Heaven Official's Blessing - Light Novel, Band 04 - Mo Xiang Tong Xiu - E-Book

Heaven Official's Blessing - Light Novel, Band 04 E-Book

Mo Xiang Tong Xiu

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Beschreibung

Der Berg Tonglu hat sich geöffnet und lockt alle Geister an, um einen neuen Geisterkönig zu erschaffen. Xie Lian und Hua Cheng setzen alles daran, dies zu verhindern, und müssen sich ebenfalls unter die Geister mischen. Doch im Gebirge entdecken die beiden ein vor Jahrtausenden untergegangenes Königreich, dessen Geschichte in Xie Lian dunkle Vorahnungen weckt …

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Inhalt

Kapitel 68: Unter Blutvergießen wird der betörte Junge zum Brokatheiligen

Kapitel 69: Das Färberhaus weit geöffnet

Kapitel 70: Das neunundneunzigste Geistergewand, unter Gefahr verborgen

Kapitel 71: Der Geisterkönig ist durchschaut und wird zum Spaß hereingelegt

Kapitel 72: Der Puqi-Schrein bricht vor Lachen zusammen

Kapitel 73: Aufruhr im düsteren Gasthaus in der Einsamkeit der Berge

Kapitel 74: Scharfe Zähne, die Pfeile zerbrechen

Kapitel 75: Ich bestimme, welchen Weg ich beschreite

Kapitel 76: Der Berg Tonglu öffnet sich für die Versammlung der zehntausend Geister

Kapitel 77: General Mings Bedauern und das Zerbrechen des verhassten Schwerts

Kapitel 78: Gefahr von links und von rechts, der Weg nach Osten oder nach Westen»

Kapitel 79: Vier Himmelskönige verborgen an der schwarzen Wand

Kapitel 80: Warum Nein zu Xuli, warum Nein zu Jingwen

Kapitel 81: Die Berge so hoch, der Weg so weit, das Tal unpassierbar

Kapitel 82: Im Leben dasselbe Grab, doch kein Frieden unter der Erde

Kapitel 83: Auf den Schultern von Riesen

Kapitel 84: Das Rätsel um den Staatspräzeptor bringt den Geist auf Abwege

Kapitel 85: Der Heilige, geboren unter dem Unglücksstern

Kapitel 86: Der eifersüchtige Geisterkönig und drei entscheidende Fragen

Kapitel 87: Gekrönt von Geisterfeuer

Kapitel 88: Hasserfüllte Geisterfrau mit schwelender Eifersucht im Herzen

Kapitel 89: Die letzte Prinzessin schlitzt sich vor den Palasttoren die Kehle auf

Kapitel 90: Auf dem schwarzen Ochsen mit fliegenden Hufen den Berg Tonglu erklimmen

Kapitel 68: Unter Blutvergießen wird der betörte Junge zum Brokatheiligen

Als Xie Lian in die himmlische Hauptstadt zurückkehrte, um Bericht zu erstatten, grollte ununterbrochen ein ohrenbetäubender Donner, wie um die Neuigkeiten über den Berg Tonglu passend zu untermalen. Nachdem er den Shenwu-Palast betreten hatte, wandte Xie Lian sich unbewusst einem bestimmten Platz zu. »Was ist mit dem Donnermeister los?«

Erst nachdem er die Frage gestellt hatte, bemerkte er, dass der Platz, an dem der Windmeister immer gestanden hatte, nun leer war. Der Wassermeister, der immer in der ersten Reihe gestanden hatte, und der Erdmeister, dessen Platz in einer der hinteren Ecken gewesen war, waren ebenfalls nicht mehr da. Xie Lian blinzelte und seufzte dann leise.

Er legte den Kopf schief und sah, wie Lang Qianqiu den Saal betrat. Xie Lian hatte ihn lange nicht gesehen und sein ganzes Erscheinungsbild wirkte ausgezehrter und bedrückter als zuvor. Als sich ihre Blicke begegneten, drehte sich Lang Qianqiu weg, ohne ein Wort zu sagen.

Xie Lian sah sich im Saal um und musste feststellen, dass er niemanden fand, mit dem er sich hätte unterhalten können.

»Es ist nichts. Ein neuer Geisterkönig wird geboren. Die Geister heulen, die Götter lärmen und der Donner nimmt kein Ende«, beantwortete eine Stimme seine Frage.

Überrascht bemerkte Xie Lian, dass es Feng Xin war, der ihm geantwortet hatte. Aus irgendeinem Grund empfand Xie Lian seinen Anblick als beruhigend. Doch eines von Feng Xins Augen war schwarz und blutunterlaufen. Xie Lian konnte nicht umhin, sich nach Mu Qing umzudrehen, der am anderen Ende des Saals stand. Eine Seite seines Gesichts war geschwollen. Nach all den Jahren des gegenseitigen Grolls mussten sie diesmal in eine heftigere Auseinandersetzung geraten sein.

Jun Wu rief alle zur Ruhe. »Sicherlich wisst Ihr alle, warum ich Euch heute hergerufen habe.«

Die Himmelsbeamten bejahten geschlossen.

Jun Wu fuhr mit ruhiger Stimme fort: »Das Universum ist ein Schmelztiegel und die lebendigen Geschöpfe sind das Kupfer. Unendliche Widrigkeiten harren im Abgrund des Leids. Der Berg Tonglu ist ein von Natur aus düsteres, bedrohliches Reich, seine Landschaft birgt schlimme Gefahren. Er ist wie ein Vulkan, der jederzeit ausbrechen kann. Alle paar Jahrhunderte kommt es vor, dass die Stadt Gu in den Bergen ihre Tore öffnet. Ihr Ruf lässt das Reich der Geister erbeben. Die Erschütterungen, die sie hervorruft, treffen besonders die, die vormals siegreich als Geisterkönige aus ihr hervorgegangen sind. Jeder Dämon und jedes Geistwesen, das den Status eines Supremus zu erlangen wünscht, macht sich auf den Weg zum Berg Tonglu. Haben sich erst alle dort versammelt, versiegelt sich das Gelände von selbst wieder und das Gemetzel nimmt seinen offiziellen Anfang. Wenn nur noch einer übrig ist, wird er als neuer Geisterkönig geboren. Der Blumensuchende Blutregen und das Booteversenkende Schwarze Wasser sind beide auf diese Art als Supremi geboren worden. In dem Moment, da sie den Berg als einzige Überlebende verließen, wurden sie zu Geisterkönigen. Das Schwarze Wasser hat zwölf Jahre dazu gebraucht. Hua Cheng brauchte zehn.«

»Es ist schon schwer genug, mit dem Schwarzen Wasser und Hua Cheng fertigzuwerden. Ihr wisst ja, was sie getan haben«, kommentierte Mu Qing kühl. »Noch einer von dieser Sorte und wir werden nie mehr ruhig schlafen können.«

»General Xuanzhen, ich werde mich nicht zum Schwarzen Wasser äußern. Aber ich glaube nicht, dass Hua Cheng etwas wirklich Schreckliches getan hat«, sagte Xie Lian.

Mu Qing, die Wange dick geschwollen, warf ihm einen Blick zu.

»Es ist tatsächlich nicht leicht, sich mit ihnen zu arrangieren. Was bedeutet, dass wir verhindern müssen, dass sich die Millionen Geister versammeln, richtig?«, vermutete Pei Ming.

»Ganz genau«, bestätigte Jun Wu. »Der ganze Vorgang wird einige Monate dauern. Wir müssen dem Einhalt gebieten, solange wir noch können.«

»Was passiert, wenn wir sie nicht rechtzeitig aufhalten? Können wir es nachträglich noch stoppen?«, fragte Xie Lian.

»Ja. Aber ich hoffe sehr, dass es nicht so weit kommen wird«, entgegnete Jun Wu. »Unser Hauptproblem besteht derzeit darin, dass der Aufruhr der Geister eine Welle von Chaos verursacht hat. Viele Dämonen, die sicher verwahrt und versiegelt waren, konnten entkommen, darunter auch einige, die sehr gefährlich sind – wie zum Beispiel die Geisterfrau Xuan Ji, der Fötusgeist und der Brokatheilige. Während wir hier reden, sind sie wahrscheinlich schon auf dem Weg zum Berg Tonglu. Wir müssen dafür sorgen, dass sie so schnell wie möglich wieder eingefangen werden.«

»Sie sind alle entflohen? Das ist in der Tat beunruhigend«, bemerkte Xie Lian.

»Deswegen muss ich alle Kriegsgötter auffordern, die Mühe auf sich zu nehmen, ihr jeweiliges Herrschaftsgebiet nach diesen Geistern zu durchsuchen«, sagte Jun Wu.

»Und … was ist mit mir?«, erkundigte sich Xie Lian.

Obwohl er momentan ein Schrottgott war, war er die ersten beiden Male als Kriegsgott in den Himmel aufgestiegen. Auch jetzt erfüllte er noch dieselben Funktionen. Der einzige Unterschied war, dass ihm kein eigenes Gebiet zugewiesen worden war.

Nachdem er eine Zeit lang darüber nachgedacht hatte, sagte Jun Wu: »Xianle, warum geht Ihr nicht mit Qiying?« Er ließ den Blick durch den Saal schweifen. »Wo ist Qiying?«

Xie Lian sah sich um, aber auch er konnte keine Spur des jungen Kriegsgotts entdecken.

Im Himmel hatten sich in der letzten Zeit die Ereignisse überschlagen, der Lingwen-Palast ertrank in Arbeit. Lingwens Augenringe waren sogar noch einen Ton dunkler als sonst. »Es ist schon lange her, dass Qiying zuletzt zu einer Versammlung kam. Wir können derzeit keinen Kontakt zu ihm aufbauen«, erklärte sie.

Einige Himmelsbeamte schnalzten mit der Zunge. »Wohin hat der Bengel sich verdrückt?«

»Schon wieder nicht hier? Ich beneide ihn, dass er sich vor all diesen Versammlungen drücken kann.«

»Wir wissen nicht, wo er sich momentan aufhält«, mahnte Jun Wu. »Sobald wir ihn gefunden haben, wird er sich mit Euch in Verbindung setzen.«

Xie Lian neigte den Kopf. »Gut.«

In der Sphäre der Sterblichen war inzwischen Herbst, es war kühl geworden – auch im Puqi-Schrein. Obwohl Xie Lian nur eine Schicht Kleidung trug, spürte er die Kälte allerdings nicht. Doch auf dem Heimweg kaufte er mit dem Geld, das er durchs Schrottsammeln verdient hatte, zwei Sätze warmer Kleidung für Lang Ying.

Hua Cheng war in die Geisterstadt zurückgekehrt und Qi Rong war mit Guzi im Schlepptau geflohen, außer Lang Ying hielt sich also niemand mehr im Puqi-Schrein auf. Die ganze Zeit hatte es sich beengt angefühlt, nun jedoch wirkte der Schrein einsam und verlassen. Als Xie Lian auf den Schrein zuging, sah er, wie Lang Ying schweigend das goldene Laub vor dem Eingang zu einem Haufen zusammenfegte.

Vielleicht irrte sich Xie Lian, aber es kam ihm so vor, als habe Lang Ying seine gewohnte leicht gekrümmte, ängstliche Haltung abgelegt und stehe nun aufrechter und gerader als zuvor. Es freute ihn, zu sehen, dass er sich mehr und mehr zu einem fröhlichen und optimistischen Jungen wandelte. Er nahm ihm den Besen ab und wollte ihn gerade hineinbringen, da stürmten die Dorfleute auf ihn ein, die schon lange versteckt auf ihn gelauert hatten. Junge und Alte veranstalteten einen Riesenlärm.

»Meister, Ihr seid zurück!«

»Wart Ihr wieder Schrott sammeln? Das ist harte Arbeit, wahrhaft harte Arbeit … Also, sagt, wie kommt es, dass wir Xiao1-Hua so lange nicht mehr gesehen haben?«

»Ja, wir haben ihn schon tagelang nicht mehr gesehen. Wir vermissen ihn.«

Xie Lian lächelte schüchtern. »Xiao…Hua … ist nach Hause gegangen.«

»Was?«, rief der Dorfvorsteher entrüstet. »Welches Zuhause? Ich dachte, das hier sei sein Zuhause? Ist er nicht hier bei Euch eingezogen?«

»Nein, nein. Er war nur zu Besuch. Gerade haben wir beide viel zu tun, daher ist er abgereist.«

Hua Cheng hatte ihn immer wieder nach jener denkwürdigen Nacht gefragt. Er wollte wissen, was passiert war, aber Xie Lian hatte stur darauf bestanden, dass sie in einen Kampf geraten seien. Und nun, da der Berg Tonglu sich geöffnet hatte, hatte Hua Cheng andere Sorgen. Sollte tatsächlich ein neuer Geisterkönig geboren werden, würde das an keiner der drei Sphären spurlos vorübergehen. Hua Cheng und das Schwarze Wasser hatten einen völlig unterschiedlichen Charakter – der eine war extrovertiert, der andere hielt sich im Hintergrund. Aber beide hatten ihre eigene Moral und ihren eigenen Stil. Sie wussten, wer sie waren, wo sie hingehörten und was sie sich erlauben durften. Niemand konnte vorhersehen, was für eine Art Geistwesen dieses Mal aus dem Berg hervorgehen würde. Nicht auszudenken, was für Schwierigkeiten es mit sich brächte, wenn der Berg einen Wahnsinnigen wie Qi Rong hervorbringen würde und er mit den anderen über die Aufteilung der Herrschaftsgebiete in Streit geraten würde. Daher hatte Xie Lian die Ausrede, diesen Herbst viel zu tun zu haben, vorgeschoben und gesagt, es sei das Beste, wenn jeder sich eine Zeit lang um seine eigenen Angelegenheiten kümmere. Und so hatten sie sich verabschiedet.

Das mochte plötzlich gekommen sein und abweisend erscheinen, als würde er einem Freund die kalte Schulter zeigen, doch er hatte sich nicht anders zu helfen gewusst. Er glaubte nicht mehr daran, dass es ihm nun noch gelingen würde, seine Gefühle zu verbergen.

Plötzlich sagte Lang Ying hinter ihm: »Feuer.«

Da erst bemerkte Xie Lian, dass er die ganze Zeit so zerstreut gewesen war, dass er, ohne es zu merken, Topf und Kochlöffel zur Hand genommen hatte und das Fleisch und Gemüse, die Lebensmittel, die er gerade erst mit zum Puqi-Schrein gebracht hatte, vollkommen ruiniert hatte. Die Flammen unter dem Topf waren fast zwei Meter hoch, sie berührten beinahe die Decke.

Mit der Handfläche schlug Xie Lian das Feuer rasch aus. Doch er hatte viel zu kräftig zugeschlagen, sodass der ganze Herd zusammenbrach.

Als das Scheppern verklungen war, stand er ratlos da, den Topf noch in der Hand, und wusste nicht, was er tun sollte. Es war gerade Essenszeit. Die Dorfbewohner saßen vor ihren Häusern, hielten große Schüsseln in beiden Händen und ließen es sich schmecken. Der Lärm im Schrein lockte einige von ihnen wieder an.

»Was ist passiert? Meister, ist der Schrein wieder in die Luft geflogen?«

Xie Lian öffnete schnell das Fenster. Hustend antwortete er: »Es ist nichts, alles gut …«

Der Dorfvorsteher kam ebenfalls zum Schrein, um nach dem Rechten zu sehen. »Du liebe Güte, das ist ja schrecklich! Meister, ich denke, Ihr solltet Xiao-Hua schleunigst zurückrufen.«

Xie Lian war kurz sprachlos. »Das ist nicht nötig. Er … gehört schließlich nicht zur Familie.«

Als er sich wieder einigermaßen gesammelt hatte, hatte Lang Ying bereits den Boden aufgeräumt und sauber gemacht. Ein Teller mit leuchtend rot-violettem Inhalt stand auf dem Tisch – eine Speise, die Xie Lian wahllos zusammengeschüttet hatte, während seine Gedanken abgeschweift waren. Seine letzte Kreation hatte er »Suppe der hundertjährigen Harmonie« genannt, zu diesem neuen Gericht würde der Name »Gebratene Farbexplosion« passen. Außer Hua Cheng gab es wohl niemanden auf der ganzen Welt, der dieses Zeug freiwillig essen würde. Nicht einmal Xie Lian selbst konnte den Anblick der Speise ertragen. Er drehte sich um, um den Topf zu spülen. Resigniert rieb er sich die Nasenwurzel. »Vergiss es, iss das nicht. Wirf es weg.«

Doch als er den Topf gespült hatte und sich wieder umgedrehte, sah er, dass Lang Ying den Teller genommen und wortlos gegessen hatte. Erschrocken hastete Xie Lian zu ihm, um ihn aufzuhalten. »Meine Güte, geht es dir gut?«, fragte er und fasste ihn an den Schultern. »Tut dir irgendetwas weh?«

Lang Ying schüttelte den Kopf. Da sein Gesicht vollkommen unter Verbänden verborgen war, war seine Miene nicht zu erkennen. Selbst Qi Rong und das Schwarze Wasser hatten fast den Verstand verloren, als sie von seinem Essen probiert hatten, aber Lang Ying schien es nichts auszumachen. War er so ausgehungert gewesen oder hatte er plötzlich eine Widerstandskraft erlangt, die die der beiden übertraf? Xie Lian musste bei dem Gedanken schmunzeln. Er machte Ordnung und ging dann zu Bett.

Im Puqi-Schrein gab es zwei Schlafmatten, eine pro Person. Bei der Erinnerung, dass er und Hua Cheng genau jene Matte, auf der er nun lag, geteilt hatten, war es Xie Lian unmöglich, zur Ruhe zu kommen. Er war hellwach, unterdrückte jedoch den Drang, sich hin und her zu wälzen, weil er Lang Yings Schlaf nicht stören wollte. Nachdem er sich eine lange Zeit so gequält hatte, dachte er sich, er könne genauso gut aufstehen und etwas Luft schnappen.

Da hörte er ein Knarren. Jemand stieß leise ein Fenster auf und sprang hinein.

Xie Lian lag auf der Seite, mit dem Rücken zum Fenster. Er erschrak. Wer war so verzweifelt, dass er hier etwas zu stehlen hoffte? Seine Bemühungen würden vergeblich sein.

Der Eindringling bewegte sich auf leisen Sohlen und war äußerst geschickt. Jemand, der nicht über Xie Lians überaus scharfe Sinne verfügte, hätte ihn niemals bemerkt. Nachdem er den Schrein betreten hatte, ging er direkt auf den Spendenkasten zu.

Xie Lian erinnerte sich sofort, dass dieser mit Goldbarren gefüllt gewesen war. War der Dieb deswegen gekommen? Xie Lian hatte das Gold längst an den Oberen Hof zurückgebracht und Lingwen gebeten, den Eigentümer zu ermitteln.

Mit gespitzten Ohren hörte Xie Lian, dass die Person nicht versuchte, den Spendenkasten aufzubrechen, sondern dass sie nach und nach lauter Dinge hineinsteckte.

Nachdem der Eindringling fertig war, wandte er sich wieder zum Fenster, um zu fliehen.

Xie Lian wollte ihm folgen, sobald er den Schrein verlassen hatte, um zu sehen, wer er war und wohin er ging. Doch die Dinge nahmen eine unerwartete Wendung: Im Vorbeigehen erblickte der Einbrecher die Teller mit Speisen auf dem Altar. Offensichtlich war er hungrig. Ohne lange nachzudenken, stopfte er sich mehrere Bissen der Gebratenen Farbexplosion in den Mund.

Mit einem lauten Schlag brach er wenige Augenblicke später auf dem Boden zusammen.

Xie Lian drehte sich um, setzte sich auf und dachte: Das hat mir einige Mühe gespart.

Er entzündete eine Lampe. Auf dem Boden lag ein Mensch lang hingestreckt. Sein Gesicht war violett angelaufen. Xie Lian eilte ihm zu Hilfe. Er flößte ihm Wasser ein, bis er langsam wieder zu sich kam. Das Erste, was er sagte, nachdem er wieder bei Bewusstsein war, war: »Was war das denn?«

Xie Lian tat so, als hätte er es nicht gehört. »Eure Hoheit Qiying, Ihr seid zu leichtsinnig«, tadelte er. »Ihr könnt Euch doch nicht einfach irgendetwas in den Mund stopfen, ohne zu wissen, was es ist.«

Der junge Mann hatte eine gerade Nase, markante Augenbrauen und einen rabenschwarzen Lockenkopf. Er konnte kein anderer sein als Quan Yizhen, der Kriegsgott des Westens. Er starrte Xie Lian an. »Ich hätte im Traum nicht gedacht, dass jemand das Essen in seinem eigenen Schrein vergiftet.«

Xie Lian rieb sich die Nasenwurzel. Er warf einen Blick in den Spendenkasten und sah, dass er wieder bis obenhin mit Goldbarren gefüllt war. »Wart Ihr es auch, der letztes Mal den Kasten befüllt hat?«

Quan Yizhen nickte.

»Warum bringt Ihr mir dieses Gold?«

»Weil ich reichlich davon habe.«

Auch wenn er die Wahrheit nicht aussprach, hatte Xie Lian eine Vermutung. Er glaubte, diese Großzügigkeit rühre daher, dass er beim Mittherbstbankett ein Stäbchen geworfen und damit den Vorhang des Schauspiels hatte fallen lassen. »Nehmt es wieder mit. Ich habe nichts getan, um es zu verdienen.«

Quan Yizhen antwortete nicht und hatte offensichtlich auch gar nicht zugehört. Xie Lian wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte.

»Er sagt, Ihr sollt es wieder mitnehmen«, erklärte Lang Ying kühl.

Wann war er aufgestanden? Xie Lian starrte ihn verwundert an. Lang Ying hielt sich normalerweise immer im Hintergrund, als sei er unsichtbar und würde er am liebsten im Erdboden versinken. Wie kam es, dass er heute so viel sprach, noch dazu in einem so unfreundlichen Ton? Aber Xie Lian dachte nicht weiter darüber nach.

»Eure Hoheit, Ihr kommt gerade recht. Ihr habt heute nicht an der Zusammenkunft im Shenwu-Palast teilgenommen, aber Jun Wu hat uns einen Auftrag erteilt. Habt Ihr die Schriftrolle gelesen? Schon in Ordnung. Ich weiß, dass Ihr sie nicht angesehen habt. Ich habe sie gelesen. Wir beide werden zusammenarbeiten und sind für den sogenannten Brokatheiligen verantwortlich.«

Der Erhabene der Schwarzmalerei wurde »Erhabener« genannt, weil man sich nicht traute, ihn als Gauner oder Teufel zu bezeichnen. Es war eine erzwungene Ehrung. Warum aber wurde der Brokatheilige als Heiliger bezeichnet? Der Grund war, dass dieses Wesen Legenden zufolge einst das Potenzial in sich getragen hatte, ein Gott zu werden.

Die Legende besagte, vor vielen Jahrhunderten habe in einem alten Königreich ein junger Mann gelebt. Er war von Natur aus einfältig, sein Intellekt war mit dem eines sechsjährigen Kindes vergleichbar. Wenn er aber das Schlachtfeld betrat, war er ein anderer: ein begnadeter Kampfkünstler, äußerst talentiert und zudem auch noch gütig und tapfer. Wann immer seine Armee in einen Kampf mit einem feindlichen Reich geriet, hing der Fortbestand seines Heimatlandes am seidenen Faden. Er stand in jeder Schlacht an vorderster Front, wo er sich abrackerte wie ein Tier, und es gelang ihm jedes Mal, die feindlichen Linien zu durchbrechen. Aber da er geistig zurückgeblieben war und keine Familie hatte, rissen sich andere die militärischen Verdienste, die ihm zustanden, unter den Nagel und er war arm wie eine Kirchenmaus. Keiner wollte seine Tochter einem solchen Mann zur Frau geben und kaum ein Mädchen wagte sich an ihn heran. Er war ohnehin ungeschickt im Umgang mit Mädchen und da er nicht darin geübt war, wagte er nicht, mit ihnen zu reden.

Doch trotz alledem besaß dieser Mann das Potenzial, als Gott in den Himmel aufzusteigen. Nur noch ein paar Jahre des Kämpfens wären nötig gewesen und er wäre aufgestiegen. Also spielte es keine Rolle, ob die Mädchen ihn mochten. Das Traurige war, dass er sich unsterblich verliebte.

Zu seinem Geburtstag schenkte das Mädchen, das er liebte, ihm ein Brokatgewand, das es selbst genäht hatte. Man konnte dieses Kleidungsstück als Gewand bezeichnen, doch es sah höchst seltsam aus, eher wie ein unansehnlicher Sack. Es war das erste Mal im Leben des jungen Mannes, dass ein Mädchen ihm etwas geschenkt hatte, und er war überglücklich darüber. Dank seiner angeborenen Einfalt bemerkte er nichts Ungewöhnliches und versuchte, in das »Gewand« zu schlüpfen.

Das Kleidungsstück hatte keine Ärmel, also fragte er das Mädchen: »Wieso kann ich meine Arme nicht herausstrecken?«

Das Mädchen lächelte ihn aufmunternd an. »Ich habe zum ersten Mal genäht und kann es noch nicht so gut. Das wäre kein Problem, wenn du keine Arme hättest.«

Also hackte der junge Mann sich die Arme ab, mit denen er stets die Waffen geführt hatte. Doch das war noch nicht genug. Er fragte weiter: »Wieso kann ich meine Beine nicht herausstrecken?«

Das Mädchen sagte: »Das wäre kein Problem, wenn du keine Beine hättest.«

Also bat der Mann jemandem, ihm auch die Beine abzuhacken. Zuletzt fragte er das Mädchen: »Wieso kann mein Kopf nicht herausgucken?«

Es ist nicht allzu schwer, sich den weiteren Hergang zusammenzureimen.

Xie Lian hatte angenommen, der Brokatheilige sei ein Dämon, der ein Brokatgewand trüge. Er wäre nie darauf gekommen, dass damit das Gewand selbst bezeichnet wurde. Als der Berg Tonglu sich geöffnet hatte und Millionen von Geistern in Aufruhr versetzt hatte, hatte jemand das Gewand gestohlen. Nachdem es das Blut jenes verliebten jungen Mannes aufgesogen hatte, war es zu einem äußerst bösartigen und mächtigen magischen Werkzeug geworden. Über die Jahrhunderte war es von einem Dämon zum anderen gewandert und stets dazu verwandt worden, anderen Schaden zuzufügen.

Das mag anderen als Warnung gelten, niemals alte, gebrauchte Kleidung anzunehmen, deren Herkunft unbekannt ist. Wenn ein Fremder euch nachts auf der Straße einen Brokatumhang schenken möchte, nehmt ihn nicht an – denn wenn ihr ihn tragt, wird er euren Geist verwirren. Ihr werdet wie in Trance sein und alles mit euch geschehen lassen, ohne euch zu wehren, bis er euch schließlich den letzten Tropfen Blut ausgesaugt hat.

Natürlich war das nur eine Geschichte, und eine ziemlich unglaubwürdige noch dazu. Vielleicht hatte sie jemand erfunden, um eine Erklärung für die besonderen Eigenschaften des Brokatgewandes zu liefern. Doch wie dem auch sei, der Brokatheilige musste aufgehalten werden. Sie mussten unbedingt verhindern, dass er den Berg Tonglu erreichte.

»Eure Hoheit Qiying? Eure Hoheit? Hört Ihr mir zu?« Xie Lian streckte eine Hand aus und fuchtelte Quan Yizhen vor dem Gesicht herum.

Dieser sah aus, als sei er mit den Gedanken weit weg, erst in diesem Moment kam er wieder richtig zu sich. »Oh«, machte er nur.

Es hatte den Anschein, als habe er überhaupt nicht zugehört. Xie Lian konnte dieses Verhalten nicht einschätzen. Also fasste er zusammen: »Unser Auftrag ist also, den Brokatumhang zu finden. Seine ursprüngliche Gestalt ist …«

»Ein blutdurchtränkter, ärmelloser, sackartiger Umhang ohne Kopföffnung«, beendete Quan Yizhen seinen Satz.

Xie Lian schmunzelte. »Ihr wisst also doch Bescheid. Und ich dachte, Ihr hättet Euch nicht schlaugemacht. Dieser Umhang ist ein Objekt der Niedertracht. Er verfügt über mächtige Magie und kann in Tausenden Gestalten daherkommen. Es gibt Millionen Kleidungsstücke auf der Welt. Nach diesem einen zu suchen ist wie die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen.«

»Oh. Wie sollen wir vorgehen?«, erkundigte sich Quan Yizhen.

»Geister und Dämonen, die dieses Kleidungsstück in der Vergangenheit in die Finger bekamen, verkleideten sich normalerweise als Händler und boten auf der Straße gebrauchte Kleidung zum Verkauf oder Tausch an. Aber das ist schon seit Jahrhunderten nicht mehr üblich, es würde auffallen, wenn jemand so etwas heutzutage versuchen würde. Geister ändern ihre Gewohnheiten nicht so leicht. Ich schlage vor, dass wir uns in der Stadt umhören, ob etwas Vergleichbares beobachtet wurde«, sagte Xie Lian.

Was diese Dinge anging, waren Geister aufmerksamer als Sterbliche. Die Gerüchteküche der Geisterstadt war wahrscheinlich bestens informiert. Mit anderen Worten: Sie könnten eine Menge Zeit sparen, wenn er Hua Cheng danach fragen würde. Aber Xie Lian hatte ihm gerade erst gesagt, dass sie sich eine Weile nicht treffen sollten. Nun, wo er etwas von ihm brauchte, seinen eigenen Entschluss über den Haufen zu werfen würde keinen guten Eindruck machen. Außerdem war der Brokatheilige gerade erst gestohlen worden. Der Dieb hatte wahrscheinlich noch gar keine Gelegenheit gehabt, ihn zum Schaden anderer einzusetzen.

Quan Yizhen nickte, stand auf und lief ihm ein paar Schritte hinterher.

Xie Lian bemerkte, dass Lang Ying es ihm gleichtat. »Du bleibst hier«, sagte er zu ihm.

Lang Ying schüttelte den Kopf. Bevor Xie Lian noch etwas entgegnen konnte, hörte er einen dumpfen Schlag. Quan Yizhen war hinter ihm erneut zusammengebrochen.

Xie Lian fuhr herum. »Was ist passiert?«

Quan Yizhens Gesicht zeigte verschiedene Abstufungen von Violett. Er versuchte, es zu unterdrücken, aber es gelang ihm nicht. Er kam auf alle viere und erbrach sich über den gesamten Boden.

Nachdem er sich übergeben hatte, wälzte sich Quan Yizhen auf den Rücken. Er sah aus, als würde seine Seele ihn durch seinen geöffneten Mund verlassen. »Qiying … könnt Ihr überhaupt mitkommen?«, fragte Xie Lian vorsichtig.

Quan Yizhen lag da, alle viere von sich gestreckt. »Ich glaube nicht.«

Xie Lian blieb nichts anderes übrig, als den vollkommen kraftlosen Quan Yizhen in eine Ecke zu zerren, wo er eine Decke über ihn ausbreitete und ihn ausruhen ließ.

Erst am nächsten Tag sah Quan Yizhen etwas besser aus. Aber Xie Lian wagte es nicht, ihm irgendetwas aus dem Schrein zu essen zu geben. Er erbat sich im Haus des Dorfvorstehers etwas Reisbrei und brachte ihn in den Schrein, damit die anderen sich satt essen konnten. Quan Yizhen saß auf Xie Lians Platz und aus irgendeinem Grund starrte ihn Lang Ying die ganze Zeit über feindselig an.

Xie Lian stellte die Schüssel vor ihm ab und murmelte unbewusst: »San Lang …«

Kaum waren ihm die Worte über die Lippen gekommen, drehten sich beide zu ihm. Xie Lian erstarrte und bemerkte in diesem Moment erst, was er da von sich gegeben hatte. Er räusperte sich leise und sagte: »Esst nur.«

Während die beiden am Altartisch saßen und den Reisbrei aßen, nahm Xie Lian eine Axt zur Hand und ging nach draußen. Beim Holzhacken dachte er noch einmal über die Hinweise nach, die er der Niederschrift entnommen hatte:

Der Brokatheilige war hinter einem äußerst mächtigen Siegel im Shenwu-Palast gefangen. Der Tempel verfügt über höchste Sicherheitsvorkehrungen und wird Tag und Nacht bewacht. Nur die fähigsten Kämpfer werden für den Wachdienst eingesetzt. Ein gewöhnlicher Aufruhr in der Geisterwelt hätte ihm eigentlich nicht so leicht zur Flucht verholfen dürfen. Jemand muss die Chance ergriffen haben, ihn in dem Durcheinander zu entwenden …

Sonst hatte immer Hua Cheng das Holz gehackt. Nun, da er es selbst tat, kam es Xie Lian vor, als sei sein Holz nicht so hübsch gehackt wie das von Hua Cheng.

Quan Yizhen fühlte sich elend. Er nahm etwas wässrigen Reisbrei zu sich, dann legte er sich wieder hin und schlief ein. Lang Ying kam heraus, um Xie Lian zu helfen.

»Das musst du nicht. San … Lang Ying, mach dir etwas Wasser heiß und nimm ein Bad.«

Nun, da er darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass Lang Ying lange kein Bad genommen hatte. Geister mussten sich zwar keine Gedanken über Körperfett und Schweiß machen, aber Schmutz und Staub gab es dennoch abzuwaschen, wenn sie den ganzen Tag draußen unterwegs waren. Um den Jungen nicht zu beleidigen, formulierte er es jedoch nicht so direkt.

Lang Ying sah ihn fassungslos an, aber Xie Lian trug bereits einige Holzscheite in den Schrein, um das Wasser heiß zu machen.

»Ich habe gestern in der Stadt Schrott verkauft und dir warme Kleidung für den Herbst besorgt. Wie wäre es, wenn du sie nach deinem Bad anprobierst?«

Lang Ying war bereits dabei, die neuen Sachen anzuziehen. Als er Xie Lians Vorschlag hörte, drehte er sich ohne ein Wort um und ging.

Xie Lian packte ihn und hielt ihn fest. »Geh nicht weg. Du musst baden«, mahnte er. »Keine Sorge, ich mache die Verbände um deinen Kopf nicht ab.«

Lang Ying protestierte weiterhin. Es gelang ihm, zur Tür hinauszuschlüpfen, und er fing an, Holz zu hacken. Er weigerte sich, wieder in den Schrein zu kommen.

Ratlos legte Xie Lian mehr Holz auf, um nun selbst ein Bad zu nehmen. Während er das Wasser erhitzte, zog er seine Kleider aus. Ruoye wickelte sich Bahn für Bahn von seiner Brust ab.

In diesem Moment kam Lang Ying wieder herein, einen Stapel Holz auf den Armen. Als er Xie Lian mit nacktem Oberkörper sah, weiteten sich seine Augen.

Xie Lian prüfte gerade mit einer Hand die Temperatur des Badewassers. Er befand es als genau richtig und wollte mit seiner Hose ins Bad steigen. »Ah, du kommst gerade recht«, sagte er, als er Lang Ying sah. »Kannst du mir die Schriftrolle geben, die unter dem Bambushut an der Wand hängt?«

Lang Ying näherte sich ihm nicht nur nicht, er stolperte rückwärts wieder hinaus und schlug die Tür von außen zu. Xie Lian war verblüfft.

Nur einen Moment später war Lang Ying scheinbar etwas eingefallen und er trat die Tür gewaltsam wieder auf.

»Tritt nicht gegen die Tür! Sie ist …«, rief Xie Lian hastig aus.

Ohne in seine Richtung zu blicken, stürmte Lang Ying herein. Quan Yizhen lag wie ein Toter hingestreckt auf dem Boden, er leistete keinerlei Gegenwehr, als Lang Ying ihn nach draußen zerrte. Er schien so tief zu schlafen, dass ein Erdbeben nötig gewesen wäre, um ihn aufzuwecken. Er spürte nicht, wie er über den Boden geschleift wurde.

Xie Lian wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. »Was machst du da? Es ist alles in Ordnung, ich bin doch kein Mädchen. Komm wieder herein.«

Tatsächlich hatte er nicht im Schrein gebadet, während Hua Cheng bei ihm gewesen war. Der Schrein war zu klein und die Bedingungen ungünstig. Xie Lian konnte sich schon glücklich schätzen, dass er überhaupt einen Badezuber hatte. Natürlich hatte er kein dreißig Meter langes Becken mit Sichtschutz, in dem er bootfahren und schwimmen konnte, wie es ihm beliebte. Ob es absichtlich passiert war oder nicht, jedenfalls hatte er nie in Hua Chengs Anwesenheit gebadet.

Aber der, der nun vor ihm stand, war nicht Hua Cheng, also sah er kein Problem.

Lang Ying drehte Quan Yizhen um, dann legte er ihm einige Kleidungsstücke über den Kopf. Er nahm die Schriftrolle, um die Xie Lian gebeten hatte, und reichte sie ihm mit gesenktem Kopf. Dann setzte er sich reglos in eine Ecke.

Xie Lian löste sein Haar und rollte die Niederschrift auf. Er las sie sorgfältig durch und zog die Augenbrauen zusammen. Der Dampf des Badewassers erhitzte sein Gesicht und ließ seine Haut rosig schimmern. Sein langes Haar und seine Wimpern waren feucht und glänzten schwarz.

Plötzlich fiel ihm die dünne silberne Halskette auf, die auf seiner nackten Brust lag, und der Diamantring, der an ihrem Ende funkelte. Xie Lian nahm den Ring und hielt ihn in seinen Fingern. Am Rande seines Blickfelds bemerkte eine kleine Blume, die auf der Ecke des Altartischs lag. Ohne nachzudenken, hob er sie auf und hielt sie sich vors Gesicht. Er spürte, wie sich sein Geist umwölkte, der heißen, dampferfüllten Luft vor seinen Augen gleich. Er brauchte beide Hände, um den dichten Dunst zu vertreiben.

Da hörte er ein lautes Klopfen an der Tür. Das Geräusch riss ihn aus seinen Tagträumen und er legte die Blume wieder hin. Noch bevor er fragen konnte, wer es war, bemerkte er, dass es nicht an seiner Tür klopfte, sondern an der des Dorfvorstehers nebenan.

Die zarte Stimme einer Frau war zwischen den Klopfgeräuschen zu hören. »Ist jemand zu Hause? Ich tausche alt gegen neu, alt gegen neu. Ich habe einen nagelneuen Umhang, den ich nicht gebrauchen kann. Ich tausche ihn gegen alte Kleidung ein, die besser zu mir passt. Ist der Hausherr zu Hause? Ist niemand da?«

Er hatte sich gar nicht erst auf die Suche machen müssen, das Wesen, nach dem er suchte, war ganz von selbst zu ihm gekommen.

Es klopfte und rief an jedem Haus, doch niemand öffnete ihm. Das kam nicht unerwartet. Wenn Xie Lian nicht zum Schrottsammeln unterwegs war, hielt er im Puqi-Schrein Vorträge und brachte den Dorfleuten Hunderte kleine Tricks bei, wie sie Böses erkennen konnten. Keiner der Leute würde auf einen seltsamen, ungeladenen Gast hereinfallen, der mitten in der Nacht an die Tür klopfte – heutzutage waren die Leute nicht mehr so leicht zu täuschen wie in den alten Zeiten.

Die Frau klopfte und klopfte, aber niemand antwortete. Endlich kam sie zur Tür des Puqi-Schreins. Xie Lian hielt vor Anspannung den Atem an. Offenbar konnte das Geistwesen jedoch spüren, dass dies nicht die Art Behausung war, nach der es suchte. Xie Lian hörte, wie es enttäuscht »Ach Mist!« rief. Dann entfernten sich seine Schritte.

»Wartet! Ich möchte tauschen!«, rief Xie Lian hastig. Dann flüsterte er Lang Ying zu: »Öffne die Tür. Hab keine Angst, es wird nichts passieren.«

Lang Ying fürchtete sich kein bisschen. Er ging zur Tür, um sie zu öffnen.

Draußen stand eine junge Frau mit einer schlanken und verführerischen Figur. Schon ein Blick auf die untere Hälfte ihres Gesichts verriet, dass sie eine hübsche junge Frau war. Doch die obere Hälfte war von einem Kopftuch verdeckt. So schien es, als hätte sie keine Augen, was eine beunruhigende Wirkung hatte.

Sie warf einen Blick hinein und bedeckte ihren Mund, als sie gurrte: »Meister, welche alten Kleider wollt Ihr gegen meine neuen tauschen?«

Xie Lian blieb in der Wanne sitzen, um das Geistwesen aus der Reserve zu locken. Er lächelte.

»Das kommt darauf an, wie Eure aussehen.«

Die junge Frau streckte den Arm aus, schüttelte ihn etwas und zog ein Gewand aus glänzendem Brokat aus ihrer Tasche. Es war schön, sogar prächtig, wirkte allerdings etwas altmodisch und eine böse Aura ging von ihm aus.

»Schön, schön«, lobte Xie Lian. »Lang Ying, gib der Dame die Kleidung, die ich aus dem Dorf mitgebracht habe.«

Lang Ying reichte ihr die Kleidung mit einer Hand. Die junge Frau kicherte, als sie sie entgegennahm, und gab ihm im Tausch dafür das neue Gewand. Sie wollte sich gerade umdrehen, als ihr Ausdruck sich plötzlich veränderte. Als hätte etwas sie in die Hand gestochen, fing sie an zu schreien und warf die Kleider auf den Boden.

Ruoye war in einem unbemerkten Augenblick in die Hanfkleidung gekrochen und hatte sich dort versteckt gehalten. Wie eine züngelnde Giftschlange war es nun aus dem Kragen der Kleidung hervorgeschnellt.

Die junge Frau war kein gewöhnliches Mädchen. Nachdem sie schreiend zurückgewichen war, hatte Ruoye ihr Kopftuch heruntergerissen, sodass es zu Boden fiel und ihr ganzes Gesicht enthüllte. Die untere Hälfte war bezaubernd schön, die obere Hälfte dagegen war das Gesicht einer faltigen alten Frau. Der Kontrast sah schrecklich aus – von wegen junge Frau! Sie war eine achtzigjährige Greisin!

1 Verniedlichungsform.

Kapitel 69: Das Färberhaus weit geöffnet

Es war eine Halbgesichtdämonin!

Ein Halbgesicht war ein Geist niedrigen Ranges. Es waren Geister, die aus dem Neid entstehen, den alte Frauen jüngeren Mädchen gegenüber hegten. Sie konnten sich nicht damit abfinden, dass sie alterten, und glaubten, dass sie ihre Jugend zurückerlangen könnten, wenn sie das Blut und das Fleisch junger Mädchen zu sich nahmen. Sie quietschten mit hohen Stimmen, um junge Mädchen nachzuahmen, aber wie man sagte: Die Augen waren das Fenster zur Seele. So sehr sie sich auch bemühten, sie konnten ihr Alter nicht restlos vertuschen. Je mehr Blut und Fleisch sie verzehrten, umso jünger erschien die untere Hälfte ihres Gesichts. Die obere Hälfte mit den Augen alterte dagegen nur umso schneller. Der scharfe Kontrast, der sich daraus ergab, war schrecklicher anzusehen als echtes Altern, aber sie weigerten sich stur, sich einzugestehen, dass sie einem Irrweg folgten.

Tropfnass wie er war, stand Xie Lian auf, setzte einen Fuß auf den Zuberrand und machte sich bereit, sie mit einem Sprung anzugreifen.

Doch genau in diesem Moment kehrte Quan Yizhen von der Schwelle des Todes zurück. Er sprang auf und holte zu einem heftigen Schlag aus.

Die Halbgesichtdämonin war zu schwach, ihm etwas entgegenzusetzen. Laut heulend ging sie zu Boden. »Habt Gnade!«

Xie Lian griff hastig nach seiner Robe und warf sie sich über. »Ihr habt also den Brokatheiligen gestohlen?«

»Ich war es nicht, ich war es nicht!«, schrie die Halbgesichtdämonin. »Ich würde es niemals wagen, in den Shenwu-Palast einzubrechen!«

Xie Lian kam zu dem Schluss, dass sie mit großer Sicherheit die Wahrheit sprach. Eine niedere Dämonin wie sie würde wohl kaum den Mut aufbringen, einfach so in den Shenwu-Palast einzudringen. Sie würde umkommen vor Angst. Außerdem bestand vermutlich keinerlei Verbindung zwischen ihr und dem Brokatheiligen. Grob geschätzt betrug ihr Geistalter ungefähr achtzig Jahre, der Brokatheilige hingegen war mehrere Jahrhunderte alt.

»Wie ist dieser Brokatumhang dann in Eure Hände gelangt?«, hakte Xie Lian nach.

Die Dämonin hob ihr Kopftuch auf und bedeckte wieder die obere Hälfte ihres Gesichts. Mit einer hohen, quietschenden Stimme antwortete sie: »Meister … ich sage es Euch … ich habe ihn beim Bummeln in einem Geschäft in der Geisterstadt entdeckt …«

Konnte das wirklich wahr sein? In einem Geschäft in der Geisterstadt?

Xie Lian war einen Augenblick lang sprachlos. Dann fragte er: »Wer hat ihn Euch verkauft?«

»Meister, ich flehe Euch an, lasst mich gehen!«, bat die Halbgesichtdämonin ängstlich. »Ich weiß es nicht. Um ein Geschäft in der Geisterstadt zu eröffnen, muss man keine Ahnentafel über achtzehn Generationen vorweisen.«

Das stimmte natürlich. Wenn solche Maßnahmen nötig wären, um in der Geisterstadt ein Geschäft zu betreiben, wäre dieser Ort nicht annähernd so lebhaft. Schlupflöcher und Gesetzeslücken ließen den Handel florieren.

Xie Lian befragte sie noch eine Zeit lang, aber es kam nichts weiter dabei heraus. Er gelangte zu der Feststellung, dass diese Dämonin nichts weiter war als eine ahnungslose kleine Geisterfrau. Er wandte sich an Quan Yizhen: »Qiying, lasst einen Eurer Himmelsbeamten kommen, um sie mitzunehmen.«

»Ich habe keine Himmelsbeamten in meinem Palast«, erwiderte Quan Yizhen.

»Nicht einen einzigen? Ihr habt keine Generäle ernannt?«

»Nicht einen einzigen«, bestätigte Quan Yizhen selbstsicher.

Es stellte sich heraus, dass der Kriegsgott des Westens stets allein arbeitete. Er hatte niemals jemanden auf einen Posten berufen, nicht einmal einen Assistenten, der ihn bei den alltäglichen Aufgaben unterstützte. In Xie Lians Fall lag es daran, dass er es sich nicht leisten konnte. Quan Yizhens Situation war anders, die Erklärung war wohl, dass er zu exzentrisch war.

Xie Lian blieb keine andere Wahl, als einen Tontopf hervorzukramen und die Dämonin vorerst darin einzuschließen. Dann nahm er Lang Ying das Brokatgewand aus den Händen und breitete es aus, um es zu untersuchen. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen.

Unverkennbar ging Boshaftigkeit von ihm aus, aber … wie konnte man es beschreiben? Xie Lians Meinung nach lag die boshafte Aura dieses Kleidungsstückes nicht tief in seinem Inneren, sondern war auf seltsame Art oberflächlich. Als wäre sie nichts weiter als eine Schicht aus Puder und Rouge. Xie Lians siebter Sinn sagte ihm, dass dieses Ding nicht so gefährlich war, wie die Gerüchte behaupteten. Dennoch blieb er auf der Hut.

Quan Yizhen warf einen Blick auf das Gewand. »Es ist eine Fälschung.«

»Woher wisst Ihr das?«, stutzte Xie Lian.

»Es ist eine Fälschung. Ich habe den echten Brokatheiligen gesehen. Er ist weitaus mächtiger als dieses Ding.«

»Wann habt Ihr ihn gesehen?«, fragte Xie Lian neugierig. »Einige Menschen haben ihn zwar zu Gesicht bekommen, aber sie konnten ihn nicht so leicht erkennen. Wie kommt es, dass Ihr Euch so sicher seid?«

Quan Yizhen schwieg.

Doch da nahm Lingwen über den Kommunikationskanal Kontakt auf. »Eure Hoheit, wir haben gerade erfahren, dass ein kleiner Geist mit dem Brokatgewand ungefähr zehn Kilometer von Eurem Puqi-Schrein entfernt gesichtet wurde. Wir möchten Euch bitten, das zu überprüfen.«

»Noch einer? Na gut«, antwortete Xie Lian. Sein Blick fiel auf Quan Yizhen und ohne ein Geräusch von sich zu geben, fragte er wortlos über den Kommunikationskanal: »Noch etwas, Lingwen: Hat Quan Yizhen den Brokatheiligen schon einmal gesehen?«

»Qiying? Er hat ihn nicht nur gesehen. Es war viel mehr als das.«

»Was meint Ihr damit?«

»Es ist kompliziert. Ist Euch bewusst, dass Seine Hoheit Qiying nicht immer der Kriegsgott des Westens war? Diesen Posten hatte zuvor Seine Hoheit Yin Yu inne.«

Xie Lian erinnerte sich daran, wie der Windmeister ihm davon erzählt hatte, während er sich bei ihrem Abenteuer im Jile-Haus umgezogen hatte. Sein Herz zog sich zusammen. »Ich habe schon davon gehört. Waren die beiden nicht Schüler desselben Meisters?«

Vor Yin Yus Aufstieg war er der Hauptschüler seines Meisters gewesen. Eines Tages hatte er einen kleinen Herumtreiber auf der Straße aufgelesen. Er erweichte sein Herz und so bat er seinen Meister, ihn aufzunehmen. Der Junge war Quan Yizhen.

Lange Jahre lebten und lernten sie zusammen bei ihrem Meister, Yin Yu kümmerte sich während dieser Zeit immer um Quan Yizhen. Er stieg als Erster in den Himmel auf und berief Quan Yizhen als General.

»Ihr habt Quan Yizhen schon einige Male getroffen, also habt Ihr sicherlich bemerkt, dass er … nun … Er ist ein wenig …«

»Unbeholfen? Naiv? Das ist doch nichts Schlechtes«, sagte Xie Lian.

Lingwen kicherte. »Ob gut oder nicht, das hängt ganz von dem Menschen und der Situation ab. Einige halten ihn für egozentrisch, unhöflich, grob und respektlos. Hätte Yin Yu nicht stets eine schützende Hand über ihn gehalten und ihm in der Anfangszeit alle Wege geebnet und sich immer wieder für ihn eingesetzt, wer weiß, wie viele Leute dann schon versucht hätten, ihn totzuschlagen.«

»Die beiden Hoheiten hatten also ein enges Verhältnis«, stellte Xie Lian fest.

»Es war ein gutes Verhältnis. Doch unglücklicherweise stieg Quan Yizhen dann selbst als Gott in den Himmel auf.«

Beide waren aus dem Westen aufgestiegen. Wie sollte damit umgegangen werden? Beide einigten sich, den Westen gemeinsam zu regieren.

Zwei Brüder, die sich ein Herrschaftsgebiet teilten, das klang wie eine schöne Geschichte. Doch am Ende war auf dem Berg nur Platz für einen Tiger.

Yin Yus Fähigkeiten konnten mit Fug und Recht als einer himmlischen Prüfung würdig bezeichnet werden. Er war ein Mensch, wie es nur einen unter einer Million gab. Quan Yizhens Begabung hingegen konnte drei himmlischen Prüfungen standhalten, er war ein Mensch, wie es unter einer Million vielleicht keinen einzigen gab. Zu Beginn war alles gut und der Unterschied zwischen ihnen fiel nicht weiter auf. Aber mit der Zeit entwickelten sie sich mehr und mehr auseinander.

Quan Yizhen war deutlich antisozial. Er versuchte nicht, freundschaftliche Beziehungen zu anderen Himmelsbeamten aufzubauen, und gab sich keine Mühe, sich mit seinen Anhängern gutzustellen. Er tat genau das Gegenteil. Von Yin Yu abgesehen merkte er sich nicht einen Namen der übrigen Himmelsbeamten und er war so anmaßend, dass er seine Anhänger beschimpfte und sogar schlug. Er war so unkonventionell, wie es nur irgend möglich war. Doch sein Herrschaftsgebiet wurde immer größer und die Zahl seiner Anhänger nahm zu. Der Palast von Yin Yu hingegen verlor immer mehr an Ansehen, bis er sich keinen Rat mehr wusste.

Die beiden Brüder schenkten sich jedes Jahr etwas zum Geburtstag und in einem Jahr schenkte Yin Yu Quan Yizhen eine Rüstung.

»Den Brokatheiligen?«, vermutete Xie Lian.

»Ganz genau.«

Der Brokatheilige konnte seinem Träger nicht nur das Blut abzapfen und ihn töten, er hatte noch eine weitere ungewöhnliche Eigenschaft: Wurde er verschenkt, musste der Beschenkte jeden Befehl des Schenkers befolgen.

Da die beiden Brüder immer freundschaftlich miteinander umgegangen waren, legte Quan Yizhen die Rüstung an, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Bald darauf tat Yin Yu so, als würde er einen Witz machen, während Quan Yizhen sich durch den Brokatheiligen unter seiner Kontrolle befand. Hätte Jun Wu nicht bemerkt, dass etwas Seltsames vor sich ging, und ihn aufgehalten, hätte Quan Yizhen wohl seinen eigenen Kopf abgeschlagen und mit ihm wie mit einem Ball gespielt.

»Das war damals eine große Geschichte, die viel Aufsehen erregt hat. Selbstverständlich wurde Yin Yu für dieses schändliche Vergehen augenblicklich aus dem Himmel verbannt«, sagte Lingwen.

Es wäre nur folgerichtig, wenn es dadurch zu einem Zerwürfnis zwischen den beiden gekommen wäre … aber Xie Lian erinnerte sich an das alberne Schauspiel, das die Anhänger des Palasts von Qiying beim Mittherbstbankett aufgeführt hatten. Der Clown, der hinter Quan Yizhens Rücken auf und ab gesprungen war, war höchstwahrscheinlich Yin Yu gewesen. Dennoch hatte es Quan Yizhen so aufgebracht, dass er in die Welt der Sterblichen hinabgestiegen und Leute zusammengeschlagen hatte.

»Ich vermute, dass Qiying trotz allem noch eine hohe Meinung von Seiner Hoheit Yin Yu hat. Könnte es vielleicht ein Missverständnis gegeben haben?«, fragte Xie Lian.

»Wer weiß, ob es ein Missverständnis war oder nicht – Yin Yu ist nun schon seit was weiß ich wie vielen Jahren in der Verbannung. Wen interessiert das noch?«

Xie Lian nickte und wollte sich gerade verabschieden, da fügte Lingwen hinzu: »Wartet, Eure Hoheit. Da ist noch etwas. Ich war noch nicht fertig. Dreißig Kilometer vom Puqi-Schrein entfernt ist noch eine weitere unbekannte Kreatur mit dem Brokatheiligen.«

»Ist das nicht ein bisschen zu weit? Und warum gibt es zwei?«, wunderte sich Xie Lian.

»Ich bin noch nicht fertig. Hört gut zu: zweiundzwanzig Kilometer im Nordosten, siebeneinhalb Kilometer im Südosten, elf Kilometer im Norden …«

Nachdem sie ihm siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Standorte in nur einem Atemzug genannt hatte, war Lingwen endlich fertig. »Ja. Das war es vorerst.«

Als sie ihren Bericht beendet hatte, hatte Xie Lian alles schon wieder vergessen und fühlte sich etwas bedrückt. »Euer Palast leistet wirklich gute Arbeit, nicht wahr? Aber was heißt ›vorerst‹? Soll das etwa bedeuten, es gibt noch mehr? Findet in der Geisterstadt ein Ausverkauf an Brokatheiligen statt?«

»Es sieht ganz danach aus. In der Geisterstadt gibt es unzählige fliegende Händler unbekannter Herkunft, die falsche Häute tragen und Fälschungen verkaufen. Wenn sie fertig sind, wechseln sie die Haut. Wer sich auskennt, kauft deshalb nichts von irgendwelchen Leuten auf der Straße. Aber es gibt auch Geister, die auf diese Art nach Kuriositäten und Schätzen jagen und auf ein Schnäppchen hoffen. Vielen der kleinen Händler ist das Gerücht zu Ohren gekommen, dass der Brokatheilige gestohlen wurde, und sie ergreifen die Chance, Käufer übers Ohr zu hauen und ihnen irgendwelche alten Mäntel als Brokatheiligen zu verkaufen. Es ist erstaunlich, wie viele Geister darauf hereinfallen und die Umhänge an Leuten ausprobieren. Für uns, die wir hier Informationen sammeln, ist das mehr als lästig.«

Bei ihrer Suche nach dem echten Brokatheiligen war dieser Umstand tatsächlich extrem hinderlich. Wenn überall gefälschte »Brokatheilige« im Umlauf waren, war es unmöglich für sie, den echten zu finden. Aber nun, da sie den Auftrag erhalten hatten, mussten sie einen Weg finden, ihn zu erfüllen.

»Ich denke, wir sollten hier anfangen und sie einen nach dem anderen untersuchen«, sagte Xie Lian.

Er selbst hatte keine spirituellen Kräfte, Quan Yizhen konnte keine Tausendmeilenabkürzung zeichnen und keiner von ihnen hatte Generäle unter sich. Von den Standorten, die Lingwen ihnen genannt hatte, war der nächste zum Glück nicht weit entfernt, es war ein verlassenes Färberhaus in zweieinhalb Kilometern Entfernung. Obwohl es tiefste Nacht war, brachen sie dorthin auf.

Eigentlich wollte Xie Lian Lang Ying dazu bewegen, im Puqi-Schrein zu bleiben, aber er lief ihnen nach und ließ sich nicht fortschicken. Xie Lian dachte sich, dass es wohl nicht allzu gefährlich werden dürfte und es vielleicht gar nicht so schlecht wäre, wenn Lang Ying Erfahrungen sammeln könnte. Er hatte ohnehin vor, den Jungen künftig in der Kultivierung zu unterweisen. Also erlaubte er ihm schließlich, sie zu begleiten.

Die drei liefen durch die Nacht und nach einer Weile hörten sie weiter vorne auf der Straße gruselige Stimmen ein Arbeitslied singen: »I-schü-schi! I-schü-schi!«

Xie Lian blieb wie angewurzelt stehen, als er diesen vertrauten Gesang hörte. Vor ihnen kam nach und nach ein großer Schatten zum Vorschein, um den vier Geisterlichter schwebten. Quan Yizhen ging in Kampfstellung, bereit, sich zur Wehr zu setzen, ohne auch nur eine Frage zu stellen.

Doch Xie Lian zog ihn zurück. »Seid unbesorgt. Ich kenne sie.«

Kurz darauf erschienen die vier Skelette mit der Sänfte vor ihnen. Quan Yizhen sah die Sänfte mit weit aufgerissenen, leuchtenden Augen an, als sähe er zum ersten Mal etwas so Großartiges.

»Seid Ihr der Kronprinz von Xianle?«, sang das erste Skelett.

»Der bin ich. Ist etwas passiert?«

»Nein, nein, alles ist in Ordnung«, sang das goldene Skelett. »Wir Brüder haben nichts zu tun und da wollten wir nachfragen, ob Ihr es eilig habt. Vielleicht können wir Euch mitnehmen?«

Ihr Weg war nicht mehr weit, daher wollte Xie Lian schon dankend ablehnen. Quan Yizhen kam ihm jedoch zuvor und rief laut »Ja!«.

Da war er auch schon halb hinaufgeklettert, aufgeregt, diese seltsame, aber majestätische Sänfte auszuprobieren. Xie Lian wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er wollte gerade Quan Yizhen hinterherklettern und ihn zurückziehen, da neigte sich die Sänfte zur Seite und stieß den Eindringling herunter. Xie Lian geriet ebenfalls ins Wanken, doch jemand stützte ihn.

»San …«, rief er – als er sich umwandte, sah er allerdings, dass es Lang Ying war. Er war ebenfalls hinaufgestiegen, ohne dass es jemand bemerkt hatte, und hielt Xie Lian am Arm fest. Ein Paar tintenschwarze Augen sah ihn wortlos an.

Die Skelette hoben eilig die Sänfte an und begannen zu rennen, ihre acht Beine wirbelten so schnell, dass sie wie Nezhas Wind-und-Feuer-Räder2 aussahen.

So sausten sie davon und riefen dabei immer wieder: »Platz da! Macht den Weg frei! Macht den Weg frei!«

Quan Yizhen wurde achtlos auf den Boden geworfen, doch er kam sofort wieder auf die Füße und war nicht bereit, so schnell aufzugeben. Wild entschlossen, doch noch auf die Sänfte zu gelangen, sprang er auf, aber die Skelette waren zu schnell, er war immer einen Schritt hinterher. In wilder Jagd blieb er ihr dicht auf ihren Fersen. Er sah aus, als wolle er wirklich unbedingt in dieser Sänfte reisen, nur um zu sehen, wie es sich anfühlte, wenigstens einmal.

Xie Lian sah ihm zu, wie er der Sänfte hinterherjagte, und konnte nicht umhin, das etwas gemein zu finden. War das nicht so, als würde man ein kleines Kind von einem Spiel ausschließen? Obwohl er wusste, dass die Sänfte Hua Cheng gehörte und er es vielleicht nicht begrüßen würde, wenn andere Himmelsbeamte damit reisten, fragte er: »Wie ist das … können drei Leute in der Sänfte sitzen?«

Die Skelette sangen: »Nein, nein! Nur zwei Personen haben Platz!«

Sie rannten den ganzen Weg mit Höchstgeschwindigkeit. Dennoch blieb Quan Yizhen stets dicht hinter ihnen, ohne sie jedoch einzuholen.

Als sie den Zielort erreichten, ließen die goldenen Skelette Xie Lian und Lang Ying aussteigen, nahmen die Sänfte wieder auf und eilten davon. Bald schon waren sie nicht mehr zu sehen.

Quan Yizhen, dem es nicht gelungen war, an Bord der Sänfte zu gelangen, blickte ihr bitter enttäuscht und sehnsüchtig hinterher.

Xie Lian hielt Lang Ying an der Hand, seit sie aus der Sänfte ausgestiegen waren. Vor sich sahen sie das Färberhaus. Lautes Geheul und Geschrei war von dort zu hören.

Xie Lian war verblüfft. Lingwen hatte doch gesagt, das Haus sei verlassen und menschenleer.

Als sie darauf zugingen, wurden die heulenden Stimmen immer lauter.

»Ihr niederen Geister werdet es nie wieder wagen, in Chengzhus3 Gebiet Fälschungen zu verkaufen!«

»Wir werden es nie wieder tun, wirklich nicht! Bitte sagt Chengzhu, dass wir diese gefälschten Brokatheiligen von anderen Geistern bekommen haben! Wir sind selbst einem Betrug zum Opfer gefallen!«

Als die drei das Färberhaus erreichten, trat ihnen ein schwarz gekleideter Mann mit einer Geistermaske vor dem Gesicht entgegen. Es erweckte den Anschein, als habe er schon lange auf sie gewartet, und er verbeugte sich leicht zum Gruß. »Eure Hoheit.«

Die Stimme gehörte dem Geisterbotschafter, der Xie Lian einst geholfen hatte, Lang Ying in den Straßen der Geisterstadt einzufangen. Damals hatte Xie Lian an seinem Handgelenk eine Fluchfessel entdeckt.

Der Windmeister hatte ihm gesagt, dass es sich nur um Yin Yu handeln könne, denn es gab nicht allzu viele Himmelsbeamte, die in den letzten Jahren verbannt worden waren.

»Wie darf ich Euch anreden?«, fragte Xie Lian.

»Bitte, Eure Hoheit, das müsst Ihr nicht. Ich bin ein Niemand«, antwortete er.

Xie Lian staunte nicht schlecht, als sie das Färberhaus betraten. An hölzernen Kleiderstangen hingen alle möglichen Arten von Kleidung: Hochzeitsbekleidung, Beamtenanzüge, Damenwäsche, Uniformen, Kinderkleidung … Auch grobe Hemden aus Hanffasern gab es, die mit so vielen Blutflecken übersät waren, dass sie quasi herausschrien, dass mit ihnen etwas nicht stimmte. Sie lagen in Haufen übereinandergestapelt, alle strahlten dichtes, düsteres Yin-Qi aus und eine böse Aura umgab sie. Ein jedes Stück wirkte, als würde eine lebendige Leiche neben ihnen stehen. Selbst wenn der Brokatheilige nicht darunter war, war unschwer zu erkennen, dass sie Schöpfungen des Bösen waren.

Lange Stoffbahnen in allen Farben hingen aufgereiht, manche blass wie Leichentücher, andere starrend vor Dreck. Es war lange her, seit jemand sie zuletzt berührt hatte.

Quan Yizhen hockte sich neben einen großen Farbkübel und untersuchte versonnen die pechschwarze Farbe darin. Sie war flüssig und verströmte einen seltsamen Geruch. Xie Lian befürchtete, er könne jeden Moment seinen Finger hineinstecken und ihn ablecken, also zog er ihn schnell beiseite.

Draußen im Hof waren mehrere Geister mit einer eisernen Kette aneinandergefesselt. Sie hockten mit hängenden Köpfen da.

»Das sind …?«, fragte Xie Lian.

»Alle Geister und Dämonen, die in der Geisterstadt Brokatheilige verkauft haben, und alle, die, die versucht haben, sie hier im Umkreis anzuwenden. Insgesamt wurden achtundneunzig Kleidungsstücke beschlagnahmt«, erklärte der Geisterbotschafter.

Sogar achtundneunzig, und sie mussten in kürzester Zeit gefunden worden sein. Xie Lian war beeindruckt.

»Wenn es neue Vorfälle gibt, werden wir schnellstmöglich einschreiten, um Eurer Hoheit willen«, fuhr der Botschafter fort.

Als Xie Lian das hörte, entgegnete er: »Das ist nicht nötig. Bitte sagt San … Chengzhu, dass er diese Mühe nicht auf sich nehmen muss. Ich kann mich selbst darum kümmern.«

Das Resultat wäre dasselbe, es würde nur länger dauern und mühsamer sein. Immerhin war er ein Himmelsbeamter und im Auftrag des Himmels unterwegs. Selbst wenn er nur wenige Anhänger hatte, war das seine Aufgabe.

»Selbstverständlich ist Chengzhu bewusst, dass Ihr diese Arbeit mühelos selbst verrichten könntet. Er möchte nur nicht, dass Ihr Eure Zeit mit niederen Aufgaben verschwendet, die jeder bewerkstelligen kann. Ihr solltet Eure Zeit und Mühe auf wichtigere Angelegenheiten konzentrieren.«

Xie Lian dachte kurz nach, dann fragte er: »Darf ich fragen, was Chengzhu derzeit …?«

Lang Ying stand neben Xie Lian und wippte unbeteiligt vor und zurück.

Der Botschafter mit der Geistermaske antwortete: »Chengzhu ist sehr beschäftigt.«

»Oh, das ist gut«, sagte Xie Lian hastig. »Ich hoffe, es läuft alles gut für ihn.«

Sie befragten jeden einzelnen Geist, der festgenommen worden war, und alle behaupteten, ein Maskierter habe ihnen die Gewänder gegeben. Sie schienen die Wahrheit zu sagen. Aber an einem Ort wie der Geisterstadt liefen jeden Tag Hunderte von Maskierten durch die Straßen. Die Befragung kam zu keinem Ergebnis.

Der Botschafter zerrte an der Kette und verabschiedete sich, dann führte er die jaulenden Geister ab. Die achtundneunzig konfiszierten Kleidungsstücke blieben zurück. In all den Jahren, in denen er abgelegte Kleidung gesammelt hatte, hatte Xie Lian noch nie so viele auf einem Haufen gesehen. Während er sie durchwühlte, gewann er den Eindruck, dass keines von ihnen der echte Brokatheilige war.

»Qiying, kommt her und helft mir«, rief er.

Doch Quan Yizhen kratzte sich nur sein lockiges Haar und sagte: »Es sind zu viele.«

Zu viele Geistergewänder. Und jedes einzelne dieser Kleidungsstücke strahlte böses Qi aus. Alles vermischte sich und niemand konnte mehr sagen, welche Aura zu welchem Stück gehörte. Jemand mit einem extrem feinen Geschmackssinn konnte vielleicht den Geschmack von kandierter Birnen- oder Apfelfüllung erkennen, aber wenn achtundneunzig Geschmacksrichtungen sich vermischten, wäre das ein Ding der Unmöglichkeit.

Xie Lian grübelte, ob es nicht noch eine andere Methode gäbe. Da sah er, wie Quan Yizhen eines der Gewänder aufgehoben hatte und es gerade anprobieren wollte. Xie Lian hielt ihn hastig auf und hängte das Gewand wieder auf. »Halt, halt, halt! Qiying, lasst uns zwei Regeln festhalten: Erstens, steckt Euch nicht einfach irgendetwas in den Mund, und zweitens, zieht nicht einfach irgendwelche Kleidung an. Beides kann sehr gefährlich sein.«

Quan Yizhen zeigte auf jemanden hinter Xie Lian. »Und was ist mit ihm?«

Xie Lian stieg plötzlich Brandgeruch in die Nase. Er blickte in die Richtung, in die Quan Yizhen deutete.

Lang Ying hatte ein Streichholz entzündet, das er in irgendeiner Ecke gefunden hatte, und war gerade dabei, seelenruhig den Saum eines Geistergewandes anzuzünden.

»Und … wir spielen auch nicht mit Feuer!«, rief Xie Lian aus.

Das Geistergewand schien Schmerz zu empfinden, als es angezündet wurde. Sein Saum rollte sich nach oben und es wand und verdrehte sich in dem Versuch, der Flamme zu entkommen. Es sah eher aus wie ein lebendiger Aal als wie ein Kleidungsstück. Der Anblick wirkte überraschend grausam. Doch obwohl es angesengt roch, waren keine Brandspuren auf dem Stoff zu sehen. Der Umhang hatte eine so dichte Yin-Energie-Schicht um sich, dass Feuer ihm nichts anhaben konnte.

Als er Xie Lian sagen hörte, dass sie nicht mit Feuer spielen dürften, warf Lang Ying das Streichholz auf den Boden und trat es aus. Dabei sah er ihn gehorsam an.

Xie Lian wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte, und trat zu ihm. »Was ist heute nur mit dir los?«

Er hielt inne und seine Miene erstarrte. An einer Kleiderstange hoch oben hatte er ein langes weißes Stück Stoff entdeckt. Es wehte sanft in der nächtlichen Brise. Der Schatten einer menschlichen Gestalt kroch langsam über den Stoff. Und dieser Schatten hatte keinen Kopf.

Xie Lian zog Lang Ying hinter sich. Mit einer raschen Bewegung zog er sein Schwert und rief: »Passt alle auf!«

Sein Hieb schnitt den Stoff und den Schatten entzwei. Doch als das Stoffstück zu Boden fiel, war dahinter nichts zu sehen. Der kopflose Schatten war verschwunden.

Xie Lian kam nicht dazu, hinzueilen und nachzusehen, denn er spürte einen Schauer im Nacken. Er fuhr herum und seine Augen verengten sich. Eine hübsch gekleidete Frau war hinter ihm aufgetaucht.

Nein! Es war keine Frau, nur ein Gewand!

Was er gerade entzweigeschnitten hatte, war ebenfalls ein Gewand gewesen, und als es zu Boden gefallen war, hatten andere Kleidungsstücke es bedeckt. Von überall um ihn herum traten menschlich anmutende Gestalten auf sie zu, leicht schaukelnd kamen sie langsam näher und umringten die drei. Die achtundneunzig Gewänder waren überall aufgehängt gewesen: im Hof, auf der Veranda und im Inneren des Färberhauses. Ohne dass sie es bemerkt hatten, hatten sie sich alle von den Kleiderstangen befreit.

Xie Lian war starr vor Schreck. »Was ist los? Warum haben sich auf einmal alle befreit?«

Eine leise Stimme neben ihm sagte: »Zehntausend Geister in Aufruhr.«

Xie Lian wandte den Kopf und sah, dass es Lang Ying gewesen war. Sein Ausdruck war gelassen, aber an den Rücken seiner blassen Hände traten die Adern hervor. Auch er schien von irgendetwas beeinflusst zu werden.

Eine neue Welle des Geisteraufruhrs! Je näher der Tag rückte, an dem der Berg Tonglu geöffnet würde, desto ohrenbetäubender dröhnten seine Erschütterungen in den Ohren der Geister, um sie zu sich zu rufen.

Der erste Gedanke, der Xie Lian durch den Kopf schoss, war: Wie es San Lang jetzt wohl geht?

Doch in seiner gegenwärtigen Lage hatte er nicht viel Zeit zum Grübeln. Während er fieberhaft nachdachte, hatten sich schon mehr als zwanzig Geistergewänder an sie geheftet.

Quan Yizhen schlug mit der Faust zu, ohne weiter nachzudenken. Hätte sein Schlag eine Wand oder den Boden getroffen, hätte er die Erde zum Beben gebracht – aber nun schlug er in nichts als Kleider. Jedes Kind wusste, dass bei »Schere, Stein, Papier« das weiche Papier die harte Faust besiegte, und die weichen, leichten Kleider waren ebenso gut dazu geeignet, eine steinharte Faust einzuwickeln. Wie hart er auch zuschlug, der Stoff legte sich um seine Faust und nahm keinerlei Schaden.

Xie Lians Schwert zeigte da schon mehr Wirkung. Doch die Geistergewänder waren leicht und wendig. Wenn sie zurückzuckten, lagen sofort zwölf Meter oder mehr zwischen ihnen. Da sie ein so geringes Gewicht hatten, verursachten ihre Bewegungen kaum ein Geräusch oder einen Luftzug. Ihren Attacken auszuweichen war schwieriger, als wenn es sich um menschliche Gegner gehandelt hätte.

Normalerweise suchten Menschen sich ihre Kleider aus, aber hier war es umgekehrt: Die Kleider suchten nach Menschen. Die achtundneunzig Gewänder suchten eifrig nach Körpern, die zu ihnen passten, nach Trägern, die ihnen zusagten. Bei Menschen waren es vor allem die Frauen, die gern Kleider aussuchten. Unter den Geisterkleidern war es ebenso die Frauenkleidung, die nach Trägern suchte. Dutzende von Damenröcken, alle in verschiedenen Farben und Stilrichtungen, drängten sich gegen Xie Lian, nicht einmal mit dem Schwert konnte er sie vertreiben. Hätten Frauen um ein Kleidungsstück gekämpft, das sie alle haben wollten, hätte der Kampf nicht hitziger zugehen können. Xie Lian war umringt von Seide und bunten Blumenmustern. Eingezwängt zwischen den Damenkleidern wurde er in alle Richtungen zugleich gezogen.

Quan Yizhen befreite sich gewaltsam von mehreren Stücken Kinderkleidung, die beharrlich versuchten, sich über seinen Kopf zu stülpen, und schleuderte sie beiseite. Erstaunt sah er Xie Lian an. »Wie kommt es, dass die Damenkleider Euch so sehr mögen?«, wunderte er sich.

»Vielleicht finden sie, dass ich freundlich aussehe?«

Lang Ying blieb als Einziger von den Kleidern verschont. Vielleicht spürten die Kleider, dass er ein Geist war und bei ihm nichts zu holen war, und ließen ihn deshalb in Ruhe.

Xie Lian zerschlitzte mit einer ausladenden Bewegung seines Schwerts eine Reihe von Damenkleidern, doch die zerschnittenen Kleider wurden nur noch wendiger und drängten noch heftiger auf ihn ein. Aus dem Augenwinkel konnte Xie Lian sehen, wie einige Geistergewänder sich dem Fenster näherten.

»Macht die Tür zu! Versiegelt den Raum! Lasst sie nicht entkommen!«, rief er.