Hearts of Blue - Gefangen von dir - L. H. Cosway - E-Book

Hearts of Blue - Gefangen von dir E-Book

L. H. Cosway

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Beschreibung

Er nimmt sich alles, was er haben will - doch sie hat sein Herz gestohlen

Lee Cross ist ein Dieb. Seitdem er denken kann, bewegt er sich auf der dunklen Seite des Gesetzes, und mit 25 Jahren steckt er inzwischen viel zu tief drin, als dass er noch damit aufhören könnte. Doch dann begegnet er Karla Sheehan. Er und die junge Polizistin könnten unterschiedlicher nicht sein. Während sie auf der Karriereleiter ganz nach oben kommen will und Verbrecher jagt, verkörpert Lee alles, wovon sie sich fernhalten sollte. Doch je mehr er versucht, der schönen Gesetzeshüterin aus dem Weg zu gehen, desto deutlicher spürt er, dass sie längst sein Herz gestohlen hat ...

"Süchtig machend, herzzerreißend, witzig und brillant!" Samantha Young, Spiegel-Bestseller-Autorin

Band 4 der Hearts-Reihe von Bestseller-Autorin L. H. Cosway


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Seitenzahl: 509

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Inhalt

TitelZu diesem BuchZitatProlog1234567891011121314151617181920212223EpilogDie AutorinL. H. Cosway bei LYXImpressum

 

L. H. COSWAY

Hearts of Blue

Gefangen von dir

Roman

Ins Deutsche übertragen von Katrin Kremmler und Julia Lambrecht

 

Zu diesem Buch

Lee Cross ist ein Dieb. Seitdem er denken kann, bewegt er sich auf der dunklen Seite des Gesetzes, und mit 25 Jahren steckt er inzwischen viel zu tief drin, als dass er noch damit aufhören könnte. Doch dann begegnet er Karla Sheehan. Er und die junge Polizistin könnten unterschiedlicher nicht sein. Während sie auf der Karriereleiter ganz nach oben kommen will und Verbrecher jagt, verkörpert Lee alles, wovon sie sich fernhalten sollte. Doch je mehr er versucht, der schönen Gesetzeshüterin aus dem Weg zu gehen, desto deutlicher spürt er, dass sie längst sein Herz gestohlen hat …

 

»Diebstahl ist natürlich ein Verbrechen und etwas sehr Unhöfliches. Aber wie das meiste unhöfliche Benehmen ist es unter gewissen Umständen entschuldbar. Diebstahl ist nicht entschuldbar, wenn du zum Beispiel in einem Museum bist und findest, dass sich ein bestimmtes Gemälde bei dir zu Hause besser machen würde, es dir einfach schnappst und mitnimmst. Aber wenn du sehr, sehr hungrig wärst und keine Möglichkeit hättest, an Geld zu kommen, wäre es eventuell entschuldbar, sich das Gemälde zu schnappen, es mit nach Hause zu nehmen und aufzuessen.«

Lemony Snicket

 

Prolog

London, 2000

Im Zimmer war es so eiskalt, dass man die eigenen Atemwolken sehen konnte.

Alles fühlte sich irgendwie feucht an. Vor einigen Wochen war der Strom abgestellt worden und auch die Zentralheizung. Das alte Sofa im Wohnzimmer war klamm so wie die Decken und Kissen im Schlafzimmer, das sich Lee mit seinen drei Brüdern teilte. Er stieg ins Bett und schloss die Augen, versuchte, das unangenehm feuchtkühle Bettzeug zu ignorieren und einfach einzuschlafen, aber es funktionierte nicht.

Seinen Freunden gegenüber würde er es nie zugeben, aber oft kuschelte er sich eng an seinen älteren Bruder Stu, um sich zu wärmen. Liam und Trevor lagen zusammen in dem zweiten Bett auf der anderen Seite des kleinen Zimmers, und ihre Cousine Sophie schlief im alten Zimmer seiner Mutter. Seine Tante Jenny hatte sie vor Monaten dort zurückgelassen, gleich nach dem Tod von Lees Mum. Dann war sie mit ihrem Freund in einen längeren Urlaub gefahren. »Verkorkst« beschrieb die Familie nicht mal annähernd. Für das Sozialamt war Jenny eingezogen, um sich um die Kinder ihrer verstorbenen Schwester zu kümmern. In Wirklichkeit war sie abgehauen, sonnte sich in Magaluf auf Mallorca, soff sich die Birne zu und hatte den fünf Kindern nur einen Briefumschlag mit Geld dagelassen. Das inzwischen lange aufgebraucht war.

Ein Mann im Anzug und mit Goldringen kam in letzter Zeit immer öfter vorbei und bot Lee eine Möglichkeit an, für seine Familie zu sorgen. Er hatte ihn ein paarmal in der Siedlung gesehen. Einmal hatte er einen Mann halb totgeschlagen, weil der ihm seine Schulden nicht zurückzahlen konnte, ein anderes Mal hatte er eine Frau besucht, deren Mann gestorben war, und einen Essenskorb für ihre Kinder gebracht. Es war schwierig, den brutalen Schläger mit dem Mann in Einklang zu bringen, der der Witwe geholfen hatte. Wie konnte jemand nett und grausam zugleich sein?

Trotzdem wollte Lee ihm vertrauen. Er wünschte sich, dass der Mann ihm etwas Reales anbot und es nicht nur ein Trick war, weil er seinen teuren Anzug und den eleganten Wagen sah, und tief in seinem Inneren wollte er das alles auch haben. Er hatte es satt, zu leiden und mit anzusehen, wie seine Brüder ein Leben in Armut führten. Er wollte dafür sorgen, dass seine Familie nie wieder fror oder hungrig war, und der Mann war für ihn eine Chance.

Stu hustete und drehte sich auf die Seite, die Augen offen. Auch er konnte nicht schlafen.


»Ich hasse sie«, sagte er und riss Lee aus seinen Gedanken.

»Wir alle hassen sie«, antwortete Lee. »Es war egoistisch von ihr. Sie verdient es, gehasst zu werden.«

»Ich rede nicht von Tante Jenny. Ich rede von Mum. Sie war schlimmer als Jenny. Sie hat uns nie geliebt. Mütter sollen ihre Kinder doch eigentlich lieben.«

»Sie hat nicht mal sich selbst geliebt«, sagte Lee und dachte an sie. »Junkies lieben nur ihr High, sonst nichts.« Seine Mum und ihre Schwester waren in einer zerrütteten Familie aufgewachsen. Es war kein Wunder, dass sie so geworden waren.

Stu ließ den Kopf zurückfallen und starrte an die Decke. »Ich werde nie Drogen nehmen. Das schwöre ich hiermit. Wenn ich je eine einzige Pille anfasse, gib mir eins in die Fresse.«

Lee lachte leise. »Kannst du haben, Alter.«

»Im Ernst«, beharrte Stu. »Du kannst mir sogar die Nase brechen, wenn es mich davon abhält, so ein blödes Junkie-Arschloch zu werden.«

Stu hatte mit seiner Verkündung ihren jüngeren Bruder geweckt. Liam, mit neun der Jüngste, jammerte: »Ihr macht Krach!«

»Sorry, Kleiner. Schlaf weiter. Wir sind schon ruhig«, sagte Lee mit gedämpfter Stimme.

»Ich hab Hunger.« Trevor setzte sich auf und rieb sich die Augen.

Lee und Stu klauten seit Wochen Lebensmittel, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie erwischt wurden. So konnte das nicht weitergehen. Eine Alternative musste her. Wieder fiel Lee der Mann im Anzug ein.

»Wann kommt Tante Jenny wieder?«, fragte Liam. Er war noch zu klein, um zu verstehen, dass sie nie zurückkommen würde. Oder jedenfalls nicht zu ihnen.

»Die kommt gar nicht wieder«, stieß Stu abrupt hervor. Im Umgang mit den kleineren Jungs fehlte ihm Lees Einfühlungsvermögen. Liams Augen wurden feucht, dann brach er in Tränen aus. Lee stieg aus dem Bett und ging zu ihm, um ihn zu trösten. Er legte seinem kleinen Bruder den Arm um die Schultern und wischte ihm die Tränen ab.

»Es wird alles gut. Wir brauchen sie nicht«, versprach er ihm.

»Wie kannst du so was sagen?«, fragte Trevor bitter. »Wir haben nichts. Wir sind nur ein paar Kinder, und keiner interessiert sich einen Dreck für uns.«

»Ich schon«, konterte Lee. »Mir seid ihr alle wichtig, verdammt. Ich lasse mir was einfallen. Einen Plan.«

»Einen Plan?«, meldete sich Liam schniefend.

»Jepp. Ist mir egal, was ich tun oder wen ich fertigmachen muss – ich werde dafür sorgen, dass es uns nie wieder an etwas fehlt. Ich habe es satt, so zu leben.« Schweigen folgte, und er spürte, dass alle drei Jungen ihn anstarrten. Schließlich fragte er: »Wer steht zu mir?«

Sofort streckte Stu die Hand hinüber und legte sie auf Lees. »Ich.«

»Ich auch«, sagte Trevor.

»Und ich auch«, stimmte Liam zu.

Lee sah jedem seiner Brüder in die Augen, ihr Pakt war geschlossen. Morgen würde er losgehen und mit dem Mann im Anzug reden, und mit etwas Glück würde sich ihr Leben ändern.

Er hoffte nur, zum Besseren.

 

1

London, 2010

Karla

Als ich Lee Cross zum ersten Mal begegnete, tat ich etwas so Alltägliches wie Lebensmittel einkaufen. Er stand lässig vor einem Wettbüro und sprach meine beste Freundin Alexis an, die ihn kannte, weil sie mal mit seinem Bruder zusammen gewesen war. Als sein Blick auf mir landete, schien plötzlich alles in Zeitlupe abzulaufen, und ich merkte, dass ich rot wurde. Fast gegen meinen Willen fand ich ihn attraktiv, mit seinem zerzausten braunen Haar, den verschmitzten blauen Augen und den Tattoos, die unter seinen Hemdsärmeln hervorschauten.

Um es kurz zu machen: Er wollte mit mir ausgehen, und ich gab ihm eine Abfuhr. Aber er versuchte, mich zu ködern, indem er mir ins Ohr flüsterte.

»Wenn du mitkommst, bringe ich dich mit der Zunge zum Kommen, ganz ohne Gegenleistung.«

Ich kann nicht behaupten, dass ich nicht in Versuchung geriet, aber das lag wahrscheinlich nur an meinen zehn sexfreien Monaten. Ich war Polizistin und nahm meinen Job ernst. Und ein Blick auf Lee Cross genügte mir, um zu wissen, dass er nicht auf derselben Seite des Gesetzes stand wie ich. Und außerdem war er mir zu jung. Zwar nur drei Jahre jünger, aber trotzdem.

Als ich ihm das zweite Mal begegnete, leistete ich Alexis moralische Unterstützung, weil sie Lee um einen Gefallen gebeten hatte und er in unsere Wohnung gekommen war. Er war großspurig, fläzte sich neben mir auf dem Sofa herum und flirtete mit mir. Ich musste mich daran erinnern, dass er tabu war, besonders, als er mir sein selbstsicheres Grinsen zuwarf. Es bedeutete: Ein Wort von dir, und ich vögle dir deine ganze Frustration weg, Süße. Also total nervig. Auf dieses Wort konnte er lange warten. Lee Cross hatte bei mir keine Chance.

Das dritte Mal traf ich ihn, und damit wären wir in der Gegenwart angekommen, als ich einen Typen mit Kapuzenpullover durch eine Gasse verfolgte. Eben hatte ich ihn bei dem Versuch ertappt, ein vor einem Zeitungsladen geparktes Auto zu stehlen, und als er mich sah, riss er aus. Ich trainierte mehrmals die Woche, aber dieser Scheißkerl war zu schnell für mich. Natürlich war ich erleichtert, als ich sah, dass er in eine Sackgasse gerannt war. Sein Pech. Er hatte keinen Ausweg mehr, und mein Partner Tony würde jeden Moment um die Ecke kommen. Aber als der Typ einfach an der drei Meter hohen Mauer hinaufsprang, als wäre es nichts, verflog meine Erleichterung schnell. Was zum Teufel war das denn? Unmittelbar bevor er sich auf die andere Seite fallen ließ, sah er sich um und zwinkerte mir zu.

Frecher. Kleiner. Scheißkerl.

Diese blauen Augen hätte ich überall erkannt, denn sein älterer Bruder besaß ein identisches Paar. Trevor war das zweitjüngste Mitglied der Familie Cross. Er war bereits mehrfach wegen kleinerer Delikte verhaftet worden und hatte keine Haftstrafen vorzuweisen. Noch nicht. Ich könnte wetten, wenn er so weitermachte, würde er früher oder später hinter Gittern landen.

Eine Sekunde verstrich, dann kam Tony neben mir an, stützte die Hände in die Hüften und schnappte nach Luft.

»Ist der über die Mauer gesprungen?«

»Jepp.«

»Scheißkerl.«

»Meine Rede. Komm mit, ich glaube ich weiß, wo wir ihn finden.«

Nach den zwei Begegnungen mit Lee hatte ich meine Hausaufgaben gemacht. Ich wusste, dass er in einer Sozialsiedlung in Hackney wohnte. Ich wusste, dass er fünfundzwanzig Jahre alt war und eine fragwürdige Autowerkstatt mit dem Namen Cross Bros., Gebrüder Cross, besaß, die nur ein paar Minuten von meinem Revier entfernt lag. Und ich wusste, dass er, genau wie sein jüngerer Bruder Trevor, noch nicht im Gefängnis gewesen war. Aber wie gesagt, das war nur eine Frage der Zeit.

Zugegeben, ich hatte es mit meiner Recherche etwas übertrieben und wusste selbst nicht, warum ich solches Interesse an ihm hatte. Ich dachte, dass ich einfach wissen wollte, womit ich es zu tun hatte, denn jedes Mal, wenn wir uns über den Weg liefen, schien er wild entschlossen, mich rumzukriegen.

Tony und ich gingen zum Streifenwagen zurück, und ich sprang hinters Steuer, mein Ziel schon vor Augen. Meine Hände prickelten, und beim Gedanken, einen offiziellen Hausbesuch bei Lee zu machen, schlug mein Herz heftig. Aber ich hatte seinen Bruder bei einer Straftat erwischt und würde ihn auf keinen Fall laufen lassen.

»Ich habe vier gezählt.« Tony nahm unser Spiel wieder auf. Wir zählten Turnschuhe, die von Stromleitungen hingen. Es war ein Zeichen, dass in der Gegend Drogen verkauft wurden. Leider zählten Tony und ich immer mehr Turnschuhe, als wir uns vornehmen konnten. Und außerdem konnten wir baumelnde Turnschuhe nicht als Grund für Hausdurchsuchungen benutzen. Darum funktionierten sie so gut. Alle wussten, was sie bedeuteten, da sie eigentlich gar nichts bedeuteten.

Als wir in Lees Straße ankamen, die aus zwei langen Häuserzeilen bestand, fiel mir auf, dass einige der Häuser in ganz gutem Zustand waren, während andere entweder mit Brettern vernagelt waren oder verfielen. Es war eine Gegend, in der man nachts nicht gern zu Fuß unterwegs war … eigentlich auch tagsüber nicht. Lees Haus, Nummer 52, war noch am besten in Schuss. Es hatte Dreifachverglasung, und davor stand ein frisierter schwarzer Ford Focus RS mit getönten Rückfenstern.

»Woher hast du gewusst, dass wir hierherkommen müssen?« Tony musterte verächtlich das Auto, so wie ich. Es war einfach so verdammt typisch.

»Ich habe den Typen erkannt. Er wohnt hier.« Ich packte das Lenkrad und blickte hinaus. Wir stiegen aus dem Wagen und gingen aufs Haus zu, als Tony sagte: »Du hattest schon mit ihm zu tun, hm?«

Ich zuckte die Schultern, hob den Türklopfer und schlug dreimal kräftig gegen die Tür.

»So was in der Art.«

Die Gardinen am Fenster des übernächsten Hauses bewegten sich, und ich sah eine alte Frau hervorspähen. Sie schien zu erschrecken, als sie mich sah, und ließ die Gardine schnell wieder fallen. Bei Lee konnte man den Fernseher laufen hören, und Stimmen, die sich unterhielten. Dann kam jemand über den Flur und öffnete die Tür. Es war eine kleine Frau, wohl Anfang zwanzig, mit elfenhaftem Gesicht und kurzem braunen Haar. Ich fragte mich, ob sie Lees Freundin war. Sie kaute Kaugummi, legte den Kopf schief und starrte mich ausdruckslos an.

»Ja?«

»Guten Abend, Miss. Wir suchen Trevor Cross und wollen ihm ein paar Fragen zu heute Abend stellen. Ist er zufällig zu Hause?«

Die Frau starrte mich weiter ausdruckslos an, dann verdrehte sie die Augen und rief über die Schulter: »Lee! Es sind die Bullen, sie fragen nach Trev.«

»Ich koche das Abendessen, sag ihnen, er ist nicht da«, rief Lee zurück, und vom Klang seiner Stimme bekam ich ein kleines Prickeln im Magen. Es war zwei, vielleicht drei Monate her, dass ich ihn zuletzt gesehen hatte. Natürlich war ich nicht allzu glücklich über meine Reaktion. Dass er die Wahrheit sagte, was das Abendessen anging, wusste ich, als mir eine Knoblauchwolke in die Nase stieg. Was immer er da kochte, es roch köstlich.

Sie drehte sich wieder zu mir um, ich starrte sie mit harter Miene an, und sie schluckte.

»Schätze nicht, dass die so einfach wieder gehen, Cousin.« Also war sie seine Cousine?

»Okay, komme gleich«, blaffte Lee.

Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu, der bedeutete: Zufrieden? Dann drehte sie sich um und stolzierte ins Haus zurück. Ich sah zu Tony hinüber. Er wirkte gelangweilt. Solche Dinge waren unsere tägliche Routine; aber weil es um Lee Cross ging, langweilte ich mich ganz und gar nicht. Ich rückte mein Funkgerät zurecht, strich mit den Händen über mein Notizbuch, das sicher in meiner Brusttasche verstaut war, und zog meine Krawatte gerade. Ich spielte nervös herum, und meine Unruhe wuchs immer mehr, je länger Lee uns warten ließ.

Ich hörte schlurfende Schritte, und dann streckte ein kleiner Junge von drei oder vier Jahren schüchtern den Kopf aus der Tür. Er war total süß, und ich grinste schon wie eine Idiotin, bevor ich meine Mimik wieder im Griff hatte.

»Hallo, wie heißt du denn?«, fragte ich und bückte mich, um ihm in die Augen zu sehen. In der Sekunde, in der ich ihn ansprach, flitzte er davon. Manchmal bekamen Kinder Angst, wenn sie die Uniform sahen.

Eine Sekunde später kam Lee durch den Flur auf uns zu und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. Er trug Jeans und ein T-Shirt, und ich gönnte mir einen Augenblick, um die kunstvollen Tattoos auf seinen Armen zu betrachten und wie eng die Jeans an seinen schmalen Hüften saß, bevor ich mich wieder aufrichtete. Lee hob die Augenbrauen. Seine Miene verriet nicht viel, sein Blick wanderte kurz zu Tony, dann wieder zu mir. Er wirkte gelassen. Das hier war sein Territorium, und es gefiel mir nicht. Er hatte die Oberhand, keine Frage.

Er verzog den Mund zu einem langsamen, unbeschwerten Lächeln und betrachtete mich. »Wusste ich doch, dass du früher oder später bei mir anklopfst, Snap.«

»Da war ein kleiner Junge«, platzte ich heraus. Keine Ahnung, warum.

»Das ist Jonathan. Der Sohn meiner Cousine Sophie. Sie wohnen bei uns.«

»Ach so.« Ich starrte ihn eine Sekunde lang dümmlich an, dann erinnerte ich mich wieder, warum ich gekommen war, und räusperte mich. »Also, wir sind dienstlich hier. Ich habe gerade deinen Bruder Trevor verfolgt, nachdem ich ihn bei dem Versuch erwischt habe, einen Honda zu stehlen. Wenn er hier ist, würde ich gern mit ihm reden.«

Lee verschränkte die Arme. »Wie ich schon sagte, er ist nicht da. Aber woher weißt du, dass es Trev war? Da draußen gibt’s eine Menge Jungs, die so gut aussehen wie der kleine Teufelskerl. Ich schätze, du hast den Falschen, Baby.«

»Sie sprechen mit einer Polizeibeamtin. Zeigen Sie etwas Respekt«, erklärte Tony gereizt.

Lee sah Tony an, dann mich, und dann senkte er grinsend den Kopf und sagte leise: »Bitte entschuldige, Karla.« Wie er meinen Namen aussprach, verschaffte mir wieder dieses prickelnde Gefühl im Magen, aber ich ließ mir nichts anmerken. Bis jetzt hatte er mich nie mit meinem richtigen Namen angesprochen, immer nur mit dem Spitznamen, den er mir verpasst hatte: Snap, oder die längere Version, Gingersnap.

»Für dich Constable Sheehan«, sagte ich nachdrücklich.

Wiedererkennen blitzte in seinen Augen auf, und er fuhr sich mit der Hand übers Kinn. »Hast du Sheehan gesagt?«

Ich kniff die Augen zusammen. »Genau.«

»Ach du Scheiße.«

»Habe ich Ihnen nicht gerade gesagt, Sie sollen etwas Respekt zeigen?«, fiel ihm Tony ins Wort, jetzt verärgert.

Dieses Mal sah Lee ihn nicht einmal an. Seine Aufmerksamkeit war ganz auf mich gerichtet. »Bist du zufällig mit Superintendent Sheehan verwandt?«

Ich schluckte, meine Kehle wurde schlagartig trocken. Er kannte meinen Dad. Fantastisch. »Das geht dich nichts an. Und wenn du uns jetzt helfen könntest, deinen Bruder zu finden …«

»Oh Himmel, du bist mit ihm verwandt, nicht? Wer ist er, dein Onkel? Dein Alter? Bitte sag mir nicht, du bist mit dem Arschloch verheiratet, sonst vergeht mir die Lust aufs Abendessen.«

Für eine Sekunde fiel ich aus der Rolle und verzog angeekelt das Gesicht. »Igitt, nein. Er ist mein Vater, du …« Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig bremsen, bevor ich den Satz mit dem Wort »Idiot« beendete.

»Scheeeiße! Dein Dad? Verdammt, Snap, jetzt tust du mir echt leid.«

Und es war sein Ernst. In seiner Miene lag ehrliches Mitgefühl, aber ich machte ein betont stoisches Gesicht. Praktisch jeder, der meinen Vater kannte, wusste, dass er ein autoritärer, streitlustiger Tyrann war, aber hervorragend im Job. Im Privaten nicht so sehr.

»Das diskutiere ich nicht mit dir. Ruf deinen Bruder an und sag ihm, er soll herkommen. Wenn er unschuldig ist, wie du sagst, sollte er gegen ein paar Fragen nichts einzuwenden haben.«

Lee sagte kein Wort. Stattdessen starrte er mich an, und auf einmal kam mir meine Uniform zu eng, meine Stichschutzweste zu schwer vor. Langsam griff er in die Hosentasche seiner Jeans und zog ein iPhone heraus. Er tippte ein paar Mal auf das Display und hob es ans Ohr, dabei ließ er mich die ganze Zeit nicht aus den Augen. Ich stand nah genug bei ihm, um zu hören, dass es ein paarmal klingelte und dann auf Voicemail schaltete.

»Er geht nicht ran.«

»Was Sie nicht sagen«, sagte Tony mit todernstem Gesicht und winkte mir. »Komm, mit dem kommen wir nicht weiter.«

»Ach, ihr wollt gar nicht zum Essen bleiben?«, neckte Lee. Er grinste wieder und streckte die Hände aus. »Und ich habe mir doch solche Umstände gemacht.«

Tony wollte schon mit einer bösen Bemerkung kontern, als sich auf seinem Funkgerät die Zentrale meldete. Er trat zur Seite und ließ mich allein mit Lee, der sich an den Türrahmen lehnte und mir einen erhitzten Blick zuwarf. »Ich muss schon sagen, du gefällst mir in Uniform.«

»Ach halt doch die Klappe.« Ich verdrehte die Augen. An meiner Uniform war nichts Attraktives. Im Grunde war es Männerkleidung an einer Frau.

»Es ist mein Ernst. Wie wär’s, wenn du eine Weile mit hoch in mein Zimmer kommst und ich dir zeige, wie gut sie mir gefällt?« Er hielt inne, blickte zu meinem Kopf hinauf und zwinkerte. »Die Mütze kannst du auflassen.«

Völlig gegen meinen Willen kicherte ich los und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nein, danke, Tom Jones.«

»Damit du’s weißt, das Lied hat Randy Newman geschrieben. Tom Jones hat nur eine Coverversion gemacht«, witzelte Lee.

Ich musste mich schwer zusammennehmen, um meine Professionalität wiederzugewinnen und sein anzügliches Geplänkel mit einem Eimer kaltem Wasser zu löschen. »Wenn du deinen Bruder siehst, sag ihm, er soll zu mir aufs Revier kommen.«

»Verdammt, Snap, du bist wirklich Ross Sheehans Tochter. Deine Kindheit muss die Hölle gewesen sein.«

Das Mitgefühl in seiner Stimme traf mich unvorbereitet. Ich schluckte, sagte aber nichts. Unsere Blicke trafen sich, und etwas Schweres und Unausgesprochenes hing zwischen uns. Er trat einen Schritt über die Schwelle und auf die Straße. Ich blickte auf meine Stiefelkappen und dann wieder hoch, und eine Haarsträhne löste sich hinter meinem Ohr. Lee streckte die Hand aus, als wollte er sie zurückstreichen, aber dann erstarrte er. Einen Constable zu berühren, konnte technisch gesehen als Angriff gelten. Und technisch gesehen konnte ich ihn dafür verhaften. Vielleicht ließ er es deshalb. Oder vielleicht auch aus einem anderen Grund.

Sein Blick wurde weicher, und er flüsterte: »Wenn dieser lange Typ mit der miesen Laune nicht bei dir wäre, wäre das was ganz anderes hier.«

Ich sah zu Tony hinüber, der gerade sein Gespräch mit der Zentrale beendet hatte. Lee drehte sich um, ging lässig ins Haus zurück und schloss leise die Tür hinter sich. Tony nickte mir zu und winkte mir, ihm zurück zum Streifenwagen zu folgen.

Und das wollte ich auch, doch da öffnete sich plötzlich die Tür des Nachbarhauses, und ein kleines Mädchen kam herausgerannt. Sie war erst fünf oder sechs, und jemand brüllte ihr nach, wieder ins Haus zu kommen. Ich starrte sie an, ihrer struppiges braunes Haar, ihre blauen Augen und die schäbigen Kleider. Ihre Augen waren groß und voller Angst. Eine Sekunde lang starrte sie zurück, dann rannte sie zu Lees Tür und begann wild zu klopfen. Die Tür öffnete sich, und Lee kam wieder heraus. Das Mädchen rannte sofort zu ihm und klammerte sich an sein Bein. Er bückte sich und strich ihr sanft übers Haar.

»Was ist los, Kleines?«, fragte er, und das Mädchen flüsterte ihm etwas ins Ohr. Seine Miene verhärtete sich, er nickte und schickte sie ins Haus. Sein Blick landete auf mir, aber nur für eine Sekunde. Er sagte kein Wort, richtete sich nur auf und schloss die Tür.

Etwas an dieser Szene tat mir in tiefster Seele weh. Vernachlässigte Kinder waren mein einziger wirklich wunder Punkt, und dafür gab es einen Grund. Zu sehen, wie das Mädchen zu Lee gerannt war, als wäre er ihr glorreicher Retter, weckte Gefühle in mir, über die ich lieber nicht nachdenken wollte. Ich hörte, wie im Nachbarhaus jemand die Treppe heruntertrampelte, und dann kam eine dünne Frau mit fettigen Haaren und Augenringen heraus und schrie nach ihrer Tochter.

»Ich schwör bei Gott, Billie, du kommst jetzt schleunigst rein, oder ich geb dir wirklich Grund zum Heulen.«

Sie blieb abrupt stehen, als sie mich erblickte, und kniff wütend die Augen zusammen. »Und was willst du, Bullenschwein?«

»War das Ihre Tochter?« Ich ballte hart die Faust. Ich hasste sie schon jetzt. Es war nicht mein Job, Leute zu hassen, aber in diesem Fall konnte ich nichts dagegen machen. Sie trat aus ihrem Haus, als hätte sie wirklich vor, mich anzugreifen. Warum dachten Cracksüchtige immer, dass sie es mit einem aufnehmen konnten? Sie schafften höchstens einen Schlag, dann war ihre Energie verpufft. Jetzt streckte sie mir ihren Zeigefinger entgegen.

»Das ist das Problem mit euch Bullen. Immer mischt ihr euch ein, wo man euch nicht haben will.«

Ich hörte, dass Tony wieder aus dem Wagen stieg und zu uns herüberkam.

»Gibt es ein Problem, Miss?«, fragte er die Frau.

Beim Anblick meines kräftig gebauten Kollegen starb ihre Bravour einen schnellen Tod. Sie schüttelte den Kopf. »Nee, kein Problem«, beeilte sie sich zu antworten, dann ging sie in ihr Haus zurück und knallte die Tür hinter sich zu.

Tony tätschelte meine Schulter. »Gehen wir.«

Sobald wir wieder im Wagen saßen und uns angeschnallt hatten, stieß ich einen langen Seufzer aus. »Manchmal wäre ich gern ein Mann. Keiner hat Angst vor einer Frau von eins siebzig.«

»Hey, ich habe dich beim Training gesehen. Du hast die Hälfte der männlichen Kollegen auf die Matte gelegt, bevor sie auch nur blinzeln konnten. Vor dir sollten alle Angst haben«, sagte Tony und grinste.

Ich lächelte ihm zu. Es stimmte. Zweimal die Woche trainierte ich die philippinische Kampfkunst Eskrima, so blieb ich fit und konnte mich verteidigen, wenn es sei musste. Und in meinem Metier war es meistens nötig.

»Also, woher kennst du den Typen?«, fuhr Tony fort und sah zu Lees Haus zurück, während ich losfuhr.

»Meine Mitbewohnerin war mal mit seinem Bruder zusammen. Sie hat ihre Lektion gelernt.« Und er weckt Gefühle in mir, fügte mein Gewissen hinzu. Gefühle, auf die ich kein Recht habe.

Tony spitzte die Lippen und sah aus dem Fenster auf die alles andere als schöne Gegend. Ich fand schon meine eigene Wohngegend tough, aber hier war es wirklich ziemlich trostlos.

»Kann ich mir vorstellen«, sagte er. »Solche Familien bedeuten immer Probleme, Karla.«

Ich hasste es, dass er recht hatte. »Wem sagst du das«, seufzte ich, und dann fuhren wir los, um uns um einen Verkehrsunfall auf der A10 zu kümmern.

Als ich endlich Feierabend machte, dachte ich nur noch an ein schönes langes Bad und vielleicht etwas zu essen vom Chinesen. Aber leider wurden meine Träumereien von Detective Inspector Katherine Jennings unterbrochen. Wenn ein Mensch das Äquivalent dazu sein konnte, von Möwen angeschissen zu werden, dann DI Jennings. Ich prallte mit ihr zusammen, als ich aus dem Revier kam, und zwar wortwörtlich. Weil ich nämlich nur noch an den verdammten Lee Cross mit seinem attraktiven Gesicht, seinem frechen Lächeln und den forschenden Augen denken konnte.

»Herrgott noch mal, passen Sie doch auf, wo Sie hingehen, Sheehan«, blaffte sie.

Ich stand auf Katherines persönlicher Abschussliste. Es hatte irgendetwas mit einer alten Fehde zwischen ihr und meinem Dad zu tun. Sie hatten vor Jahren gemeinsam an einem Fall gearbeitet, und anscheinend hatte er sie bei einem besonders brutalen Streit eine nichtsnutzige, vertrocknete alte Fotze genannt, aber meiner Ansicht nach steckte noch mehr dahinter. Wie auch immer, dank meines lieben alten Dads verachtete sie den Boden, auf dem ich ging, und hatte als meine Vorgesetzte von Anfang an alles getan, um es mir so schwer wie möglich zu machen.

»Tut mir leid, Ma’am, nächstes Mal passe ich besser auf.« Ich sagte es ganz schlicht, ohne Sarkasmus oder Frechheit, aber Katherine hatte ein Talent dafür, Aggressionen zu entdecken, wo keine waren.

»Noch einmal in diesem Ton, Constable, und ich lasse Sie in ein Drecksloch am Arsch der Welt versetzen, bevor Sie auch nur Zeit haben, sich bei Ihrem Daddy auszuheulen.«

Ich hatte mich kein einziges Mal in meinem Leben ›bei meinem Daddy ausgeheult‹, aber sollte sie eben das letzte Wort haben. Es war die einzige Möglichkeit, nicht noch mehr von ihrem Zorn auf mich zu lenken. Ich nickte und schluckte meinen Ärger hinunter, drehte mich still auf dem Absatz um und ging weiter.

Als ich zu Hause ankam, fand ich Alexis mit dem Gesicht nach unten auf dem Sofa liegend, während im Fernsehen eine Soap lief. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder mir Sorgen machen sollte. Diese Trübsal war bei ihr praktisch Dauerzustand, seit die Liebe ihres Lebens vom Erdboden verschwunden war. Um es kurz zu machen, sie hatte eine Affäre mit ihrem Boss gehabt, und er hatte sich aus dem Staub gemacht, nachdem er seinen eigenen Vater krankenhausreif geschlagen und ihn fast umgebracht hatte.

Man konnte nicht sagen, dass wir hier ein ereignisarmes Leben führten.

»Mann, das Sofa muss ja toll riechen«, kommentierte ich trocken und stellte die Tüte vom Chinesen auf den Couchtisch. »Darf ich auch mal? Gibt doch nichts Schöneres, als mal wieder ordentlich an der Couch zu schnüffeln.«

»Ich rieche nicht am Sofa«, jammerte Alexis, setzte sich auf und warf mir einen bösen Blick zu. »Ich habe versucht, mein Gefühl von abgrundtiefer Einsamkeit und Verzweiflung auszudrücken. Du weißt schon, wie Performance-Kunst, bloß mieser.«

Ich lachte und drückte ihr leicht die Schulter. Ihr Herz war in diesen letzten Monaten schlimm durch die Mangel gedreht worden, und ich konnte nachvollziehen, wie sie sich fühlte. »Aber mal im Ernst, wie geht’s dir?«

»Scheiße, wie immer.«

»Ich habe an dir immer deine Ehrlichkeit geliebt, weißt du das?«

Ihr Blick wanderte zur Tüte, der Anblick entlockte ihr den Anflug eines Lächelns.

»Und ich habe an dir immer geliebt, dass du so spitze bist und nach deiner Schicht was zu essen mitbringt. Darf ich?«

»Hau rein.«

Sie nahm die Tüte, brachte sie in die Küche, holte Teller heraus und verteilte die gebratenen Nudeln. Ich trat mir die Stiefel von den Füßen und ging in mein Schlafzimmer, um mir die Uniform auszuziehen. Als ich zurückkam, saß Alexis wieder auf der Couch, stürzte sich auf ihr Essen und hatte mir einen vollen Teller hingestellt.

»Und, wie war’s auf der Arbeit?«, fragte sie zwischen zwei Bissen.

»Alles bestens, bis ich im Gehen mit DI Jennings zusammengeprallt bin. Ich schwöre, so wie sie saugt mir niemand die Lebensfreude aus.« Ich beschloss, Alexis nichts von meiner Begegnung mit Lee zu erzählen, und war mir selbst nicht ganz sicher, warum.

Sie hob die Gabel in die Luft und stieß einen langen Seufzer aus. »Ich sage dir, Karla, du musst die Schlampe wegklicken. Sonst triezt sie dich nur immer weiter, bis du explodierst, und dann hat sie einen echten Grund, dich zu feuern.«

Ich starrte sie an. »Sie wegklicken?«

Sie starrte zurück. »Du weißt schon, wie im Computer.«


Ich konnte ein Kichern nicht unterdrücken. »Ich weiß, was ›wegklicken‹ bedeutet, Lexie. Ich habe es bloß noch nie in diesem Kontext gehört.«

»Na, jetzt hast du’s gehört. Klick sie weg. Du hast nie irgendwas gemacht, um ihr Benehmen zu rechtfertigen, und es geht mir auf die Titten, dass du das einfach so mit dir machen lässt. Meine Freunde lassen sich keinen Scheiß gefallen.«

Ich kicherte noch mehr.

Sie kniff die Augen zusammen.

Ich seufzte. »Sieh mal, ich verstehe, was du meinst, aber ich glaube, mein Dad hat ihr mal irgendwas ganz Schlimmes angetan, von dem niemand weiß. Das würde ich ihm wirklich zutrauen. Ich meine, sie ist auch bei den anderen kein Sonnenschein, aber mir gegenüber ist das echter Hass. So giftig ist man nicht ohne guten Grund.«

»Du solltest mal deinen Dad fragen. Wäre gut, wenn das endlich mal offen auf den Tisch kommt.«

»Ähm, hast du meinen Vater in letzter Zeit getroffen? Er ist nicht direkt der Typ für vertrauensvolle Gespräche.«

Alexis runzelte die Stirn, warf mir einen verständnisvollen Blick zu, und wir aßen in einträchtigem Schweigen fertig. Als ich mir später ein Bad einlaufen ließ, um mich mal wieder ausgiebig in der Wanne zu entspannen, dachte ich immer noch an Dad. Meine Eltern waren beide in Nordbelfast geboren und aufgewachsen, auf dem Höhepunkt des Nordirlandkonflikts. Und als Protestant im Nordirland der 1960er und 70er hatte man kein harmonisches Leben. Mein Dad arbeitete für die Polizei von Nordirland, bis ihm Mitte der 80er ein Job bei der Metropolitan Police hier in London angeboten wurde. Ich wurde etwa zwei Jahre nach dem Umzug geboren, als einziges Kind eines Paars mit sehr asymmetrischer Machtdynamik.

Mein Vater war eins fünfundneunzig, schlank und zäh, mit braunem Haar und blauen Augen. Meine Mutter war nur knapp über eins fünfzig, klein und ängstlich, mit rotem Haar und braunen Augen. Mit meinen eins siebzig, rotem Haar und blauen Augen, hart im Nehmen, aber feinfühlig, war ich ein ausgewogener Mix aus beiden.

Meine Mutter ließ sich von meinem Vater schikanieren, und das Traurige war, dass sie anscheinend damit zufrieden war, immer so weiterzumachen. Ich konnte mich an keine Zeit erinnern, zu der ich sein wollte wie sie. Und erst recht an keine, zu der ich wie mein Dad sein wollte. Ich weiß, das klingt lustig, denn offenbar bin ich ja in seine Fußstapfen getreten und zur Polizei gegangen. Aber die Sache ist: Ich bin nicht zur Polizei gegangen, um ihm zu gefallen. Sondern weil ich Leuten helfen wollte, und sogar noch mehr, um ihm zu beweisen, dass er unrecht hatte.

Als Kind war ich ein halber Junge. Meine Idole waren Figuren wie Sarah Connor und Ellen Ripley, und trotzdem musste ich jeden Tag herumsitzen und mir anhören, dass mein Dad Sachen sagte wie: Frauen haben bei der Truppe nichts zu suchen, sie sind zu willensschwach. Wozu braucht man Polizistinnen? Wie wollen sie kräftemäßig einen Mann überwältigen?

Gleichzeitig musste ich damit umgehen, dass er mich und Mum ständig kritisierte, und irgendwie verwandelte sich das bei mir in das tief sitzende Bedürfnis, alles zu tun, um meinen Wert zu beweisen. Das einzige Problem dabei war: Katherine Jennings konnte mich auf den Tod nicht ausstehen, und solange das so war, würde ich es nie zum Sergeant schaffen. Sieben Jahre bei der Truppe, und immer noch war ich nur ein kleiner Constable. Natürlich war Dad ganz aus dem Häuschen vor Freude, dass ich es nie zu einer Beförderung gebracht hatte. Es bewies ihm, dass er recht hatte.

Jedes Mal, wenn ich meine Eltern zum Abendessen besuchte, musste ich mir anhören, wie er sich darüber ausließ, dass ich doch einfach meinen Job kündigen und etwas weniger Gefährliches machen sollte, einen Frauenberuf wie zum Beispiel Kellnerin oder Floristin. Irgendwann demnächst würde ich die wütende Tirade, die sich seit Jahren in mir aufstaute, nicht mehr zurückhalten können. Eines Tages würde alles aus mir herausbrechen.

Ich holte tief Luft, ließ mich ins Schaumbad sinken und versuchte, mich von meinen Gedanken an meinen Vater zu befreien und an etwas Entspannenderes zu denken. Prompt blitzte Lees Gesicht wieder vor mir auf und versetzte mich auf ganz andere Art in Aufregung. Vom Regen in die Traufe. Unwillkürlich entfuhr mir ein kleines Lachen, weil ich mir vorstellte, wie mein Vater schauen würde, wenn ich Lee eines Tages zum Abendessen mitbrachte. Das wäre es fast wert. Nur um sein Gesicht zu sehen und die pulsierende Ader an seiner Stirn, die immer aussah wie der Vesuv kurz vor dem Ausbruch.

Ich schloss die Augen, tauchte mit dem Kopf unter Wasser und erinnerte mich daran, wie ich Lee zum ersten Mal getroffen hatte.

»Hast du einen Freund?«, hatte er gefragt, die Hände lässig auf das Metallende meines Einkaufswagens gestützt. Er hatte einen wirklich intensiven Blick, und das Muskelspiel an seinen Unterarmen war faszinierend.

»Geht dich gar nichts an«, hatte ich geantwortet und versucht, mich auf die Waren vor mir im Regal zu konzentrieren.

»Du benimmst dich, als hättest du einen. Oder sind alle Cops so verklemmt?«

Mir entfuhr ein kleines Lachen. »Hör mal, du bist total auf dem Holzweg, und ich muss einkaufen, also lass mich bitte in Ruhe, okay?«

Er lehnte sich ein Stück näher heran. »Wie lange kennst du Alexis? Sie hat dich nie erwähnt, als sie und Stu zusammen waren.«

Ich hob eine Braue. »Hm, warum wohl? Leuten wie dir erzählt man im Allgemeinen nicht, dass man Freunde bei den Strafvollzugsbehörden hat.«

Sofort tat es mir leid, wie voreingenommen ich klang, aber es war die Wahrheit. Lee stand die Kategorie »zwielichtig« ins Gesicht geschrieben, von den Tattoos zu dem oberschlauen Schimmer in seinen Augen. Typen wie er waren mir schon begegnet, normalerweise bei der Arbeit. Sie klauten einem Geldbeutel und Telefon aus der Tasche und waren über alle Berge, bevor man auch nur merkte, dass man um ein paar hundert Mäuse erleichtert worden war.

Sein Lächeln stand im Widerspruch zu der plötzlichen Härte in seinem Gesicht. »Leuten wie mir?«

»Tut mir leid, ich hätte das nicht sagen sollen. Ich kenne dich schließlich nicht.«

»Stimmt, tust du nicht.«

»Und will es auch nicht.«

Er ließ den Einkaufswagen los, kam zu mir herüber und flüsterte: »Wir wissen beide, dass das nicht stimmt.« Ich sah mit gesenktem Kopf zu ihm auf und atmete abrupt ein, weil er mir so nah kam. Er roch nach Zigaretten und Aftershave, und plötzlich wurde mir klar, dass ich seine körperliche Nähe genoss. Ich trat zurück und riet ihm mit einem intensiven Blick, sein Glück nicht herauszufordern. Er nahm die Warnung nicht ernst. Stattdessen streckte er die Hand aus und zog eine meiner Haarsträhnen zwischen seine Finger.

»Ich liebe dieses Haar, verdammt. Du bist wunderschön. Geh mit mir aus.«

Aha, er war also einer von den Männern, die auf Rothaarige standen. Bevor ich antworten konnte, rettete mich Alexis, die hinter Lee trat und ihm frech auf den Hintern haute. Gott, sie war so toll. Manchmal war es einfach herrlich, eine Freundin zu haben, die genau wusste, wann Rettung vonnöten war.

Ich hob den Kopf aus dem Wasser, atmete tief ein und versuchte, meine Gedanken an Lee abzuschütteln. An einen Mann zu denken, den ich niemals haben konnte, war Zeitverschwendung.

 

2

»Hat sich mit der eigenen Ware zugedröhnt. Typisch«, spöttelte mein Kollege Steve. Er meinte einen Dealer, den er am Vortag verhaftet hatte.

Ich war von Steve nicht allzu angetan, vor allem, weil er es von sich selbst so war und mir sein Alphamännchen-Getue ziemlich auf die Nerven ging. Es war Samstagmorgen, und ich war mit ihm, Tony und Keira, auch einer Constable, vor dem Fußballstadion Upton Park stationiert, wo Arsenal und Spurs gegeneinander antreten würden.

Wir waren vor allem zur Massenkontrolle da, aber auch wegen der alten Rivalität der beiden Mannschaften, was bedeutete, dass es nach dem Spiel zu Ausschreitungen kommen konnte. Fußballkrawalle waren eines meiner Lieblingsärgernisse. Diese Typen würden sich prügeln, bis sie einander ernsthaft verletzten, und alles nur wegen einer vermeintlichen Feindschaft zwischen den Mannschaften. Es war lächerlich.

»Kann ja nicht sonderlich schwer gewesen sein, ihn zu verhaften, wenn er high war«, sagte ich, um Steve einen Dämpfer zu verpassen. Meine streitlustige Seite habe ich von meinem Dad geerbt. Sie war natürlich ein Manko, aber dazu konnte ich wenigstens stehen.

Mein Kollege sah mich an, sauer über meine Bemerkung. »Er war auf Koks, Karla. Hattest du je mit einem Kokser zu tun, gleich nachdem er sich ein paar Linien reingezogen hat? Das sind Verrückte, verdammt.«

»Sie hatte schon mit einer Menge von denen zu tun«, bemerkte Tony ruhig, und ich wusste, dass er versuchte, jeden Hickhack zwischen Steve und mir präventiv zu entschärfen, ganz der Vater der Gruppe. »Das haben wir alle. Samstagnacht auf Streife ist kein Zuckerschlecken.«

»Stimmt«, sagte Keira und gähnte. Sie hatte letzte Nacht Spätschicht gehabt, und ich konnte sehen, dass sie erschöpft war. Ich hätte ihr gern den Vormittag freigegeben, aber das Stadion war brechend voll, und wir brauchten alle Mann an Deck.

Wir waren in der Nähe des Eingangs postiert, bei der Warteschlange der Arsenal-Fans, ein Meer aus roten und weißen Trikots. Ich war auf Autopilot und suchte in der Menge nach irgendwelchen Anzeichen für Störungen, als ich ein bekanntes Gesicht sah. Der Hausbesuch bei ihm lag über zwei Wochen zurück, und ich hätte wirklich keine Schmetterlinge im Bauch haben sollen, aber anscheinend war ich machtlos dagegen.

Lee Cross und sein Bruder Stu gingen auf das Stadion zu. Sie waren beide die Sorte Männer, die Aufmerksamkeit forderten, also war es keine allzu große Überraschung, dass sie mir sofort auffielen. Direkt hinter ihnen waren ihre beiden anderen Brüder, Liam und Trevor. Liam war der jüngste, eine jüngere Version von Lee mit Milchgesicht. Trevor war der Zweitjüngste, und er war hübscher als die Hälfte der Mädchen, die ich kannte. Stu, mit dem Alexis zusammen gewesen war, war der Älteste und sah auf eine ruppige Art gut aus.

Bevor ich darüber nachdenken konnte, waren meine Füße schon unterwegs. Ich schaffte es, um Lee herumzugehen, und steuerte Trevor an.

»Entschuldigen Sie einen Moment, Sir, aber kann ich Sie kurz sprechen?«, fragte ich und streckte die Hand aus. Er blieb stehen und musterte mich genau, so als kenne er mein Gesicht, könnte aber nicht genau einordnen, wo er mich schon mal gesehen hatte. Als er meine Uniform bemerkte, wusste er es wieder und machte große Augen. Trotzdem bekam er keine Angst und warf mir stattdessen ein strahlendes Lächeln zu. Er trat aus der Reihe, und Liam sah mich mit gehobener Braue an.

»Natürlich, Constable, was kann ich für Sie tun?« Trevors blaue Augen funkelten vergnügt.

War das ein Spiel für ihn? Plötzlich stellten sich die kleinen Härchen in meinem Nacken auf, als folgten sie einem unheimlichen sechsten Sinn. Ich blickte kurz hinter mich und sah, dass Lee mit Stu nur etwa einen Meter hinter mir stand.

»Gibt’s ein Problem, Snap?«

Ich schluckte, meine Lider flatterten nervös. Was zum Teufel war bloß mit mir los? Ich wurde bei der Arbeit sonst nie so nervös. Es lag an Lee, er hatte eine seltsame Wirkung auf mich. Aus irgendeinem Grund wurde ich rot, gleichzeitig biss ich die Zähne zusammen. Der kleine Spitzname, den er mir verpasst hatte, fing wirklich an, mir auf die Nerven zu gehen. Ich ignorierte ihn und drehte mich wieder zu Trevor um.

»Können Sie sich erinnern, wo Sie sich vor zwei Wochen, am Freitag, dem 21., zwischen siebzehn Uhr und siebzehn Uhr dreißig aufgehalten haben?«

Er kratzte sich am Kinn, als müsste er wirklich darüber nachdenken. Ich hatte mit dem Zeitungshändler gesprochen, vor dessen Laden der fragliche Wagen, den er stehlen wollte, gestanden hatte. Außerdem hatte ich die Videos ihrer Überwachungskamera angefordert, aber er war genau in ihrem toten Winkel gewesen, und ich wusste, dass das kein Zufall war.

»Schwer, sich an einen genauen Zeitpunkt zu erinnern, wissen Sie?«, sagte Trevor, und dann trat Stu vor, den Mund feindselig verzogen.

»Bei mir in der Werkstatt warst du, Bruder, weißt du nicht mehr?«

»Ach ja, genau. Da war ich. In der Werkstatt.« Trevor nickte.

Ich sah zwischen den beiden hin und her, und immer noch war mir überdeutlich bewusst, dass Lee hinter mir stand. Er konnte mir das Gefühl geben, als durchschaue er mich vollkommen und spüre genau, wie unwohl ich mich unter seinem Blick fühlte. Der Gedanke machte mich nur umso entschlossener, seine Brüder nicht mit dieser unverfrorenen Lüge davonkommen zu lassen. Aber ich hätte wissen müssen, dass einer von ihnen Trevor ein Alibi geben würde.

»Kann das noch jemand bestätigen? Haben Sie noch andere Mitarbeiter in der Werkstatt?«

»Klar. Jetzt am Wochenende haben wir geschlossen, aber komm am Montag vorbei, und wir lassen dich mit ein paar von den Jungs reden«, sagte Lee und stellte sich neben mich. Ich atmete ein und versuchte, die Kontrolle zu behalten. Was nicht einfach war, da ich von den Cross-Brüdern umgeben inmitten einer Menge von Fußballfans stand. Schließlich gestattete ich mir, Lee in die Augen zu sehen. Sein Blick ließ mich schwer schlucken.

»Ja, äh, mache ich«, antwortete ich etwas verdattert und sah dann wieder zu Trevor und Stu. »Viel Spaß noch beim Spiel.«

Während ich ging, rief Stu mir nach: »Danke, und sag Lexie, dass ich nach ihr gefragt habe.«

Ich widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen, und nickte ihm kurz zu. Stu sah umwerfend gut aus, aber seine Versuche, Alexis zurückzugewinnen, waren aussichtslos. Ihr Herz gehörte einem anderen. Lees Schulter streifte meine, als er sich umdrehte, um seinen Brüdern zu folgen, und ich hätte beim besten Willen nicht erklären können, warum, aber ich streckte die Hand aus und packte ihn am Handgelenk.

Steve, Tony und Keira waren nur ein paar Meter von uns entfernt, aber das Gelände war so voller Menschen, dass sie nicht sehen konnten, dass ich ihn berührte. Er blickte auf meine Finger hinunter, dann hob er den Blick und wirkte fasziniert.

»Kann ich dich mal eine Sekunde sprechen?«

Ich atmete schwer, als sein Daumen langsam über meine Handfläche strich und dann sanft an der Innenseite meines Handgelenks rieb. Ich riss die Hand zurück, als hätte ich mich verbrannt, und sah, dass seine Lippen amüsiert zuckten.

»Was ist, Snap?«, flüsterte er.

»Ich, äh, ich …« Herr im Himmel, war ich stumm geworden?

»Karla«, sagte Lee, und er klang besorgt. »Alles in Ordnung?«

Ich wurde rot, ohne etwas dagegen tun zu können, und nahm meine ganze Entschlossenheit zusammen. »Ja, alles bestens. Ich möchte dich nur bitten, mit diesem Spitznamen aufzuhören. Er suggeriert eine Vertrautheit, die es zwischen uns nicht gibt, und untergräbt meine Position als Polizeibeamtin. Ich habe das Gefühl, dass es dir dabei genau darum geht, und ehrlich gesagt ist es herablassend.«

Ich schob das Kinn vor und sah ihm direkt in die Augen. Seine Miene wurde weicher.

»Wenn es so rüberkommt, tut es mir leid. Aber ich nenne dich nicht Snap, um herablassend zu sein – sondern weil ich dich mag.«

Verdammt, warum musste ich seine Ehrlichkeit nur so entwaffnend finden? Er sah aus, als wollte er mich wieder berühren, weshalb ich das dringende Bedürfnis hatte, das Ganze schnell hinter mich zu bringen. Ich sah ihn nicht direkt an, sondern blickte irgendwo auf seine Schultern, als ich fortfuhr: »Wie auch immer, das andere, worüber ich mit dir reden wollte, ist Trevor. Wenn er lügt – und ich bin nicht blöd, Lee, er und Stu lügen ganz eindeutig –, dann könnte er großen Ärger kriegen. Er scheint mir ein guter Junge zu sein, aber du musst ihm beibringen, sich klüger zu verhalten. Und ich meine das nicht herzlos, es ist nur die Wahrheit: Ein Junge, der so aussieht, im Gefängnis? Das würde kein gutes Ende nehmen.«

Schließlich gelang es mir, ihm in die Augen zu blicken, und ich war verblüfft. Eine Sekunde lang wirkte Lee schuldbewusst, sein Gesicht von Reue erfüllt, doch dann wich sie einem anderen Gefühl, das sehr nach Wut aussah. Er holte tief Luft und fuhr sich über den Kiefer.

»Sind wir hier fertig?«, fragte er knapp.

Ich nickte nüchtern, und er drehte sich um und ging. Es war lächerlich, dass ich mich mies fühlte. Irgendjemand musste Lee daran erinnern, wie seine Familie lebte und wo genau das enden würde.

Als ich wieder zu den anderen zurückging, merkte ich, dass Steve in die Richtung sah, in die Lee verschwunden war.

»Waren das die Cross-Jungs, mit denen du da geredet hast?«, fragte er neugierig.

Ich sah zu ihm hinüber. »Mhm.«

»Was haben sie dieses Mal angestellt?«

Tony antwortete für mich. »Karla und ich hatten vor ein paar Wochen einen Zusammenstoß mit einem von ihnen. Haben ihn erwischt, wie er ein Auto klauen wollte. Aber wir konnten ihn nicht fassen.«

Steve lachte verächtlich. »Wundert mich nicht.« Er hielt inne und musterte mich. »Siehst du die beiden jüngeren? Die schnappst du nie. Nicht zu Fuß jedenfalls. Die kleinen Scheißkerle machen Free Running, die sind eine halbe Gebäudefassade runter, bevor ihr auch nur stehen bleiben und verschnaufen könnt.«

»Im Ernst?«, fragte Tony.

Mir schwirrte der Kopf, als ich mich daran erinnerte, wie Trevor über eine drei Meter hohe Mauer gesprungen war, als wäre es nichts. Also war er das definitiv gewesen. Tony und ich sahen einander kurz an, zwischen uns herrschte stilles Einverständnis, und meine Entschlossenheit kehrte zurück. Vielleicht würde ich Lees Werkstatt am Montag wirklich einen Besuch abstatten. Es konnte nicht so schwer sein, einen seiner Angestellten bei einer Lüge zu ertappen.

Versteht mich nicht falsch – mir ging es nicht darum, Trevor in eine Gefängniszelle zu stecken. Vielmehr dachte ich, es könnte ihn abschrecken und auf den Pfad des Gesetzes zurückführen.

Sobald die Menschenmassen sich verlaufen hatten und alle im Stadion waren, gingen Keira und ich uns Kaffee und Sandwiches für eine frühe Mittagspause holen. Danach gab es während des Spiels einige Zwischenfälle, um die wir uns kümmern mussten, vor allem Betrunkene und ordnungswidriges Verhalten. Sport plus Alkohol ergab meistens eine Menge randalierende Idioten.

Das Spiel endete 3:1 für die Spurs, was bedeutete, dass eine Menge stinksaure Arsenal-Fans in unsere Richtung kamen, darunter Lee und seine Brüder. Wir leiteten die Menge so um, dass sich die Fans der gegnerischen Mannschaften nicht begegneten. Unglücklicherweise schaffte es eine Gruppe Spurs-Fans, die nicht in der Schlange warten wollten, über eine Absperrung zu springen. Ehe wir uns versahen, waren sie drüben bei den Arsenal-Fans.

Ich hatte als Polizistin schon eine Menge Krawalle mitgemacht, aber noch nie wirklich den Augenblick beobachtet, der alles auslöste. Es war verblüffend, wie ein so kleiner Anlass zu solchem Chaos führen konnte. Ein Typ im Spurs-Trikot prallte gegen einen Arsenal-Fan, ein hitziger Wortwechsel folgte, und ehe ich mich’s versah, prügelten sie sich. Ich sah nach links und rechts, aber Keira und Steve waren zu weit fort. Das würde ich allein übernehmen müssen.

Instinktiv griff ich nach meinem Schlagstock; ich würde nicht zögern, ihn zu benutzen, wenn es wirklich sein musste. In solchen Momenten wünschte ich mir sehr, dass britische Polizisten Schusswaffen trugen. Die Leute wichen in der Regel zurück, wenn man eine Waffe auf sie richtete. Wir hatten bewaffnete Einheiten, aber Streifenpolizisten trugen nur einen ausziehbaren Schlagstock, Tränengas und einen Elektroschocker. Ich versuchte, CS-Spray und Taser nur einzusetzen, wenn unbedingt nötig, und meistens genügte der Anblick meines Schlagstocks, um die Leute in Schach zu halten.

Das Problem in dieser speziellen Situation war der Alkohol.

Beide Männer waren wütende Betrunkene der schlimmsten Sorte, und ich wusste, dass ich gleich eine Schlägerei an der Backe haben würde.

»He! Das reicht, Leute«, rief ich, als der eine Mann dem anderen einen linken Haken gegen die Kinnlade verpasste. Um sie herum begann sich eine Menge zu bilden und feuerte sie an. Ich zückte meinen Schlagstock, und ein Schaulustiger links von mir pfiff leise. Jetzt kam mir mein Kampfsporttraining zugute, denn ein Schlagstock hat in etwa dieselbe Länge wie ein Eskrima-Stock. Es war zwar nicht gerade ethisch einwandfrei, aber bis zu einem gewissen Grad konnte man die Techniken anpassen.

»Auseinander, sofort. Das ist die letzte Warnung«, schrie ich im Befehlston. Als keiner von ihnen reagierte, begann ich mich zu nähern. Jemand legte mir die Hand auf die Schulter, und ich drehte mich rasch um. Tony stand hinter mir.

»Lass mich helfen«, sagte er, und ich nickte und ließ ihn vor. Er packte den einen Typen und drehte ihm den Arm auf den Rücken. Tony schaffte es, ihn zu bändigen, während ich mich auf den anderen stürzte. Dann ließ ich meinen Schlagstock wieder zurückgleiten und zog die Handschellen heraus.

»Hände über den Kopf«, befahl ich und machte den Fehler, seine Schulter zu berühren. Er interpretierte es als Angriff, zu betrunken, um zu erkennen, dass ich Polizistin war, und holte aus. Zum Glück konnte ich mich ducken und dem Schlag ausweichen. Als er sah, dass er nicht getroffen hatte, schlug er noch einmal zu, aber ich war schneller. Ich wich zur Seite aus, packte seinen anderen Arm und drehte ihn fest auf den Rücken.

»Du verdammte Schlampe«, lallte er und wollte sich freikämpfen.

»He«, rief Tony. »Tun Sie, was die Constable Ihnen sagt.«

»Verpisst euch!«, fauchte der Betrunkene, als ich ihm Handschellen anlegte.

»Hör auf, dich aufzuführen wie ein Trottel«, bemerkte ein Zuschauer. Was es nicht besser machte.

Der Betrunkene wollte sich wutentbrannt auf ihn stürzen. Ich war vorübergehend abgelenkt, und er riss sich von mir los. Immer noch in Handschellen, stürzte er sich nach vorne und verpasste dem Mann einen Kopfstoß, und der streckte die Hände aus, um sich zu verteidigen. Ein paar Leute versuchten das Handgemenge zu beenden, wodurch es aber nur noch schlimmer wurde. Bald stand ich mitten in einem Krawall und konnte Tony nirgends mehr sehen. Mein Puls beschleunigte sich, meine Handflächen wurden schweißnass. Wie zum Teufel war das nur so schnell eskaliert?

Überall schienen Körper zu sein, und bevor ich reagieren konnte, rannte jemand in mich hinein. Ich fing mich gerade noch, bevor ich hingefallen wäre, zückte meinen Schlagstock und erteilte mehreren Randalierern eine Unterlassungsaufforderung. Die Sache war nur, ich war allein, sie waren Dutzende, und sie ignorierten meine Anweisungen völlig. Ich näherte mich zwei Männern, beide Mitte zwanzig, den Schlagstock einsatzbereit. Ich schrie ihnen eine Warnung zu, aber keiner von ihnen reagierte, also gab ich dem einen kontrollierten Schlag aufs Schienbein. Sofort griff er mich an.

»Auf den Boden«, befahl ich, als er nach dem Schlagstock griff. Ich trat ihm in den Bauch, und er krümmte sich, seine Knie schlugen auf den Asphalt. Gerade als ich mein zweites Paar Handschellen herausziehen und ihn verhaften wollte, kam eine Glasflasche angeflogen und traf mich voll an der Stirn.

»Scheiße«, fluchte ich, mir wurde schwindlig, und ich sah, wie der Mann nach vorne kroch, um mir meinen Schlagstock zu klauen. Doch bevor er sich damit davonmachen konnte, rammte ihm jemand den Fuß gegen das Handgelenk, und ich hörte eine drohende Stimme: »Lass den Stock fallen und verpiss dich.«

Ich sah auf, und da war Lee, aber ich war zu sehr damit beschäftigt, meine Fassung wiederzugewinnen. Eine Sekunde später stand er vor mir, die Hände an meinem Gesicht.

»Karla, bist du okay?«

»Ich bin … in Ordnung«, sagte ich, als er mir einen Arm um die Hüfte legte und mich nach vorne zog.

»Nein, bist du nicht. Komm, ich bring dich hier raus. Hier ist es nicht sicher.«

Ich wollte entschieden protestieren, aber mein Kopf schmerzte zu sehr. Ich spürte Lees Körper, er wärmte mir die Knochen. Immer wieder sah er mich besorgt an, während er mich von den Ausschreitungen wegführte. Sekunden später stand ich in einer schmalen Tür, und er drängte mich hinein. Ich sackte mit vollem Gewicht gegen die Wand, er zog ein Papiertaschentuch aus der Tasche und fing an, an der Schnittwunde an meiner Stirn herumzutupfen.

Er murmelte wütend in sich hinein, aber ich war zu verpeilt, um zu hören, was er sagte.

»Wo ist Tony?«, gelang es mir schließlich mit unsicherer Stimme zu fragen.

Lees Hand hielt inne. »Der große Mistkerl? Hab ihn nicht gesehen.«

Ich versuchte, ihn zur Seite zu stoßen. »Ich muss zurück und helfen.«

Er blieb stehen, die Hände auf meinen Schultern. »Du bist verletzt, so bist du keine große Hilfe. Jetzt halte still, damit ich dich säubern kann.«

Ich atmete tief durch. So nah waren wir uns wahrscheinlich noch nie gewesen, und ich ertappte mich dabei, wie ich sein Gesicht musterte. Er konzentrierte sich darauf, mir das Blut von der Stirn zu tupfen, also konnte ich ihn mir genau ansehen. Gott, sah er gut aus. Sein Gesicht hatte etwas Hartes, und ich spürte den seltsamen Drang, mit den Fingern über die Falte zwischen seinen Brauen zu streichen. Es schien, als machte er sich Sorgen um mich, und wieder fingen die Schmetterlinge in meinem Bauch an zu flattern.

Ich musterte seinen starken Kiefer, die markanten Wangenknochen und maskulinen Lippen. Dann sah ich auf und merkte, dass er mich dabei beobachtete. Diese Lippen, die ich eben erst angestarrt hatte, krümmten sich jetzt zu einem Lächeln. Er kam mir immer näher, seine Körperwärme umgab mich, und gegen meinen Willen zitterte ich.

»Ach Snap, was wird das nur mit uns?«, flüsterte er mir direkt ins Ohr, und ich wurde rot, als sein Atem meine Haut traf. Wie er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen mich drückte, war nicht unangenehm.

Leute brüllten und Glas splitterte, aber irgendwie schien Lees Präsenz alle Geräusche zu dämpfen. Alles, was ich hören konnte, waren sein Atem und mein eigener. Alles, was ich riechen konnte, waren seine Seife und sein Aftershave. Er hob die Finger an meinen Hals, aber mein Kragen war hochgeschlossen und gab nicht viel Haut frei. Trotzdem brannte ich überall lichterloh, wo er mich berührte.

»Ist dir schwindlig oder schlecht?«, fragte er, und ich schüttelte den Kopf. Gehirnerschütterungen hatte ich oft genug gehabt, um zu wissen, dass das eben keine war. Wir sahen einander an, und ich war nicht ganz sicher, wie viel Zeit vergangen war, als er wieder eine Frage stellte.

»Woher hast du gewusst, wo ich wohne?«

»Was?«

»Vor ein paar Wochen bist du bei mir vorbeigekommen. Woher hast du gewusst, wo ich wohne?«

Ich versuchte, mir eine Antwort einfallen zu lassen, die am wenigsten peinlich war, denn die Wahrheit war, dass ich ihm nachspioniert hatte. »Alle deine Brüder sind vorbestraft, Lee. Und Stu hatte sechs Monate Jugendhaft in Feltham. Eure Adresse ist bei uns im System.«

»Ja, aber du hast nachgeschaut, nicht?« Jetzt lächelte er wieder.

»Korrekt. Ich habe nachgeschaut, nachdem ich deinen Bruder bei einem versuchten Autodiebstahl ertappt habe«, erwiderte ich spitz.

Er hob eine Braue, als glaubte er mir nicht. »Du bist eine ganz Fixe, was?«

Meine Kehle wurde trocken. »Das ist nur ein Anruf an die Zentrale.«

Er rieb seine Brust an meiner, ich konnte es sogar durch die Stichschutzweste spüren. »Und wie hast du Trevor erkannt? Du bist ihm vorher nie begegnet.«

Himmel, war das ein Verhör? »Er hat deine Augen«, platzte ich heraus, ohne zu überlegen.

Das gab Lee zu denken, und ein langes Schweigen breitete sich zwischen uns aus. Sein Blick suchte meinen. »Ganz schöner Aufwand für einen, den du nicht kennen willst«, meinte er schließlich und zitierte damit, was ich bei unserer allerersten Begegnung zu ihm gesagt hatte.

»Lee«, flehte ich und wünschte mir verzweifelt, dass er zurücktrat und mich gehen ließ. »Du bist zu jung für mich.«

»Karla, ich bin perfekt für dich«, konterte er, und dann senkte er den Kopf und streifte meine Lippen leicht mit seinen. Eigentlich war es kaum der Rede wert, und doch erwachte jedes Nervenende in meinem Körper zum Leben. Gerade als sein Mund sich wieder auf meinen senken wollte, grub ich ihm meinen Absatz in den Knöchel. Er knurrte und zuckte zurück, sodass ich genug Platz hatte, um an ihm vorbeizukommen. Weit kam ich nicht. Kaum war ich drei Schritte gegangen, hielt Lee mich am Arm fest und zog mich an sich, meinen Rücken an seine Vorderseite.

»Keine gute Idee, was du da eben gemacht hast«, flüsterte er rau.

In seiner Stimme lag eine unverkennbare Drohung, und mich durchfuhr ein Frösteln. Der spielerische Flirt war verschwunden, wieder einmal wurde ich daran erinnert, dass dieser Mann gefährlich war.

»Hände weg, sofort, oder ich verhafte dich«, befahl ich rau.

Sekunden verstrichen, während er offenbar überlegte, was er tun sollte. Dann ließ er mich los, aber nicht, ohne ein letzte Erklärung abzugeben. »Eines Tages, Karla, wirst du verstehen, dass es nie ein Fehler ist, wenn ich dich anfasse.«

Meine Haut prickelte. Ich brauchte einen Augenblick, um seine Worte zu verdauen, aber als ich mich umdrehte, war er schon fort.

Sobald ich nach meiner Begegnung mit Lee wieder halbwegs klar denken konnte, rief ich Verstärkung. Eine Stunde später hatten wir die Ausschreitungen unter Kontrolle, mehrere Leute waren verhaftet worden, und die übrigen hatten das Stadion verlassen. Meine Stirnwunde war nur oberflächlich, also war ich dank Lees Säuberung trotzdem in der Lage, meine Schicht zu beenden. Es war schwer begreiflich, dass er mir geholfen hatte, aber ich sagte mir, dass das alles nur Show war. Er wollte nur mal eine Polizistin aufreißen, um anschließend bei seinen Kumpels anzugeben.

An diesem Abend kam ich gerade aus dem Umkleideraum, als ich jemand fragen hörte: »Scheiße, was ist mit dir passiert?«

Beim Klang dieser Stimme zuckte ich zusammen. Es war Gavin, mein Ex. Normalerweise gab ich mir Mühe, ihm aus dem Weg zu gehen, und in den zehn Monaten seit unserer Trennung war es mir gelungen, unsere Begegnungen auf das absolute Minimum zu reduzieren. Gavin arbeitete für die bewaffnete Einheit, und sein Job gehörte zum gefährlichen Ende des Spektrums, während meine täglichen Streife normalerweise weniger abenteuerlich war. Das heute war eine Ausnahme.

»Ich war bei Upton Park stationiert. Ich nehme an, du hast von den Ausschreitungen gehört«, sagte ich, ging an ihm vorbei und hoffte, er würde nicht versuchen, das Gespräch auszudehnen. Für mich gab es zwei Kategorien von Männern, die zur Polizei gingen. Einerseits den wohlmeinenden Familienvater wie Tony, der nur die Straßen für seine jungen Töchter sicherer machen wollte. Zweitens gab es den Borderline-Soziopathen wie Steve, und dann noch Leute wie meinen Dad, die zur Truppe kamen, um Macht über andere Menschen auszuüben.

Gavin fiel in die zweite Kategorie. Ich hatte aus zwei Gründen mit ihm Schluss gemacht. Erstens war er ein kontrollgeiler Idiot gewesen, und zweitens hatte ich ihn mit einer anderen Frau erwischt – an meinem Geburtstag, in der Damentoilette des Clubs, in dem meine Party stattfand. Es geht doch nichts über einen kleinen Seitensprung an deinem Geburtstag, um deine Party so richtig in Fahrt zu bringen – das war übrigens Sarkasmus.

Gavin war ein Arschloch, und ich war ohne ihn besser dran.

»Ich hab’s gehört, wusste aber nicht, dass du dort warst. Scheiße, der Schnitt sieht schlimm aus, Karla. Hast du ihn untersuchen lassen?«

»Alles okay. Und wenn du mich jetzt vorbeilassen würdest …« Ich hob eine Braue und winkte ihn aus dem Weg, aber er rührte sich nicht.

»Ach komm, sei doch nicht so«, sagte er.