil Ihre Familie monatelang im Westberliner Flüchtlingslager Marienfelde festsaß, gab Ihre Mutter Ihnen zur Beschäftigung ein leeres Heft mit unlinierten Seiten. Seither schreiben Sie.

Maß und Metrum, wie ich es bei klassischen Autoren bewunderte und nachahmen wollte, wirkte in all seiner Formvollendung völlig untauglich für meine Zerrissenheit und Verzweiflung. Ich schrieb zwar Reime über die Natur und zur Sehnsucht nach Harmonie und Liebe, aber daneben sind Hunderte Seiten Tagebücher entstanden, zwanghaft, zwischen Händewaschen und Weinen. Mit dem radikalen Rückzug aus der Außenwelt habe ich versucht, unter den Fallbeilen von Streit und Jähzorn, von Gehässigkeit und Chaos durchzutauchen.

Mit 13 verließen Sie Mutter und Schwestern und lebten bei Freunden der Familie in Berlin. Mit 15 zogen Sie in eine drogenaffine Wohngemeinschaft westdeutscher Aussteiger, die 20 Jahre älter waren als Sie, und gingen zwei Jahre lang nicht zur Schule.

Ich fühlte mich fremd in meiner Familie und konnte nicht zu mir kommen. Schon mit zwölf hatte ich deshalb meiner Mutter in den Ohren gelegen, mich endlich ziehen zu lassen. Weil wir allein von Sozialhilfe lebten und ich in Berlin kein Geld von irgendwem bekam, bin ich für Zeitschriften, Briefmarken, Bücher und Süßigkeiten arbeiten gegangen. Ich habe alles gemacht, was Kindern auf dem schwarzen Arbeitsmarkt möglich ist, von Zeitungen-Austragen und Putzen bis zu Babysitten und Modellstehen. An Abenden und Wochenenden verkroch ich mich in mein Zimmer, um manisch Tagebuch zu schreiben, und genoss es, von niemandem gestört zu werden. Von meiner Mutter hörte ich nur alle paar Monate etwas.

Wie hat Ihre Mutter reagiert, als Sie mit Jahren Verspätung von Ihrem Vorzeige-Abitur erfuhr?

Leistungen der Leistungswelt interessierten sie nicht. Ehrgeiz ist ihr vollkommen fremd, in jeder Hinsicht. Das macht sie auf bestimmte Weise frei. Es beeindruckte sie nicht, dass ich die Schuljahre zum Abitur von Sozialhilfe und nach dem Tod des Vaters von einer kleinen Halbwaisenrente finanziert hatte oder mit 17 Oberteile trug, die ich aus blauen Müllsäcken gebastelt hatte.

Warum haben Sie in der Schule bis zu Ihrem 17. Lebensjahr verschwiegen, die ersten acht Jahre in der DDR gelebt zu haben?

Weil das eine tödliche Blamage für mich gewesen wäre. An die Ostfeindlichkeit der Westler in den Achtzigern erinnert sich kaum noch einer. Für Leute aus dem Osten gab es das Wort »Ostpocken«, unmodische Turnschuhe wurden als »ostig« verspottet. Im Jahr vor dem Mauerfall bestand meine Schulklasse aus 30 sechzehnjährigen Westberlinern, von denen außer mir nur ein einziger jemals die wenige Kilometer entfernte Grenze überschritten hatte, um Verwandte zu besuchen. Als eine Lehrerin vor dem geplanten Ausflug zum KZ Sachsenhausen die Klasse fragte, wer zuvor schon mal in der DDR gewesen sei, habe ich mich nicht gemeldet. Natürlich hatte ich auch niemandem von meiner jüdischen Familie erzählt. Innerlich verging ich vor Scham, weil ich das Gefühl hatte, mich selbst zu verleugnen und damit auch zu verraten.

Scham ist ein Leitmotiv in Ihren Büchern.

Im Augenblick der Scham fühlen wir uns falsch in der Welt, nicht mehr zugehörig. Scham ist der moralische Ausdruck einer Vernichtung und sicherlich das behindernde Gefühl schlechthin. Man kann bestenfalls dahin kommen, die Scham von damals heute nicht mehr zu empfinden. Es bleibt dann nur die Erinnerung daran, wie ungeheuer man sich damals geschämt hat – und die Einsicht, dass man sich heute für andere Dinge schämt.