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Verführe die Lehrerin. Besorg das Gemälde. Begleiche deine Schuld.
Lehrerin Andrea Anderson staunt nicht schlecht, als sie das erste Mal ihrem neuen Schüler gegenübersteht. Der unnahbare Ex-Gefängnisinsasse Stu Cross ist absolut keine gewöhnliche Erscheinung in ihrem Klassenzimmer, und sie muss zugeben, dass ihr in ihrer gesamten Karriere noch kein Schüler begegnet ist, der sie vom ersten Moment an so in seinen Bann gezogen hat wie Stu. Und unter seinen sehnsuchtsvollen Blicken fragt sie sich das erste Mal seit langer Zeit, ob sie der Liebe nicht doch noch eine Chance geben sollte. Doch Stu ist nicht ohne Grund in ihrem Unterricht. Er hat einen Auftrag und der hat nichts mit Liebe zu tun. Er muss eine alte Schuld begleichen, wenn seiner Familie nichts geschehen soll und dazu braucht er Andie. Doch je länger er mit ihr zusammen ist, desto schwerer fällt es ihm, sich einzureden, dass seine Gefühle für sie gespielt und nicht echt sind ...
"Süchtig machend, herzzerreißend, witzig und brillant!" Samantha Young, Spiegel-Bestseller-Autorin
Band 4 der Hearts-Reihe von Bestseller-Autorin L. H. Cosway
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Seitenzahl: 481
L. H. COSWAY
Thief of Hearts
Verführt von dir
Roman
Ins Deutsche übertragen von Cherokee Moon
Lehrerin Andrea Anderson staunt nicht schlecht, als sie das erste Mal ihrem neuen Schüler gegenübersteht. Der unnahbare Ex-Gefängnisinsasse Stu Cross ist absolut keine gewöhnliche Erscheinung in ihrem Klassenzimmer, und sie muss zugeben, dass ihr in ihrer gesamten Karriere noch kein Schüler begegnet ist, der sie vom ersten Moment an so in seinen Bann gezogen hat wie Stu. Und unter seinen sehnsuchtsvollen Blicken fragt sie sich das erste Mal seit langer Zeit, ob sie der Liebe nicht doch noch eine Chance geben sollte. Doch Stu ist nicht ohne Grund in ihrem Unterricht. Er hat einen Auftrag und der hat nichts mit Liebe zu tun. Er muss eine alte Schuld begleichen, wenn seiner Familie nichts geschehen soll, und dazu braucht er Andie …
Falls ihr wissen wollt, wie tief die Menschheit wirklich sinken kann, dann zieht in einer x-beliebigen Großstadt in eine Kellerwohnung.
Es war ein ganz normaler Wochentag, als ich um drei Uhr nachts aufwachte, weil ich vor meinem Fenster Geräusche gehört hatte. Ich setzte mich auf, rieb mir die Augen und fuhr mir durchs Haar, das einem Vogelnest glich. Wer zum Teufel lungerte diesmal da draußen herum?
Früher hatte ich jedes Mal Panik bekommen und mir Sorgen gemacht, es könnte ein Irrer sein, der womöglich bei mir einbrechen wolle.
Inzwischen wollte ich einfach nur, dass derjenige so schnell wie möglich mit dem, was auch immer er da trieb, fertig wurde und verschwand, damit ich endlich wieder einschlafen konnte. Mein Schlaf war mir heilig.
Als ich jedoch ein wohlbekanntes Plätschern hörte, sah ich rot. Instinktiv stand ich auf, schlüpfte in meine Stiefel, griff nach dem Cricketschläger, den ich extra für solche Situationen bereithielt, und stampfte wutentbrannt nach draußen.
Ein Anzugträger mittleren Alters stand da und pisste direkt vor meinem Schlafzimmerfenster an die Hauswand, als wäre das hier seine Privattoilette.
»Mach, dass du wegkommst, ehe ich etwas tue, das ich später bereuen könnte«, drohte ich und schwang dabei den Schläger wie eine Verrückte unter Schlafentzug. Abgesehen davon, dass er total besoffen war, irritierte es mich, dass er völlig normal aussah, nicht wie ein obdachloser Junkie, der nicht wusste, wo er hinsoll. Nein, der Anzugträger hatte ein Zuhause, höchstwahrscheinlich einen Job und – vor allem – ein Badezimmer. Trotzdem hatte er sich heute Nacht wohl gedacht, die Zeit sei nun reif, alle gesellschaftlichen Gepflogenheiten über Bord zu werfen und jemandem an die Hauswand zu pissen.
Wie man sich vielleicht schon denken kann, war das hier nicht meine erste Begegnung dieser Art. Mir war inzwischen bewusst, dass Menschen die ekligsten Dinge tun, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. So war das eben, wenn man – wie ich – in Schulden schwamm. Schöne Wohnungen kosten nun mal Geld.
Die trüben Augen des Betrunkenen wurden groß, dann packte er schnell seinen Schwanz ein und machte sich aus dem Staub.
»Du solltest dich schämen«, schrie ich ihm hinterher.
Meine dunkle Seite wünschte sich, ich hätte ihm mit dem Schläger eins übergezogen. Zumindest ein bisschen. Vielleicht hätte er daraus gelernt. Vielleicht stand ich aber auch einfach kurz davor, aufgrund von Schlafmangel verrückt zu werden. Ich hatte keinen besonders tiefen Schlaf, schon vom leisesten Geräusch wurde ich wach.
Ich stampfte zurück ins Haus und bemerkte, dass bei meinem Cousin Alfie noch das Licht brannte. Alfie war eine Nachteule, auch heute war er zu später Stunde noch wach. Seit drei Jahren wohnten wir zusammen in der winzigen Zwei-Zimmer-Wohnung in Finsbury Park. Sie befand sich im Kellergeschoss eines renovierten viktorianischen Hauses, das in mehrere Wohneinheiten aufgeteilt worden war. Eigentlich war unsere Wohnung nicht mal im Kellergeschoss. Sie lag eher unterirdisch. Aber dies hier war eine der wenigen Gegenden in London, die man sich überhaupt noch leisten konnte, auch wenn es hier beunruhigend viele Friseursalons gab. An manchen Tagen gingen fast die Pferde mit mir durch, dann war ich kurz davor, mir Extensions in grellem Pink machen zu lassen.
Ich hörte Alfie bereits kichern, bevor er aus seinem Zimmer kam. Er hielt sich den Bauch und krümmte sich vor Lachen. Ich sah ihn böse an.
»Du hast mich beobachtet.«
»Sein Gesicht, Andie. Unbezahlbar. Wenn er nicht eh schon gepinkelt hätte, hätte er sich garantiert in die Hose gemacht.«
Ich guckte weiter grimmig und ging in die Küche, um mir eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank zu holen. »Haha«.
»Im Ernst, wir sollten dich vermieten, um an Halloween die Kinder zu erschrecken. Als verrückte alte Hexe.«
Ich nahm einen großen Schluck und zeigte ihm den Mittelfinger. Seufzend legte er mir einen Arm um die Schulter, doch sein Versuch, mich auf väterliche Weise zu trösten, funktionierte nicht so richtig, denn er war ein gutes Stück kleiner als ich. Früher in der Schule hatten sie uns Klein und Klobig genannt, obwohl ich schon immer schlank gewesen bin.
»Ich bin fast mit Mädchen mit Lenkdrachen fertig. Willst du es mal sehen?«
Ich nickte und atmete lange aus. »Klar, warum nicht. Jetzt bin ich ja eh wach.«
Ich folgte ihm in sein Zimmer und versuchte, nicht über den ganzen Mist zu stolpern, der auf dem Boden lag. Alfie war ein Chaot – Künstler eben. Als Einzelkind wohlhabender Eltern hatte er die Möglichkeit bekommen, eine Karriere als Maler anzustreben. Zumindest bevor man seinen Vater für das Betreiben einer Firma, die nach dem Schneeballprinzip funktionierte, verklagt hatte. Danach wurde sein gesamtes Vermögen eingefroren, und seither überlebte Alfie dank seiner wenigen Gönner. Ab und zu verkaufte er eines seiner Werke an eine Kunstgalerie.
Mein Cousin verließ die Wohnung hauptsächlich, um sich einen Kaffee oder ein Sandwich in einem Hipster-Café um die Ecke zu holen. Die Bedienungen dort waren ausschließlich mindestens eins achtzig große, blonde Schweden. Ich war nicht sicher, ob das die Einstellungskriterien waren, aber Alfie fühlte sich nach eigener Aussage in ihrer Gegenwart immer wohl. Wenn er nicht gerade die Schweden besuchte, verbrachte er viel Zeit im Second-Hand-Buchladen seines besten Freunds Jamie. Wenn Alfie mich und Jamie nicht gehabt hätte, wäre er wahrscheinlich ein totaler Einsiedler gewesen.
Ich stand vor der Leinwand und betrachtete Mädchen mit Lenkdrachen. Wie jedes Mal, wenn ich eines seiner fertigen Werke sah, überkam mich ein Gefühl von Ehrfurcht. Eine ganze Weile stand ich da und bewunderte sein Können, bevor ich mich zu ihm umdrehte und ihn umarmte.
»Es ist wunderschön. Jedes Mal denke ich, das Nächste kann gar nicht mehr besser werden, aber du setzt immer wieder einen drauf. Du bist ein Genie.«
Alfie rieb sich das Kinn, betrachtete sein Werk und fügte noch einen Tupfer Braun hinzu. »Das Gelb hat etwas Offenbarendes. Man nimmt dadurch alles gleichzeitig wahr, die Blätter auf dem Boden, den Drachen in der Luft«, erklärte er mir enthusiastisch. Alfie liebte Farben, er entdeckte stets Dinge, die niemandem sonst auffielen.
Alfie war der intelligenteste Mensch, den ich kannte. Allerdings war es eine Form von künstlerischer Intelligenz, die einen eher auf der Straße landen lässt, als einem eine Position als Geschäftsführer zu verschaffen. Er war einfach zu empathisch. Wenn Alfie in den Nachrichten einen Beitrag über den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine sah, machte er sich tagelang Gedanken, zu welchen Katastrophen das führen könnte. Ich hingegen hatte so was sofort wieder vergessen.
Versteht mich bitte nicht falsch. Ich bin gewiss nicht herzlos. Im Gegenteil – als Lehrerin war ich den Großteil des Tages damit beschäftigt, anderen zu helfen. Mitgefühl hatte ich jede Menge, aber mir fehlte Alfies Maß an Intelligenz – und das, Leute, war ein Segen. Glaubt mir.
»Stimmt«, pflichtete ich ihm schließlich bei. »Und die Schleife in ihrem Haar. So voller Leben. Wie sie sich im Wind bewegt, als würde sie tanzen.«
Alfie lächelte mich breit an. »Genau so sollte es auch wirken.«
Ich lächelte zurück, klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und sagte, dass ich nun wieder ins Bett gehen würde. Als ich das Zimmer verließ, bemerkte ich den Stapel Bilder neben der Tür. Es waren Repliken von alten Meistern, hauptsächlich Vermeer und Rembrandt. Alfies Mutter hatte es früher geliebt, das Haus mit berühmten Werken zu schmücken, deshalb hatte Alfie angefangen, sie nachzumalen. Seine Bilder glichen so sehr den Originalen, dass es fast gruselig war. So hatte Alfie mit der Malerei angefangen. Im Laufe der Jahre hatte er sich so weit entwickelt, dass er irgendwann nur noch eigene Sachen malte, doch die Repliken hatten ihm geholfen, seine Fertigkeiten zu verfeinern.
Ich drehte mich noch mal um und neigte den Kopf zu den Bildern. »Soll ich die nächste Woche in einen Secondhandladen bringen, damit du hier ein bisschen mehr Platz hast?«
Er rieb sich das Kinn, was er immer tat, wenn er über etwas nachdachte. »Ich weiß noch nicht. Du weißt ja, dass ich nicht gern Sachen weggebe. Und die Bilder haben schon einen gewissen emotionalen Wert.«
»Sag mir einfach Bescheid.«
Als um sieben Uhr morgens mein Wecker klingelte, war es wie immer sehr ruhig in der Wohnung. Alfie schlief für gewöhnlich bis nachmittags.
Ich duschte, zog mich an und frühstückte, bevor ich mit meinem Nissan zur Arbeit fuhr. Ich leitete einen Kurs für Erwachsene, die sich dazu entschlossen hatten, doch noch aufs College zu gehen. Die meisten meiner Schüler waren seit Jahren mit der Schule fertig, wenn nicht sogar seit Jahrzehnten. Der Kurs war dafür gedacht, dass die Teilnehmer ihre Schreibfähigkeiten und Grammatik auffrischen und ihre individuellen Stärken und Schwächen identifizieren konnten, was ihnen den Wiedereinstieg in das Bildungssystem erleichtern sollte.
Ich hatte insgesamt fünfzehn Schüler, die zwischen einundzwanzig und sechzig Jahre alt waren. Der Kurs fand an fünf Tagen die Woche statt, jeweils von neun bis fünfzehn Uhr. Insgesamt würde er ein halbes Jahr dauern, und dementsprechend intensiv war er auch. Der Unterricht hatte erst vor drei Wochen begonnen, aber ich hatte bereits ein paar Lieblingsschüler.
Mary war eine geradlinige, waschechte Londonerin Anfang fünfzig. Sie hatte schwarz gefärbtes Haar und trug immer Lippenstift in mattem Rot. Sie hatte ein paar Kilo zu viel auf den Rippen und eine Schwäche für Leopardenprints, in Sachen Beziehung und Steuern hatte sie stets die besten Ratschläge parat. Kian war der Jüngste in der Klasse. Er war ein Goth-Rocker aus Camden und litt am Tourette-Syndrom. Trotz seines lilafarbenen Irokesen und der regelmäßigen verbalen Ausfälle war er einer der nettesten und liebenswertesten Menschen, die ich je kennengelernt hatte.
Und dann gab es noch Larry. Er war kaum größer als einen Meter fünfzig und hatte unendlich viele Geschichten über seine Arbeit auf dem Markt zu erzählen, wo er früher raubkopierte Videokassetten verkauft hatte. Doch dann kamen die DVDs, und die Online-Streamingdienste hatten das Geschäft schließlich endgültig ruiniert.
Alle drei waren heute da, unterhielten sich mit den anderen Schülern und tranken Kaffee. Als ich den Klassenraum betrat und alle begrüßte, fiel mir ein, dass heute ein neuer Schüler dazustoßen sollte. Meinen Unterlagen konnte ich entnehmen, dass er Stuart Cross hieß, dreißig Jahre alt war und nur eine geringe schulische Vorbildung hatte – und er war nach einer zweijährigen Haftstrafe gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden. Für was er eingesessen hatte, wusste ich nicht, aber natürlich fragte ich mich, was er wohl angestellt hatte.
Ich machte mir ein wenig Sorgen über den Neuankömmling, denn meiner Erfahrung nach brauchte es nur ein einziges faules Ei, um eine angenehme und freundschaftliche Arbeitsatmosphäre zu zerstören. Ich wollte, dass sich hier jeder wohlfühlte. Dass dieses Klassenzimmer ein vorurteilsfreier Raum war, in dem Menschen offen über ihre Träume und Sorgen sprechen konnten, ohne Angst, dafür kritisiert zu werden.
Manchmal funktionierte es – und manchmal auch nicht. Dieses Jahr war die Klasse zum Glück sehr harmonisch, alle mochten sich und kamen super miteinander aus. Hoffentlich würde auch Stuart dazu passen.
Ich sortierte meine Sachen, klappte meinen Laptop auf und öffnete den Plan für heute, als ich plötzlich bemerkte, dass das freundliche Gemurmel abgeebbt war. Der neue Schüler hatte den Klassenraum betreten, und als ich aufsah, stockte mir der Atem.
Stuart Cross sah gefährlich aus, mit seiner Lederjacke und dem schönen Gesicht erinnerte er mich an James Dean. Er war groß, hatte kastanienbraunes Haar, haselnussbraune Augen und dunkle, markante Brauen. Bestimmt fuhr er Motorrad und trank sein Bier direkt aus der Flasche.
Mary stemmte eine Hand in die Hüfte, betrachtete ihn von oben bis unten und lächelte ihn auf eine Art an, die wohl Du kannst gern meine Nummer haben signalisieren sollte. Würde er auch nur das kleinste Anzeichen von Interesse zeigen, ihr Toy Boy werden zu wollen, würde sie ihn höchstwahrscheinlich zum Frühstück verspeisen.
Ich konnte ja selbst kaum aufhören, ihn anzustarren, es war beinahe, als würde ich eines von Alfies neuesten Werken betrachten. Mit so jemandem hatte ich nicht gerechnet. Er passte überhaupt nicht in unser einfaches, gemütliches kleines Klassenzimmer.
Er nahm kurz Blickkontakt zu mir auf und schnappte sich dann einen Stuhl in der dritten Reihe. Ich merkte, dass ich vergessen hatte zu atmen, und holte tief Luft. Ich wischte mir die Hände am Rock ab und wollte mich gerade vorstellen, als ein weiterer Schüler hereinkam und Stuart auf die Schulter tippte. Es war Harold, ein kleiner Mann mit Brille Anfang fünfzig, bei dem alles immer gleich abzulaufen hatte. Veränderungen mochte er nicht – und Stuart belegte den Stuhl, auf dem er für gewöhnlich saß.
»Entschuldigen Sie bitte, aber hier sitze ich«, sagte er.
Stuart stützte den Ellbogen auf dem Tisch auf und drehte sich langsam zu ihm um. »Wie bitte?«
Harold räusperte sich. »Das ist mein Stuhl. Es tut mir leid, aber Sie müssen sich woanders hinsetzen.«
Stuart kicherte kopfschüttelnd, lehnte sich mit weit gespreizten Beinen zurück. »Werde ich nicht. Ich hab’s mir hier schon bequem gemacht.«
Ich runzelte die Stirn und stand auf. Die anderen beobachteten mich, während ich die Tischreihen entlang auf unseren neuen Mitschüler zuging. Ich stellte mich vor ihn, legte Harold beruhigend die Hand auf die Schulter und sah Stuart streng an.
»Wir haben eine Sitzordnung. Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen, wo Sie sitzen können. Ich bin übrigens Miss Anderson. Ihre Lehrerin.«
Stuart ließ sich Zeit, zu mir aufzusehen, und biss sich auf die volle Unterlippe, während er mich eingehend betrachtete. Als ich plötzlich in einem lang vernachlässigten Körperteil ein leichtes Kribbeln spürte, stemmte ich die Hände in die Hüften und zwang mich, den Blick von seinem Mund abzuwenden.
»Alles klar, Miss Anderson. Ich will keinen Ärger machen«, sagte Stuart, stand auf und überließ Harold den Stuhl. Sein Verhalten gefiel mir nicht, trotzdem begleitete ich ihn zum einzigen freien Platz in der ersten Reihe. Als er sich setzte, streifte er mit seiner Brust meine. Mir stockte für eine Sekunde der Atem, seine Berührung hatte mich überrascht. Beinahe hatte ich das Gefühl, es sei volle Absicht gewesen.
Diesen Kerl würde ich auf jeden Fall im Auge behalten müssen.
Ich öffnete das Dokument mit dem heutigen Lehrplan. Doch zuerst würden wir, wie jeden Montag, mit einem Gespräch beginnen, in dem mir die Schüler erzählen konnten, wie es ihnen ging und was in ihrem Leben gerade passierte.
»Ich hoffe, ihr hattet alle ein schönes Wochenende«, begann ich. »Was habt ihr so gemacht?«
Die schüchternen Schüler schauten weg, Mary ergriff das Wort. »Meine Tochter hat am Samstagmorgen ihr Kind bekommen. Ein gesundes, drei Komma acht Kilo schweres Mädchen. Ich bin völlig aus dem Häuschen.«
»Das sind ja tolle Neuigkeiten, Mary. Hat sie sich schon für einen Namen entschieden?«
»Sie hat sie Georgina genannt. Ich hole die beiden später aus dem Krankenhaus ab.«
»Freut mich, dass alles gut gelaufen ist und beide wohlauf sind«, sagte ich und ließ den Blick durch das Klassenzimmer schweifen. »Möchte sonst noch jemand etwas erzählen?«
Es folgte Schweigen, aber ich ließ mich davon nicht verunsichern. Ich wusste, dass es den meisten schwerfiel, vor einer Gruppe zu sprechen, trotzdem ermutigte ich sie immer wieder dazu, denn es war eine großartige Möglichkeit, Selbstvertrauen aufzubauen. Ich zwang niemanden, etwas zu sagen, forderte nur hin und wieder vorsichtig dazu auf. Schließlich wandte ich mich unserem neuen Mitschüler zu.
»Was ist mit Ihnen, Stuart? Möchten Sie uns vielleicht etwas über sich erzählen?«
»Einfach nur Stu«, korrigierte er mich mit durchbohrendem Blick.
»Entschuldigung, Stu«, antwortete ich höflich.
Er verschränkte die Hände ineinander und streckte die Arme. »Was wollen Sie wissen?«
»Nur das, was Sie uns erzählen wollen. Wir sind hier wie eine Familie, unterstützen uns gegenseitig und haben immer ein offenes Ohr füreinander. Wenn es etwas gibt, das Sie nicht vor der ganzen Klasse besprechen wollen, können Sie gern nach dem Unterricht zu mir kommen.«
Er sah mich eindringlich an. Ich begann, nervös auf meinem Stuhl hin und her zu rutschen, und wusste nicht mal genau, warum. Er verunsicherte mich, gab mir das Gefühl, mich bereits zu kennen, was völlig absurd war, da wir uns noch nie zuvor begegnet waren. Er ließ sich viel Zeit mit seiner Antwort, fuhr sich zuerst mit der Hand über das Kinn, dann mit dem Daumen über die Unterlippe.
»Das hier ist aber keine Familie«, bemerkte er, als hätten ihn meine Worte beleidigt.
Ich versteifte mich. »Ja, ich weiß. Aber ich sagte wie eine Familie. Zumindest sind wir hier sehr eng miteinander.«
»Arschlöcher!«, rief jemand, doch es war nicht Stu, sondern Kian, der in den hinteren Reihen saß. Er hatte wieder einen seiner Anfälle. Ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt und versuchte, seine Obszönitäten so gut es ging zu ignorieren, doch heute fragte ich mich, ob sein Anfall vielleicht durch den Neuankömmling ausgelöst worden war.
Stu blickte amüsiert in Kians Richtung, sah dann wieder zu mir. »Lassen Sie ihm das etwa durchgehen, Miss Anderson?«
Sein Ton war derart provozierend, dass meine Wangen anfingen zu glühen. Ich hatte schon alle möglichen Schüler gehabt, aber noch keinen, der mich derart nervös gemacht hatte. »Kian hat Tourette«, erklärte ich. »Er meint es nicht so.«
»Entschuldigung«, sagte Kian und kratzte sich am Kopf.
Ich warf ihm einen freundlichen Blick zu.
»Ich habe dir doch gesagt, dass du dich nicht dafür entschuldigen musst.«
Stu grinste Kian an. »Das heißt, dass du uns alle als Wichser und Arschloch bezeichnen darfst, und wir sollen es einfach ignorieren?«
Kian, der sich immer noch am Kopf kratzte, lächelte schüchtern. »Ja, ich schätze schon.«
»Ganz schön abgefuckt.«
Ich strafte Stu mit einem strengen Blick. »Für Kian mache ich eine Ausnahme. Sie hingegen benutzen hier drin bitte keine vulgären Ausdrücke.«
Stu hob die Hände. »Sorry, mein Fehler.«
Ich schnaubte leise. »Nun gut. Wenn wir nun zur ursprünglichen Frage zurückkehren könnten. Möchten Sie uns irgendetwas über sich erzählen?«
Stu sah mich lange an und überraschte dann alle mit seiner Offenheit. »Ich wurde vor vierzehn Tagen aus dem Knast entlassen. Letztes Wochenende habe ich alles aufgeholt, was ich die letzten zwei Jahre verpasst habe. Aber da ich eben schon einen Rüffel für meine vulgäre Ausdrucksweise bekommen habe, werde ich keine Details erzählen«, sagte er und sah mich dabei an, als wollte er mich absichtlich provozieren. »Sagen wir mal so: Ich hatte definitiv meinen Spaß.«
»Was hast du angestellt?«, warf Mary ohne Scheu ein.
Stu sah sie an und antwortete, ohne zu zögern. »Autodiebstahl. Hab meine Lektion gelernt.«
Seltsam, das Gefühl hatte ich nicht. Ich fragte mich, ob Typen wie Stu Cross überhaupt jemals ihre Lektion lernten. Trotzdem war ich erleichtert. Ich hatte ein Gewalt- oder Sexualverbrechen befürchtet. Autodiebstahl war schon schlimm genug, aber wenigstens war er kein Perverser.
»Und wie lang warst du im Knast?«, fragte Mary weiter.
Stu versteifte sich und reagierte nun ein wenig abwehrend. »Schreibst du etwa ein Buch, Schätzchen? Willst du auch wissen, was ich zum Frühstück gegessen habe und wann ich das letzte Mal scheißen war?«
»Ich frage ja nur. Kein Grund, gleich in die Luft zu gehen«, schnaubte Mary.
Ich sah Stu an, dass er kurz davor war, etwas Unfreundliches zu erwidern, also grätschte ich dazwischen.
»Wie ich bereits erwähnt habe – dieses Klassenzimmer ist eine vorurteilsfreie Zone. Hier haben wir alle eine saubere Weste.«
Stu sah mich an, als würde ich einen Haufen Müll erzählen. Aber ich meinte es ernst. Mir war es wichtig, anderen zu helfen. Es war das Einzige, das mir die nötige Motivation gab, weiterzumachen.
Ich räusperte mich. »Fangen wir mit dem Unterricht an. Wie finden Sie denn das Buch?«
Wir lasen jeden Monat ein neues. Die Schüler sollten jeden Abend ein paar Kapitel lesen, um am nächsten Tag darüber diskutieren zu können. Das erste Buch, das ich für dieses Schuljahr ausgewählt hatte, war Herzen im Aufruhr von Thomas Hardy. Ich gebe zu, es war nicht gerade einfach zu lesen, aber meiner Meinung nach war es die Mühe allemal wert. Ich bevorzugte Geschichten, die etwas mit einem machten, eine neue Perspektive offenbarten.
Vor ein paar Jahren hatte ich das Buch Alfie ans Herz gelegt. Nachdem er das »Weil wir zu viele sind«-Kapitel gelesen hatte, war er nachts um drei in mein Zimmer gestürmt, hatte sich die Augen aus dem Kopf geheult und mir gesagt, wie sehr er mich dafür hasse, ihm jemals dieses Buch empfohlen zu haben.
Mich hatten schon immer Geschichten fasziniert, die einen emotional so berührten, als würde man die Geschehnisse selbst erleben.
»Diese Arabella hat es ganz schön in sich«, sagte Larry, während er sein Exemplar aus der Tasche zog und auf den Tisch legte. »Ich habe in meinem Leben schon einige Frauen wie sie kennengelernt, das kann ich euch sagen.«
»Stimmt, in den letzten Kapiteln ging es um Judes und Arabellas Hochzeit«, sagte ich, nahm mein Buch und gab es Stu.
»Sie ist eine manipulative Ziege«, platzte es aus Mary heraus. »Dass Jude sie überhaupt heiratet. Er ist wirklich ein leichtgläubiger Trottel.«
»Sie können sich gern mein Buch ausborgen. Es wäre schön, wenn Sie das Verpasste innerhalb der nächsten Tage aufholen könnten«, flüsterte ich Stu zu.
Er blickte auf das Buch und fühlte sich sichtlich unwohl. Um ehrlich zu sein, kam er mir nicht gerade wie jemand vor, der gern las.
»Nur weil sie Extensions hat und Make-up trägt, ist sie noch lange keine Ziege«, bemerkte Susan und zeigte auf Mary. Sie war Anfang zwanzig, hatte aber bereits mit fünfzehn die Schule abgebrochen. Sie äußerte ihre Meinung stets geradeheraus. »Frauen wie du sind schuld daran, dass der Feminismus tot ist. Ich bin mir sicher, dass du Mädchen allein dafür verurteilst, sich freizügig zu kleiden.«
»Das habe ich überhaupt nicht gesagt«, verteidigte sich Mary. »Jede Frau sollte sich kleiden, wie sie will. Darüber bilde ich mir kein Urteil. Über ihr Benehmen allerdings schon. Und diese Arabella nutzt Judes Gutmütigkeit nach Strich und Faden aus.«
»Meine erste Frau war genau wie Arabella. Bei der Scheidung hat sie mir die letzten Pennys aus der Tasche gezogen«, sagte Larry.
Mary sah ihn schräg von der Seite an. »Wie oft warst du denn schon verheiratet?«
»Dreimal«, antwortete Larry, als wäre das ganz normal.
Eigentlich liebte ich diese Diskussionen, doch heute driftete das Gespräch ein wenig zu weit vom eigentlichen Thema ab. »In Ordnung. Denken Sie bitte über folgende Frage nach: Welche Bedeutung hat Ihrer Meinung nach Arabellas Charakter in diesem Buch?«
»Sie soll genau das Gegenteil von Sue sein. Wenn es Arabella nicht gäbe, würde der Leser nicht schätzen, wie liebenswürdig Sue ist«, sagte Kian leise, gefolgt von einem lauten »Scheiße!«.
»Sehr gute Antwort«, sagte ich ermutigend. Die Diskussion ging noch weiter, doch Stu beteiligte sich nicht. Es verunsicherte mich, wie genau er mich beobachtete. Ich war mir nicht sicher, ob ich einfach in seiner Sichtlinie stand oder ob er mich tatsächlich eingehend musterte. Irgendetwas ging in seinem Kopf vor, so viel stand fest.
Aber ich wusste nicht, ob ich mir darüber Gedanken machen sollte.
Überfällig.
Letzte Mahnung.
Überfällig.
Als ich abends nach Hause kam und meine Post durchsah, bereitete mir der Stapel an Rechnungen wie jedes Mal Panik. Eigentlich lebte ich in einem ständigen Gefühl der Überforderung, aber ich hatte gelernt, es so gut es ging zu ignorieren und so zu tun, als wäre es nicht da. Ungesund? Ja. Aber im Ernst, nur so konnte ich nachts wenigstens halbwegs schlafen.
»Mir gefällt dieses Stirnrunzeln nicht«, sagte Alfie und erschreckte mich damit. Ich hatte nicht bemerkt, dass er mit einer Schüssel Müsli neben der Küchentheke stand, der hart formulierte Brief hatte mich zu sehr abgelenkt.
»Und mir gefällt dieses Abendessen nicht«, konterte ich, um von meiner katastrophalen finanziellen Lage abzulenken.
Ich hatte jung geheiratet, mit gerade mal Anfang zwanzig. Ich hatte meiner Jugendliebe das Jawort gegeben, wir waren so verliebt gewesen. Doch leider hatte es für uns kein märchenhaftes Happy End gegeben. Als Mark vierundzwanzig war, diagnostizierte man bei ihm ein Non-Hodgkin-Lymphom – sechs Monate später starb er. Man hatte die Krankheit erst spät erkannt. Da sie sich schnell ausbreitete und eine Behandlung dringend erforderlich war, hatten wir eine Privatversicherung abgeschlossen. Daher meine finanzielle Situation.
Trotzdem hatte ich ihn verloren, mein Herz war in Millionen Stücke zersprungen. Inzwischen schaffte ich es, es mit Unmengen Klebeband und wilder Entschlossenheit irgendwie zusammenzuhalten. Ich war so damit beschäftigt, anderen Menschen zu helfen, dass ich keine Zeit mehr hatte, über meine eigenen Probleme nachzudenken.
Mit gerade einmal achtundzwanzig war ich Witwe und hatte fünfzig Riesen Schulden. Mein Blick fiel automatisch auf den Diamanten, den ich noch immer am Ringfinger trug.
Ich konnte ihn einfach nicht abnehmen. Schon allein der Gedanke daran war traumatisierend. Ich wusste, dass es nicht der richtige Weg war, mit meinem Kummer umzugehen, aber manchmal hatte ich das Gefühl, nur so weiterleben zu können.
»Das ist eher ein spätes Mittagessen«, erwiderte Alfie. »Ich bin erst seit ein paar Stunden wach.«
Seufzend schmiss ich meinen Schlüssel auf die Theke. »Du musst unbedingt deinen Schlafrhythmus ändern, Alfs. Sonst wirst du noch krank.« Meine Stimme zitterte.
Mir waren nur noch wenige Menschen geblieben, und ich hatte Angst, sie auf dieselbe Art zu verlieren, wie ich Mark verloren hatte.
»Sieh mich bitte nicht so an. Du weißt, dass ich diesen traurigen Blick nicht ertrage«, sagte Alfie schuldbewusst.
Sofort fühlte ich mich schlecht, weil er sich schlecht fühlte. Es war ein Teufelskreis.
»Mach dir keine Gedanken. War ein harter Tag. Krieg ich auch eine Schüssel mit was auch immer das ist?«
Alfie nickte, und kurz darauf futterten wir gemeinsam in einvernehmlichem Schweigen. Ich hatte mal einen Ernährungsberater sagen hören, Müsli hätte in etwa so viele Nährstoffe wie ein Pappkarton, aber das Zeug schmeckte einfach so verdammt gut. Die ganzen Kohlenhydrate hatten fast denselben Effekt wie die Umarmung eines lebensgroßen Teddybären.
»Was ist passiert?«
Ich sah Alfie gedankenverloren an. »Hä?«
»Bei der Arbeit. Du hast gesagt, du hattest einen harten Tag.«
»Ach ja, richtig. Ich habe seit heute einen neuen Schüler, einen ehemaligen Sträfling. Angeblich Autodiebstahl. Mary hat ihm ein wenig auf den Zahn gefühlt.«
Nachdem er sich vorgestellt hatte, hatte Stu nichts mehr gesagt. Sein Schweigen hatte mich nervös gemacht. Ich hatte so etwas wie Anziehung verspürt, war mir aber sicher, dass dies nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Irgendetwas sagte mir, dass er mehr an meiner Tasche interessiert war als an mir, und ich verabscheute mich dafür, so zu denken. Ich wollte nie voreilig über Menschen urteilen und war der felsenfesten Überzeugung, dass jeder eine zweite Chance verdiente.
Alfie sagte nichts mehr, und ich bereute augenblicklich, ihm überhaupt von Stu Cross erzählt zu haben. Mein Cousin war ganz schön paranoid, was auch einer der Gründe für sein Einsiedlerdasein war. Er litt unter einer leichten Angststörung und vertraute nur wenigen Menschen. Ich war einer davon – und das auch nur, weil wir uns von Geburt an kannten. Die Vorstellung, dass ich einen ehemaligen Kriminellen unterrichtete, gefiel Alfie überhaupt nicht.
»Du hast ihm aber hoffentlich nicht deinen Nachnamen gesagt.«
»Doch, natürlich. Alfie, meine Schüler nennen mich Miss Anderson. Das war also unvermeidlich.«
»Was, wenn er deine Adresse herausfindet oder dir hinterherspioniert? Was, wenn er anfängt, dir nachzustellen oder so was? Andie, man sollte niemandem trauen, der mal im Gefängnis war. Wirklich nicht.«
»Jetzt beruhige dich wieder. Er wird nicht anfangen, mir nachzustellen. Deine Fantasie geht mal wieder mit dir durch.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein? Du weißt doch gar nicht, was alles passieren könnte.«
Ich griff über die Theke und nahm seine Hand, um ihn zu beruhigen. »Ich verspreche dir, es wird nichts passieren. Ich werde vorsichtig sein und sichergehen, dass mir keiner nach Hause folgt. Hast du Lust, noch bei Jamie vorbeizugehen, bevor er zumacht?«
Jamie war Alfies bester Freund. Wir liebten seinen Buchladen Novel Ideas, er hatte einen so antiken Charme. Der Laden hatte ursprünglich Jamies Urgroßvater gehört, seither wurde er von Generation zu Generation weitergereicht. Wir kannten Jamie nun schon seit einigen Jahren, er und Alfie verstanden sich wahrscheinlich nur so gut, weil sie das genaue Gegenteil voneinander waren. Im Gegensatz zu Alfie war Jamie immer offen für Neues, schloss gern Bekanntschaften. Er kostete das Leben wie kaum ein anderer in vollen Zügen aus.
Alfies Augen begannen zu leuchten. »Ja. Ich muss mir nur noch schnell eine Hose anziehen.«
Ich fand es nicht mal mehr komisch, dass er die meiste Zeit nur in Unterhose herumlief. Zwanzig Minuten später standen wir vor Jamies Laden. Wir hatten ihn vorher angerufen und Bescheid gesagt, er erwartete uns bereits mit Tee und Keksen. Er war wirklich ein guter Kerl.
»Wie geht es dir, Andrea?«
Ich muss eine Sache klarstellen. Jamie war ein Exzentriker. Und was für einer. Er war dermaßen exzentrisch, dass er stets einen dreiteiligen Anzug aus Cord trug, mit einer antiken goldenen Taschenuhr in der Brusttasche. Zu seinen weiteren exzentrischen Charakterzügen gehörte es, dass er Leute nur mit vollem Namen ansprach. Mich nannte er immer Andrea, Alfie immer Alfred.
»Ganz gut.«
»Deine Bank hat nicht zufällig einen Teil deiner Schulden an Dritte weiterverkauft?«
Oh, und noch was. Er hatte ein Händchen dafür, Themen anzuschneiden, über die ich in netter Gesellschaft lieber nicht sprechen wollte. Und ja, ein Teil meiner Schulden war tatsächlich an Dritte weiterverkauft worden – und die forderten nun ihr Geld zurück. Ich tat mein Bestes, so viel wie möglich zurückzuzahlen, doch mein Gehalt als Lehrerin in der Erwachsenenbildung war nicht besonders hoch.
»Nein«, log ich vor allem Alfie zuliebe, weil ich nicht wollte, dass er sich Sorgen machte. Ich war mir ziemlich sicher, dass er ohnehin die halbe Nacht nicht schlafen konnte, weil er sich über den Ausbruch des Dritten Weltkriegs oder eine nukleare Katastrophe Gedanken machte, die Hiroshima bei Weitem übertreffen würde.
»Du solltest deine Schuldenrückzahlung definitiv im Auge behalten. Ich habe erst gestern wieder einen Artikel über die unmoralischen Vorgehensweisen dieser Inkassounternehmen gelesen. Das sind richtige Kredithaie.«
»Ich werde darauf achten. Danke für den Hinweis«, sagte ich und überlegte, wie ich am besten das Thema wechseln konnte. Auf der Ladentheke entdeckte ich die erste Staffel von Poldark und fragte: »Ist die denn gut? Meine Kolleginnen am College reden die ganze Zeit darüber.«
Jamie nahm die DVD und hielt sie mir hin. »Die ist super. Ich bin gerade damit durch, du kannst sie dir gern ausleihen. Ich kann dir unmöglich den oberkörperfreien Aidan Turner vorenthalten. Aktuell ist er ja der Frauenschwarm.«
Ich lachte und nahm die DVD. »Dann habe ich am Wochenende wenigstens was zu tun.«
Jamie zwinkerte. »Gern geschehen.«
Wir schlürften gerade unseren Tee, als Alfie schließlich das Wort ergriff. »Andie hat seit heute einen neuen Schüler.« Ihm war anzusehen, dass er es kaum noch erwarten konnte, davon zu erzählen. »Einen Ex-Kriminellen. Aber man weiß ja, wie hoch die Rückfallquote laut Statistik ist.«
»Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand nach seiner Haftentlassung rückfällig wird, liegt bei sechsundzwanzig Prozent. Und ein rückfälliger Straftäter begeht durchschnittlich drei Komma eins Straftaten«, erklärte Jamie gelassen. Dieser Typ war ein wandelndes Lexikon.
»Genau das sag ich ja«, rief Alfie. »Der Kerl ist gefährlich.«
»Jetzt hört aber auf. Er hat Autos geklaut. Im schlimmsten Fall klaut er meinen Nissan, und dann muss eben die Versicherung dafür aufkommen.«
»Aber was, wenn er gelogen hat? Was, wenn er etwas anderes verbrochen hat? Vielleicht ist er ein Pädophiler. Wer weiß!«
»Falls ja, dann hat er wenigstens kein Interesse an mir.«
Jamie kicherte leise, während Alfie meine Logik mit einem finsteren Blick strafte. »Du weißt genau, was ich meine«, motzte er.
»Ja, und ich finde es nett, dass du dir Sorgen um mich machst, aber das ist wirklich nicht nötig. Ich bin in meinem Leben schon Männern begegnet, die tatsächlich gefährlich waren, und Stu gehört definitiv nicht dazu. Er hat einen dummen Fehler gemacht. Das kann jedem passieren.«
Alfie war nicht zufrieden, und auch Jamie guckte skeptisch. Um ehrlich zu sein, war ich selbst nicht voll und ganz überzeugt.
***
Als wir am nächsten Morgen mit unserer Buchbesprechung fortfuhren, braute sich Ärger zusammen. Ich war sowieso schon verstimmt, weil Stu zwanzig Minuten zu spät hereinspaziert kam, ohne sich dafür zu entschuldigen. Ich machte mir eine Notiz, vor dem Mittagessen mit ihm darüber zu sprechen, denn meiner Erfahrung nach konnte so etwas schnell einreißen. Kam einer zu spät, kamen plötzlich alle zu spät.
»Haben Sie mit dem Buch schon angefangen?«, fragte ich ihn.
Er schüttelte den Kopf und antwortete gelassen: »Nö, hatte zu viel zu tun.«
»Nun ja, Sie werden sich für die Hausaufgaben Zeit nehmen müssen. Sie müssen den Stoff, den Sie die letzten drei Wochen verpasst haben, nachholen. Sonst kommen Sie nicht mehr hinterher.«
»Ich werde sehen, was sich machen lässt, Miss Anderson.«
Noch so was. Er nannte mich zwar »Miss Anderson«, aber nicht in einem respektvollen Ton. Es klang herablassend, so als wollte er mich provozieren. Ich hatte über die Jahre hinweg schon mit etlichen schwierigen Schülern zu tun gehabt, und eigentlich war ich unheimlich geduldig. Aber Stu brachte mich schon jetzt an meine Grenzen.
Ich fuhr mit dem Unterricht fort und bereitete mich innerlich darauf vor, Stu später anzusprechen. Je weiter sich die Stunde dem Ende zuneigte, desto trockener wurde mein Mund und desto feuchter meine Hände. Warum machte mich dieser Typ so nervös?
Dann ertönte die Pausenglocke, alle packten ihre Sachen zusammen und machten sich auf den Weg Richtung Kantine.
»Stu, kann ich kurz mit Ihnen sprechen?«, fragte ich, als er aufstand.
Er starrte mich lange an, nickte dann. »Aber klar doch, Miss Anderson«, sagte er leicht grinsend.
Verdammt! Er tat es schon wieder.
»Danke«, antwortete ich, klappte den Laptop zu und wartete, bis alle den Raum verlassen hatten. Als nur noch ich und Stu da waren, breitete sich Schweigen im Raum aus. Mein Mund war so verdammt trocken, mein Kopf wie leer gefegt. Stu stand einfach nur da und starrte mich an, wartete darauf, dass ich etwas sagte. Er ließ den Blick über meinen Körper wandern. Als er an meinem Ringfinger hängen blieb, versteifte ich mich. Ich konnte in seinem Gesicht Verwunderung erkennen, verstand aber nicht genau, warum. Schließlich ergriff ich das Wort.
»Sie sind heute Morgen zwanzig Minuten zu spät gekommen.«
Stu fuhr sich über das stoppelige Kinn. »Schlimm?«
Ich räusperte mich. »Ja. Ich bitte Sie darum, ab jetzt pünktlich zu sein.«
»Alles klar. War das alles?«
»Nein«, brach es aus mir heraus.
Wieder wanderte sein Blick zu meinem Ringfinger, dann weiter zu meinen Lippen, meinen Augen. Ich wischte mir die Hände an der Hose ab. Stu kam einen Schritt näher. Plötzlich fühlte ich mich deutlich im Nachteil, da ich noch saß und er mich weit überragte.
»Was denn noch?«
»Sie müssen Ihre Hausaufgaben machen, sonst hat es keinen Sinn, dass Sie überhaupt hier sind.«
Er seufzte, als würde er endlich verstehen, was ich von ihm wollte. »Sie sind sauer, weil ich das Buch nicht gelesen habe.«
»Ich bin nicht sauer. Es ist mein Job, Ihnen etwas beizubringen, Stu. Das ist meine Leidenschaft. Und wenn ich einem Schüler nicht dabei helfen kann, sein Potenzial zu entfalten, dann ist das vergebliche Liebesmühe. Aber ich kann mir vorstellen, dass das für Sie gerade eine große Veränderung ist. Wenn Sie sich überfordert fühlen, sagen Sie es mir, dann lassen wir es langsamer angehen. Wenn Sie allerdings nicht lernen wollen, dann werde ich Sie auch nicht dazu zwingen.«
Stu starrte mich lange an, dann fing er an zu lächeln.
»Wissen Sie, das ist das erste Mal, dass mir eine Frau sagt, dass sie es langsam angehen lassen will.« Er legte den Kopf schief, fast hatte ich den Eindruck, er würde mit mir flirten, und ich verstand einfach nicht, warum er nicht ernst bleiben konnte. Ich wollte ihn nicht maßregeln, ich wollte für ihn und alle anderen Schüler nur das Beste. Aber wie ich bereits sagte, ein einziges faules Ei konnte die ganze Gruppe verderben.
»Sie müssen jetzt nicht ablenken. Ich will Sie nicht verurteilen.«
Er lehnte sich nach vorn, stützte die Hände auf meinem Pult ab und sah mir direkt in die Augen. »Ich lenke nicht ab, Miss Anderson. Ich flirte mit Ihnen«, sagte er leise.
Seine Stimme klang heiser. Am liebsten hätte ich mit den Augen gerollt. Der junge, weltoffene Schüler, der versuchte, seine biedere, lebensferne Lehrerin anzumachen. Es war einfach zu klischeehaft. Stu hatte keine Ahnung. Ich war weder empfänglich für Schmeicheleien, noch hatte ich großes Interesse am anderen Geschlecht. Seit Mark hatte ich mich für keinen anderen Mann mehr interessiert, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich das jemals ändern würde. Er hatte mir alles bedeutet. Er war unersetzbar.
Aber du fühltest dich zu Stu hingezogen, als du ihn zum ersten Mal gesehen hast, flüsterte eine kleine Stimme in meinem Kopf.
Rein körperlich betrachtet mochte das stimmen, aber ich schob es auf die Tatsache, nun mal eine Frau zu sein, und Stu Cross gehörte zu der Sorte Typ, auf den jede Frau sofort ansprang, egal, ob Teenie oder Großmutter. Er hatte einfach Sex-Appeal. Zum Glück war ich dagegen nahezu immun. Ich konnte nicht abstreiten, dass er gewisse Gefühle in mir auslöste, aber ich gehörte nicht zu den Frauen, die aufgrund eines vagen Gefühls sofort ihr Höschen auszogen.
Ich kicherte leise. »Lassen Sie sich etwas gesagt sein, Stu. Und ich meine es wirklich nicht böse. Jung und weiblich bedeutet nicht gleich naiv. Es wird Ihnen nicht dabei helfen zu bestehen, wenn Sie so tun, als würden Sie mit mir flirten. Sie müssen mit mir zusammenarbeiten, sich am Unterricht beteiligen, morgens pünktlich sein. Ich werde Sie stets mit Respekt behandeln, und dasselbe würde ich mir von Ihnen wünschen.«
Es gab drei Möglichkeiten, wie er reagieren könnte: Es war ihm peinlich, er entschuldigte sich, oder er fühlte sich angegriffen.
Doch überraschenderweise reagierte er völlig anders. Er hielt noch immer meinem Blick stand, lehnte sich noch weiter nach vorn, sodass ich sein männliches, erdiges Parfum riechen konnte. »Lassen Sie sich etwas gesagt sein, Miss Anderson. Ich tue nicht nur so.«
Ich erschrak, als er nach vorne griff, um mir eine Strähne, die sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst hatte, hinters Ohr zu streichen. Als er mein Ohrläppchen berührte, sog ich scharf die Luft ein, vollkommen sprachlos. Er wich zurück und warf mir einen letzten feurigen Blick zu, bevor er schließlich das Klassenzimmer verließ.
Ähm, was zum Teufel war das eben?
Ich konnte mich nicht bewegen, mein Herz hämmerte wie verrückt, und ich hatte Mühe, mich zu beruhigen. Mich überkamen alle möglichen Gefühle, was mich sehr beunruhigte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals so verwirrt und perplex gewesen zu sein. Ich erkannte mich kaum selbst wieder. So mädchenhaft und aufgeregt hatte ich mich seit Ewigkeiten nicht mehr benommen.
Eines war jedoch sicher: Stu Cross war nicht so durchschaubar, wie ich angenommen hatte. Und obwohl eigentlich ich die Lehrerin war, hatte ich das Gefühl, dass er mir soeben eine Lektion erteilt hatte.
Es war ein seltsames Gefühl, nach dem Mittagessen mit dem Unterricht fortzufahren. Ich konnte mich kaum konzentrieren. Stu saß direkt vor mir, die vorherige Situation lief immer wieder in meinem Kopf ab. Warum machte ich mir darüber so viele Gedanken? Das war doch lächerlich.
Ich wusste, dass ich noch mal mit ihm sprechen musste. Doch diesmal würde ich nicht zulassen, dass er das letzte Wort hatte, und ich würde mich von seinem Geflirte nicht beeindrucken lassen. Zumindest nahm ich mir das fest vor.
Als der Unterricht um fünfzehn Uhr vorbei war, bat ich Stu erneut, noch kurz zu bleiben. Nicht nur, dass er wirkte, als hätte er es schon erwartet, er schien beinahe erfreut. Beim Zusammenpacken meiner Sachen ließ ich mir Zeit, während Stu dastand und wartete. Als alle weg waren, fragte er: »Kann ich Ihnen helfen?«
Ich hielt inne und sah auf den Stapel an Heftern, die ich noch in meiner Tasche unterbringen musste. »Äh, nein, ich bin fast fertig.«
Stu setzte sich auf die Tischkante und verschränkte mit erwartungsvoller Miene die Arme. Ich erinnerte mich an meinen Fehler von heute Mittag, stand sofort auf und schloss die Schränke zu, die hinter meinem Schreibtisch standen.
»Mir gefällt Ihr Oberteil«, sagte Stu und glotzte mir unverhohlen auf die Brust, während ich zu meinem Schreibtisch zurückkehrte und die Hände auf die Stuhllehne legte. Ich sah an mir hinunter, denn ich hatte ganz vergessen, was ich heute überhaupt anhatte. Vielleicht, weil ich mir nie große Gedanken um meine Outfits machte, vielleicht aber auch aus Nervosität. Ich trug eine schlichte blaue Bluse, nichts Besonderes. Ganz offensichtlich versuchte er noch immer, so zu tun, als würde er mit mir flirten.
»Danke«, antwortete ich.
»Die Farbe steht Ihnen«, fuhr er fort.
»Das ist nett, aber könnten wir uns nun bitte darüber unterhalten, was vorher vorgefallen ist? Ich würde das gern klären.«
»Sind Sie verheiratet?«, fragte Stu und erwischte mich mit dieser Frage eiskalt.
Ich runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, was das hier zur Sache tut.«
»Sie tragen einen Ehering, aber alle nennen Sie Miss Anderson statt Mrs Anderson«, bohrte er weiter nach.
Ich versteifte mich. Noch nie zuvor hatte mich hier am College jemand darauf angesprochen, warum ich noch immer meinen Ehering trug. Vielleicht, weil sie meine Geschichte kannten. Es war kein Geheimnis, dass mein Ehemann jung verstorben war. Ich hatte inzwischen gelernt, die mitleidvollen Blicke zu ignorieren.
»Ich war mal verheiratet. Er ist gestorben. Ich habe mich für Miss entschieden, weil ich es leid war, immer wieder nach meinem Mann gefragt zu werden und immer wieder erklären zu müssen, dass ich Witwe bin«, sagte ich und lachte trocken. »Wie jetzt zum Beispiel.«
Um Himmels willen, was passierte hier? Ich hätte mich nicht auf dieses Gespräch einlassen sollen. Mein Privatleben ging ihn überhaupt nichts an.
Stu sah mich mitleidig an und fuhr sich durchs Haar. »Scheiße, das tut mir leid. Das wusste ich nicht.«
»Das ist schon lange her«, sagte ich, ohne ihn diesmal für seine Ausdrucksweise zu tadeln. Ich war mir inzwischen sicher, dass es ohnehin keinen Zweck hatte.
»Kann nicht so lange her sein«, antwortete er und beäugte mich von oben bis unten. Für mein Alter sah ich nicht besonders jung aus. Eigentlich hatte mein Aussehen schon immer meinem Alter entsprochen. Aber natürlich wusste ich, dass ich mit achtundzwanzig sehr jung war für eine Witwe.
»Fast vier Jahre«, erklärte ich. Wieder fragte ich mich, warum ich so offen zu ihm war. Seltsamerweise hatte es etwas Befreiendes, mit Stu darüber zu sprechen.
»Vier Jahre? Was waren Sie? Eine Kindsbraut oder so etwas?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe mit zwanzig geheiratet.«
Stu pfiff. »Das ist aber jung.«
»Das stimmt, aber ich war sehr reif für mein Alter.«
»Und Sie tragen immer noch den Ring«, sagte er leise.
Ich hob die Hand und betrachtete den Diamanten. Er war nicht besonders teuer, doch als Mark mir den Antrag gemacht hatte, war er für mich das Wertvollste auf der Welt gewesen. Und irgendwie war er das noch immer.
»Ja, wahrscheinlich bin ich einfach ein wenig sentimental.«
Ich war überrascht, als Stu meine Hand ergriff. Als er mit dem Daumen über die Innenfläche meiner Hand strich, sog ich scharf die Luft ein. Ein Kribbeln jagte mir die Wirbelsäule entlang, während sein Blick der Bewegung seines Daumens folgte. Ihm entwich ein leises, kehliges Brummen. Ich stand einfach nur still da. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann mich zuletzt ein fremder Mann berührt hatte.
Hatte mich überhaupt jemals ein fremder Mann berührt? Stu Cross war ohne Zweifel der direkteste Mensch, den ich je getroffen hatte.
Er drehte meine Hand um und betrachtete den Ring. »Hübsch«, sagte er.
Ich nickte, blickte dann zu ihm auf. Mein Herzschlag setzte für einen Moment aus, als mir bewusst wurde, dass er nicht den Ring, sondern mich ansah. Ich konnte nicht sprechen, stattdessen zog ich die Hand weg und trat einen Schritt zurück.
Ich starrte auf den Boden und flüsterte: »Warum machen Sie das?«
»Weil ich Sie mag«, antwortete er schlicht.
Ich sah auf und musterte ihn genau. Irgendetwas an dieser Situation erschien mir seltsam. »Nein, tun Sie nicht.«
Er kicherte leise. »Ich habe Sie die letzten beiden Tage genau beobachtet, Andrea. Ich mag Sie, glauben Sie mir.«
»Bitte nennen Sie mich Miss Anderson«, sagte ich und suchte nach einer Möglichkeit, diese bizarre Situation so schnell wie möglich zu beenden. Woher kannte er meinen Vornamen? Vielleicht von einem der anderen Schüler.
Stus Mundwinkel zuckte, dann zwinkerte er mir zu. »Okay. Wenn Ihnen das lieber ist.«
Ich schüttelte den Kopf. »Versuchen Sie nicht, mir schöne Augen zu machen. Ich bin Ihre Lehrerin. Ich möchte Ihnen helfen.«
Er sah mich irritiert an. »Sehe ich aus, als würde ich Hilfe brauchen?«
Am liebsten wäre ich weggelaufen, aber ich blieb stehen. Er konnte einschüchternd wirken, wenn er wollte. »Manchmal sind die, die so tun, als bräuchten sie keine Hilfe, diejenigen, die sie am nötigsten haben.«
»Ich brauche keine Hilfe. Ich möchte nur Ihr Freund sein«, sagte er charmant lächelnd. »Nein, Moment. Das stimmt nicht. Ich will definitiv mehr sein als nur ein Freund.«
Seine Direktheit verblüffte mich. Kein Mann hatte mir bisher so eindeutige Avancen gemacht, nicht mal Mark. Irgendetwas lief hier verkehrt.
»Freundschaft ist das Einzige, was ich Ihnen anbieten kann, Stuart«, sagte ich und war bemüht, so autoritär wie möglich zu klingen. »Und Sie müssen aufhören, mit mir zu flirten. Wie ich bereits sagte, Sie verschaffen sich dadurch keine Vorteile. Das Einzige, was Sie weiterbringen wird, ist harte Arbeit.«
Er lächelte mich an. »Sie sind ganz schön sexy, wenn Sie so streng sind, wissen Sie das?«
Ich konnte nur noch den Kopf schütteln. Reden hatte bei ihm keinen Sinn. Vielleicht war ihm das Flirten angeboren, und er konnte gar nichts dagegen tun. Vielleicht sollte ich ihn einfach machen lassen, er würde damit sowieso nicht bei mir landen. Trotzdem fiel es mir schwer, sein Lächeln nicht zu erwidern. Er sah wirklich unverschämt gut aus. Das Funkeln in seinen haselnussbraunen Augen war nahezu unwiderstehlich.
»Absolut unverschämt.« Ich seufzte und ging um den Schreibtisch herum, ich brauchte Abstand. »Ich hoffe, wir können morgen noch mal von vorn beginnen. Bitte versuchen Sie, heute noch ein paar Kapitel zu lesen, und gehen Sie beizeiten ins Bett, damit Sie nicht wieder zu spät kommen.«
Er grinste mich an. »Sie werden also einfach ignorieren, dass ich Sie will, was?«
Verärgert schüttelte ich den Kopf. »Ich verstehe, dass meine weite graue Hose Sie unheimlich anmacht, Stuart«, sagte ich trocken. »Sie können jetzt gehen. Wir sehen uns dann morgen früh, frisch und munter.«
Ich begann meine restlichen Sachen zusammenzupacken, konzentrierte mich darauf, ihn nicht mehr anzusehen, und hoffte, er würde einfach gehen. Großer Fehler. Ehe ich michs versah, wurden meine Tasche und mein Mantel von großen Händen gepackt und zurück auf den Schreibtisch gelegt. Dann kesselte mich Stu mit seiner breiten Statur zwischen Stuhl und Wand ein.
Ich starrte ihn schwer atmend an und wunderte mich, warum ich nicht längst um Hilfe schrie. Aber ich wusste, warum. Es war sein sanfter, sexy Blick. Ein gefährlicher Blick, aber keiner, der einem Schaden zufügen konnte, zumindest nicht körperlich. Das war das Absurdeste, was mir je im Leben passiert war. Es war, als hätte Amor Stuart Cross mit seinem Pfeil getroffen, und nun war er scharf auf seine Lehrerin.
Oder vielleicht hatte er zu viel Zeit hinter Gittern verbracht, und seine Abstinenz hatte ihn in einen wahnsinnigen Lustmolch verwandelt. Wann hatte das letzte Mal jemand derart mit mir geflirtet? Mark und ich waren zusammengekommen, als wir siebzehn waren, die bessere Frage war also: Hatte überhaupt jemals jemand mit mir geflirtet? Ich bildete mir da sicher etwas ein. Stu hatte deutlich gemacht, dass er keine Zeit verschwendet hatte, alles nachzuholen, was er die letzten zwei Jahre verpasst hatte. Warum also ausgerechnet ich? War das alles nur ein Spiel? Wollte er sich einen Spaß mit mir erlauben?
Sein dunkler Blick verriet mir, dass es kein Spaß war. In seinen Augen sah ich pures Verlangen.
»Die Hose ist mir total egal«, raunte er. »Aber deine Lippen und deine großen braunen Augen bringen mich total um den Verstand.«
Ich konnte den Blick nicht von ihm abwenden, hörte in seiner Stimme, dass er es ernst meinte. Na großartig. Der Bad Boy der Klasse stand auf mich. An manchen Tagen hatte die Welt wirklich Sinn für Humor. Das war, als würde Fred plötzlich auf Velma abfahren, obwohl es Hunderte Daphnes gab, die er vögeln könnte.
Ich legte ihm die Hände auf die starke Brust (Gefängnis-Workouts?), schob ihn beiseite und quetschte mich an ihm vorbei. Ich konnte ihn nicht mehr ansehen und hielt den Blick auf den Boden gerichtet, während ich mir meine Sachen schnappte. Sprechen konnte ich auch nicht. Linkisch zog ich den Mantel an, schulterte meine Tasche und verließ das Klassenzimmer, ohne noch etwas zu sagen.
Ich hatte mich noch nie in meinem ganzen Leben dermaßen steif und unwohl gefühlt. Wie sollte man sich in so einer Situation auch verhalten? Vom Flirten hatte ich keine Ahnung, und was Männer anging, war ich komplett aus der Übung. Außerdem kannte ich keinen Mann, der so war wie Stu Cross.
Ganz davon abgesehen, war er mein Schüler. In diesem Leben und auch im nächsten würde niemals etwas zwischen uns laufen.
Ich hatte das Gefühl, als würde ich zu meinem Auto schweben. Ich ließ den Blick über den größtenteils leeren Parkplatz schweifen, während ich in der Handtasche nach dem Schlüssel kramte. Neben der Einfahrt stand ein schwarzer Honda Civic, doch die Scheiben waren getönt, sodass ich nicht in den Innenraum sehen konnte. Kurz darauf flog die Eingangstür auf, und Stu kam herausgeschlendert. Er blieb stehen, zog eine Packung Zigaretten aus der Hosentasche und zündete sich eine an.
Als hätte er gespürt, dass ich ihn beobachtete, sah er auf. Unsere Blicke trafen sich. Mein Herz begann zu flattern, doch dann ging er die Stufen hinunter und stieg in den Honda.
Hä?
Ich fragte mich, wer ihn wohl abholte, Stu kam mir nicht wie jemand vor, der sich gern herumchauffieren ließ. Dann fiel mir wieder ein, dass er gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden war. Wahrscheinlich konnte er sich noch kein Auto leisten, oder man hatte ihm den Führerschein entzogen. Seine Straftat hatte immerhin mit Autos zu tun gehabt.
Auch auf dem Nachhauseweg konnte ich nicht aufhören, über Stu nachzudenken. Immer wieder fragte ich mich, ob sein Interesse an mir echt oder nur gespielt war. Versteht mich nicht falsch, ich fand mich nicht hässlich, aber normalerweise wurde ich nie so angemacht. Machte er mich wirklich an?
Uff! Ich musste aufhören darüber nachzudenken, bevor ich noch Kopfschmerzen bekam.
Als ich nach Hause kam, saß Alfie auf dem Boden vor dem Fernseher und trug noch immer dieselben Klamotten wie gestern. Er sah sich die Nachrichten an, Tränen rollten ihm über die Wangen.
Wenn es um schlimme Ereignisse ging, konnte Alfie seine Gefühle nicht im Zaum halten. Ich nannte es den Anti-Bystander-Effekt. Wir alle hatten schon etliche Male von Schaulustigen gehört, die bei einem Unfall danebenstanden und mit ihrem Handy filmten, anstatt zu helfen, während andere lebensbedrohlich verletzt dalagen. Nun ja, Alfie war das genaue Gegenteil. Er würde in ein Gewässer voller Haie springen, um einen Ertrinkenden zu retten. Kein Witz. Das war ein weiterer Grund, warum er sich so abkapselte. Alfie war ein emotionaler Schwamm. Die Welt war mit zu viel Schmerz erfüllt, und er war nur ein einzelner Mensch, viel zu klein, um all den Kummer in sich aufzusaugen.
Ich schielte auf den Fernseher, ein Beitrag über einen Bombenangriff in Syrien, bei dem über zwanzig Menschen getötet worden waren.
»Alfie«, flüsterte ich. Er blinzelte. Die Reportage hatte ihn so mitgenommen, dass er mich nicht mal hatte kommen hören.
Als er ausatmete, klang es ziemlich wässrig. Er wischte sich die Augen und stand vom Boden auf.
»Alles okay bei dir?«, fragte ich vorsichtig.
Er nickte, sagte aber nichts, holte stattdessen einen Stuhl aus der Küche und trug ihn zum Regal, um an seine Malutensilien auf dem höchsten Regalbrett zu gelangen. Ich beobachtete, wie er sich diverse Tuben und Pinsel griff, bevor er wieder herunterkletterte. Dann verschwand er in seinem Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Ich wohnte lange genug mit ihm zusammen, um zu wissen, dass die Malerei seine Art der Flucht war. Es war gut möglich, dass ich ihn die nächsten Tage nicht zu Gesicht bekommen würde, bis er sein neuestes Werk vollendet hatte.
Also würde ich heute wohl allein zu Abend essen. Na ja, ich war es gewohnt. Ich dachte kurz darüber nach, noch bei Jamie vorbeizuschauen, beschloss aber, dass ich keine Lust hatte, mit ihm über meine finanzielle Situation und mein Befinden zu reden. Ich wusste, dass er nur nachfragte, weil er mich mochte, aber manchmal war es mir lieber, nicht über diese Dinge nachdenken zu müssen.
Nur so schaffte ich es, mich von all dem Stress nicht unterkriegen zu lassen.
Die Woche verging, und ich war froh, dass Stu mir keine weiteren Avancen machte. Allerdings äußerte er im Unterricht den einen oder anderen Kommentar, der mich stutzig werden ließ. Sie waren aber nie deutlich genug, als dass ich ihn dafür hätte rügen können.
Sie gehen mit dieser Projektorleinwand um wie keine Zweite, Miss Anderson.
Verzeihung?
Ich wollte Ihnen nur ein Kompliment machen.
Und …
Miss Anderson, was meinen Sie mit »umreißen«?
Dass Sie den Text kurz zusammenfassen sollen.
Ah, okay.
Warum?
Ich dachte, Sie würden etwas anderes meinen.
Zeit, mein WTF-Gesicht aufzusetzen. Obwohl Stu Cross nach außen normal wirkte, begann ich zu glauben, dass er ein ziemlich komischer Kauz war.
Als ich Montagmorgen meinen Plan checkte, stellte ich fest, dass ich für die Klasse einen Bibliotheksbesuch organisiert hatte, um ein paar Bücher auszuleihen. Ich wollte meine Schüler dazu ermutigen, sowohl Fiction als auch Non-Fiction zu lesen. Da sie gerade Herzen im Aufruhr lasen, sollten sie sich heute ein Sachbuch aussuchen.
Alle freuten sich, als ich den geplanten Ausflug ankündigte – bis auf Stu, der keine erkennbare Regung zeigte. Die Bibliothek war nur einen zehnminütigen Fußmarsch entfernt, ich ging mit Mary und Susan voraus, der Rest hinterher. Stu war direkt hinter mir und unterhielt sich mit Kian, der heute dem Ausdruck »schwanzlutschendes Pimmelgesicht« eine ganz neue Facette verliehen hatte. Wenigstens wurde es so nie langweilig.
Stu hatte sichtlich Spaß dabei, mit jemandem Freundschaft zu schließen, der so viele Schimpfwörter herausposaunen durfte, wie er wollte. Kian schien froh darüber zu sein, einen Kumpel gefunden zu haben, was mich sehr freute. Ich hoffte nur, Stu meinte es ehrlich mit ihm. Ich konnte ihn noch immer nicht richtig einschätzen.
Trotz ihres Altersunterschieds waren sowohl Mary als auch Susan eifrige Tinder-Userinnen und unterhielten mich auf dem Weg zur Bibliothek mit ihren Dating-Geschichten.
»Er scheint ein wirklich netter Kerl zu sein«, erzählte Susan über einen Typen, mit dem sie sich nun schon öfter getroffen hatte. »Aber manchmal ist er auch ein ganz schöner Waschlappen.«
»Ah, so einer«, sagte Mary und schürzte die Lippen. »Mit so einem habe ich mich auch schon mal getroffen. Ich musste meine Schuhe ausziehen, bevor ich seine Wohnung betreten durfte. Mit so was komme ich nicht klar.«
»Das Problem bei Keith ist, dass er nichts machen will, wobei Alkohol im Spiel sein könnte«, sagte Susan und zog eine Grimasse.
»Ist das denn schlimm?«, fragte ich.
»Ja, sehr schlimm. Er will immer nur ins Kino gehen oder Kaffee trinken. Ich kriege ihn nie dazu, mal mit mir in einen Pub zu gehen, von Clubs ganz zu schweigen. Das Problem ist, Sex ohne Alkohol funktioniert bei mir nicht, also hatten wir noch keinen. Ich fühle mich einfach nicht selbstbewusst genug, es im nüchternen Zustand zu tun.«
Als sie das Thema Sex erwähnte, verkrampfte ich mich ein wenig. Nicht, weil ich mich schämte, mit den beiden über solche Dinge zu reden, meinen Unterricht gestaltete ich auch immer sehr locker. Aber Stu war direkt hinter uns, und ich hatte das Gefühl, dass er uns belauschte. Ich konnte seinen Blick spüren, wie er über meinen Nacken wanderte, meine Schultern, bis hinunter zu meinen Hüften. Es war fast ein bisschen gruselig, aber ich wusste einfach, dass er mich beobachtete. Mich ganz genau studierte.
»Müssen Sie denn unbedingt beide betrunken sein? Können Sie nicht einfach allein trinken, und er bleibt nüchtern?«
Susan schüttelte den Kopf. »Nein, wir müssen schon beide betrunken sein. Sonst habe ich immer im Hinterkopf, dass er sich später genau an alles erinnern wird.«
»Wollen Sie denn nicht, dass er sich danach daran erinnert?«, fragte ich stirnrunzelnd.
Susan warf die Hände hoch. »Hey, ich habe niemals behauptet, normal zu sein. So bin ich nun mal.«
Ich hatte Susan überhaupt nicht als unsicher eingeschätzt. Sie erschien mir immer so selbstbewusst, sagte stets ihre Meinung. Aber wir waren eben doch alle voller Widersprüche.
»Du hast ganz offensichtlich Selbstwahrnehmungsstörungen«, sagte Mary. »Was total lächerlich ist. Ich meine, sieh dich an. Du bist spindeldürr. Aber ich verstehe schon. Als ich in deinem Alter war, hatte ich auch eine tolle Figur, aber ich selbst habe das nie so gesehen. Ich hatte ständig etwas an mir auszusetzen. Als ich vierzig wurde, beschloss ich, mich nicht mehr darum zu scheren. Zur Hölle mit den ganzen Selbstzweifeln. Von da an hatte ich Sex, mit wem ich wollte, wann ich wollte, und ich ließ mir von keinem mehr reinreden.« Sie hielt inne und zeigte auf Susan. »Und das solltest du auch tun. Genieße dein Leben, es ist so schnell vorbei«, sagte sie und schnippte mit den Fingern.
»Du hast ja recht«, stimmte Susan zu. Marys Worte hatten ihr Mut gemacht, aber sie wirkte immer noch skeptisch.
Mary zwinkerte ihr zu und freute sich, dass ihre aufmunternde Rede Früchte getragen hatte.