Hatten wir nicht mal Sex in den 80ern? - Timo Blunck - E-Book

Hatten wir nicht mal Sex in den 80ern? E-Book

Timo Blunck

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Beschreibung

»Sie rauchen ohne Filter, ich lebe ohne Filter.«

Nachdem eine Party-Nacht in der Notaufnahme endet, stellt Schröders Schwester ihn vor die Wahl: »Entweder Therapie, oder ich sags Mama.« So findet er sich auf der Couch der Kette rauchenden Psychologin Dr. Schulz wieder und erzählt ihr sein Leben: Von den Saunapartys der Hippie-Eltern. Von der ersten Liebe, die tragisch endete. Von ausverkauften Konzerten seiner Band Villa Hammerschmidt. Von Mardi Gras in New Orleans, Kneipenschlägereien in London und bizarren Orgien in Hamburg. Und natürlich von Sophia, der Frau, für die er alles tun würde. Dumm nur, dass es Knirpsi gibt – Schröders bösen Zwilling, der in seinem Kopf wohnt und nie aufhört, ihn zu wilden Exzessen anzustiften …

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Seitenzahl: 623

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Das Buch

»Eigentlich habe ich mir vorgenommen, meine Therapeutin zu belügen. Denn ich bin nicht zufrieden mit mir. Ich entspreche schon lange nicht mehr meinem Anspruch. Und der Gang zum Psychologen war auch nicht ganz freiwillig. Aber nachdem ich nach meiner letzten Feiernacht total zerstört bei meiner Schwester Esther aufgetaucht war, hatte sie mich vor die Wahl gestellt: ›Entweder Therapie, oder ich sags Mama!‹ Das zog, und hier sitze ich.«

»Wenn Steely Dan gewusst hätten, wofür ihre Musik gebraucht wird ... Timo Blunck hat den ersten Yacht-Rock-Porno geschrieben!« Rocko Schamoni

Der Autor

Timo Blunck, geboren 1962 in Hamburg, ist Musiker, Sänger, Komponist, Produzent und Autor. Ab 1981 war er Bassist der international erfolgreichen Avantgarde-Punkband Palais Schaumburg. Zur gleichen Zeit gründete Blunck mit Detlef Diederichsen die Band Die Zimmermänner, mit der er heute noch aktiv ist. Nach Stationen in England und den USA betreibt Blunck seit 2001 in Hamburg die Firma BLUT, die Musik für Filme, Events und Werbung produziert.

Timo Blunck

HATTEN WIR

NICHT MAL

SEX IN DEN

80ERN?

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Dieses Buch ist ein Roman. Personen und Handlung sind von realen Gegebenheiten inspiriert, aber nicht mit ihnen identisch.

Copyright © 2018 by Timo Blunck

Copyright © 2016 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Jürgen Teipel

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Motivs von © shutterstock

Titelschriftzug: Nicolas Blunck

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-21427-2V001

www.heyne-hardcore.de

Die folgenden Begebenheiten beruhen auf einem wahren Song

Inhalt

A-Seite

Prolog

Der zärtlichste Psychopath

Ohne dich (kann ich mich nicht mehr selbst befriedigen)

Koks und Nutten

Ich bat um Füße, er gab mir Flügel

Blöd

Erbsenseele

B-Seite

Hatten wir nicht mal Sex in den 80ern?

Fortpflanzungssupermarkt

Ich bremse nicht für Spießer

Da kann ich mich auch gleich mit Benzin übergießen

Ticket nach Danzig

In 80 Frauen um die Welt

Epilog

Dr. Schulz’ Timeline*

Playlist für Dr. Schulz

Zitate

*Achtung: Dieses Buch kann auch in chronologischer Reihenfolge gelesen werden! Einfach hier der Timeline folgen.

A-Seite

Prolog

Frühling 2018 Hamburg

Ach, so fühlt es sich also an – ich schwebe schon eine Minute wie eine Drohne über meinem Körper. Moment. UNSEREM Körper. Wie immer ist Knirpsi »the last man standing«, gibt nicht auf, will mehr, ist gierig, hungrig, auch nach dem Hirntod.

»Knirpsi, lass nach, der Mann ist hinüber, nur noch Gemüse. Der verbringt die nächsten 30 Jahre im Koma, flieg da raus. Das ist seine letzte Reise, lass ihm seinen Frieden.« – »Nein, Bruder, komm zurück, ich bleib hier drin, wir machen Party in seinem Kopf, im wahrsten Sinne des Wortes bis der Arzt kommt. Komm schon, scheiß auf das Leben, die Welt da draußen etc.« –»Aha, und wie soll das gehen? Wer oder was befeuert die Synapsen?« – »Die Ärzte pumpen uns kostenlos mit Schmerzmitteln voll, Oxi, Morphium, ich schwörs dir. Rausch auf Rezept. Keine Unterbrechungen mehr für so’n Mist wie Essen, Arbeiten, Steuer und die restliche Scheiß-Realität.«

Unser Körper sieht schlecht aus – halb nackt liegt er im kalten Neonlicht auf dem Küchenboden. Nur im T-Shirt und lila Socken (Lila, Knirpsis Lieblingsfarbe!), blutige Nase, unstabile Rückenlage. Den Schwanz (oder was das Speed davon übrig gelassen hat) noch in der Hand, starrt er mich mit weit aufgerissenen Pupillen an. Selbst schuld, denke ich und bin mir nicht mal sicher, wer »selbst« eigentlich ist. Na ja, so haben wir wenigstens unsere »Anti-Bucket-List« geschafft, die Top 5 der Dinge, die wir vor unserem Tod nicht mehr erleben wollten:

SchwerelosigkeitNach SyltSkilaufenEinen deutschen Film sehenXaver Naidoo

Plötzlich schwebt Knirpsi neben mir: »Hast recht, Bruder, nix mehr los da unten. Überall geht das Licht aus, der Ballsaal ist gähnend leer, Whirlpool und Sauna voller Leichen, das Rettungsboot ist leck, und schwimmen hab ich nie gelernt. Was machen wir jetzt, Süßer?« –»Keine Ahnung, vielleicht sollten wir Harfe spielen?« – »Sehr witzig, wo ist dein Optimismus? Was ist mit Seelenwanderung? Wiedergeburt? Go Dalai Lama!« – »Muss man dafür nicht gläubig sein? Oder zumindest einer Religion angehören?« – »Ist doch der Fall, Engelchen, wir sind sogar konfirmiert. Hast du nicht auch jahrelang Kirchensteuer gezahlt? Jetzt ist es Zeit für die Rendite! Wir suchen uns ein total heißes Chick, Modell Gianna Michaels, davon hab ich immer geträumt!« (Geträumt? Jeder zweite Absturz endete bei Gianna, und jeder erste fing mit ihr an ...) »Das nächste Mal als Frau, verdammt!« – »So läuft das nicht, Knirpsi, du musst schon irgendwie daran glauben. Außerdem kann man sich seine nächste Station nicht aussuchen, es ist statistisch eher wahrscheinlich, dass wir als Wurm wiederkommen.«

Ich bin besorgt. Wo ist das helle Licht, auf das ich zugehen soll, die Tür, die sich mitten im Raum öffnet, mit Blick auf die Unendlichkeit? Kann man den Zug ins Jenseits auch verpassen? Und soll einem nicht noch mal eben das ganze Leben im Schnelldurchlauf vorgeführt werden? Außerdem heißt es jetzt wohl Abschied nehmen, denn: Knirpsi fährt bestimmt zur Hölle. Wenn er Glück hat. Und ich?

Der zärtlichste Psychopath

Frau Dr. Schulz sieht nicht aus wie die Psychologin aus den Sopranos. Klein, rund, auf dem Kopf eine Haube aus schwarzen Locken, durchzogen mit den ersten grauen Haaren. Die sind ihr aber offensichtlich egal, genau wie der leichte Schnurrbart. Die nötige Würde verleiht ihr der frisch gestärkte weiße Arztkittel, ein starker Kontrast zu ihrer dunklen Haut. Dr. Schulz flößt Respekt ein, hat eine natürliche Art, mich einzuschüchtern. Oder ist das Projektion? Eigentlich habe ich mir vorgenommen, meine Therapeutin zu belügen. Denn ich bin nicht zufrieden mit mir. Ich entspreche schon lange nicht mehr meinem Anspruch. Und der Gang zum Psychologen war auch nicht ganz freiwillig. Aber nachdem ich nach meiner letzten Feiernacht total zerstört bei meiner Schwester Esther aufgetaucht war, hatte sie mich vor die Wahl gestellt: »Willst du wie Herschel enden?« Mein Freund Herschel Chaimowicz ist kürzlich in den Armen einer Prostituierten verreckt. Oder besser: zwischen den Beinen, und zwar mit dem Kopf zuerst. »Entweder Therapie, oder ich sags Mama!« Das zog, und hier sitze ich.

»Wie funktioniert das denn jetzt? Muss ich meine ganze bescheuerte Kindheit wieder aufrollen?« – »Absolut nicht. Sie sprechen, worüber Sie wollen. Reihenfolge ist egal. Ich höre zu. Wenn ich Fragen habe, unterbreche ich Sie.« – »Und wo soll ich anfangen?« – »Fangen Sie doch einfach hinten an, da ist die Erinnerung am frischesten. Da war doch bestimmt irgendwas Traumatisches dabei.«

Oh ja! Wie gesagt, ich bin nicht sonderlich stolz auf mich. Früher hätte ich darauf bestanden, in den Himmel zu kommen. Nein, wirklich, darauf bestanden! Ich hätte so lange argumentiert, bis Petrus (oder wer auch immer da oben den Türsteher macht) entnervt aufgegeben hätte. Ich hatte früher immer recht. Das grenzte an einen Heiligenkomplex. Deshalb hatte ich Knirpsi auch immer gut im Griff. Verdammt, ich hab mit 28 mein erstes Bier angefasst! Kein Fluch kam mir über die Lippen, und alle Drogisten waren Loser. Mein einziges Laster war Sex. Blümchensex, verglichen mit heute – damals gab es noch kein Internet. Aber die Mädchen mochten uns.

Ich war schon immer ein hübsches Kerlchen: 1,85 m, 78 kg, blaue Augen, dunkelblond – Typ David Bowie als Thin White Duke. Und das schmeichelt David Bowie. So feminin, dass der erste Bart erst mit Anfang 30 wuchs. Ein Mann für die 80er, vor dem Mucki-Wahn, dem Hipster-Bart und den Hals-Tattoos. Dazu die Sensitivität, die uns immer wieder den Titel »Frauenversteher« einbrockte. Bzw. »Schwuchtel«. Bryan Ferry sprach uns aus der Seele. »Ich bin ein Homosexueller, gefangen im Körper eines Heterosexuellen« traf es ziemlich gut. Überhaupt, Bryan Ferry – schon als 13-Jähriger überredete ich meine Großmutter, die Schneidermeisterin war, mir einen weinroten Kummerbund à la BF auf dem Cover von »Another Time, Another Place« zu nähen. Dazu fand ich secondhand das weiße Dinnerjacket, um daraufhin immer im vollen Outfit inkl. Fliege durch den Garten im Haus meiner Eltern zu flanieren, während die ihre Saunapartys feierten. »Gero, dein Sohn ist ja so ein Spießer!«, musste sich mein armer Vater immer wieder anhören, wo er doch so verzweifelt versuchte, auf den 68er-Zug aufzuspringen. »Kann ich was dafür, dass er schwul ist?« Das half ihm auch nicht gerade.

Allerdings hätte mir damals schon auffallen müssen, dass die reichliche Auswahl an nackten Brüsten und Büschen (und Schwänzen) auf Knirpsi eine ganz andere Wirkung hatte als auf mich. Wie so vieles in unserer Kindheit verstand er auch die Niendorfer Version des »Summer Of Love« falsch.

»Halt, stopp, behalten Sie den Gedanken mal im Auge – Eltern, die Saunapartys feiern, Topmaterial, da lacht der Psychologe, aber zunächst: Knirpsi?« – »Knirpsi ist mein bester Freund. Und mein bester Feind. Knirpsi ist immer dabei, wir sind schon zusammen, seit ich 6 bin.« – »Okay, ein Klassenkamerad also?« – »Nein.« – »Jemand aus dem Turnverein?« – »Nein, Sie werden jetzt sicher lachen, aber Knirpsi gibt es nicht.« – »Das verstehe ich nicht.« – »Glauben Sie mir, ich auch nicht. Knirpsi ist wie ein siamesischer Zwilling, der sich aber nur mein Gehirn mit mir teilt. Ein böser Zwilling.« Ich tippe mir an die Stirn: »Knirpsi ist hier oben, er ist immer da, spricht mit mir, berät mich, meistens zu meinem Nachteil. Knirpsi ist kein netter Mensch. Er ist meine dunkle Seite, mein ›Evil Passenger‹.« – »›Das Bildnis des Dorian Gray‹?« – »Nicht ganz. Obwohl ... er hat schon Gestalt. Knirpsi konnte allerdings äußerlich nie so recht mithalten. Auch wenn er mein Zwilling ist. Er hat sich ganz anders entwickelt, hat sich schon früh gehen lassen. Er hängt im Bademantel in meinem Schädel rum, zieht sich höchstens mal einen Rollkragenpullover über. Ungekämmt, unrasiert, ungepflegt, unattraktiv. Kein schöner Mann. Allein hätte er bei Sophia nie eine Chance gehabt.« – »Und ein weiterer Sprung über 4 Pferde: Sophia? Wer ist Sophia?« Dr. Schulz greift zur Schachtel Gauloises: »Stört es Sie, wenn ich rauche?« Ja, Zigaretten sind das einzige Laster, das ich nicht habe. Aber ich sage Nein.

Ach, Sophia ... die erste Frau, auf die Knirpsi und ich uns einigen konnten. Dabei teilten wir von Anfang an die Faszination für alles, was wir nicht verstanden. »Professorensohn aus gutem Hause, norddeutsch, protestantisch, angehender Bildungsbürger und sozialdemokratischer Spießer aus der Hamburger Vorstadt«, kam für uns immer nur leicht angeschlagen, kaputt, verletzt, zutiefst verunsichert infrage. Und Hauptsache fremd – Sprache, Background, Alter, Religion – bingo! Dass die Frauen, die Knirpsi anmachten, dann doch meistens etwas zu hohl für mich waren und meine Favoritinnen zu »brainy« für ihn, führte immer in dieselbe Sackgasse. Knirpsis Energie und Hunger nach ständig neuen (vor allen Dingen physischen) Höhepunkten und mein Verlangen nach ultimativer Hingabe und emotionaler Nähe gingen auf Dauer nicht zusammen. Und so blieben wir denn trotz zahlreicher Liebschaften grundsätzlich Single. Bis wir Sophia trafen.

Herbst 2015 Hamburg

Sie kommt ins Schlafzimmer, in meinem weißen Bademantel. Schließt die Tür hinter ihrem Rücken ab, lächelt, halb verlegen, halb frech. Macht das Licht aus. Sie öffnet die Robe, lässt sie fallen. Mir bleibt die Spucke weg. Das Neonlicht von der Straße fällt auf ihren Körper. 50?

Wenn die Zeit Spuren hinterlassen hat, kann ich sie nicht sehen. Oder sie stören mich nicht. Dieselben vollen Brüste, der leichte Bauch, der runde Hintern – Physique Classique, keine moderne Hungerleiste. Karl Lagerfeld würde sich im Grab umdrehen, oder ist der noch gar nicht tot? Die Venus von Milo hätte furchtbar ausgesehen in Stretchjeans. »Mach das Licht an«, schreit Knirpsi, aber ich sage nichts. Knirpsi bevorzugt Scheinwerfer, volle Ausleuchtung bis ins letzte Detail, deshalb behält er auch gerne die Brille auf beim Sex. Mir reicht normalerweise schon die Vorstellung dessen, was sich da gerade vielleicht ankündigt ... kann es sein? Es kann – sie schlägt die Decke weg, kriecht zu mir ins Bett. Ihr Busen streift über mein T-Shirt. Ich werde so hart wie seit den frühen 80ern nicht. Sie küsst mich – kein Bussi, ein richtiger Kuss, mit Zunge, lang und nass. Ich werde noch härter. Schmerzhaft hart. Sie zieht mir die Schlafanzughose runter. Mein Schwanz springt wie ein Klappmesser aus dem Gummibund. Sie spricht zu ihm: »Hallo, lange nicht gesehen« und »Hast du was dagegen, wenn ich mich setze?« Knirpsi meldet sich: »Geile Sau, natürlich rasiert!« Ich blende ihn aus, konzentriere mich auf den nächsten Moment. Sophia kniet sich über mich, nimmt mein Ding in die Hand und, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, steckt es sich rein. Arrgh – DAS Gefühl! Warm, weich, feucht, tief, aber so viel mehr als das bloße physische Erlebnis. »Welcome home« mit Turbolader, eine wahre Hormon-Explosion, Dopamin, Serotonin, Adrenalin, keine Droge der Welt kann dieses High simulieren. Da verschlägt es sogar Knirpsi die Sprache. Sophia bewegt sich auf mir, und ich erinnere mich, wie mir einer ihrer Exfreunde vor Jahren mal gesteckt hat, dass sie in der Highschool den Spitznamen »Fuck Machine« hatte – ein ziemlicher Knirpsi-Gedanke, und da ist er auch schon wieder, man darf ihn einfach keine Sekunde aus den Augen lassen. »Genau, Fuck Machine, und was für eine – sie hat die Porno- Moves offensichtlich noch drauf. Hey, bring die Schlampe dazu, dass sie uns einen lutscht, du weißt doch, Bruder, sie hats erfunden!« Stimmt – Sophia hat schon als Teenager an Bananen geübt. Halt, daran will ich jetzt nicht denken. Oder überhaupt denken. Oh Gott, es gibt nichts Befriedigenderes. Wie der erste Schluck Wasser nach 10 Tagen Wüste, der erste Bissen nach 30 Tagen Hungerstreik. Einfach umwerfend. Problem: Es ist so gut, dass ich kurz davor bin zu kommen. »Wirf sie ab, Bruder, sonst ist der Spaß schneller vorbei als ein Song von den Ramones!« Ich drehe sie um, rutsche nach unten – der beste Geschmack der Welt. Sophia schmeckt und riecht immer gut. Egal ob vor oder nach dem Duschen. Wenn man sie in Flaschen tun könnte, wäre sie der erfolgreichste Duft. Sie fragt: »Wann hatten wir eigentlich das letzte Mal Sex?« Ich denke: Wann haben wir uns eigentlich das letzte Mal geküsst? Bestimmt sehr viel länger her. Ich komme hoch zum Atmen. »2013, im Sommer.« – »Ach ja, die legendäre Nacht, als du mich unter Tavor gesetzt und dann Fotos geschossen hast.« Keiner hat sie unter Tavor gesetzt. Die hat sie schön selbst genommen. Außerdem war das Knirpsi. Ich sage kleinlaut »ja« und »sorry«, denn wenn ich eins gelernt habe, dann ist es, beim Ficken keinen Streit anzufangen.

Sex mit Sophia ist das singuläre Ereignis in meinem Leben, das mich rundum glücklich macht. Das mich komplett macht. Ich bin wieder ein Mann mit einer Aufgabe. Meine Existenz hat einen Sinn. Die Vergangenheit ist nicht verschenkt, und die Zukunft leuchtet. ICH leuchte. Alles sonst ist egal. Ich lebe für sie, und mein Tun wird aufs Neue beseelt. Seele – was für ein Wort. Ohne Sophia habe ich keine Seele. Ich bin ein Roboter in der U-Bahn. Ein Planet ohne Sonne. Ein Regenschirm im Regen.»Halt die Schnauze, kleiner Mann, komm runter von deiner Wolke, hier wird gefickt, es geht nicht immer nur um dich. Ich will ihren verdammten Arsch sehen, nimm sie von hinten!«Ausnahmsweise sind wir uns einig, und diesmal ist sogar Sophia mit an Bord. Quer über ihrem Po steht in geschwungenen Buchstaben: »Mrs. Victor Estevez«.

Später liegt ihr Kopf auf meiner Brust und sagt: »Dein Bett stinkt nach altem Mann.«

Da ist er wieder – der zärtlichste Psychopath der Welt, streichelt mit zarten, langen Fingern die Narben auf meinem Bauch, spielt mit meinen Eiern und bläst mir Hässlichkeiten ins Gesicht.

Brutale Ernsthaftigkeit, kein Filter, keine Nettigkeiten. Kein Vorspiel, kein Nachspiel. »Und überhaupt, du bist auf dem besten Weg in die Verwahrlosung. Nichts funktioniert mehr in deiner Bude, die Wände sind schon seit Jahren nicht mehr weiß, und überall liegen irgendwelche halb vergessenen Gegenstände rum.« – »Was meinst du, meine Bücher?« – »Genau: Bücher, DVDs, Schuhe, Klamotten und so weiter.« – »Alles Teile meiner Sammlung.« – »Alles Müll. Funktionslos. Liest/hörst/siehst/trägst du den Scheiß noch?« – »Ja, also ...« – »Genau, nutzlos, Platzvernichter, ich würde das Zeugs einfach wegschmeißen. Vor allen Dingen diese alten Platten. Guck dir doch mal die Cover an. Total vergammelt.« – »Ich hatte einen Wasserschaden.« – »Wer ist das überhaupt: The Neon Philharmonic, The Corporate Body, Montage. Heutzutage gibt es Spotify, mach Platz für das 21. Jahrhundert!« – »The Corporate Body gibt es nicht auf Spotify. Außerdem habe ich die Platten von Yvonne geerbt.« – »Jetzt kommst du mir schon wieder mit deiner Junkie-Ex!«

Sommer 1980 Provence

Die Band ist grauenhaft. Die Fête auf dem Marktplatz von Maussane-les-Alpilles ist in vollem Gang, aber die Musiker auf der Bühne würgen jeden Song zu Tode. Franzosen haben sowieso ein Problem mit der englischen Sprache, und diese Jungs sind noch mal extra sprachlos. Nur die Rolling Stones kriegen sie richtig hin, und das spricht nicht für die Stones. Einziges Highlight ist die Sängerin, die aber leider nur einen Bruchteil der Songs singen darf. Den Rest übernimmt ein bulliger Gitarrist, den alle Jacques rufen. Jacques sieht aus wie Johnny Hallyday, ein weiteres Beispiel dafür, wie in Frankreich Roque’en’Röll missverstanden wird. »Ah könn gitt nö saties fackt schön«. Die Sängerin heißt Yvonne, und ihre Version von »I Feel The Earth Move« berührt mich, spricht zu mir. Sie scheint Carole King zu mögen, denn sie darf noch einen weiteren Titel von ihr singen, »And it’s too late baby, it’s too late ...« gibt mir Gänsehaut. Yvonne bringt mich zum Schwingen. Sie singt mit einer Tiefe, die mein knapp 18-jähriges Ich in eine noch unbekannte Welt entführt. Echtes Leben, Intensität in jeder Zeile und jeder Geste. Existenziell immer am Abgrund, kein Netz, kein doppelter Boden. Nur sie gegen den Rest der Welt. Eine alte Seele in einem schmerzhaft zerbrechlichen Körper, sich permanent anstemmend gegen die eigene Vergänglichkeit. Und unfasslich witzig – eine Art von Humor, die entsteht, wenn der Überlebenskampf in der dritten Generation einen schon von Anfang an gezwungen hat, der Realität immer wieder ins Gesicht zu lachen.

»Herr Schröder, das haben Sie alles aus nur 2 Songs entnommen? Das nenne ich aber mal Empathie!« Dr. Schulz lächelt schnippisch. »Nein, natürlich nicht, das kam später. Da habe ich mich gerade selbst überholt, sorry. Ich, ich bin hier neu, manchmal überschlägt es sich in meinem Kopf ...« – »Kein Problem, ich habs ja schon gesagt, Reihenfolge ist egal. Ich entnehme Ihren Worten, dass Sie die Dame näher kennengelernt haben?«

Ich stehe vor der Bühne, direkt vor Yvonne. Die ist genervt, dreht sich immer wieder zum Schlagzeuger um, rudert mit dem Unterarm. »Plus vite, plus vite!« Der Drummer schleppt, der Song wird immer langsamer. Sie blickt mich an, zuckt mit den Schultern, lächelt. Jacques kündigt eine Pause an, Yvonne kommt von der Bühne: »Bordel de merde, dämlicher Aushilfsdrummer, Antoine ist schon wieder nicht aufgetaucht, mit ihm sind wir doppelt so gut. Ist mir echt unangenehm. Magst du Carole King?« – »Ja, hören meine Eltern immer.« – »Deine Eltern? Wie süß.« Beim näheren Hinsehen stelle ich fest, dass Yvonne einen Tick älter ist als ich. »Du warst wunderbar, viel besser als Carole King.« – »Du bist wirklich süß. Wie heißt du?« Ich sage ihr artig meinen Namen. »Je m’appelle Yvonne, Yvonne Metz. Was willst du trinken, petit punk?« Wir gehen an die mitten auf dem Marktplatz improvisierte Bar. Sie sagt: »Ich finde sowieso, dass Carole King das Potenzial ihrer Songs niemals richtig ausgeschöpft hat. Da ist viel mehr Seele drin, als sie hinkriegt.« Ich hänge an ihren Lippen.

»Tut mir leid, ich wollte Sie eigentlich nicht mehr unterbrechen, aber – wieso ›petit punk‹?« – »Oh, ich trug damals einen Irokesenschnitt, Sie wissen schon, so wie Joe Strummer.« – »Joe Strummer?« – »Von The Clash. Nein? Okay, dann eben wie Robert De Niro in ›Taxi Driver‹.« – »Ah, das sagt mir was. Toller Film. Ich liebe Martin Scorsese.«

Verdammte Gedankensprünge. Ich bin schon wieder ein paar Tage später, liege mit Yvonne in ihrem Bett in Saint Rémy, wir hören Dunn and McCashen, »Alright In The City«. Dunn and McCashen sind aber auch wirklich zu obskur.

»Mein Gehirn ist irgendwie falsch verkabelt, funktioniert viel zu assoziativ.« – »Das ist ganz normal bei kreativen Menschen. Sie schreiben hier kein Buch, Sie sind in Therapie. Redefluss genehmigt, Schere im Kopf nicht. Ich setz mir das alles schon zusammen. Dafür mache ich ja Notizen. Sie sind aber eigentlich noch in Maussane.«

Okay, zurück zu Yvonne vor der Bühne in Maussane. Tatsächlich kann ich bei Carole King mithalten: »Ich liebe ›You’ve Got A Friend‹ von James Taylor.« – »Du kennst James Taylor?« – »Ja, ich bin damit aufgewachsen.« Ich singe: »Honey don’t leave L.A. ...« Sie übernimmt: »That Riviera is so far away – nicht in Südfrankreich, haha. Du kannst deinen Eltern dankbar sein, guter Musikgeschmack kommt nicht von ungefähr. Kennst du Carly Simon?« – »Nein.« – »Die war mal mit James Taylor verheiratet. Auch ne tolle Sängerin. Jacques sagt immer, dass ich ihr ähnlich sehe.« Sie singt: »Nobody Does It Better.« – »Oh, das kenne ich, das ist doch James Bond, ›Der Spion, der mich liebte‹, mit Curd Jürgens.« – »Genau, du kennst dich aus, Kleiner!« Stimmt nicht, aber bei James Bond bin ich Experte. Ich frage: »Wer ist dein Lieblings-Bond?« – »Ich habe keinen Lieblings-Bond, die sind mir alle zu macho, aber ich habe einen Lieblings-Bösewicht – Donald Pleasance als Ernst Stavro Blofeld in ›Man lebt nur zweimal‹. Auch ein toller Titelsong, Nancy Sinatra. Die Streicherlinie bringt mich jedes Mal zum Weinen. Di-didi-di-didi-di-da ..., der Sprung von der Tonika zur Dominante in Moll, ein großartiger kompositorischer Kniff, John Barry ist der Meister!« – »Quoi?« Ich habe Yvonne auf halber Strecke verloren, aber zu diesem Zeitpunkt ist es gar nicht mehr so wichtig, was sie sagt. WIE sie es sagt und mit wie viel Begeisterung, das kommt an. Den Rest kann ich ja später nachschlagen. Yvonne ist die erste wirkliche Sängerin, die ich kennenlerne, mein erster Kontakt mit der Leidenschaft, die Musiker treibt. Sie singt mit ausgebreiteten Armen, geschlossenen Augen: »And love is a stranger who’ll beckon you on. Don’t think of the danger or the stranger is gone ...« Sie verliert leicht die Balance, hält sich an mir fest. »Kennst du Steely Dan?« – »Nein.« – »Du kennst Steely Dan nicht? Hast nie ›Doctor Wu‹ gehört?« – »Leider nicht. Wer ist dieser Dan?« – »Steely Dan ist kein Typ, Steely Dan ist eine Band, Donald Fagen und Walter Becker. Oh, quelle innocence, eine echte Jungfrau! Ich bin so neidisch. Könnte ich doch Steely Dan noch mal von vorne entdecken! Ich muss auf die Bühne.« Der Marktplatz wird immer leerer, was den Auftritt von Jacques und Co. noch etwas deprimierender macht. Die Bühne steht direkt vor der Kirche, die Scheinwerfer bringen ein Rudel Gargoyles zum Leben – die gespenstischen Wasserspeier werfen ihre Schatten von den Turmspitzen auf die Band. Zwischen den Platanen flackern die Lichterketten, ein leichter Wind hält sie in Bewegung. Die Würstchenbuden und Crêpe-Stände sind schon geschlossen, an den Sperrholztresen werden die letzten Pastis ausgeschenkt. Ich bin Yvonnes einziges Publikum, aber ich mache Lärm für drei. »Bravo, bravo!«, ich gröle und klatsche im Takt. Yvonne bedankt sich, das Set ist vorbei. Aber ich klatsche weiter. »Bis, bis!« Yvonne spricht mit dem Keyboarder, gibt dem Schlagzeuger ein Zeichen. Der zählt sehr rockig ein, aber es erklingt ein Riff, das mich eher an Bossa Nova erinnert: »Dumm-dummdumm-dumm-dummdumm«, Yvonne haucht ins Mikrofon: »C’est pour toi, petit punk«, singt »We hear you’re leaving, that’s okay. I thought our little wild time had just begun ...« Sie winkt mich zu sich heran, steckt mir ein Stück Pappe zu, Chorus! »Rikki don’t lose that number, you don’t wanna call nobody else!« Gero erscheint, klopft mir auf die Schulter: »Wir wollen nach Hause, Zwiebel sitzt schon im Auto.« Ich gucke auf die Pappe. Es ist eine Visitenkarte: »Yvonne Metz, Chanteuse«.

»Hallo? Wer ist da?« Ein Kind. »C’est Marie, qu’est ce que tu veux?« – »Kann ich mit Yvonne sprechen?« Ich höre kleine Füße auf Holz trappeln, Marie ruft: »Maman!« Maman? Yvonne kommt ans Telefon. »Oui?« – »Hallo, ich bins.« – »Wer?« – »Le petit punk.« – »Ah, hallo, comment ça va? Hör mal, es ist gerade schlecht, willst du nicht einfach heute Abend nach Mouriès kommen, da treten wir auf.« – »Mouriès?« – »Ja, Heimatstadt von Charles Aznavour!« Sie croont: »For me formidable«. – »Ich werde da sein!«

Diesmal ist Antoine am Start, und er hält die Band zusammen, sie haben ein ganz anderes Energielevel als in Maussane. Yvonne segelt durch das Programm, gewinnt auch solchen Zitronen wie »You’re the one that I want« und »Don’t go breaking my heart«, die sie beide im Duett mit Jacques singt, etwas ab. Richtig in Fahrt kommt sie bei »You’re so vain« von Carly Simon. Dieses Lied gehört ihr. Ich bin hypnotisiert. Melodie, Text, ihr leicht rauchiger Alto treiben mir die Tränen in die Augen. Applaus, Yvonne steht neben mir. »Du weinst? Das ist das größte Kompliment, das du einem Musiker machen kannst. Das DU MIR machen kannst. Ich hab dich erreicht. Komm her.« Sie trocknet meine Tränen mit ihrem Handrücken, streicht meinen strubbeligen Mohawk zurück. Sie zieht meinen Kopf zu sich herab, berührt meine Wangen mit ihren Lippen, küsst meine Augen trocken. Dann widmet sie sich meinem Mund, gibt mir einen langen, beinahe schmerzhaften Zungenkuss. Ich schnappe nach Luft. »Mon petit punk. Warte hier, ich bin gleich fertig. Hast du ein Auto?« Ja, ich bin mit Zwiebels Klapperkiste hier, Yvonne steigt ein, sitzt neben mir. Sie trägt heute ein leichtes Sommerkleid, ihre Beine sind spektakulär. »Ich wohne in Saint Rémy.«

Ein fast voller Mond scheint durch das Fenster ihres kleinen Zimmers. Ein ungemachtes Bett, eine Stange mit Klamotten, eine Weinkiste als Nachttisch. Den Rest des Raumes füllen Schallplatten, an den Wänden, auf dem Boden. Dazwischen eine Stereoanlage, 2 große Boxen und ein Technics SL-1200. Yvonne folgt meinem Blick. »Der beste Plattenspieler der Welt.« Sie legt eine Platte auf. Ein seltsamer Groove erklingt, mehr ein einzelner hoher Gitarrenton mit einem sehr sparsamen Beat. Eine dünne Männerstimme singt irgendetwas von einer schwarzen Kuh. »Et voilà: Steely Dan!« Wir legen uns aufs Bett, küssen, streicheln uns. Yvonne setzt sich auf, zieht sich das Kleid über den Kopf. Kein BH, ihre Brüste sind klein und fest. Ich erforsche ihren Körper mit Kinderhänden, die meisten Stellen sind mir noch unbekannt. Ich atme sie ein, fühle, schmecke sie. Sie beobachtet mich amüsiert. Sie zieht ihr Höschen aus, öffnet meine Jeans. Ich schrecke zurück, gucke sie fragend an. Sie lacht: »Es ist dein erstes Mal, stimmts?« Mir wird heiß, ich bekomme einen roten Kopf. »Das ist okay, du kriegst das schon hin. Zieh dich erst mal aus.« Sie hilft mir aus den Stiefeln, den Pullover schaffe ich selbst. Wir liegen nackt nebeneinander. Ich stammel: »Du bist wunderschön.« – »Toi aussi.« Yvonne drückt meinen Kopf nach unten. »Probier mich hier.« Ich weiß nicht recht, was sie will, aber sie positioniert mich zwischen ihren Beinen. Der beste Geschmack der Welt. Ich trinke sie, Yvonne stöhnt, gleichzeitig erklingt ein Schlagzeug-Solo aus den Boxen. Sie sagt: »Das ist Steve Gadd. Den Schlagzeug-Part hat er in nur 2 Takes aufgenommen. Ah, c’est bien, mon chou!« Mein Kohl? »This is the day of the expanding man ...« Der Sänger klingt verloren in einem Meer von Saxofonen, immer wieder unterbrochen von Yvonnes Schenkeln. Seine Melancholie steht in starkem Kontrast zu der Aufregung, die meinen ganzen Körper erfasst hat. Ich spüre jede Muskelfaser, jeden Millimeter Haut. Ja, es ist mein erstes Mal, und besser habe ich es mir auch in meinen feuchtesten Träumen nicht vorgestellt. Yvonne greift mich bei den Schultern, zieht mich nach oben. Sie nimmt meinen Schwanz in die Hand, dirigiert mich mit kundigen Händen in sich hinein. »I’ll learn to work the saxophone, i’ll play just what I feel.« Diese Zeile werde ich nie vergessen, mein erster Sex, aber so kommt es mir nicht vor. Eher wie ein Heimkommen, als würde ich meine natürliche Bestimmung erfüllen. Fortpflanzung, Baby! Bloß nicht nachdenken, einfach den Instinkten folgen, der Mensch macht das schon seit Hunderttausenden von Jahren. Dieses Instrument muss ich nicht lernen, das konnte ich schon immer. Findet Yvonne wohl auch, sie wird unter mir zum Tier, ächzt, stöhnt. »Mon chou, mon chou! Donald Fagen ist der beste Sänger der Welt! Uh! Jetzt kommt Pete Christlieb, Sax Solo.« Das Saxofon beginnt zunächst langsam, steigert sich, Yvonne geht mit. »Plus vite, plus vite!« Die Töne kommen immer schneller, Yvonne wird immer wilder. Ihr Körper scheint mehr auf Pete Christlieb als auf mich zu reagieren. Der feuert eine Sequenz von Kaskaden ab, unterstützt von einer exquisiten Akkordfolge. Yvonne wird still, sie geht ins Hohlkreuz, ihr ganzer Körper krampft. Sie zieht mich an den Haaren, starrt mich an, krallt die andere Hand in meinen Rücken. Sie kommt zusammen mit Steely Dan, entspannt sich, als auch die Band wieder zur Ruhe kommt. Wars das? Ich bin noch nicht so weit. »Mon chou! Je reviens.« Der Song ist vorbei, Yvonne steht auf, geht zum Plattenspieler. Den Rücken zu mir, beugt sie sich hinab, der Mond taucht ihren Körper in silbernes Licht. Ab sofort meine Lieblingsposition. Sie dreht die Platte um. Ein Clavinet spielt ein funky Riff, Yvonne tänzelt nackt zurück ins Bett. »Zweite Seite, zweite Runde!« Was für eine Nacht. Was für eine Frau. Was für eine Musik. Wir ficken uns durch ihre Plattensammlung, nach Steely Dan kommt Little Feat, Dr. John (»Such A Night«!), dann Tom Waits. Irgendwo bei John Cales »Paris 1919« schlafen wir ein, es wird schon hell.

Sommerferien – ein Monat im Haus meiner Eltern in der Provence, normalerweise die absolute Höchststrafe, aber dieses Jahr gibt es Yvonne, und Yvonne ist meine Sonne, seit 3 Wochen umkreise ich sie auf der kleinstmöglichen Umlaufbahn.

Saint-Rémy-de-Provence liegt auf der anderen Seite der Alpilles, eines Ausläufers des Luberon. Die Kalksteingipfel sind nicht sonderlich hoch, aber klettern ungewöhnlich steil aus dem Rest der Rhône-Landschaft. Zwiebels schon etwas mitgenommener Renault 5 kommt kaum die Steigungen hoch, und auf dem Weg bergab versagen fast die Bremsen. Der vordere rechte Kotflügel ist völlig verrostet und flattert im Fahrtwind. Es ist Fête-Saison in der Provence, jedes Dorf hat seine eigene Party, und Yvonne Metz und Jacques Bertrand bauen jede Woche woanders auf. Ich bin auf dem Weg, Yvonne in ihrer Wohnung im Zentrum von Saint Rémy abzuholen. Familie Metz betreibt ein Restaurant in der Altstadt, darüber wohnen Yvonne und ihre Schwestern. Yvonne ist die Vorletzte von vieren, ihre kleine Schwester Marie ist gerade mal 10. Die Älteste heißt Genevieve, ihr Mann ist der Koch im Restaurant. Genevieve begrüßt mich an der Tür, ruft nach hinten: »Yvonne, c’est ton petit punk!« Zu mir: »Sie ist oben.« Ich gehe durch die Küche, es riecht nach Knoblauch und Rosmarin. Die Treppe hoch, die Tür ist angelehnt. Yvonne liegt auf dem Bett, die Augen halb geöffnet. Sie starrt an die Decke. »Hey, wir müssen los, bist du fertig?« Yvonne reagiert nicht. Auf dem SL-1200 dreht sich eine Platte in der Auslaufrille, Lou Reed, »Berlin«. Ich nehme die Nadel und lege sie auf Anfang. »Caroline says, as she gets up off the floor.« – »Petit punk, viens ici.« Yvonnes Stimme klingt schwach, sie zeigt mit dem Finger in Richtung Bad. »Bring mir meine Medizin, die blaue Tasche.« Ich reiche ihr den abgenutzten Kulturbeutel, sie nimmt sich ein Etui mit Spritze und Gummischlauch, bindet sich den Schlauch um den Arm, zieht ihn mit den Zähnen stramm. Die Spritze ist schon aufgezogen. Voller Horror beobachte ich sie. – »Was? Ich bin zuckerkrank. Gleich gehts mir besser.« Sie macht eine Faust, klopft sich auf die Armbeuge, setzt die Spritze an. Drückt sich den Inhalt in die Vene. Blitzartig weilt sie wieder unter den Lebenden. »Ah, c’est mieux, jetzt können wir los.« Ich bin immer noch geschockt, Spritzen machen mir schon in den Händen einer Krankenschwester Angst, aber dieser lockere Umgang mit der eigenen Blutbahn ist noch mal eine Nummer härter. »Zuckerkrank?«, frage ich zweifelnd. »Seit ich 16 bin.« Sie öffnet den Schlauch, packt ihren blauen Beutel und wirft ihn in ihre große Longchamp-Tasche. Marie erscheint in der Tür. Yvonne beugt sich zu ihr runter: »Gib mir einen Kuss, petite soeur, wir sehen uns morgen.« Die Ähnlichkeiten in der Familie Metz sind außergewöhnlich, aber Yvonne und Marie sind sich wie aus dem Gesicht geschnitten. »Wie alt war deine Mutter, als sie Marie hatte?« – »42, wieso?« – »Na ja, da ist schon ein ganz schön großer Altersunterschied zwischen dir und Marie.« Yvonnes Gesichtsausdruck verdüstert sich: »Ein Unfall, kommt immer mal wieder vor. Tu mir einen Gefallen, sei einmal nicht du selbst, stell keine dummen Fragen!« Au, das sitzt, ich halte bis Eygalières das Maul. Yvonnes Stimmung hellt sich den ganzen Abend nicht wieder auf, auf der Bühne spult sie ihr Programm ab, ohne die Leidenschaft, die der Groupe Jacques Bertrand normalerweise das Feuer gibt. Ich fühle mich schuldig, habe ihr offensichtlich die Laune verdorben. Nach dem Konzert setzt sie sich wortlos in Jacques’ alten Ford Granada, winkt mir bei der Abfahrt nicht mal zu. Am nächsten Tag rufe ich sie an, erst jede Stunde, dann jede halbe Stunde. Keine Antwort. Zwiebel ist in Arles, Wocheneinkauf im Géant Casino, ich entschließe mich, mit dem Fahrrad nach Yvonne zu suchen. Saint Rémy liegt im Nordwesten, heute bläst der Mistral, ich kämpfe mich gegen den kalten Wind über die Alpilles. In der Provence öffnen sich alle Häuser gen Südosten, kein Wunder, der Mistral fährt mir bis tief in die Knochen. Ich bin klatschnass geschwitzt und zitter vor Kälte, als ich im Restaurant Metz ankomme. Genevieve wirft mir eine Decke um, schüttet 2 Löffel Nescafé in eine Tasse, füllt sie mit heißer Milch. Voilà, Café au lait. »›Yves‹ ist nicht nach Hause gekommen letzte Nacht. Wahrscheinlich ist sie bei Jacques.« Genevieve guckt mich besorgt an, füttert mich mit einem Croissant. Marie sitzt mir gegenüber, spielt mit einer halb nackten Ken-Barbie-Kombination. Sie blickt mich mit Yvonnes Augen an. Ich sage: »Ich muss los.« Genevieve gibt mir Jacques’ Adresse, er wohnt in Les Baux, wieder auf der anderen Seite der Alpilles. Diesmal habe ich Rückenwind. Beim Aufstieg zum mittelalterlichen Château des Baux fahre ich an den niemals abreißenden Touristenströmen in ihren fetten Reisebussen vorbei. Die Touris winken mir zu, mitleidiges Lächeln inklusive. Dabei werde ich von einem Rudel Tour-de-France-Aspiranten überholt, semiprofessionelle Rennradfahrer, die im ersten Gang den Berg hochkraxeln. In Les Baux suche ich nach dem Prince Noir, einem Hotel, das Jacques’ Eltern betreiben. Laut Genevieve bewohnt Jacques das Gartenhaus, das sich als brüchiger Geräteschuppen herausstellt. Die Bude hat nicht mal Fenster, steht direkt hinter den Mülltonnen, ohne deren Halt sie wahrscheinlich den Berg runterrollen würde. Ich klopfe, keine Antwort. Die Bretter lassen immer mal wieder einen Spalt, nach kurzem Zögern werfe ich einen Blick durch die Latten.

»Der Beginn meiner Spannerkarriere, haha!« Ich blicke unsicher zu Frau Dr. Schulz rüber. »Überlassen Sie die Analyse mir. Ich Arzt, Sie Patient.«

Auf dem Bett liegen Jacques und Yvonne, beide nackt. Jacques’ haariger Körper ruht auf dem Bauch, ein Arm hängt von der Matratze, er schnarcht. Neben ihm liegt Yvonne auf dem Rücken, ihre Augen sind geöffnet, starren glasig an die Decke. Ein schmerzhaftes Stechen ergreift meinen Körper, schnürt mir die Kehle zu, ich stolpere seitwärts, trete auf eine angelehnte Schaufel, die fällt krachend zur Seite. Jacques wacht auf, läuft zur Tür, steht nackt vor mir – soweit man einen derartig stark behaarten Menschen als nackt bezeichnen kann. Seine blonde Elvis-Frisur geht direkt in sein Nacken- und Brusthaar über, das in Richtung Schamhaare immer dunkler wird. An den Beinen hellt es sich wieder auf. Sogar seine Zehen sind behaart. »Qu’est ce que tu veux, punk?« – »Rien, rien de rien, vraiment, ich bin schon wieder weg!« Aber Jacques ist ganz entspannt, keine Spur von aggro: »Nein, komm her, setz dich zu mir.« Er nimmt Platz auf einer kleinen Bank neben der Tür, winkt mich zu sich. Ich setze mich neben den Bärenmenschen, sein erdiger Geruch steigt mir in die Nase, gar nicht mal unangenehm. Wie ein gutes Gewürz, er passt in die Landschaft. »Du hast dich in Yvonne verliebt, was, Kleiner?« – »Äh, nein ...« – »Du machst mir nichts vor, du bist doch nicht der Erste, ich hab sie kommen und gehen sehen.« Jacques hat eine Stimme wie Georges Brassens, tief und warm, aber voller Melancholie. »Das ist schon okay. Yvonne ist Yvonne, sie kann nicht anders. Gerade ihr kleinen Jungs habt es ihr angetan. Lass mich dir etwas von Yvonne erzählen.« Jacques legt seinen pelzigen Arm um mich: »Wie alt bist du?« – »18.« – »Dann ist Yvonne genau 20 Jahre älter als du. Sie hat einiges hinter sich. Ihr Vater war kein netter Mensch, schlimmer Alkoholiker, schlug die Mutter, Gott weiß, was er mit seinen Töchtern angestellt hat. Er hat sich beim Wildern selbst erschossen, nicht mit Absicht, er war einfach zu besoffen und hat wohl bei seinem Gewehr vorne und hinten verwechselt.« Jacques zündet sich eine Zigarette an, wo sind in seinem Bärenkostüm eigentlich die Taschen? Er legt die Schachtel neben sich auf die Bank. »Yvonne ist meine Frau, wir haben vor 15 Jahren geheiratet ...« Ich zucke automatisch zurück. »Non, keine Sorge, wir sind schon lange nicht mehr zusammen. Yves ist zu kaputt, elle est un tel gâchis, ich komme nicht mit ihr zurecht. Keiner kommt mit ihr zurecht.« – »Das ist nicht fair, sie ist vielleicht ein bisschen launisch, okay, außerdem ist sie zuckerkrank, das ist schließlich auch kein Spaß!« – »Zuckerkrank? Tu es incroyablement naïve! Yvonne ist heroinabhängig, spritzt sich Speedballs, um hochzukommen ...« – »Was ist ein Speedball?« – »Ein Mix aus Heroin und Kokain.« Mir wird plötzlich sehr kalt. Ich blicke mich um, Yvonne liegt immer noch in der gleichen Position auf dem Bett. Ich will zu ihr, sie in den Arm nehmen, alles gut machen mit der ganzen Kraft meiner achtzehn Jahre. Jacques liest meine Gedanken. »Du kannst ihr nicht helfen. Niemand kann das. Sie ist verloren. Ich weine um sie, ich weine um unsere Tochter, aber es kommen keine Tränen mehr.« – »Eure Tochter?« – »Ja, Marie.« – »Marie ist ihre kleine Schwester!« – »Naïve, incroyable!« Ich springe auf, aber Jacques ist schneller. Er stellt sich mir in den Weg, legt die Bärentatzen auf meine Schultern, dreht mich um. Er gibt mir einen Schubs in Richtung meines Fahrrads. »Fahr nach Hause, petit punk. Morgen ist alles wieder gut. Komm nach St. Martin, da spielen wir das ganze Wochenende.«

Ich habe das Gefühl, dass ich auf der Rückfahrt nach Maussane und zum Haus meiner Eltern kein einziges Mal die Pedale berühre. Es geht durchgehend bergab, und das in jeder Beziehung. Mittlerweile hat sich das Wetter von einem »weißen« zu einem »schwarzen« Mistral gewandelt. Der Wind bläst normalerweise die Wolken vom Himmel, aber jetzt regnet es. Gut für die Pflanzen in Zwiebels Garten, schlecht für verzweifelte Fahrradfahrer ohne Schutzbleche. Ganz in Gedanken fahre ich gleich zweimal an der Abfahrt zum Mas de Schröder, dem Haus meiner Eltern, vorbei. Ich bin schwer verwirrt, kann die neuen Informationen kaum verarbeiten. Wenn überhaupt, bin ich nur noch mehr in Yvonne verliebt. Gleichzeitig tritt mir mit voller Wucht meine Bürgerlichkeit in den Arsch. Auf diese Form von echtem Leben hat mich niemand vorbereitet. Schon gar nicht meine Eltern. Ich bin völlig durchweicht und von oben bis unten mit Schlamm bedeckt. »Du siehst ja schlimm aus!« Gero bekommt bei meinem Anblick einen ziemlichen Schreck, zeigt sich aber schwer beeindruckt ob meiner Kilometerleistung. »Einmal Saint Rémy und zurück, inklusive Aufstieg nach Les Baux? Das mache ich morgen auch!« Wie immer fühlt er eher Konkurrenz als Mitleid, kocht mir aber trotzdem ein kräftiges Ratatouille. Ich gehe früh ins Bett, morgen ist alles wieder gut!

Der Tag beginnt, als hätte Vincent van Gogh über Nacht noch mal eine Schicht Ölfarbe aufgelegt. Die Provence leuchtet, die Vegetation präsentiert sich staubbefreit in den kräftigsten Farben. Der Weg durch die Crau nach St. Martin ist kein Problem für Zwiebels Renault, die Landschaft ist flach, man kann fast bis nach Marseille blicken. Die Band ist schon auf der Bühne, Antoines Beats pumpen mit alemannischer Präzision, er kommt aus Strasbourg. Yvonnes (chemische?) Energie reißt alle mit, das Publikum tanzt und grölt, bedankt sich bei ihr mit Szenenapplaus. Yvonne hat mich wieder lieb, sogar sehr, in den Pausen liebkost sie mich, spendiert mir zwei Kronenbourg, ich darf backstage. Manuel, der spanische Bassist, lässt mich auf seinem Fender Precision spielen. Ich stimme »Love Is The Drug« von Roxy Music an. Antoine steigt auf einem Mülleimer ein, spielt Paul Thompsons legendäres Timbales-Fill mit den Zeigefingern. Das Bier wirkt, ich singe Bryan Ferrys Part, jahrelange Vorbereitung macht sich endlich bezahlt. Jacques klopft mir anerkennend auf die Schulter. »Alle Achtung, dein Ferry klingt ja noch schwuler als das Original. Ich kriege das nicht hin, bin nicht der Typ dafür. Hast du Lust, das gleich auf der Bühne noch mal zu versuchen?« – »Wirklich?« – »Mais oui, die Leute lieben diesen Shit, einer von ihnen und so weiter. Machen wir immer wieder mal, fragen, ob jemand aus dem Publikum einen Song singen will. Kommt total gut an, die musikalischen Ergebnisse sind aber meist zum Fremdschämen. So ist es viel besser, du kannst ja wirklich singen. Stell dich hin, wo ich dich sehen kann, wir faken die Sache ein bisschen.« 20 Minuten später ruft Jacques von der Bühne: »Und nun kommen wir zu einem ganz besonderen Teil des Abends, ihr wisst schon, wovon ich spreche.« Zustimmende Rufe aus der Menge. »Ist jemand im Publikum, der hier heute etwas für uns singen will?« Ein paar Arme gehen hoch, auch ich melde mich. Jacques zeigt auf mich: »Gleich hier vorne, komm hoch, Kleiner.« Ich klettere auf die Bühne. »Was ist das denn für eine Frisur? Hast du was dagegen, wenn ich dich ›Iroquois‹ nenne? Was möchtest du singen, Iroquois?« Er hält mir das Mikro hin. »›Love Is The Drug‹ von Roxy Music.« – »Antoine, haben wir das im Programm?« – »Ist der Papst Katholik?«, brüllt Antoine von hinten, Manuel fängt sofort an mit dem Bass-Riff. Ich schließe kurz die Augen, stelle mir Bryan Ferry in seinem Safari-Outfit vor, so wie ich ihn im »Musikladen« gesehen habe. Hier kommt mein Moment. Ich blicke ins Publikum, aber ich kann die Leute nicht sehen, werde vom Scheinwerferlicht geblendet. Das Gefühl, im All zu stehen. Ich spüre Antoines Bassdrum durch die Bretter, Jacques spielt Phil Manzaneras Gitarren-Licks so genau nach, dass ich sofort mitten im Song bin. »T’ain’t no big thing, to wait for the bell to ring ...«. Die erste Zeile kommt noch etwas zaghaft, aber meine Stimme klingt mir laut und kräftig aus der Monitoranlage entgegen, hallt zurück von der obligatorischen Kirche, die auch an diesem Marktplatz steht. Ich fasse Vertrauen. »Aggravated, spare for days, I troll downtown, the red light place.« Ich bin Bryan Ferry, bewege mich mit den gleichen ungelenken Moves, hole die Töne aus der Tiefe und schicke sie mit leichtem Überschlag über meinen Kehlkopf, verschleppe und verschlucke die Silben, knurre und knarze, keiner singt so gekonnt leicht daneben wie Bryan und ich. »Iroquois, Iroquois!« Das Publikum weiß das zu schätzen, vor allen Dingen, als Yvonne zum Chorus einsteigt: »Oh oh, catch that buzz, love is the drug I’m thinking of.« Wir stehen nebeneinander, gucken uns an, singen zweistimmig. »Love is the drug, got a hook in me.« Eine Gänsehaut erfasst meinen ganzen Körper, sogar meine Zehen kribbeln. Die Nackenhaare richten sich auf, dann steht mein gesamter Mohawk. Ich blicke nach unten. Der Bühnenboden wird unscharf, ich scheine zu schweben. Ein einzelner Scheinwerfer kreist über meinem Kopf, wie ein Hubschrauber, illuminiert jede meiner Bewegungen. Oder ist das mein Kopf, der leuchtet? Plötzlich stehe ich vor der Bühne, sehe mich selbst vor der Band. Ja, es ist mein Kopf, der leuchtet, das Licht umgibt mich wie ein Heiligenschein. Ich drehe und wende mich, meine Füße berühren den Boden schon lange nicht mehr. Ich rufe mir aus dem Zuschauerraum zu: »Das Kabel, das Kabel!« Ich nehme das Kabel und schwinge es wie ein Lasso, werfe das Mikrofon von Hand zu Hand, drehe mich im Publikum um, animiere die Leute zum Mitmachen. Die Menge tanzt, klatscht, singt mit: »Love is, love is, love is the drug!« Der Song ist zu Ende, ich verbeuge mich auf der Bühne, vor der Bühne rufe ich: »Une autre, une autre! Röxy Müsic, Röxy Müsic!« Mein Französisch ist perfekt, das Publikum stimmt ein. Jacques greift in die Saiten, spielt das Intro zu »Amazona«. Das ist ultra-funky und holt auch den letzten Fetengänger auf die Beine. Der ganze Marktplatz tanzt, wie eine Welle geht der Rhythmus durch die Menge. Ich stolziere Ferry-Style über die Bühne, dann stecke ich das Mikro ins Stativ, breite die Arme aus und singe mit geschlossenen Augen: »Amazona is a zone where there is no doubt, no more fallout.« Die Band gehört mir, die Bühne gehört mir, das Dorf gehört mir. Der Marktplatz wird tag-hell, ich sehe jedes einzelne Gesicht im Publikum, 300 Augen starren mich an. Jesus am Kreuz, ich bleibe in dieser Position, dirigiere die Musik nur mit den Händen bis zur Zeile »Hey little girl, is there something wrong? I know it’s hard for you to get along«. Ich sehe Yvonne an, sie hat leicht die Fassung verloren, steht wie der Rest der Groupe Jacques Bertrand am Bühnenrand. »Wer bin ich?«, frage ich mich unten vor der Bühne, bin genauso fasziniert wie der Rest der Zuschauer. Oben nehme ich Yvonne bei der Hand, führe sie nach vorn, singe für sie: »You see, every cloud has a silver lining, and sometimes paradise around your corner lies.« Tränen laufen über ihre Wangen, ihr schwarzer Kajal malt ihr einen Alice Cooper ins Gesicht, sie schluchzt, schüttelt den Kopf, läuft von der Bühne. Ich blicke zu Jacques rüber, der zuckt mit den Schultern. Ich laufe Yvonne hinterher, treffe mich backstage wieder, wo ich versuche, sie in den Arm zu nehmen. Sie stößt mich weg. »Laisse moi tranquille, boche! Putain, wie kannst du es wagen, schlägst mich mit meinen eigenen Waffen, das ist meine Musik, meine Welt, mein Ding. Das nimmt mir keiner weg, erst recht kein kleiner Punk aus Deutschland!« Ich verstehe kein Wort, ihre Logik rauscht mit über 100 Sachen über meinen Kopf hinweg. Sie stellt sich einen Stuhl in die Ecke, setzt sich mit dem Kopf zwischen die Wände und weint leise, wiegt sich hin und her, spricht mit sich selbst. Jacques gibt mir ein Zeichen: Lass sie in Ruhe. Ich helfe der Band beim Einpacken. Als ich zurückkomme, ist Yvonne verschwunden. Wir stehen an der Bar, als sie wiederauftaucht, auf dem Gesicht ein strahlendes Lächeln. Mit federnden Schritten kommt sie auf mich zu, fällt mir in die Arme. Sie küsst mich, als wäre nichts gewesen. Hauptsache gute Laune, das Mysterium Yvonne ist kurz vergessen, vor allen Dingen, als wir wieder in ihrem Plattenspieler-Bett landen. Yvonne legt »Court And Spark« von Joni Mitchell auf. Sie rollt einen Joint, ich lehne dankend ab. »Help me, I think I’m falling in love again«. Joni kenne ich von Geros und Zwiebels Saunapartys, aber die haben irgendwo bei »Big Yellow Taxi« aufgehört. Diese Platte ist mir unbekannt. Viel moderner, nicht so hippiemäßig, oder liegt das nur daran, dass ich mir dabei nicht meine Mutter nackt im Garten vorstellen muss? Egal, auch der nächste Song »Free Man In Paris« berührt mich tief, ich bin überwältigt, es bricht aus mir heraus: »Yvonne, je t’aime!« Yvonne erstarrt, ihre blauen Augen werden auf einmal grau-metallic, ein Schleier legt sich über ihr Gesicht. »Du weißt doch gar nicht, was das heißt.« – »Doch, ich weiß es, ich denke nur an dich, Tag und Nacht, kaum sagen wir ›au revoir‹, kann ich es kaum erwarten, dich wiederzusehen!« – »Keiner liebt mich. Du willst mich, du willst meinen Körper, du kennst mich doch gar nicht.« – »Doch, Yvonne, ich kenne dich, ich weiß Bescheid, Jacques hat mir alles erzählt, ich liebe dich trotzdem.« Oder gerade deswegen. »Was hat Jacques dir erzählt?« – »Ich habe nach dir gesucht, du warst in seiner kleinen Hütte, hast geschlafen, er hat mir alles erzählt. Marie, deine ... Probleme.« – »Welche Probleme?« – »Äh, dass du gar nicht zuckerkrank bist.« – »Oh putain, bordell de merde, was fällt dir ein, cretin, hau ab, raus aus meinem Bett!« – »Nein, Yvonne, ich kann dir helfen, ich liebe dich!« – »Du liebst mich? Du liebst mich? Ha!« Sie zerrt sich das Kleid vom Leib. »Ist es das, was du willst, häh, fait l’amour?« Ratsch, der Slip reißt, sie haut ihn mir um die Ohren. »Au!« Sie stellt sich nackt vor das Bett. »Zieh dich aus, petit punk!« Ich gehorche, sie lacht: »Ich wusste es, ihr Männer seid doch alle gleich, du willst mir helfen? Wohl damit, was?« Sie zeigt auf mein hart erigiertes Teil, das mir noch nie im Leben so peinlich war. Ich will aufstehen. Mit einer Kraft, die ich in diesem kleinen Körper nicht vermutet hätte, schleudert sie mich zurück auf das Bett, ich lande auf dem Rücken, sie besteigt mich, als wäre ich ein Pony. Gegenwehr ist zwecklos, Yvonne ist stärker als ich. Was folgt, ist der härteste Wut-Sex, den ich jemals haben werde, sie beschimpft mich mit den wildesten Flüchen, die ich Gott sei Dank kaum verstehe, schlägt mich erst mit der flachen Hand, dann mit den Fäusten ins Gesicht. Sie reitet mich, bis mir fast der Schwanz abbricht. Ich schreie vor Schmerzen, versuche sie abzuwerfen, aber Yvonnes Kraft ist übermenschlich, sie gibt nicht nach, ihre Flüche werden zu Kreischen, unmenschliche Laute kommen aus ihrer Kehle, sie haut mich, beißt mich, kratzt mich, bis sie mit einem lauten Heulen kommt. Schluchzend bricht sie über mir zusammen, steht auf, dreht die Platte um, fängt an, im Zimmer auf und ab zu gehen, spricht mit sich selbst, der Wand, reißt wahllos Platten aus dem Regal und schmeißt sie zu Boden. Mein Französisch ist nicht gut genug, um zu verstehen, was sie sagt, wenn sie denn überhaupt noch Französisch spricht. Es klingt mehr wie das Jaulen und Knurren einer Wölfin, das einzige Wort, das ich immer mal wieder ausmache, ist »Papa«. Spricht sie mit ihrem Vater? Oder mit Boz Scaggs, dessen Album sie in der Hand hält? Bei »Trouble Child« beruhigt sie sich. »So what are you going to do about it, you can’t live life and you can’t leave it.« Sie legt sich zu mir, langsam verlässt die Spannung ihren Körper. »You really can’t give love in this condition, still you know how you need it.« Sie schläft ein, nach ein paar Minuten bin auch ich auf der Traumseite.

Ich träume von einem Spaziergang im Watt, irgendwo an der Nordseeküste, der Schlick quetscht sich bei jedem Schritt durch meine Zehen. Ich sinke immer tiefer ein, es wird schwerer und schwerer zu gehen. Modriger Geruch in der Nase, das Meer ist zu hören. Ich gehe zu langsam, die Flut kommt immer näher, das Wasser fließt zwischen mich und die Küste, schneidet mir den Weg ab, umspült mich. Sinken, stecken bleiben – das Wasser geht mir bis zum Knie, steigt, schließlich steht es mir bis zum Hals. Ich drohe zu ertrinken, versuche zu schwimmen, keine Chance. Aufwachen. Das ganze Bett ist nass, ich mache die Nachttischlampe an, liege in einem See aus ... BLUT? Das Wasser ist rot, das Bett ist rot, ich bin rot. Yvonne ist rot, sie liegt neben mir. Wo kommt das ganze Blut her? Ich springe auf, untersuche mich, finde keine Wunde, stürze mich auf Yvonne, finde einen tiefen, langen Schnitt auf ihrem linken Unterarm. Die Pulsadern! Ich schreie: »Nein, nein!«, laufe auf den Flur, rufe nach Hilfe. Genevieve und ihr Mann Emile erscheinen, mehr Geschrei. Emile sucht nach Yvonnes Herzschlag, Atem, schüttelt den Kopf. »Non.« Genevieve beginnt laut zu weinen, ich will zu Yvonne, aber Emile hält mich zurück. Jemand hat den Krankenwagen gerufen, ich höre die Sirene auf der Straße. Aber es ist zu spät. Yvonne ist tot.

»Just yesterday morning they let me know you were gone. Yvonne, the plans they made put an end to you.« Ich singe James Taylor und weine, die Tränen rollen mir über die Wangen, ich habe keine Kraft, sie wegzuwischen. Jacques spielt Gitarre, auch er muss die Akkorde immer wieder nachgreifen, die Trauer übermannt ihn im 10-Sekunden-Takt. Bei mir sind Zwiebel und meine Schwester Esther, auch Gero ist gekommen. Wir stehen mit der Familie Metz auf einem der gezackten Felsgipfel der Alpilles, überblicken die schotterige Tiefebene der Crau, es ist ein klarer Tag, wir können bis zum Mittelmeer sehen. Genevieve hält mit der einen Hand Yvonnes Urne, an die andere klammert sich Marie. Sie guckt verstört, hat Barbie und Ken dabei, heute in Kleid und schwarzem Anzug. Jacques’ letzter Akkord klingt nach, der Priester, ein kleiner dicker Mann mit rotem Kopf, spricht ein paar Worte. Ich höre nicht zu, stütze mich auf Esther, die mich liebevoll in den Arm nimmt. Genevieve tritt vor, öffnet die Urne und verstreut die Asche. Der Wind trägt Yvonne über die Alpilles, in die Crau, sie fliegt in Richtung Afrika. Mein Herz fliegt mit. Ich bleibe zurück ohne Hoffnung, bin Invalide, seelenamputiert, kann kaum gehen, schon gar nicht sprechen oder essen. Den Rest der Sommerferien verbringe ich im abgedunkelten Schlafzimmer meiner Eltern, Zwiebel und Esther halten abwechselnd Wache, passen auf, dass ich mir nichts antue. Sogar Gero ist besorgt. Wie immer drückt er seine Liebe am Herd aus, kocht mir ein Gourmet-Gericht nach dem anderen. Irgendwann kauft er einen Küchenmixer, beginnt mir Flüssignahrung zuzubereiten, denn ich bekomme nichts rein, was ich nicht durch einen Strohhalm saugen kann. Oder noch schlimmer. Zwiebel hält mir die Schnabeltasse, streicht mir den zunehmend rauswachsenden Mohawk aus der Stirn. »Weißt du, mein Engel, ich habe sowieso nicht verstanden, was du in Yvonne gesehen hast. Die ganze Familie Metz ist verflucht, das weiß hier jeder in der Gegend. Der Vater hat die Mutter zu Tode geprügelt, die Töchter vergewaltigt, den Hof angezündet, den Bürgermeister erschossen ...« – »Lass mich in Ruhe, Mama, das will ich alles gar nicht wissen.« Gero steht in der Tür: »Sohn, du hast Besuch.« Hinter ihm tritt Emile von einem Fuß auf den anderen, räuspert sich verlegen. »Bonjour.« Gero und Zwiebel lassen uns allein. »Wir hatten Testamentseröffnung. Yvonne hatte ein Testament, kannst du dir das vorstellen? Obwohl, lang ist es nicht. Eigentlich nur zwei Sätze: ›Meine Plattensammlung vererbe ich dem petit punk. Ansonsten: Lèche mon cul!‹ Die Platten habe ich im Lieferwagen. Wo soll ich sie hinstellen?«

»Musik, Sex, Drogen, Liebe, Tod. Alles ganz schön dicht beieinander bei Ihnen.« – »Sie haben ja keine Ahnung. Musik ist Sex, Musik ist Liebe. Selbst der Tod ist Musik. Das hat mir Yvonne beigebracht. Musik öffnet meine emotionalen Poren, ist der Schlüssel zu meinem Herzen. Ich habe noch nie geweint, ohne dass ein Song dabei spielte. Sex plus Musik ist gleich Liebe. Ja, ja, ich weiß, das klingt nach Poesiealbum.« – »Überhaupt nicht. Ohne Kunst ist der Mensch ein Tier. Ich bin ganz bei Ihnen.« – »Sie rauchen ohne Filter, ich lebe ohne Filter. Ich brauche die Musik, sie umgibt mich, schützt mich, verbindet mich. Sie ist mein Katalysator, meine Patina, mein Rettungsring. Ohne Musik ersticke ich. Ich brabbel ohne Punkt und Komma.« – »Nur weiter, atmen können Sie später.« – »Ohne Musik kann ich nicht lieben. Daran ist Yvonne schuld. All diese Songs werden mich für immer mit ihr verbinden. Sie ist bei mir, wenn ich ›Midnight At The Oasis‹ von Maria Muldaur auflege, wenn Carly Simon ›I had some dreams, they were clouds in my coffee‹ singt.« – »Clouds in my coffee? Ich muss mir all diese Songs aufschreiben.« – »Ich schicke Ihnen eine Playlist auf Spotify. Yvonne war die erste Frau, die ich geliebt habe. Und mein erstes gebrochenes Herz. Wissen Sie, ich werde sie immer lieben. Irgendwie bin ich da anders als andere. Knirpsi kann das nicht verstehen. Wenn ich liebe, liebe ich. Das hört nicht auf. Ich komme einfach nicht drüber hinweg. Warum auch? Es ist mir egal, ob ich zurückgeliebt werde! Oder ob es die Frau überhaupt noch gibt. Ich kann ernsthaft sagen, dass ich alle Frauen, die ich je geliebt habe, immer noch liebe. Das treibt Knirpsi zur Verzweiflung. Er ist so ganz anders: ›Vergiss die Bitch, reichlich Fisch im Ozean!‹ Was in Wirklichkeit auch für Knirpsi nicht stimmt. Eine Frau ohne Musikgeschmack geht gar nicht! Und eine Frau, die Steely Dan nicht nur liebt, sondern lebt, ist das Nonplusultra! Siehe Sophia.«

Sophia Devereaux – so eine Frau trifft man nicht. So eine Frau muss man casten.

Ohne dich (kann ich mich nicht mehr selbst befriedigen)

Winter 1991Baton Rouge, Louisiana

»Hatten wir nicht mal Sex in den 80ern?« Sophia Devereaux legt den Kopf auf die Seite, streicht sich die dunkelbraunen Haare aus dem Gesicht. Ihre Augen blitzen mich verschmitzt an, für ihr Lächeln fehlen mir die Worte. Schelmisch? Spitzbübisch? Sie ist schon auf den ersten Blick eine ganz seltsame Mischung aus Flirt und Noblesse, Isabella Rossellini und Beatrice Dalle, Bianca Jagger und Carmella Bing. Atemberaubend schön, die Art von klassischer Beauty, die auch noch mit 70 umwerfend sein wird, aber gleichzeitig versprüht sie eine animalische Sexyness, der man sich kaum entziehen kann. Der Raum füllt sich mit Pheromonen, sie ist das Alphaweibchen, das ganze Rudel will sich mit ihr paaren, denn sie wird offensichtlich die stärksten Welpen werfen. Und sie hat erst einen Satz gesagt! Der ist allerdings so direkt, dass ich erst mal anfange zu stottern. »Äh, was? Sex, 80er? Wir?« – »Ja, das war die Frage, allerdings in leicht anderer Reihenfolge.« Jetzt gesellt sich auch noch »einschüchternd« zum Reigen der Attribute, die ich mit Sophia verbinde. Wir sitzen im Magnolia Grill, einen Stock unter der Modelagentur, in der wir sie eben gecastet haben. Wir sind in Louisiana, um das Video für die erste Single meines Soloalbums zu drehen. Ich friere. Die Klimaanlage kühlt die Luft auf Kühlschranktemperatur. Die Stereoanlage spielt »Rudolf, The Red Nosed Reindeer«. Draußen rauschen die Autos den Sherwood Forest Boulevard hinunter, wir essen Crawfish Etouffé. Hatten wir mal Sex in den 80ern? Irgendetwas klingelt, aber je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger. »Ich glaube nicht, oder …?« Sophia klappert vielsagend mit den Wimpern. Sie ist unsere Wahl, und das nicht nur, weil sie die einzige Brünette ist, die uns in der lokalen Agentur Margaret Marx angeboten wurde. Der Moodfilm, den wir als Typ-Vorlage geschickt hatten, war hauptsächlich zusammengeschnitten aus den letzten Szenen von Dustin Hoffmans »Reifeprüfung«, und Katharine Ross ist keine Blondine. Allerdings auch keine Salma Hayek, und ich habe als verantwortlicher Künstler eine »Executive Decision« gefällt, total ohne Rücksprache mit der »Eidechse«, dem zuständigen Marketing-Mann meiner Plattenfirma. Den Kriechtieren von meinem Label ist sowieso alles egal, ihr Aggregatzustand wabert von schwachsinnig bis Delirium tremens, den Laden schmeißen Praktikanten und Fahrradkuriere, an guten Tagen. Sophia ist ein aufgehender Star, und sie werden sie lieben, so wie ich sie schon nach 25 Minuten liebe. Sie hat einen Fleck unter ihrer rechten Brust, hat sie gekleckert? Der Fleck wird größer. Ich deute mit dem Finger. Sie sagt: »Verdammt, das Baby. Ich laufe schon wieder aus wie eine Kuh! Ich muss das Baby stillen, oh Gott, meine Titten bringen mich um, was für eine nervige Scheiße!« – »Du stillst?« – »Natürlich stille ich, ich bin doch kein Monster. Das Baby ist erst 2 Monate alt.« – »Und wo ist das Baby jetzt?« – »Vor der Tür, mein Mann wartet im Wagen.« – »Die ganze Zeit?« – »Warum nicht, er hat mir das Ding ja auch angedreht, now it’s time to pay the piper!« Sophia rennt raus, steigt in einen rostigen Chevrolet Cavalier. Ich bekomme einen kurzen Blick auf den Ehemann im Auto. Ist das Daniel Day-Lewis? Wohl nicht, in einem alten Chevy in Baton Rouge, außer er bereitet sich diesmal ganz besonders intensiv auf seine nächste Rolle vor. Aber der Mann sieht extrem gut aus. Filmstar-gut.

Heute ist Anprobe, oben bereitet die schwedische Stylistin Ingrid die Hochzeitskleider vor. Frisch abgestillt, erscheint Sophia, sie begrüßt uns mit der Selbstsicherheit einer Löwin. Warum eigentlich Löwin? Nicht nur bewegt sie sich wie die Königin der Savanne, sie hat auch diese Ausstrahlung von: »Ja, ihr Männer seid die Chefs, aber ich gehe auf die Jagd.« Sophia ist heute Aschenputtel – allerdings passt ihr der Schuh nicht. Schuhgröße 39 1/2