Häusliche Gewalt, Trauma und Prävention - Albrecht von Bülow - E-Book

Häusliche Gewalt, Trauma und Prävention E-Book

Albrecht von Bülow

0,0

Beschreibung

Häusliche Gewalt, Trauma und Prävention. Der Autor beschreibt den Aufbau eines Anti-Gewalt-Trainings für Männer, die im Bereich häuslicher Gewalt auffällig wurden und zieht nach 10 Jahren eine Bilanz seiner Arbeit. Das Buch liefert Informationen über ein Gruppenprogramm, mit dessen Hilfe Männern mit unzureichender Impulssteuerung wirksam geholfen werden kann.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 200

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Julian

„Die Philosophen haben die Welt nur verschiedeninterpretiert, es kömmt drauf an sie zu verändern.“

Karl Marx: 11. These über Feuerbach

Inhaltsverzeichnis

GELEITWORT

VORWORT

EPIDEMIOLOGIE HÄUSLICHER GEWALT

CHARAKTERISIERUNG DER TÄTER

2.1. S

UBSTANZMISSBRAUCH UND

G

EWALT

2.2. T

RAUMA UND

G

EWALT

PSYCHOANALYTISCHES ERKLÄRUNGSMODELL FÜR HÄUSLICHE GEWALT

MERKMALE DES ANTI-GEWALT-TRAININGS

4.1. Z

IELE

4.2. Z

UGANGSWEGE

4.3. A

USWAHL

-

UND

M

OTIVATIONSGESPRÄCHE

4.4. G

RUPPENLEITER

4.5. G

RUPPENSITZUNGEN

4.6. G

RUPPENTHEMEN

4.7. M

ETHODEN

4.8. T

ATREKONSTRUKTION

4.9. Q

UALITÄTSSICHERUNG

4.10. N

ETZWERKARBEIT

4.11. F

INANZEN

EFFEKTIVITÄT

KRITIK UND PERSPEKTIVEN

Geleitwort

Wie jedes Handwerk ist auch das des Schriftstellers nicht aus purem Gold. Immerhin soll es einen goldenen Boden haben, und Anfragen wie die Albrecht von Bülows aus Wendisch Evern bei Lüneburg lassen ihn hervorblitzen. Wer Bücher schreibt, erreicht Leser – und manchmal greifen diese Leser das Geschriebene auf und können es produktiv nutzen. Es hat mich sehr gefreut, den Bericht über das Anti-Gewalt-Training zu lesen und herauszufinden, dass meine in einem anderen Rahmen gewonnenen Einsichten in den Zusammenhang zwischen Kränkbarkeit, Rache und Gewalt in Liebesbeziehungen Eingang in diese Arbeit gefunden haben.

Albrecht von Bülows Text geht über das hinaus, was sein nüchterner Titel ankündigt.1 Er fundiert seine Reflexionen über die Gewaltbereitschaft in deutschen Familien durch historische und sozialwissenschaftliche Reflexionen, scheut sich nicht vor einer klaren Kritik an neoliberalen, ausbeuterischen und auf lange Sicht ruinösen Strukturen, die einer wachsenden Gruppe der Bevölkerung angemessene Bildungschancen verweigern. Die Folge ist, dass soziale Ideale wie Gewaltfreiheit auf der einen Seite, die emotionalen und intellektuellen Ressourcen, um sie zu fundieren, auf der anderen Seite in einem heftigen Widerspruch geraten. Hier können Einzelne etwas tun – und indem sie etwas tun, machen sie auch deutlich, dass politische Reformen dringend notwendig sind, um die Kluft zwischen moralischem Ideal und emotionaler Realität zu verkleinern.

Es wird jeden, der mit Konflikten in Familien und zwischen Paaren zu tun hat, immer wieder anrühren, wie viel schneller eine Beziehung kaputt gemacht werden kann als aufgebaut. Wer hier helfen will, braucht Mitgefühl so gut wie Entschlossenheit und die Fähigkeit, klare Grenzen zu setzen. Albrecht von Bülow kann das treffend anschaulich machen. Er hat mich um dieses Geleitwort gebeten, verbunden mit einem Friedensangebot, falls ich zu träge wäre, es auch zu schreiben: „Sollte Ihnen das nicht möglich sein, so hoffe ich, dass Ihnen die Lektüre des Manuskripts ein paar unterhaltsame Stunden bereitet und Sie sich freuen, dass Ihre Arbeiten auch in einem ganz anderen Rahmen als dem der Paartherapie Resonanz finden.“ Ich will deshalb noch einen Gedanken aus dem Übergangsfeld von Paartherapie und Sozialpsychologie hinzufügen. „Es ist eine alte Geschichte / doch ist sie immer neu / und wem sie just passieret / dem bricht das Herz entzwei.“ Der Vers von Heinrich Heine erfasst halb ironisch, halb schmerzlich die fatale Entwicklung einer Liebesbeziehung, die nur noch von äußerem Druck zusammengehalten wird, während sich die Partner in ihrem zum Käfig gewordenen Nest kein gutes Wort mehr geben.

Die Frau, der Mann für sich können den Kontakt zum Psychologen im Vorgespräch gut gestalten. Sie sind wertschätzend, nachdenklich, höflich. Es sind kluge Menschen, die im Beruf funktionieren, sich mit Arbeitskollegen verstehen und doch immer wieder schockiert feststellen müssen, dass ausgerechnet gegenüber dem Menschen, der besonders wichtig ist, mit dem besonders viel verbindet, ihre sonstige Souveränität sie völlig im Stich lässt. Kaum treffen sie aufeinander, verschwinden ihre sozialen Kompetenzen. Die Blicke werden kalt, die Gesten sind angespannt, das Lächeln ist verschwunden, es gibt Streit, wann sich wer welcher Verfehlung schuldig gemacht hat. Der Therapeut sucht die Lage zu entspannen. Er will sich nicht einschüchtern lassen, er macht einen Scherz. Er sagt, dass sich jeder in der Liebe den Prinzen oder die Prinzessin wünscht und nicht mit dem Frosch zufrieden ist, der sich zu ihm gesellen will. Aber nur im Märchen verwandelt sich dieser Forsch, wenn ich ihn an die Wand werfe. Im wirklichen Leben gewinnen Werfer oder Werferin einen beschädigten Frosch, der darüber nachdenkt, wie er den Wurf heimzahlen kann.

Wie aber sonst mit der Enttäuschung fertig werden, dass sich der oder die Liebste nicht so entwickelt haben, wie es Bedürfnis und Hoffnung erwarten ließen? Man könnte das beispielsweise mit Humor nehmen und herausfinden, was an Versöhnung geht. Bisher hat der Ehemann sich über seine Frau beklagt, deren Miene immer mehr versteinert. Jetzt verstummt er und sagt: „Das bringe ich nicht. Ich verstehe, was Sie meinen. Sie haben vielleicht sogar Recht. Aber um das zu schaffen, braucht man eine Seelengröße, die ich einfach nicht habe. Ich soll verzeihen, was sie mir angetan hat, ich soll es nicht ernst nehmen, soll drüber weggehen? Ich bewundere Leute, die das können. Ich hätte sie gerne, die Seelengröße, das zu leisten. Aber das schaffe ich nicht.“

Das Wort von der fehlenden Seelengröße scheint mir in die Gruppe der Psycho-Irrtümer zu gehören. Das Einfache wird kompliziert, Leistungen, die ein Kind beherrscht, werden zu schweren Forderungen, die man „wieder nicht geschafft hat“, ja „einfach nicht schaffen kann“: Schwächen zulassen, Gefühle zeigen, den Augenblick genießen, lachen, sich freuen, obwohl nichts und niemand perfekt ist.

Wer von Seelengröße redet, ringt um ein Idealbild seiner selbst und will durch gesteigerte Mühe erreichen, was ihm wegen der gegenwärtigen Anstrengung misslingt. Er will die Unfähigkeit, weich zu werden und nachzugeben, durch die Phantasie von noch mehr narzisstischer Größe überwinden.

Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. So steht es im Matthäus-Evangelium (18,3): Jesus stellt ein Kind in die Mitte seiner Jünger, um deren Debatte zu beenden, wer der Größte sei. Wer Seelengröße als definitiven Abschied von seinen kindlichen Bedürfnissen versteht, muss scheitern; umgekehrt aber ist die Frage nach dem Glück viel einfacher zu beantworten als es scheint – das Kind handelt spontan, wo der Erwachsene verzagt. Wären Kinder so eitel und nachtragend wie Erwachsene, sie würden niemals den aufrechten Gang erlernen. Stolpern, vornüber oder auf den Hintern fallen, das passiert doch wieder und wieder. Die Kränkung ist mal größer, mal kleiner, aber sie nimmt nicht den Mut und stoppt nicht den Versuch, es beim nächsten Mal besser zu machen.

Ich denke, etwas von dieser Haltung können wir alle gut gebrauchen und sollten sie mitnehmen in die Arbeitsfelder, in denen wir erproben, was aus dem aufrechten Gang werden kann und was nicht. Dass Menschen, die einigermaßen gelernt haben, angesichts ihrer Kränkungen Distanz und Humor zu entwickeln, ein wenig von diesen Fähigkeiten an jene weitergeben, die dazu noch nicht in der Lage sind, ist auf jeden Fall eine gute Sache, unserer Aufmerksamkeit und tatkräftigen Unterstützung wert.

München, am 25. Dezember 2018

Wolfgang Schmidbauer

1 Der ursprüngliche Titel des Rohmanuskriptes lautete „2008 – 2018: 10 Jahre Anti-Gewalt-Training in Lüneburg – Bilanz und Perspektiven“ und wurde nach einem Hinweis von Schmidbauer in den aktuellen Titel verändert.

Vorwort

Als ich mich vor zehn Jahren gemeinsam mit einem Kollegen daran machte, die Grundzüge des hier beschriebenen Anti-Gewalt-Trainings zu konzipieren (Vgl. v. Bülow/Komoß 2008), dachte ich nicht im Entferntesten daran, dass ich diese Arbeit so lange und mit einer so großen Begeisterung machen würde. Schnell sind die Jahre vergangen. Und voraussichtlich werde ich diese Arbeit noch einige Jahre, bis zum Ende meines Berufslebens fortführen, so denn mein Arbeitgeber dies auch will und das Land Niedersachsen weiterhin als überwiegender Finanzier dieses Trainings zur Verfügung steht.

Begeisterung ist für diese Arbeit von Nöten, wenn man denn jahrelang Freitagnachmittag, während sich fast alle Kolleginnen und Kollegen schon ins Wochenende verabschiedet haben, gegen den „stummen Zwang der Verhältnisse“ (Marx) anarbeitet. Denn es sind die Verhältnisse der deutschen Klassengesellschaft, die Armut und Verelendung breiter Bevölkerungsschichten verursachen (Vgl. Dörre 2013). Mittlerweile arbeitet nahezu jeder vierte Lohnabhängige im Niedriglohnsektor. Diese subalterne Stellung im Arbeitsleben kränkt angesichts des zunehmenden Auseinanderklaffens in Arm und Reich und wird offenbar auf eine spezifische Weise verarbeitet. „Eine Gesellschaft, in der Macht, Zugang zu Informationen und Ressourcen derart ungleich verteilt sind, wie in unserer spätkapitalistischen Ordnung, sind traumatische Erfahrungen von Machtlosigkeit und Verlust der Selbstbestimmung ein weitverbreitetes Phänomen, eingeübt und körperlich erfahren in der Kindheit, verfestigt in der Schule und verzweifelt reinszeniert in der intimen Paarbeziehung.“ (Peichl 2008, S. 18) Damit ist schon angedeutet: Die Ursachen von häuslicher Gewalt sind sicher komplex, aber Armut ist ein wesentlicher Faktor ihres Entstehens. Und es sind vor allem Angehörige sozialer Unterschichten, die eine Weisung oder Auflage zum Anti-Gewalt-Training bekommen, auch wenn gemeinhin festgestellt wird, dass sich häusliche Gewalt in allen Sozialschichten findet. Vielleicht liegt es an den Wohnverhältnissen, wenn Unterschichtsangehörige leichter in das Visier der Polizei geraten als Paare höherer Sozialschichten. Lautstarke Ehestreitigkeiten werden von der Nachbarschaft im Mietshaus halt leichter registriert als in einer Villengegend. Und selbst wenn eine Anzeige vorliegt, die gewalttätigen Übergriffe eindeutig und vielleicht auch noch durch Zeugen belegbar sind, muss das in der Konsequenz noch nicht viel heißen. Offenbar gelingt es Angehörigen der Mittelschicht vielfach schon im Vorfeld eine außergerichtliche Einigung zu erzielen oder über das Anheuern guter Anwälte eine Auflage oder gar eine Verurteilung zu vermeiden. Eine Statistik, die genauere Auskunft über den sozialen Hintergrund derjenigen gibt, die verurteilt werden und deren Verfahren eingestellt wird, existiert bezeichnenderweise nicht. Im Ernstfall will man es dann doch lieber nicht so genau wissen.

Häusliche Gewalt ist aber auch Ausdruck patriarchalischer Strukturen, in denen Männer glauben, Frauen kontrollieren und notfalls mittels Gewalt beeinflussen, ängstigen oder unterwerfen zu können. Sofern gewalttätiges Verhalten nicht generell als Kommunikationsmittel akzeptiert wird, so legitimieren es viele Männer mit der Aussage, ihre Partnerin hätte sie zu einem derartigen Übergriff provoziert und sie habe sich die Folgen damit auch selbst zuzuschreiben.

Dem Buch wünsche ich als Autor natürlich viele Leser. Besser noch wäre es, wenn der Text Menschen dazu animieren könnte, andernorts ein ähnliches Training zu installieren. Denn es kommt, um die eingangs zitierten Worte von Marx noch einmal aufzugreifen, nicht nur darauf an, Gewalt zu verstehen oder zu interpretieren, sondern es kommt darauf an, den Menschen Unterstützung bei der gewünschten (Selbst-)Veränderung zu bieten. Diese nicht ganz leichte Arbeit ist aus meiner Sicht besser zu bewältigen und schützt vor Frustration, wenn man berücksichtigt, dass sie eine Etappe im Jahrhunderte währenden „Prozess der Zivilisation“ darstellt (Vgl. Elias 1976 u. 1980). Dieser zeichnet sich durch die Errichtung eines staatlichen Gewaltmonopols und einer zunehmenden Kontrolle triebhafter Impulse aus. So gesehen ist das hier beschriebene Anti-Gewalt-Training ein Baustein in einem großen Puzzle, das sich zu einer friedvolleren Gesellschaft zusammenfügen lässt. Folgt man Norbert Elias, so schreitet dieser Prozess fort, egal ob der Einzelne dies will oder nicht oder sich gar dagegen stemmt wie die 135 Abgeordneten der CDU/CSU, die 1997 gegen die damals eingeführte Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe stimmten. Diese Abgeordneten waren offensichtlich emotional und geistig in einer früheren geschichtlichen Epoche hängengeblieben. Dies zur Information: Gemäß Elias dürfte es sich in etwa um das zehnte, elfte oder zwölfte Jahrhundert gehandelt haben, als Ritter in ihren Gutsbezirken unumschränkte Gewaltherrscher waren und Vergewaltigungen der Überlieferung nach noch unter dem „Recht der ersten Nacht“ firmierten.

Auch wenn ich hier allein als Verfasser erscheine, so ist das Training doch immer ein Gemeinschaftswerk gewesen. Danken möchte ich daher meinen ehemaligen Kollegen Holger Komoß (2008-2013) und Christoph Modlich (2013-2014) und meinem aktuellen Kollegen Sascha Freitag (seit 2015) für die vertrauensvolle und kreative Zusammenarbeit. Ohne sie wäre das Training all die Jahre nicht möglich gewesen. Dank geht auch an Eleonore Tatge, Hauptkommissarin und Präventionsfachkraft bei der Polizeiinspektion Lüneburg, der die Unterstützung unseres Trainings immer auch ein persönliches Anliegen war. Ihre Expertise ist nahezu unverzichtbar.

Der Stiftung Diakonie – Ich mache mit danke ich für die wiederholte Mitfinanzierung dieses Anti-Gewalt-Trainings.

Seit 38 Jahren lese ich die Bücher von Wolfgang Schmidbauer. Sie haben mir nicht nur etliche Stunden von Lesegenuss geliefert, sondern sind die in ihnen beschriebenen psychodynamischen Prozesse praxisnah und somit auch hilfreich für dieses Anti-Gewalt-Training gewesen. Die in seinen Publikationen immer wieder thematisierten Zusammenhänge zwischen narzisstischen Störungen und Paarproblemen beflügelten meine Arbeit. Somit geht ein besonderer Dank an Wolfgang Schmidbauer; auch für seine Worte zum Geleit.

Last, but not least: Danken möchte ich aber auch den Teilnehmern, die zumeist engagiert mitgearbeitet haben und das ihnen von uns unterbreitete Angebot des Wachstums und der Veränderung aufgegriffen und umgesetzt haben. Damit haben sie mir das Gefühl vermittelt, eine sehr befriedigende Arbeit zu tun. Und damit geht es hier, wie der Leser merken wird, auch um Narzissmus, nicht nur als Erklärungsmodell für häusliche Gewalt, sondern auch als Motiv therapeutischen und schriftstellerischen Handelns. Sicher geschieht das Eine unter negativen Vorzeichen und mit zerstörerischen Wirkungen, während das Andere vielleicht eher durch positive und gesunde Formen der Selbstdarstellung gekennzeichnet ist.

Und zuallerletzt danke ich besonders meinem Sohn Julian für das kritische Gegenlesen und das professionelle Layouten dieses Textes. Ohne seinen Sachverstand und sein ausgeprägtes Gefühl für Sprache wäre dieses Buch nicht erschienen.

1. Epidemiologie häuslicher Gewalt

Unter Gewalt lässt sich – ganz allgemein formuliert – ein Verhalten verstehen, dass einer anderen Person absichtsvoll einen Schaden zufügt. Dieser Schaden kann körperlicher und/oder psychischer Art sein. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Mechanismen der psychischen Gewaltausübung sehr sublim sein können und in ihrer Auswirkung nicht unbedingt einer direkten Beobachtung zugänglich sind wie z. B. die Folgen einer körperlichen Misshandlung, die dann etwa als blaue Flecken oder Knochenbrüche in Erscheinung treten und für jeden unmittelbar einsichtig sind. Nichtsdestoweniger sind psychische Repressalien, die z. B. darin bestehen können, einen anderen Menschen schwer zu ängstigen, als Gewaltausübung anzusehen, auch wenn sie strafrechtlich nicht unbedingt immer greifbar sind.

Aber auch die Zufügung sozialer Schäden lässt sich als eine Form der Gewalt begreifen. Zu denken ist hier z. B. an Männer, die wiederholt am Arbeitsplatz ihrer (Ex-)Partnerin auftauchen, um diese zu belästigen, beim Arbeitgeber zu denunzieren oder durch ihr Verhalten dort die Arbeitsabläufe stören. Nach Angaben von häuslicher Gewalt betroffener Frauen hat ein derartiges Verhalten ihrer (Ex-)Partner ihnen den Arbeitsplatz gekostet. Dies scheint allerdings eher in Einzelfällen zuzutreffen, es ist offenbar kein Massenphänomen.

Um das Ausmaß häuslicher Gewalt in etwa zahlenmäßig bestimmen zu können, gibt es verschiedene Zugangswege. Bundesweite Untersuchungen gehen davon aus, dass 37% der Frauen ab dem 16. Lebensjahr mindestens einmal Opfer körperlicher Gewalt wurden (Vgl. BMFSFJ 2008, S. 7). Die Gewalterfahrung ist überwiegend an Partnerbeziehungen gebunden. Mindestens jede vierte Frau (25%) im Alter von 16 bis 85 Jahren erlebte Übergriffe innerhalb der Partnerbeziehung. Knapp ein Drittel (31%) gaben an im bisherigen Leben nur eine Gewaltsituation erlebt zu haben. 36% erlebten zwei bis zehn gewalttätige Auseinandersetzungen und 33% berichteten von zehn bis 40 derartigen Zwischenfällen (Vgl. BMFSFJ 2008, S. 8). Mit anderen Worten: Gewalt ist vielfach ein chronisches Leiden; egal ob man es von der Seite des Opfers oder des Täters betrachtet.

Eine EU-weite Untersuchung, veröffentlicht im Jahre 2014, besagt, dass 22% der Frauen ab dem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch einen derzeitigen oder früheren Partner erfahren haben. Nimmt man noch die Kategorie „andere Person“ hinzu, so steigt der Wert auf 35% (Vgl. Agentur d. Europäischen Union f. Grundrechte 2014, S. 19).

Gefragt wurde ebenfalls nach Gewalterfahrungen vor dem 15. Lebensjahr. 37% der Frauen berichteten von ausschließlich körperlicher Gewalt, 13% von ausschließlich sexueller Gewalt und 42% berichteten von körperlicher oder sexueller Gewalt. (Ders. a. a. O., S. 34)

Ein differenzierteres Bild darüber, wer wann welche Art von Gewalt ausübt, ergibt sich, wenn man Täter und Opfer nach schulischem und beruflichem Bildungsgrad unterscheidet.

„Alles in allem verweist die Analyse darauf, dass das Nichtvorhandensein von Bildungs- und Ausbildungsressourcen ein relevanter Risikofaktor für erhöhte Gewaltbelastungen von Frauen in Paarbeziehungen, insbesondere bei jüngeren Frauen in der regenerativen Phase, sein kann, dass aber eine höhere Bildung und Ausbildung gegenüber mittleren und geringen Bildungsgraden nicht generell das Risiko von (schwerer) Gewalt durch Partner vermindert.“ (BMFSFJ 2014, S. 30) Hier wird ein Ursachenbündel für häusliche Gewalt angedeutet, dass sich vermutlich, zumindest teilweise, in fataler Weise verstärkt. Die regenerative Phase ist mit dem Ausbildungsabschluss, der Paarbildung, der Wohnsitzbildung, der Kinderaufsucht spezifischen Belastungen in kurzer Folge oder gar gleichzeitig ausgesetzt, was oft Konflikte provoziert. Ein fehlender Schul- und Ausbildungsabschluss lässt vermuten, dass diese jungen Frauen unter schwierigen sozialen Bedingungen sozialisiert wurden. Das heißt wiederum auch, dass sie wahrscheinlich diverse Schädigungen ihres Selbstgefühls erlitten haben. Damit sind sie für konflikthafte Auseinandersetzungen in der Partnerschaft vergleichsweise schlecht gerüstet. Dies soll an dieser Stelle aber nicht weiter ausgeführt werden. Hier sei auf die Ausführungen Schmidbauers im dritten Kapitel Psychoanalytisches Erklärungsmodell für häusliche Gewalt verwiesen. Aber auch wenn Frauen über eine höhere Bildung, teilweise auch höher als die ihrer Partner verfügen, sind sie besonderen Risiken ausgesetzt. „Männer mit höherer Bildung übten vor allem dann häufiger schwere Gewalt aus, wenn die Partnerin ihnen hinsichtlich der Bildung gleichwertig oder überlegen und nicht unterlegen war.“ (BMFSFJ 2014, S. 31) Dann zieht die Studie eine Schlussfolgerung, die wir so nicht ziehen würden: „Insofern spielen auch Fragen von Bildungsangleichung und Bildungsdiskrepanzen zwischen den Geschlechtern eine maßgebliche Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von (schwerer) Gewalt in Paarbeziehungen.“ (BMFSFJ 2014, S. 31) Unserer Erfahrung nach sehen sich Männer einem erhöhten Kränkbarkeitsrisiko ausgesetzt, wenn sie auf eine Partnerin treffen, die ihnen an Ausdrucksund Verbalisationsfähigkeit gleichwertig oder überlegen ist. Im Streitfalle haben sie schnell das Gefühl, ins Hintertreffen zu geraten. Wenn ihnen die Argumente ausgehen oder sie den Eindruck haben, dass sie ihnen im Munde umgedreht werden, werden schnell Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit provoziert, die die Männer nur sehr schwer oder gar nicht aushalten können. Gewalttätiges Verhalten bekommt dann die Funktion der Gefühlsregulation. Durch den Gewaltakt wird das Gefühl der Ohnmacht in das der Macht gewandelt. Diese Dynamik findet sich nicht nur bei gebildeten Paaren, sondern ist sie auch bei weniger gebildeten vorhanden. Voraussetzung scheint allerdings ein Gefälle der Kommunikationskompetenz zu Ungunsten des Mannes zu sein.

So wie relativ ungebildete junge Frauen einem erhöhten Risiko der Gewalterfahrung ausgesetzt sind, trifft dies umgekehrt auch für Männer zu, die dann die Täterrolle einnehmen. „Ansonsten übten vor allem Männer, die über keine Schulabschlüsse verfügten (14%) und/oder keinen qualifizierten Ausbildungsabschluss hatten (9%), tendenziell häufiger schwere bis sehr schwere körperliche und/oder sexuelle Gewalt gegen die Partnerin aus, wobei diese Anteile bei Männern, die beides – keinen Schul- und keinen qualifizierten Ausbildungsabschluss – hatten, deutlich am höchsten lagen: Von diesen hatte jeder sechste (18%) schwere körperliche Gewalthandlungen oder sexuelle Gewalt gegen die aktuelle Partnerin verübt.“ (BMFSFJ 2014, S. 31) Männer mit geringem Bildungsniveau scheinen auch in erhöhtem Maße psychische Gewalt auszuüben. „Bemerkenswert ist auch unabhängig von körperlicher/sexueller Gewalt die hohe Neigung von Männern ohne Schul- und Berufsabschlüsse, mäßige bis sehr schwere psychische Gewalt gegen die Partnerin zu verüben (45% vs. 15-18% bei den anderen Befragungsgruppen).“ (BMFSFJ 2014, S. 31) Was ist hier der vermutlich ursächliche Faktor? Vieles spricht dafür, dass psychisch erheblich gestörte Männer schon in der Schule bzw. in der Berufsausbildung über massive Schwierigkeiten verfügten, deren Resultat mangende Bildungs- und Berufsabschlüsse sind. Im Sinne eines Rückkopplungsprozesses vermag dieses frühe Versagen wiederum das Selbstwertgefühl zu beeinträchtigen. Diese psychisch beeinträchtigten Männer neigen offenbar bei Partnerschaftskonflikten überproportional zu gewaltförmigen Konfliktlösungsmustern.

Häusliche Gewalt gegen Migrantinnen ist in den Untersuchungen und Statistiken überrepräsentiert. Gleichzeitig treten hier zum Teil besondere Schwierigkeiten auf, wenn es darum geht, Hilfsangebote zu platzieren. Zum einen ist hier die Sprachbarriere zu nennen, zum anderen sind gerade muslimische Frauen noch ganz anders in ihre Familie eingebunden und gegen die bundesrepublikanische Gesellschaft abgeschottet. Problemlösungen für Paarkonflikte werden weniger von außen erwartet und zugelassen, sondern vielmehr innerhalb der Community angestrebt. Für Frauen, die ihre Männer nach Gewaltakten verlassen, besteht immer das Risiko, dass sie den Anschluss an ihre Community verlieren, quasi ausgeschlossen werden und aber auf der anderen Seite auch nicht wirklich in die deutsche Gesellschaft integriert sind (Vgl. Müller/Bohne 2015). Zugleich wäre hier zu fragen, ohne damit in rassistische Stereotype zu verfallen, ob bestimmte Gesellschaften partnerschaftliche Gewalt, genauer, männliche Gewalt gegenüber Frauen, eher legitimieren als westliche geprägte Demokratien. Zu vermuten ist, dass insbesondere in Ländern, die seit Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten autoritär regiert werden, sich auch entsprechende Herrschaftsmuster in den zwischenmenschlichen Beziehungen finden, egal ob man das Verhältnis zwischen Mann und Frau oder zwischen Eltern und Kindern betrachtet.

In Niedersachsen wurden im Jahre 2003 rund 2.000 Fälle von häuslicher Gewalt bei den BISS-Beratungsstellen dokumentiert. Davon wurden 78% von der Polizei übermittelt. Die anderen 22% waren Selbstmelderinnen (Vgl. NMSFFG 2005, S. 20).

In knapp einem Viertel der Fälle waren die Täter alkoholisiert (Vgl. NMSFFG 2005, S. 22). „In 62% der bei den BISS registrierten Fälle lebten in den betroffenen Haushalten minderjährige Kinder, von denen wiederum knapp die Hälfte unter sechs Jahre alt war. In 57% der Fälle mit minderjährigen Kindern waren die Kinder Zeugen des gewalttätigen Vorfalls, der zu der Biss Beratung führte, geworden, in 14% der Fälle hatte sich die Gewalt dabei auch gegen sie gerichtet.“ (NMSFFG 2005, S. 23) 27% der Frauen hatten einen Migrationshintergrund, d. h. entweder waren sie keine deutschen Staatsbürgerinnen oder sie waren Spätaussiedlerinnen.

Bei allen elf Staatsanwaltschaften in Niedersachsen wurden Ansprechpartner für den Bereich „Häusliche Gewalt“ benannt (Vgl. NMSFFG 2006, S. 12).

Im Jahre 2013 befragte das Landeskriminalamt Niedersachsen in einer Dunkelfeldstudie 14.241 Personen im Alter zwischen 16 und 93 Jahren nach ihren Gewalterfahrungen in Paarbeziehungen im Jahre 2012 (Vgl. LKA 2014). 7,8% der Befragten berichteten von Gewalterfahrungen. Der Anteil der Frauen betrug 9,4% und der der Männer 6,1%. Etwa die Hälfte der Befragten erlebte ausschließlich psychische Gewalt wie lächerlich machen, demütigen und seelisch verletzen. Gewalterfahrungen nehmen offenbar mit dem Alter ab. Bei den 16- bis 29-jährigen waren es 19,6%, die von Gewalt in der Partnerschaft berichteten. Bei den über 60-jährigen waren es hingegen 4,4%. Etwa jedes dritte Opfer berichtete von mehrmaliger Gewalt. Lediglich 5,7% der Gewaltopfer suchten Unterstützung bei der Polizei. Bei körperlicher Gewalt betrug der Anteil 11,0%. Unterstützung wurde vornehmlich im privaten Bereich gesucht. 72,4% der Gewaltopfer wandten sich an Freunde und 54,9% an Familienangehörige. Gewalterfahrungen scheinen – zumindest oberflächlich betrachtet – sehr unterschiedlich über die Sozialschichten verteilt zu sein. „Wird die schulische Bildung als Referenz zugrunde gelegt, steigt der Opferanteil mit der Höhe des schulischen Abschlusses an, d. h. je höher die schulische Bildung, desto höher der Opferanteil. 9,3% der Befragten mit (Fach-) Abitur bzw. Fach- oder Hochschulabschluss berichteten von Gewalt in ihrer Partnerschaft im Jahre 2012, bei Befragten ohne Schulabschluss bzw. mit einem Haupt- oder Volksschulabschluss waren es dagegen 5,2%.“ (LKA 2014, S. 32) Die Autoren dieser Studie führen allerdings die Möglichkeit an, dass Angehörige gebildeterer Schichten eher psychische Übergriffe auch als Gewalt definieren. Hier wären differenziertere Daten und Betrachtungen notwendig.

Neuere Zahlen zur Partnerschaftsgewalt lieferte 2017 das Bundeskriminalamt (BKA). Es registrierte 2016 unter den Straftaten Mord und Totschlag, Körperverletzungen, Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, Bedrohung und Stalking insgesamt 133.080 Opfer von vollendeten oder versuchten Delikten der Partnerschaftsgewalt. 2015 waren es 127.457 registrierte Opfer, somit eine Steigerung um 4,4%. „Am häufigsten wurden die Personen Opfer einer vorsätzlichen einfachen Körperverletzung (86.064 Personen; 64,7%), gefolgt von Bedrohung (18.678 Personen; 14,0%) und gefährlicher, schwerer Körperverletzung oder einer solchen mit Todesfolge (insgesamt 16.805 Personen; 12,6%). Ferner wurden 8.525 Opfer von Stalking (6,4%), 2.567 von Vergewaltigung und sexueller Nötigung (1,9%) sowie 441 von Mord und Totschlag (0,3%) registriert. Hinsichtlich der Beziehung des Opfers zum/zur Tatverdächtigen dominierte der Status „ehemalige Partnerschaften“ (48.816 Opfer; 36,7%), gefolgt von „Ehepartner“ (44.977 Opfer; 33,8%) und „Partner nichtehelicher Lebensgemeinschaften“ (38.601 Opfer; 29,0%). Mord und Totschlag fielen insbesondere „Ehepartner (51,5%) zum Opfer, wohingegen ehemalige Partner mehrheitlich von Stalking (88,8%) oder Bedrohung (55,1%) betroffen waren.“ (Bundeskriminalamt 2017, S. 5) 2016 wurden 466 Menschen, 139 Männer und 327 Frauen, Opfer einer einfachen Körperverletzung im Rahmen einer eingetragenen Lebenspartnerschaft. Das entsprach einem Anteil von 0,5% an allen registrierten Opfern im Bereich einfacher Körperverletzung. Da nicht exakt bestimmbar ist wie viele homosexuell orientierte Menschen in einer eingetragenen Partnerschaft leben, kann nur vermutet werden, dass häusliche Gewalt unter homosexuell orientierten Menschen hier statistisch unterrepräsentiert ist. Auffällig ist aber, dass wesentlich mehr Frauen in ihrer eingetragenen Lebenspartnerschaft Opfer einer einfachen Körperverletzung wurden (Vgl. Bundeskriminalamt 2017).

2. Charakterisierung der Täter