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Der Lotuspier wurde zerstört und Rache scheint für den Erben des Jiang-Clans unmöglich. Doch dann begeht Wen Chao einen großen Fehler, der eine Reihe tragischer Ereignisse nach sich zieht. Die Schreckensherrschaft des Wen-Clans gerät ins Wanken … Während die Vergangenheit beleuchtet, was keiner vergessen kann, versetzt die Nachricht über die Wiederauferstehung des Yiling-Patriarchen die Menschen in der Gegenwart in Angst und Schrecken. Damit sich Wei Wuxians Schicksal nicht wiederholt, müssen er und Lan Wangji den Mörder von Nie Mingjue überführen – doch dessen teuflisches Spiel ist an Heimtücke kaum zu übertreffen …
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Seitenzahl: 572
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2
Das kleine Boot trieb stromabwärts.
Sie wussten nicht, wie viel Zeit vergangen war, als Zidian sich endlich löste. Die Peitsche verwandelte sich in einen silbernen Ring und legte sich um Jiang Chengs Finger.
Er und Wei Wuxian hatten den ganzen Weg über geschrien, sodass sich ihre Kehlen heiser anfühlten. Nun, da sie frei waren, fuhren sie wortlos zurück. Sie hatten keine Ruder, also benutzten sie ihre Hände zum Paddeln; gegen den Strom.
Frau Yu hatte behauptet, dass es einen Monat dauern würde, bis Wei Wuxian sich von den Peitschenhieben erholte, aber abgesehen von einem brennenden, stechenden Schmerz spürte er gerade kaum Einschränkungen in seiner Bewegungsfreiheit.
Sie ruderten, als ginge es um ihr Leben. Nach über zwei Stunden hatten sie es endlich geschafft: Sie hatten das Boot mit bloßen Händen zum Lotuspier zurückmanövriert.
Es war bereits tief in der Nacht.
Das Haupttor des Lotuspiers war fest verschlossen. Eine Laterne brannte vor dem Eingang. Das Mondlicht spiegelte sich auf der kristallklaren Wasseroberfläche. Dutzende große Laternen in der Form von neunblättrigen Lotusblumen trieben ruhig neben dem Kai.
Alles war wie immer.
Doch gerade das rief eine Unruhe in ihnen hervor, die fast schmerzte.
Sie ruderten bis zur Mitte des Sees, wo sie schließlich anhielten. Ihre Herzen pochten wie verrückt. Und doch wagten sie es nicht, sich dem Pier zu nähern, ans Ufer zu stürmen und sich ein Bild von der Lage zu verschaffen. Sie trauten sich einfach nicht, einen Blick hinter die Tore zu werfen.
Jiang Cheng stiegen heiße Tränen in die Augen. Seine Hände und Beine zitterten.
Nach einer Weile meinte Wei Wuxian schließlich: »Wir sollten nicht durch das Tor hineingehen.«
Geistesabwesend nickte Jiang Cheng.
Lautlos fuhren sie an eine andere Stelle des Sees. Am Ufer stand ein alter Weidenbaum. Er war tief in der Erde verwurzelt. Der dicke Baumstamm war schief gewachsen und hing schräg über der Wasseroberfläche. Seine Äste ragten ins kühle Nass.
Früher waren die Jugendlichen häufig den Stamm hinauf bis in die Baumkrone geklettert, hatten sich dort niedergelassen und ihre Angeln ausgeworfen.
Nachdem Wei Wuxian und Jiang Cheng das Boot hinter die herabhängenden Weidenzweige gelenkt hatten, gingen sie im Schutz der Dunkelheit an Land. Wei Wuxian, der des Öfteren über Mauern kletterte, hielt Jiang Cheng fest und flüsterte: »Hier lang.«
Jiang Cheng war sowohl bestürzt als auch verängstigt. Er hatte beinahe vollkommen die Orientierung verloren, also folgte er Wei Wuxian gehorsam. Sie bewegten sich dicht an der Außenmauer entlang. An einer bestimmten Stelle stoppten sie, hielten sich noch einen Moment versteckt und kletterten dann lautlos die Wand hoch.
Köpfe von Bestien verzierten diesen Mauerabschnitt, sodass er sich hervorragend zum Spionieren eignete. Sonst waren sie es immer gewesen, die auf diese Art von Fremden beobachtet worden waren. Nun jedoch waren sie selbst diejenigen, die heimlich nach innen spähten.
Wei Wuxian streckte seinen Kopf vor und schaute sich um. Augenblicklich rutschte ihm sein Herz in die Hose.
Der Übungsplatz des Lotuspiers war überfüllt von Menschen. Sie alle standen in Reih und Glied. Ihre Roben zierten an Kragen, Ärmeln und Oberteil gleißende Sonnen und lodernde Flammen. Das Blut gleichende Rot stach in den Augen.
Neben jenen Menschen, die standen, gab es auch welche, die auf dem Boden lagen. Sie alle waren in die nordwestliche Ecke des Übungsplatzes geschafft und kreuz und quer übereinandergestapelt worden. Vor dem Menschenhaufen stand eine Person mit dem Rücken zu ihnen gewandt. Ihr Kopf war gesenkt. Sie untersuchte den Berg, der aus Mitgliedern des Jiang-Clans bestand. Mitgliedern, von denen man nicht genau sagen konnte, ob sie bereits tot oder noch am Leben waren.
Jiang Cheng suchte fieberhaft nach Yu Ziyuan und Jiang Fengmian, während Wei Wuxians Augen augenblicklich heiß und feucht wurden. Unter den Liegenden erkannte er viele ihm vertraute Gestalten. Seine Kehle schmerzte vor Trockenheit. Ihm war, als würde man ihm mit einem Eisenhammer gegen die Schläfen hämmern, und sein ganzer Körper gefror. Er wagte es nicht, an Jiang Fengmian und Yu Ziyuan zu denken.
Um sich zu vergewissern, ob es sich bei dem dünnen Jungen ganz oben um den sechsten Shidi handelte, wollte er einen genaueren Blick auf den Haufen werfen. Da drehte sich plötzlich eine Person zu ihnen um. Sie schien etwas in ihrem Rücken gespürt zu haben.
Sofort drückte Wei Wuxian Jiang Chengs Kopf herunter.
Obwohl er sie beide schnell in Deckung gebracht hatte, hatte Wei Wuxian das Antlitz der Person klar erkennen können.
Ein Junge, kaum älter als sie selbst. Er war groß und dünn, hatte schöne Gesichtszüge und pechschwarze Pupillen sowie ein blasses Gesicht. Zwar trug er eine Sonnenrobe, wirkte aber überhaupt nicht Furcht einflößend – eher vornehm und sanft. Der Rangstufe der Sonnensymbole nach zu urteilen musste es sich bei ihm um einen jungen Herrn des Wen-Clans handeln.
Wei Wuxians Herz schlug wild in seiner Brust. Wurden wir entdeckt? Sollten wir sofort fliehen? Oder hat er uns nicht gesehen?
In diesem Moment ertönte innerhalb der Mauern ein schwaches Schluchzen. Dann folgten Schritte und sie hörten eine sanfte Männerstimme: »Weine nicht. Schau doch, was dann mit deinem Gesicht passiert.«
Diese Stimme kannten Wei Wuxian und Jiang Cheng nur allzu gut, es war die von Wen Chao!
Wang Lingjiao schluchzte: »So wie ich gerade aussehe, magst du mich nicht mehr, oder?«
»Wie wäre das möglich? Ich mag Jiaojiao, ganz gleich, wie sie aussieht«, widersprach Wen Chao.
Ergriffen meinte diese: »Ich hatte so große Angst, so große Angst … Heute wäre ich beinahe … Ich dachte wirklich, dass es diesem Miststück gelingen würde, mich zu töten, und ich dich nie mehr wiedersehen würde … Junger Herr Wen … ich …«
Wen Chao schien sie zu umarmen. »Sag nichts mehr, Jiaojiao. Es ist doch alles wieder gut. Zum Glück hat Wen Zhuliu dich beschützt«, tröstete er sie.
Wang Lingjiao war verärgert: »Dass du ihn noch erwähnst! Ich verabscheue diesen Wen Zhuliu. Hätte er früher eingegriffen, hätte ich das überhaupt nicht durchmachen müssen. Selbst jetzt noch schmerzt mein Gesicht. Es tut so weh, so sehr …«
Tatsache war: Sie hatte Wen Zhuliu fortgescheucht, da sie seinen Anblick nicht ertragen hatte, und sie hatte auch nur Schläge kassiert, die sie sich selbst zuzuschreiben hatte. Und doch verdrehte sie wieder einmal alles.
Wen Chao liebte dieses kokette Verhalten, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlte. »Bald tut es nicht mehr weh. Komm, lass mich mal sehen … Es ist in Ordnung, wenn du ihn nicht leiden kannst, aber provoziere ihn nicht zu sehr. Dieser Mann hat außerordentlich nützliche Kultivierungsfertigkeiten. Mein Vater hat oft betont, was für ein Ausnahmetalent er ist. Ich möchte noch einige Jahre von ihm Gebrauch machen.«
Wang Lingjiao sah das nicht ein: »Ein Ausnahmetalent … Was ist so besonders daran, wenn er begabt ist? Oberhaupt Wen dienen viele berühmte Kultivierer, es sind Abertausende. Als ob es da etwas ausmachen würde, wenn er fehlt.«
Sie suggerierte Wen Chao damit, Wen Zhuliu zu bestrafen. Auf die Art wollte sie ihrem Ärger Luft machen, doch Wen Chao kicherte lediglich. Auch wenn er von Wang Lingjiao überaus angetan war, gefiel sie ihm nicht so sehr, dass er ihretwegen seinen persönlichen Schutzschild bestrafen würde. Immerhin hatte Wen Zhuliu unzählige Attentate auf ihn verhindert. Zudem war er überaus loyal, sodass Wen Chao sich seiner versiegelten Lippen sicher war. Niemals würde Wen Zhuliu seinen Vater verraten, was bedeutete, dass er auch Wen Chao niemals hintergehen würde. Eine so treue und dazu noch mächtige Leibwache fand man nicht überall.
Als Wang Lingjiao bemerkte, wie ungerührt er blieb, redete sie erneut auf ihn ein: »Schau ihn dir an. Offensichtlich ist er nichts weiter als eine unbedeutende Schachfigur, die dir dient, und doch ist er so überheblich. Als ich gerade dieses Weibsbild Frau Yu ohrfeigen wollte, hat er mich nicht gelassen. Sie ist doch bereits tot, es ist nur ihre Leiche! Wenn er so auf mich herabsieht, heißt das ja wohl, dass er auch auf dich herabsieht?!«
An dieser Stelle verlor Jiang Cheng plötzlich den Halt und glitt an der Mauer hinab. Flink packte Wei Wuxian ihn hinten am Kragen.
Dicke, heiße Tränen strömten ihnen beiden aus den Augen, tropften ihre Wangen hinab auf ihre Handrücken, bis sie schließlich auf dem Boden auftrafen.
Wei Wuxian dachte daran, wie Jiang Fengmian sich heute Morgen noch mit Frau Yu gestritten hatte, bevor er losgezogen war. Ihr letzter Wortwechsel war keinesfalls liebevoll oder nett gewesen. Er wusste nicht, ob sie sich vor ihrem Tod noch einmal gesehen hatten, und ob Jiang Fengmian noch die Gelegenheit gehabt hatte, sich von seiner Frau zu verabschieden.
Gleichgültig entgegnete Wen Chao: »So ist er eben. Er ist ganz schön eigen. Seiner Ansicht nach darf man einen stolzen Krieger zwar töten, aber nicht demütigen. Dabei ist er es doch gewesen, der sie umgebracht hat, sie ist längst tot, wozu spricht er also noch von solchen Dingen?!«
Wang Lingjiao pflichtete ihm bei: »Aber echt. Wie heuchlerisch!«
Wen Chao liebte es, wenn sie ihm zustimmte, und lachte daher. Wang Lingjiao hingegen empfand pure Schadenfreude. »Das hat sich diese Hexe Frau Yu aber selbst zuzuschreiben. Sie hat die Macht ihres Clans ausgenutzt und ihren Mann gezwungen, sich mit ihr zu vermählen. Und was ist dabei herausgekommen? Was hat es ihr gebracht? Gemocht hat er sie dadurch ja trotzdem nicht. Über zehn Jahre lang ist sie die vernachlässigte Ehefrau gewesen und jeder hat sich hinter ihrem Rücken über sie lustig gemacht. Aber selbst dann noch hat sie ihr Schwert nicht zurückgezogen und war auch noch so herrisch. Ihr Ende verdankt sie ihrem Karma.«
»Ist das so? Sie war doch recht attraktiv, warum mochte Jiang Fengmian sie denn nicht?«, wunderte sich Wen Chao.
Seinem Verständnis nach hatte ein Mann keinen Grund, eine Frau nicht zu mögen, solang sie ansehnlich war. Es sollten nur durchschnittlich attraktive Frauen geächtet werden, und solche, die nicht mit ihm schlafen wollten.
Wang Lingjiao erwiderte: »Na, das ist doch offensichtlich: Diese Hexe ist einfach zu brutal gewesen. Obwohl sie eine Frau gewesen ist, hat sie den ganzen Tag nur wild ihre Peitsche geschwungen und Ohrfeigen verteilt. Sie hatte kein Benehmen. Mit so einer als Ehefrau hat Jiang Fengmian ganz schön viel durchmachen müssen, da hat er wirklich Pech gehabt.«
Wen Chao war ganz ihrer Meinung. »Stimmt! Frauen sollten genau wie meine Jiaojiao sein: brav und gehorsam, sanftmütig und niedlich, und sie sollten mir ihre volle Aufmerksamkeit schenken.«
Wang Lingjiao kicherte.
Dieses widerliche Geschwätz mit anzuhören machte Wei Wuxian traurig und wütend zugleich. Er zitterte am ganzen Körper und befürchtete, dass Jiang Cheng jeden Moment explodieren würde. Dieser schien jedoch derart von seinem Schmerz überwältigt worden zu sein, dass er ohnmächtig wirkte und sich nicht regte.
»Natürlich widme ich mich dir voll und ganz … Wem denn sonst?«, flüsterte Wang Lingjiao.
In dem Moment mischte sich eine andere Stimme ein: »Junger Herr Wen! Alle Häuser wurden durchsucht. Es wurden zweitausendvierhundert spirituelle Waffen und Schätze gezählt. Sie werden gerade klassifiziert.«
Dies waren die Besitztümer des Lotuspiers. Sie gehörten dem Jiang-Clan!
Wen Chao lachte laut: »Sehr gut, sehr gut! Das ist doch wahrlich ein Grund zum Feiern. Wir sollten hier heute Abend ein Bankett veranstalten. Lasst uns von allem so gut wie möglich Gebrauch machen!«
Liebreizend säuselte Wang Lingjiao: »Herzlichen Glückwunsch zum Einzug in den Lotuspier, junger Herr.«
»Lotuspier? Der Name wird geändert. Alle Tore mit der neunblättrigen Lotusblüte werden niedergerissen und durch Tore mit dem Sonnensymbol des Qishan-Wen-Clans ersetzt! Jiaojiao, komm und führe mir deinen schönsten Tanz vor!«
Wei Wuxian und Jiang Cheng konnten das nicht länger mit anhören. Sie stiegen die Mauer hinab und entfernten sich schwankend und taumelnd vom Lotuspier. Doch selbst nachdem sie weit gerannt waren, konnten sie die ausgelassenen Stimmen und das Gelächter dieses barbarischen Haufens auf dem Übungsplatz nicht abschütteln. Der anmutige Gesang einer Frau hallte freudig vom Lotuspier herüber und bohrte sich gleich einem giftigen Messer Stück für Stück in ihre Ohren und Herzen.
Als sie mehrere Kilometer hinter sich gelassen hatten, stoppte Jiang Cheng plötzlich. Wei Wuxian hielt ebenfalls an.
Jiang Cheng drehte sich um, woraufhin Wei Wuxian ihn festhielt. »Jiang Cheng, was tust du?! Geh nicht zurück!«
Jiang Cheng schüttelte seine Hand ab. »Ich soll nicht zurück? Ist das wirklich dein Ernst? Du willst, dass ich nicht zurückgehe? Die Leichname meines Vaters und meiner Mutter sind noch dort, wie könnte ich da einfach so verschwinden? Wohin könnte ich denn sonst gehen, wenn nicht zurück?!«
Wei Wuxian packte ihn noch fester. »Was könntest du denn schon ausrichten, wenn du jetzt zurückkehren würdest?! Sie haben sogar Onkel Jiang und Frau Yu besiegt. Gehst du zurück, ist das dein Todesurteil!«
»Dann sterbe ich eben! Wenn du dich vor dem Tod fürchtest, kannst du ja abhauen, aber stell dich mir nicht in den Weg!«, schrie Jiang Cheng.
Wei Wuxian streckte die Hand aus und wollte ihn mit einer speziellen Grifftechnik aufhalten. »Du kannst dich später rächen. Wir holen ihre Leichname auf jeden Fall zurück, aber nicht jetzt!«
Jiang Cheng wich aus und schlug zurück. »Wenn nicht jetzt, wann dann? Ich habe genug von dir, hau endlich ab!«
»Onkel Jiang und Frau Yu haben gesagt, dass ich auf dich achten möge und dass du gut auf dich aufpassen sollst!«, schrie Wei Wuxian.
»Halt den Mund!« Jiang Cheng stieß ihn heftig weg und brüllte wütend: »Warum?«
Sein Stoß verfrachtete Wei Wuxian ins Gebüsch. Jiang Cheng stürmte hinterher, packte ihn am Kragen und schüttelte ihn unentwegt. »Warum? Warum? Warum nur?! Bist du jetzt glücklich?! Bist du jetzt zufrieden?!«
Er würgte Wei Wuxian am Hals. Rote Äderchen bildeten sich in seinen Augen. »Warum musstest du Lan Wangji helfen?!«
Von Wut und Trauer überwältigt hatte Jiang Cheng vollkommen den Verstand verloren. Er war nicht mehr in der Lage, seine Kraft zu kontrollieren. Wei Wuxian zog an seinem Handgelenk: »Jiang … Cheng …«
Doch der drückte ihn zu Boden und brüllte: »Warum musstest du Lan Wangji helfen?! Wieso nur musstest du dich unbedingt ins Rampenlicht drängen?! Wie oft habe ich dir gesagt, dass du uns keinen Ärger einhandeln sollst?! Dass du nicht zuschlagen sollst?! Gefällt es dir so sehr, den Helden zu spielen?! Nun weißt du, was einen dann erwartet, oder? Na?! Bist du jetzt glücklich?! Wären Lan Wangji und Jin Zixuan gestorben, dann wäre das eben so gewesen! Du hättest sie einfach sterben lassen sollen! Was geht uns ihr Tod an?! Was geht es unseren Clan an?! Wieso? Wieso? Sterbt! Sterbt, alle drei, sterbt! Ihr sollt alle sterben!«
Wei Wuxian schrie mit knallrot angelaufenem Gesicht: »Jiang Cheng!«
Plötzlich lockerte sich der Griff um seinen Hals.
Jiang Cheng starrte ihn unentwegt an. Tränen rannen ihm die Wangen herunter. Tief aus seiner Kehle drang ein Klagelaut gleich dem eines Sterbenden, ein schmerzerfülltes Wimmern. Er weinte. »Ich … will meine Eltern zurück … Ich will meine Eltern zurück …«
Er forderte von Wei Wuxian seine Eltern zurück. Doch egal von wem er sie gefordert hätte, es gab kein Zurück mehr.
Wei Wuxian weinte ebenfalls.
So saßen sie beide im Gebüsch und sahen dem jeweils anderen dabei zu, wie er bitterlich weinte.
Tief im Inneren wusste Jiang Cheng es besser: Selbst wenn Wei Wuxian Lan Wangji damals in der Höhle des Muxi-Bergs nicht geholfen hätte, wäre der Wen-Clan früher oder später trotzdem unter einem anderen Vorwand bei ihnen aufgetaucht. Er war jedoch davon überzeugt, dass es nicht so schnell passiert wäre, wenn die Sache mit Wei Wuxian nicht gewesen wäre, und dass es vielleicht noch eine Möglichkeit gegeben hätte, die Situation zu retten.
Es war eben dieser schmerzliche Gedanke, der ihn mit unaussprechlichem Hass und Wut erfüllte und innerlich zerriss.
Als es heller wurde, war Jiang Chengs Blick leer.
In dieser Nacht hatte er einige Male einschlafen können. Zum einen war er zu müde gewesen – das Weinen hatte ihn so viel Kraft gekostet –, sodass er unwillkürlich eingenickt war, zum anderen hatte er immer noch die Hoffnung gehegt, dass das alles nur ein Albtraum gewesen war, und hatte es nicht abwarten können, in seinem Zimmer am Lotuspier zu erwachen. Er hatte sich vorgestellt, wie sein Vater in der Gästehalle etwas lesen und sein Schwert polieren würde. Wie seine Mutter wieder Dampf ablassen, sich beklagen und Wei Wuxian ausschimpfen würde, während dieser dabei komische Grimassen zog. Wie seine Schwester in der Küche sitzen und sich gedankenverloren den Kopf darüber zerbrechen würde, was sie heute kochen sollte, und wie die Shidis 1 ihre Morgenübungen nicht ordentlich machen und herumtollen würden.
Aber stattdessen wachte er mit dröhnendem Schädel im Gebüsch auf.
Nachdem er eine ganze Nacht im kalten Wind ausgeharrt hatte, fand er sich – immer noch zusammengerollt – hinter einem abgelegenen, kleinen Berghang wieder.
Wei Wuxian rührte sich als Erster. Er stützte sich an seinen Beinen ab. Als er es schließlich geschafft hatte, sich aufzurichten, sagte er heiser: »Lass uns gehen.«
Jiang Cheng rührte sich nicht.
Wei Wuxian streckte die Hand aus, zog an ihm und wiederholte: »Lass uns gehen.«
»Wohin?«, fragte Jiang Cheng. Seine Kehle war ebenfalls trocken.
»Zum Meishan-Yu-Clan, wir suchen nach Shijie 2«, antwortete Wei Wuxian.
Jiang Cheng lehnte die Hand ab, die Wei Wuxian ihm entgegenstreckte. Erst nach einer Weile setzte er sich aus eigener Kraft auf und stand langsam auf.
Sie brachen zu Fuß in Richtung Meishan auf.
Den ganzen Weg über versuchten beide mit aller Kraft, die dafür nötige Energie aufzubringen. Ihr Gang war so schwerfällig, als würden sie eine gewaltige Last tragen.
Jiang Cheng hielt seinen Kopf durchgehend gesenkt. Dabei umklammerte er seine rechte Hand, presste Zidian, die sich in ihrer Ringgestalt an seinem Zeigefinger befand, an sein Herz und strich wieder und wieder über den einzigen Gegenstand, der ihm noch von seiner Familie geblieben war. Zudem schaute er mehrfach in die Richtung zurück, in der der Lotuspier lag. Der Ort, der einst sein Zuhause gewesen, nun jedoch zum Schlupfwinkel von Dämonen verkommen war. Wieder und wieder, als würde er sich niemals daran sattsehen können, und noch ein letztes Fünkchen Hoffnung hegen. Doch jedes Mal stiegen ihm erneut Tränen in die Augen.
Weil sie Hals über Kopf geflohen waren, hatten sie keinen Proviant bei sich. Zudem hatte der vergangene Tag sie enorm viel Kraft gekostet, und sie waren mittlerweile bereits einen halben Tag gelaufen, sodass sich nun alles vor ihren Augen drehte. Schließlich ließen sie die verlassene Gegend hinter sich und kamen in einer kleinen Stadt an.
Wei Wuxian schaute zu Jiang Cheng, der extrem ausgelaugt war und sich nicht mehr rühren wollte. »Setz dich erst mal. Ich besorge uns etwas zu essen.«
Jiang Cheng antwortete nicht, er nickte auch nicht. Bereits den gesamten Weg über hatte er nur wenige Worte mit ihm gewechselt.
Wei Wuxian ging erst los, nachdem er Jiang Cheng mehrere Male eingetrichtert hatte, dass er sich setzen und nicht vom Fleck bewegen sollte.
Zu ihrem Glück versteckte Wei Wuxian häufig Kleingeld an allen möglichen Stellen seines Körpers. Er hatte also genug bei sich, um Nahrungsmittel zu kaufen. Nachdem er eine Runde gedreht und einen Haufen Proviant für die ihnen bevorstehende lange Reise besorgt hatte, kehrte er eilig nach weniger als einer halben Stunde an den Ort zurück, an dem er Jiang Cheng zurückgelassen hatte. Von dem war jedoch keine Spur mehr zu sehen.
Wei Wuxian trug eine Menge Hefeklöße, Fladenbrote und Obst bei sich und wurde nervös. Er zwang sich zur Ruhe und suchte die nahe gelegenen Straßen ab.
Doch Jiang Cheng war immer noch nirgends zu sehen.
Jetzt verlor er endgültig die Nerven und fragte einen Schuster am Straßenrand: »Guter Mann, gerade saß hier ein junger Herr, in etwa so alt wie ich. Habt Ihr gesehen, wo er hingegangen ist?«
Der Schuster leckte gerade an dem Ende einer dicken Schnur. »Der, der gerade noch mit dir zusammen war?«
»Genau!«
»Ich hatte gerade zu tun und habe nicht genau darauf geachtet, aber er hat die ganze Zeit geistesabwesend die Leute auf der Straße angestarrt. Als ich nach einer Weile wieder aufgeschaut habe, war er plötzlich nicht mehr zu sehen. Wahrscheinlich ist er gegangen.«
»Gegangen … Gegangen …«, murmelte Wei Wuxian.
Womöglich war er zurück zum Lotuspier gegangen, um die Leichname zu stehlen!
Wie ein Verrückter nahm Wei Wuxian die Beine in die Hand und rannte in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Die ganzen Nahrungsmittel, die er gekauft hatte, waren so schwer, dass sie ihm ein Klotz am Bein waren und er sie daher nach kurzer Zeit zurückließ. Nachdem er jedoch eine Strecke gelaufen war, wurde ihm schwarz vor Augen. Er hatte keine Kraft mehr und war zudem auch noch in heller Aufregung, sodass seine Knie nachgaben und er zu Boden stürzte.
Er landete mit dem Gesicht im Dreck. Der Geschmack von Erde breitete sich in seinem Mund aus. Eine ungeheure Hilflosigkeit und unsagbarer Hass stiegen in Wei Wuxian hoch. Schreiend schlug er einmal kräftig mit der Faust auf den Boden, ehe er wieder aufstand. Er ging zurück, sammelte die Hefeklöße auf, die er zuvor auf den Boden geworfen hatte, und wischte sie an seiner Brust ab. Dann verschlang er mit wenigen Bissen einen Kloß und zerkaute ihn so heftig, als würde es sich dabei um ein Stück Fleisch handeln. Als er schluckte, blieb ein Bissen in seinem Hals stecken und er spürte, wie sich ein Schmerz in seiner Brust ausbreitete. Anschließend hob er weitere auf, stopfte sie in seine Kleidung und aß einen weiteren, während er rannte.
Die ganze Zeit über hoffte er, dass er Jiang Cheng auf dem Weg aufhalten konnte. Schließlich erreichte er jedoch den Lotuspier, ohne dass er unterwegs Jiang Cheng gesehen hatte.
Der helle Mond und vereinzelte Sterne leuchteten bereits am Nachthimmel. Aus der Ferne sah Wei Wuxian den lichtdurchfluteten Lotuspier. Mit den Händen stützte er sich an den Knien ab und hechelte. In seiner Brust und Kehle breitete sich jener Geschmack von Eisen aus, der nach langem Rennen aufkam. Ihm wurde schwarz vor Augen.
Wieso habe ich Jiang Cheng nicht eingeholt? Ich habe etwas gegessen und konnte trotzdem nicht schneller rennen. Er war erschöpfter als ich und es hat ihn härter getroffen, kann er da etwa wirklich schneller sein als ich? Ist er überhaupt zum Lotuspier zurück? Aber wenn er nicht hergekommen ist, wo könnte er sonst hin sein? Ist er ohne mich nach Meishan?
Nachdem er sich eine Weile ausgeruht hatte, fasste er den Entschluss, zum Lotuspier zu gehen und sich zu vergewissern. Als er heimlich an der Mauer entlangschlich, betete er verzweifelt: Hoffentlich ist diesmal niemand auf dem Übungsplatz, der über Jiang Chengs Leichnam redet. Ansonsten … Ansonsten werde ich …
Ansonsten was?
Was könnte er ausrichten?
Gar nichts.
Er war machtlos.
Der Lotuspier war zerstört worden, Jiang Fengmian und Frau Yu waren nicht mehr am Leben und Jiang Cheng war verschwunden. Er war allein, ganz allein.
Er hatte nicht einmal ein Schwert.
Er wusste nichts und konnte nichts ausrichten!
Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er, wie verschwindend gering seine Kraft war. Vor einem Koloss wie dem Qishan-Wen-Clan unterschied er sich nicht von einer Gottesanbeterin, die versuchte, einen Karren aufzuhalten.
Wei Wuxians Augen wurden so heiß, dass beinahe wieder Tränen aus ihnen hervorquollen. Er bog an einer Ecke um die Mauer, als plötzlich eine Gestalt in einer Sonnenrobe auf ihn zukam. Sofort überwältigte Wei Wuxian die Person.
Mit seiner linken Hand hielt er die beiden Hände seines Gefangenen fest im Griff, während er ihn mit der rechten Hand am Hals würgte. Leise drohte er im grausamsten Tonfall, zu dem er in der Lage war: »Keinen Mucks! Ansonsten breche ich dir augenblicklich das Genick!«
Die Person, die sich in seinem Todesgriff befand, sagte eilig: »Junger … Junger Herr Wei, ich bin’s, ich bin’s doch!«
Es war eine junge Stimme. Als Wei Wuxian sie hörte, war seine erster Gedanke: Ist das vielleicht jemand, den ich kenne, der die Robe des Wen-Clans trägt, um zu spionieren?
Die Stimme war ihm jedoch gänzlich unbekannt, sodass er den Gedanken augenblicklich verwarf und noch mehr Kraft aufwandte. »Red keinen Unsinn!«
»I… Ich rede keinen Unsinn. Ju… Junger Herr Wei, d… du kannst mein Gesicht anschauen«, sagte der Junge.
Sein Gesicht anschauen? Hat er vielleicht etwas in seinem Mund versteckt, dass er dann ausspuckt?
Wei Wuxian grübelte.
In höchster Alarmbereitschaft drehte er den Kopf der Person zu sich herum. Doch zu Gesicht bekam er lediglich einen hübschen Jungen, der eine jugendliche Schönheit ausstrahlte. Es war ebenjener junge Herr des Qishan-Wen-Clans, den sie gestern auf dem Übungsplatz gesehen hatten.
Gleichgültig sagte Wei Wuxian: »Ich kenne dich nicht.« Er wandte das Gesicht des Jungen zurück und würgte ihn weiter, während er leise nachhakte: »Wer bist du?«
Der Junge schien etwas enttäuscht. »I… Ich bin Wen Ning.«
Wei Wuxian runzelte die Stirn. »Wen Ning? Ich kennen niemanden mit dem Namen.«
Dann dachte er sich jedoch: Ist aber eigentlich auch egal. Auf jeden Fall ist er jemand mit einem höheren Rang. Womöglich kann ich ihn gegen jemanden eintauschen!
»Ich … Ich war vor einiger Zeit bei der Diskussionskonferenz des Qishan-Wen-Clans … Ich … ha… habe beim Bogenschießen …«, murmelte Wen Ning.
Als Wei Wuxian sein Gestammel hörte, verstärkte sich seine Unruhe. Wütend fragte er: »Was hast du beim Bogenschießen? Stotterst du etwa?«
Wen Ning erschrak so sehr zwischen seinen Händen, dass er zusammenzuckte. Beinahe schien es, als würde er sich mit den Händen über dem Kopf vor ihm niederknien wollen.
»J… Ja«, bestätigte er leise.
»…« Während Wei Wuxian diesen feigen, bemitleidenswerten, stotternden Jungen ansah, schien er sich plötzlich doch wieder zu erinnern: Bei der Diskussionskonferenz des Qishan-Wen-Clans vor zwei Jahren … Bei der Diskussionskonferenz … Beim Bogenschießen … Ah, ich glaube, da war tatsächlich so jemand!
Wei Wuxian fühlte ihm auf den Zahn: »Du bist dieser … Wen … Wen irgendwas. Der, der ganz gut im Bogenschießen ist, oder?«
Wen Ning nickte heftig und war sichtlich erfreut. »Genau, ich bin’s! Ich ha… habe dich, junger Herr Wei, und den jungen Herrn Jiang ges… gestern gesehen, und dachte mir, dass ihr vielleicht noch mal zurückkommt …«
»Du hast mich gestern gesehen?«
»J… Ja, habe ich.«
»Du hast mich gesehen, und es niemandem erzählt?«
»Habe ich nicht! Ich habe es niemandem erzählt!«
Das war ausnahmsweise ein Satz, bei dem er nicht gestottert hatte. Außerdem hatte er es so bestimmt gesagt, als würde er einen Schwur ablegen.
Wei Wuxian schwankte noch zwischen Verblüffung und Zweifel, als Wen Ning wieder meinte: »Junger Herr Wei, du suchst nach dem jungen Herrn Jiang, oder?«
»Ist Jiang Cheng da drinnen?!«
Ehrlich antwortete Wen Ning: »Ja …«
Bei diesen Worten rasten Wei Wuxians Gedanken: Wenn Jiang Cheng da drinnen ist, muss ich ebenfalls in den Lotuspier. Soll ich Wen Ning als Geisel nehmen? Das wird aber wahrscheinlich nichts bringen. Höchstwahrscheinlich kann Wen Chao diesen Wen Ning nicht leiden, sodass es sinnlos wäre, ihn als Geisel zu nehmen! Außerdem weiß ich nicht, ob er vielleicht lügt. Er gehört doch zum Wen-Clan, oder? Er hat uns gestern gesehen und uns nicht verpfiffen. Würde er mich verraten, wenn ich ihn freilasse? Gibt es unter den Wen-Hunden etwa wirklich jemand so Gutherzigen? Wenn ich auf Nummer sichergehen möchte, bleibt mir nichts anderes übrig als …
In Wei Wuxians Gedanken blitzten Tötungsabsichten auf.
Eigentlich besaß er keine ausgeprägte Mordlust, doch sein Clan hatte große Veränderungen durchgemacht und der Hass der vergangenen Tage hatte sich bereits sehr in ihm angestaut. Die Lage war zudem so ernst, dass er nicht länger Erbarmen zeigen durfte. Er musste nur einmal mit seiner rechten Hand zupacken, und könnte so Wen Ning das Genick brechen!
Während Wei Wuxian noch in seinem Gedankenwirrwarr feststeckte, meinte Wen Ning: »Junger Herr Wei, bist du zurückgekommen, um den jungen Herrn Jiang zu retten?«
Wei Wuxians Finger krümmten sich leicht. Kalt erwiderte er: »Warum denn sonst?«
Plötzlich lächelte Wen Ning nervös. »Ich ha… habe es gewusst. I… Ich kann dir helfen und ihn für dich rausholen.«
Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Wei Wuxian, sich verhört zu haben. Erstaunt fragte er: »Du …? Du willst ihn für mich retten?!«
»Ja. Ge… Genau jetzt, ich kann ihn jetzt sofort rausholen. Wen Chao und die anderen sind gerade eben ausgegangen!«
Wei Wuxian hielt ihn fest im Griff. »Das kannst du wirklich?«
»Ja! Ich b… bin auch ein Schüler des Wen-Clans, und es gibt eine Gruppe von Mitgliedern, die auf mich hört.«
Streng fragte Wei Wuxian: »Die auf dich hört? Die auf dich hört und andere umbringt?«
»N…N… Nein! Diese Mitglieder haben noch nie wahllos andere umgebracht! Und ich habe auch niemanden vom Jiang-Clan getötet. Ich habe nur gehört, dass etwas am Lotuspier passiert ist, und bin daher im Nachhinein hergeeilt. Wirklich!«, stellte Wen Ning hastig klar.
Wei Wuxian starrte ihn an. Was hat er vor? Lügt er? Heuchelt er mir was vor? Aber für eine Lüge wäre das irgendwie zu abstrus! Hält er mich für blöd?!
Das Erschreckende war, dass in ihm tatsächlich eine manische Freude darüber aufkam, dass es vielleicht doch noch einen Ausweg aus dieser eigentlich hoffnungslosen Lage gab. Er beschimpfte sich innerlich und ließ kein gutes Haar an sich – nannte sich selbst einen Idioten, unnütz und absurd – denn es war unvorstellbar, jenseits aller Fantastereien. Allerdings war er allein und hatte kein magisches Schwert oder eine andere spirituelle Waffe, wohingegen Tausende Kultivierer des Wen-Clans innerhalb der Mauern stationiert waren. Vielleicht befand sich auch dieser Wen Zhuliu unter ihnen.
Er hatte keine Angst zu sterben. Er fürchtete nur, dass er Jiang Cheng selbst unter Einsatz seines Lebens da nicht rausholen und damit dem Vertrauen, das Jiang Fengmian und Frau Yu in ihn gesetzt hatten, nicht gerecht werden konnte. Unter diesen Umständen war dieser Junge des Wen-Clans, den er erst wenige Male gesehen hatte, seine einzige Hoffnung!
Wei Wuxian leckte sich über seine trockenen Lippen und sprach mit rauer Stimme: »Kannst du … mir dann vielleicht … mir vielleicht auch dabei helfen … dabei helfen, die Leichname von Oberhaupt Jiang und Frau Yu …«
Ohne es zu merken, fing er nun ebenfalls an zu stottern. Nach der Hälfte fiel ihm auf, dass er Wen Ning immer noch drohend festhielt. Hastig ließ er ihn los, blieb jedoch auf der Hut. Wenn er jetzt fliehen oder schreien würde, würde er ihm augenblicklich den Schädel einschlagen. Doch Wen Ning drehte sich nur um und sagte ernst: »I… Ich werde auf jeden Fall mein Bestes geben.«
Wei Wuxian wartete vor der Mauer. Er war immer noch verwirrt. Er drehte sich auf einer Stelle im Kreis. Was ist nur mit mir los? Bin ich verrückt geworden? Wieso sollte Wen Ning mir helfen? Warum sollte ich ihm glauben? Was, wenn er mich angelogen hat und Jiang Cheng überhaupt nicht da drin ist? Nein, wenn Jiang Cheng nicht im Lotuspier ist, wäre das gut!
Nach weniger als einer halben Stunde kam Wen Ning tatsächlich mit jemandem auf dem Rücken lautlos herausgeschlichen.
Die Person war blutverschmiert, ihr Gesicht leichenblass und ihre Augen fest verschlossen. Reglos ruhte sie auf Wen Nings Rücken.
Es war Jiang Cheng.
»Jiang Cheng?! Jiang Cheng?!«, flüsterte Wei Wuxian. Dann streckte er eine Hand aus – Jiang Cheng atmete noch.
Wen Ning streckte ebenfalls eine Hand aus und legte einen Gegenstand in Wei Wuxians Handfläche. »D… Das ist Zidian. Sie gehört dem jungen Herrn Jiang. Ich habe sie mitgebracht.«
Wei Wuxian wusste nicht, was er sagen sollte. Er dachte daran, wie er eben noch kurz davor gewesen war, Wen Ning umzubringen, und stammelte: »D… Danke …!«
»Gern geschehen … Ich habe bereits jemanden darum ge… gebeten, die Leichname von Herrn Jiang und Frau Yu herauszubringen. Ich übergebe sie dir später. W… Wir sollten hier nicht zu lange verweilen. Lass uns erst einmal verschwinden …«
Mehr musste er nicht sagen. Wei Wuxian nahm Jiang Cheng entgegen. Er wollte ihn gerade auf seinen Rücken hieven, als er eine blutige Wunde auf Jiang Chengs Brust entdeckte. Sie stammte von einem Peitschenhieb.
»Die Disziplinierungspeitsche?!« Wei Wuxian war entsetzt.
»Ja. Wen Chao hat ihn mit der Disziplinierungspeitsche des Jiang-Clans bestraft … Am Körper des jungen Herrn Jiang sind wahrscheinlich noch weitere Wunden.«
Wei Wuxian fühlte nur kurz und bemerkte, dass Jiang Cheng mindestens drei gebrochene Rippen hatte. Er konnte jedoch nicht sagen, wie viele Wunden es darüber hinaus noch waren.
»Sobald Wen Chao bemerkt, dass er weg ist, wird er sicher überall in der Gegend um Yunmeng nach euch suchen … Junger Herr Wei, wenn du mir vertraust, kann ich … euch an einen Ort bringen, an dem ihr euch vorerst verstecken könnt«, meinte Wen Ning.
Jiang Chengs schwere Wunden mussten dringend mit Medizin versorgt werden. So konnten sie nicht wie zuvor einfach hungernd in der Gegend umherirren. Ihre Lage war schier aussichtslos, sie befanden sich in einer Sackgasse. Wei Wuxian fiel gar keine andere Möglichkeit ein, als sich auf Wen Ning zu verlassen!
Noch einen Tag zuvor hätte er niemals damit gerechnet, dass er und Jiang Cheng auf die Hilfe eines Schülers des Wen-Clans angewiesen sein würden, um zu fliehen – wahrscheinlich wären sie sogar eher gestorben, als sich zu ergeben. In diesem Moment jedoch konnte Wei Wuxian nicht mehr sagen als: »Vielen Dank!«
Wen Ning winkte ab: »N… Nicht doch. Junger Herr Wei, hier entlang, i… ich habe ein Boot …«
Mit Jiang Cheng auf dem Rücken begab Wei Wuxian sich mit Wen Ning zu dem Boot, dass dieser im Vorfeld versteckt hatte, und legte Jiang Cheng in die Kajüte. Wen Ning reinigte Jiang Cheng die Wunden, verband sie und trug eine Salbe auf. Als Wei Wuxian seine geschickten Bewegungen sah, erinnerte er sich daran, wie er ihn damals bei der Diskussionskonferenz des Qishan-Wen-Clans gesehen hatte.
Es war eben jene Diskussionskonferenz gewesen, bei der er, Lan Wangji, Lan Xichen und Jin Zixuan die vorderen vier Plätze beim Bogenschießen belegt hatten.
An jenem Tag war er vor Beginn des Wettbewerbs allein in der Nachtlosen Stadt umhergewandert. Dabei war er an einem kleinen Blumengarten vorbeigekommen.
Plötzlich hatte er vor sich das Vibrieren einer Bogensehne vernommen. Er hatte sich einen Weg zwischen den Bäumen und Sträuchern hindurch gebahnt, bis er einen Jungen in einem weißen, leichten Gewand entdeckte. Dieser zielte gerade auf eine Zielscheibe in einiger Entfernung. Er spannte den Bogen und ließ schließlich die Sehne los.
Das Profil des Jungen war überaus attraktiv. Seine Haltung war sowohl akkurat als auch schön. Auf dem roten Kreis in der Mitte der Zielscheibe drängten sich bereits Pfeile dicht an dicht. Auch der soeben abgeschossene traf direkt ins Zentrum.
Er hatte kein einziges Mal das Ziel verfehlt.
Wei Wuxian jubelte ihm zu: »Tolle Technik!«
Nach seinem Treffer hatte der Junge sofort einen neuen Pfeil aus dem Köcher auf seinem Rücken hervorgeholt. Mit gesenktem Kopf hatte er ihn gerade anlegen wollen, als nun so plötzlich und völlig unvorbereitet von der Seite eine fremde Stimme ertönte. Er erschrak und ein Zucken durchfuhr seine Hand, sodass der Pfeil zu Boden fiel.
Wei Wuxian kam aus dem Blumenbeet hervor und lachte. »Welcher junger Herr des Wen-Clans bist du denn? Toll, klasse, wirklich schön! Du bist echt gut im Bogenschießen. Ich habe noch kein Mitglied eures Clans gesehen, das so gut …«
Noch bevor er aussprechen konnte, hatte der Junge bereits Pfeil und Bogen zurückgelassen, war über alle Berge und nun nirgends mehr zu sehen.
Wei Wuxian war sprachlos. Er strich sich nachdenklich übers Kinn. Sehe ich etwa so gut aus, dass andere deswegen vor Schreck wegrennen?
Er machte sich keine weiteren Gedanken darüber, sondern tat es einfach als einen sonderbaren Vorfall ab, und ging zum Platz zurück.
Der Wettbewerb würde jeden Moment beginnen, es herrschte Unruhe beim Wen-Clan.
Wei Wuxian fragte Jiang Cheng: »Sie veranstalten doch nur eine Diskussionskonferenz, wie kann das so schwer sein? Jeden Tag gibt es hier Theater. Was ist heute wieder passiert?«
Jiang Cheng erwiderte: »Was soll schon passiert sein, die Teilnehmerzahl ist begrenzt, und nun streiten sie darüber, wer auf den Platz darf.« Er hielt kurz inne, ehe er noch verächtlich hinzufügte: »Die vom Wen-Clan … können doch alle nicht mit dem Bogen umgehen, da ist es doch gleich, wer auf den Platz geht, oder? Macht es denn einen Unterschied, wenn sie sich deswegen vorher streiten?«
Wen Chao rief von der Seite: »Noch einer! Noch einer! Es fehlt nur noch einer! Noch ein letzter!«
Unter der Menge, die neben ihm stand, war auch der Junge von gerade eben mit dem weißen Gewand. Er schaute nach links und rechts, nahm all seinen Mut zusammen und hob die Hand. Er hatte sie jedoch nicht sehr weit ausgestreckt und traute sich im Gegensatz zu den anderen auch nicht, einfach seinen Namen zu rufen. Erst nachdem er eine Weile hin und her geschubst worden war, bemerkte ihn jemand. Überrascht fragte dieser: »Qionglin? 3 Du möchtest auch teilnehmen?«
Der Junge mit dem Namen »Qionglin« nickte, woraufhin ein anderer auflachte. »Ich habe dich noch nie einen Bogen in die Hand nehmen sehen, warum willst du also teilnehmen?! Verschwende keine Plätze!«
Wen Qionglin schien sich rechtfertigen zu wollen, als jedoch der andere Junge meinte: »Lass es lieber, mach keine Experimente. Hier geht es um Punkte, wenn du dich blamierst, ist das allein dein Problem.«
Sich blamieren? Wenn es irgendjemanden im Wen-Clan gibt, der eure Ehre retten könnte, dann ja wohl er, dachte Wei Wuxian.
Der verächtliche Tonfall der Person war so selbstverständlich, dass es Wei Wuxian sauer aufstieß. Er erhob die Stimme: »Wer sagt denn, dass er noch nie einen Bogen in der Hand hatte? Hatte er sehr wohl, und außerdem ist er richtig gut!«
Die Menge sah ihn erstaunt an, dann schaute sie zu Wen Qionglin.
Sein Gesicht war von Natur aus etwas blasser, und nun, da die Blicke aller sich plötzlich auf ihn richteten, lief er augenblicklich knallrot an. Mit seinen pechschwarzen Augen blickte er zu Wei Wuxian.
Die Hände auf dem Rücken verschränkt ging dieser zu ihm rüber und sagte: »Du warst doch gerade so gut im Blumengarten.«
Wen Chao hatte sich ebenfalls umgedreht und gab sich skeptisch. »Wirklich? Du bist gut im Bogenschießen? Wieso habe ich noch nie etwas davon gehört?«
Leise erwiderte Wen Qionglin: »I… Ich habe erst vor Kurzem damit angefangen …«
Er sprach leise und dann auch noch sehr abgehackt, als würde ihm jederzeit jemand das Wort abschneiden – was in der Tat auch häufig vorkam.
Ungeduldig unterbrach Wen Chao ihn: »Gut, da ist eine Zielscheibe, schieß einen Pfeil ab. Na los, beeil dich! Wenn du gut bist, nimmst du teil, wenn nicht, ziehst du dich zurück.«
Die Menge machte Wen Qionglin augenblicklich Platz. Seine Hand, mit der er den Bogen hielt, verkrampfte sich, Hilfe suchend schaute er sich nach rechts und links um.
Als Wei Wuxian sah, wie wenig Selbstbewusstsein er besaß, klopfte er ihm auf die Schulter. »Entspann dich. Du musst nur so schießen wie vorhin.«
Wen Qionglin warf ihm einen dankbaren Blick zu, holte tief Luft und spannte den Bogen.
Oh, oh, dachte sich Wei Wuxian und schüttelte innerlich den Kopf.
Wahrscheinlich hatte Wen Qionglin noch nie vor anderen geschossen. Seine Arme bis hin zu seinen Fingerspitzen zitterten, und als er schließlich den Pfeil abschoss, traf er nicht einmal die Zielscheibe.
Die umstehenden Angehörigen des Wen-Clans brachen in höhnisches Gelächter aus.
»Von wegen er ist gut!«
»Selbst mit geschlossenen Augen schieße ich besser.«
»Schluss jetzt, verschwenden wir keine Zeit mehr, lasst uns schnell einen aussuchen, der auf dem Platz antritt!«
Die Röte in Wen Qionglins Gesicht hatte sich bis zu seinen Ohren ausgebreitet. Er wartete nicht darauf, dass die Menschen ihn wegschickten, sondern floh von allein Hals über Kopf.
Wei Wuxian holte ihn ein. »Hey, renn nicht weg! Das … Bruder Qionglin, richtig? Wieso rennst du weg?«
Erst als Wen Qionglin hörte, wie Wei Wuxian hinter ihm seinen Namen rief, blieb er stehen. Mit gesenktem Kopf drehte er sich um. Er wirkte vom Kopf bis zu den Zehenspitzen beschämt. »Entschuldige …«
Wei Wuxian war verwundert. »Wieso entschuldigst du dich bei mir?«
Wen Qionglin hatte ein schlechtes Gewissen. »D… Du hast dich für mich eingesetzt, aber ich habe dich bloßgestellt …«
»Wie kommst du darauf? Du hast zuvor noch nicht oft vor anderen geschossen, sodass du gerade nervös geworden bist, richtig?«
Wen Qionglin nickte, und Wei Wuxian fuhr fort: »Hab etwas Selbstvertrauen. Ich bin ehrlich zu dir: Du schießt besser als alle anderen in deinem Clan. Unter allen Kultivierungsschülern, die ich bisher gesehen habe, gibt es wahrscheinlich nicht mehr als drei, deren Bogenschießfertigkeiten deine übertreffen.«
Jiang Cheng kam zu ihnen rüber. »Was treibst du nun schon wieder? Welche drei?«
Wei Wuxian zeigte auf Jiang Cheng und meinte: »Also, der hier zum Beispiel, der schießt nicht besser als du.«
Jiang Cheng explodierte: »Du willst wohl sterben!«
Wei Wuxian kassierte einen Schlag, sagte aber trotzdem mit unveränderter Miene: »Wirklich. Es gibt also keinen Grund, weshalb du nervös sein müsstest. Du gewöhnst dich sicher daran, wenn du mehr vor anderen übst. Nächstes Mal werden sie sicher Augen machen.«
Dieser Wen Qionglin war wahrscheinlich ein Kultivierungsschüler eines Nebenzweigs eines Nebenzweigs innerhalb des Wen-Clans und hatte weder eine besonders hohe noch besonders niedrige Stellung. Er war schüchtern und besaß nicht viel Selbstbewusstsein – das äußerte sich in extremer Überängstlichkeit, sodass er selbst beim Reden stotterte.
Da hatte er nach all dem mühevollen Training nun schon mal seinen Mut zusammengenommen und an dem Wettbewerb teilnehmen wollen, hatte es dann aber schließlich aufgrund seiner übermäßigen Nervosität vermasselt. Wenn man ihn nicht ordentlich anleitete, würde er sich in Zukunft vielleicht sogar noch mehr abkapseln und es nie mehr wagen, vor anderen sein Können zu zeigen. Wei Wuxian sprach ihm mit einigen Sätzen Mut zu, gab ihm grundsätzliche Tipps und korrigierte ein paar kleine Fehler, die er beim Schießen im Blumengarten gemacht hatte.
Wen Qionglin hörte konzentriert zu, ohne seinen Blick abzuwenden, und nickte immerzu.
»Woher kommt bloß der ganze Müll, den du da von dir gibst? Der Wettbewerb fängt jeden Moment an, mach dich lieber mal schnell auf den Weg zum Platz!«, rief Jiang Cheng.
Ernst sagte Wei Wuxian zu Wen Qionglin: »Ich muss jetzt zu dem Wettbewerb. Du kannst ja zuschauen, wie ich mich auf dem Platz mache …«
Ungeduldig zerrte Jiang Cheng ihn hinter sich her, während er schnaubte: »Was genau soll er sich da bitte schön bei dir anschauen? Denkst du etwa, dass du ein Vorbild bist?!«
Wei Wuxian dachte einen Moment nach und antwortete dann verwundert: »Natürlich. Bin ich das etwa nicht?«
»Wei Wuxian! Ich habe noch nie jemanden so Schamlosen wie dich erlebt!«
…
Nachdem er sich an dieses Ereignis erinnert hatte, wanderte Wei Wuxians Blick von Wen Ning zu Jiang Cheng. Sein ganzer Körper war voller Blut und seine Augen waren fest verschlossen. Unwillkürlich ballte Wei Wuxian seine Hände zu Fäusten.
Sie nahmen zuerst einen Wasserweg und trieben mit dem Boot flussabwärts, dann stiegen sie an Land in eine Pferdekutsche um, die Wen Ning vorbereitet hatte. Am nächsten Tag erreichten sie Yiling.
Wen Ning rief mehrere Dutzend Mitglieder herbei und geleitete sie persönlich zu einem großen, prächtigen Anwesen. Lautlos schlich er mit ihnen zur Hintertür hinein und führte Wei Wuxian in ein kleines Zimmer.
Wen Ning schloss die Tür und drehte sich um, doch noch bevor er eine Atempause einlegen konnte, würgte Wei Wuxian ihn erneut am Hals. Flüsternd stellte er ihn zur Rede: »Was ist das hier für ein Ort?«
Obwohl Wen Ning sie gerettet hatte, konnte er seine Vorsicht bezüglich des Wen-Clans nicht so einfach fahren lassen und war daher stets auf der Hut. Beim Durchschreiten des Anwesens waren sie an einigen Zimmern vorbeigekommen. Bei vielen der Menschen hatte er einen Qishan–Akzent wahrgenommen. Und aus den Gesprächsfetzen, die durch die Fenster- und Türspalten gedrungen waren, hatte er klar und deutlich das Wort »Kontrollstation« herausgehört!
Hastig wedelte Wen Ning mit den Händen. »Nein … ich …«
»Was nein? Ist das hier etwa nicht die Kontrollstation, die ihr in Yiling errichtet habt? Von welchem unglückseligen Kultivierungsclan habt ihr nun das Territorium annektiert? Warum hast du uns hierhergebracht? Was hast du vor?«, bohrte Wei Wuxian nach.
Eifrig rechtfertigte sich Wen Ning: »Junger Herr Wei, h… hör mir bitte zu. Das hier ist eine Kontrollstation. A… Aber ich hege sicher nicht die Absicht, euch zu schaden. Wenn ich das vorgehabt hätte, hätte ich mich gestern Abend, als ich beim Lotuspier angekommen bin, doch sofort gegen dich wenden können, u… und hätte euch dafür nicht extra hierher bringen müssen.«
Wei Wuxians Nerven waren die letzten Tage über durchgehend zum Zerreißen gespannt gewesen. Nicht einen Moment war er zur Ruhe gekommen. Er hatte das Gefühl, jederzeit zu explodieren. Ihm schwirrte der Kopf, und bei Wen Nings Worten war er immer noch zwischen Vertrauen und Zweifeln hin und her gerissen.
Wen Ning setzte erneut an: »Dies ist tatsächlich eine Kontrollstation. Aber wenn es einen Ort gibt, den der Wen-Clan nicht durchforsten wird, dann ist es genau dieser hier. Ihr könnt bleiben, aber lasst euch auf keinen Fall entdecken …«
Wei Wuxian hielt kurz inne, ehe er sich schließlich zwang loszulassen. Flüsternd bedankte und entschuldigte er sich und legte Jiang Cheng in das Holzbett im Zimmer. Unerwarteterweise wurde jedoch genau in dem Moment die Zimmertür geöffnet.
»Ich habe dich gesucht! Kläre mich mal gründlich auf …«, rief eine Frau.
Gerade hatte Wen Ning noch gesagt, dass sie nicht entdeckt werden dürften, und schon wurden sie erwischt!
Augenblicklich brach Wei Wuxian der kalte Schweiß aus und er stellte sich schützend vor das Bett. Wen Ning war so erschrocken, dass er kein Wort herausbrachte. Stocksteif starrten sie beide die Frau an, die im Holztürrahmen stand. Oder besser gesagt: die junge Dame.
Ihre Haut war etwas dunkler und obwohl sie liebreizend aussah, wirkte sie aus unerfindlichen Gründen arrogant. Ihre Robe zierten gleißende Sonnen und die strahlend roten Flammen schienen auf ihren Ärmeln und dem Kragen zu tanzen. Die Qualität des Materials war überaus hochwertig. Das bedeutete, sie hatte einen ähnlichen Rang wie Wen Chao inne!
Eine Weile sahen die drei sich nur schockiert an. Außerhalb des Zimmers hörte man eilig herannahende Schritte. Beherzt fasste Wei Wuxian einen Entschluss und wollte gerade zur Tat schreiten, als die Frau ihm zuvorkam und die Tür laut zuknallte.
Von der anderen Seite der Tür hörte man, wie sie jemand fragte: »Leiterin Wen, was ist passiert?«
Gleichgültig antwortete sie: »Nichts, mein kleiner Bruder ist nur zurück und er ist wieder so apathisch. Stört ihn nicht. Lasst uns gehen, wir können später weiterreden.«
»Jawohl«, hörte man vor der Tür, und die Personen entfernten sich gemeinsam mit ihr.
Wen Ning atmete auf. »M…. Meine große Schwester«, erklärte er.
»Wen Qing ist deine Schwester?«, fragte Wei Wuxian.
Wen Ning nickte leicht verlegen. »Meine Schwester … ist sehr beeindruckend.«
Das war sie in der Tat.
Wen Qing konnte man durchaus zu den Berühmtheiten des Qishan-Wen-Clans zählen. Sie war zwar nicht die Tochter von Wen Ruohan, dem Oberhaupt des Wen-Clans, allerdings die Nachfahrin eines Cousins von ihm. Und auch wenn sie somit nur entfernt verwandt waren, hatte Wen Ruohan von klein auf ein gutes Verhältnis zu diesem Cousin gehabt.
Zudem waren Wen Qings literarische Kenntnisse außergewöhnlich, sie war in den medizinischen Künsten bewandert und besaß darüber hinaus noch weitere Talente, sodass Wen Ruohan sie sehr schätzte.
Sie nahm oft gemeinsam mit ihm an feierlichen Zusammenkünften teil, die der Qishan-Wen-Clan veranstaltete, sodass Wei Wuxian ihr Gesicht kannte – immerhin war sie eine Schönheit. Er hatte auch mal gehört, dass sie wohl einen Bruder haben sollte. Vielleicht redete niemand über ihn, weil er weitaus weniger talentiert war als Wen Qing.
Verwundert fragte Wei Wuxian: »Bist du wirklich Wen Qings Bruder?«
Wen Ning ging davon aus, dass es ihn wunderte, dass eine so hervorragende und berühmte Frau einen so unauffälligen Bruder hatte, und antwortete daher: »Ja, meine Schwester ist beeindruckend, ich … nicht.«
»Nein, nein, das meinte ich nicht. Du bist auch beeindruckend. Was mich so verwundert, ist die Tatsache, dass du es gewagt hast, uns herzuführen, obwohl deine Schwester Wen Qing und auch noch die Leiterin dieser Kontrollstation ist …«, erklärte Wei Wuxian.
In diesem Moment bewegte sich Jiang Cheng auf dem Bett und kniff leicht die Augenbrauen zusammen. Sofort drehte Wei Wuxian sich um, um nach ihm zu schauen. »Jiang Cheng?!«
Hastig meinte Wen Ning: »Er wacht auf. Er braucht Medikamente, ich gehe welche holen.«
Er ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Nachdem Jiang Cheng so lange geschlafen hatte, kam er nun endlich wieder zu sich. Wei Wuxians anfängliche Hochstimmung verflog jedoch schnell wieder, als er erkannte, dass etwas nicht stimmte.
Jiang Chengs Gesichtsausdruck war überaus merkwürdig, sehr ruhig. Zu ruhig.
Er starrte an die Decke. Sein derzeitiger Zustand schien ihn in keiner Weise zu interessieren, ebenso wenig wie er sich um den Ort kümmerte, an dem er sich befand.
Mit so einer Reaktion hatte Wei Wuxian nicht gerechnet. Keine Trauer, Freude, Wut oder Erstaunen – nichts von all dem. Er war beunruhigt. »Jiang Cheng, kannst du sehen? Hörst du etwas? Erkennst du mich?«
Jiang Cheng warf ihm einen Blick zu, sagte aber nichts. Wei Wuxian stellte ihm solang weiter Fragen, bis er sich endlich mit den Armen auf dem Holzbett abstützte und aufsetzte. Er senkte den Kopf und betrachtete die Wunde der Disziplinierungspeitsche auf seiner Brust, dann lachte er einmal kalt auf.
Sobald man eine Narbe von einer Disziplinierungspeitsche am Körper trug, war es unmöglich, dieses Mal der Schande jemals wieder loszuwerden. Und doch sagte Wei Wuxian wider besseren Wissens: »Schau sie nicht mehr an, wir werden schon eine Möglichkeit finden, sie zu heilen.«
Jiang Cheng verpasste ihm einen Schlag. Er war schwach und kraftlos – Wei Wuxian taumelte nicht einmal davon.
»Schlag mich ruhig. Hauptsache, es geht dir besser.«
»Hast du sie gespürt?«, fragte Jiang Cheng.
Wei Wuxian war verdutzt. »Was? Was soll ich gespürt haben?«
»Meine spirituelle Energie.«
»Was für eine spirituelle Energie? Du hast doch überhaupt keine benutzt.«
»Habe ich wohl.«
Wei Wuxian verstand nicht. »Was zum … Was redest du denn da?«
Jiang Cheng wiederholte und betonte dabei jedes seiner Worte: »Ich sagte, ich habe welche benutzt. Bei dem Schlag gerade eben habe ich meine ganze spirituelle Kraft eingesetzt. Und nun frage ich dich, ob du sie gespürt hast.«
Wei Wuxian schaute ihn schweigend an. Nach einer Weile sagte er schließlich: »Schlag mich noch einmal.«
»Das ist nicht nötig. Egal wie oft ich dich schlage, es wird immer zum gleichen Ergebnis führen. Wei Wuxian, weißt du, warum Wen Zhuliu den Spitznamen die ›kernzerschmelzende Hand‹ trägt?«
Wei Wuxians Herz rutschte ihm nun vollends in die Hose.
Ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr Jiang Cheng fort: »Weil seine Hände den goldenen Kern schmelzen können. Und wenn das geschehen ist, kann man nie wieder einen neuen bilden; die spirituelle Kraft löst sich auf und man wird zu einem gewöhnlichen Menschen. Und ein gewöhnlicher Nachkomme eines Kultivierungsclans ist nutzlos. Er wird sein Leben lang lediglich Durchschnitt bleiben und nie wieder der Hoffnung hinterherjagen können, die Spitze zu erklimmen.«
»Wen Zhuliu hat zuerst den goldenen Kern meiner Mutter und meines Vaters geschmolzen, sodass sie keine Kraft mehr hatten, um sich zu wehren. Anschließend hat er sie getötet.«
Wei Wuxians Gedanken drehten sich, völlig hilflos murmelte er: »Die kernzerschmelzende Hand … Die kernzerschmelzende Hand …«
Jiang Cheng lachte kalt: »Wen Zhuliu, Wen Zhuliu. Ich muss mich rächen, ich muss mich rächen. Aber wie soll ich das machen? Ich habe nicht mal mehr einen goldenen Kern und es ist unmöglich, einen neuen zu bilden, wie soll ich mich also rächen? Ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha …«
Wei Wuxian sackte zu Boden. Er schaute zu Jiang Cheng, der auf dem Bett saß und nahezu verrückt wirkte. Er brachte kein einziges Wort hervor.
Niemand wusste besser als er, wie ehrgeizig Jiang Cheng war und wie wichtig ihm seine Kultivierungskünste und spirituelle Energie waren. Und nun hatte die kernzerschmelzende Hand seine Kultivierung, seine Selbstachtung und seine Hoffnung auf Rache mit einem Schlag zertrümmert!
Nachdem Jiang Cheng eine Weile wie ein Wahnsinniger gelacht hatte, legte er sich wieder zurück ins Bett und breitete beide Arme aus. Er hatte sich bereits selbst aufgegeben. »Wei Wuxian, wieso hast du mich gerettet? Was soll das bringen? Soll mein Leben wirklich darin bestehen, den überheblichen Wen-Hunden zuzuschauen, während ich selbst gar nichts mehr ausrichten kann?«
Genau in diesem Moment kam Wen Ning herein.
Er trug ein Lächeln im Gesicht, das beinahe etwas Einschmeichelndes hatte, und ging geradewegs mit einer Schüssel Medizin zum Bett. Bevor er irgendetwas sagen konnte, hatten Jiang Chengs Augen bereits die Sonnenrobe erfasst – augenblicklich verengten sich seine Pupillen.
Jiang Cheng verpasste Wen Ning einen Tritt und stieß dabei die Medizinschüssel um. Die schwarze Flüssigkeit verteilte sich über Wen Nings Körper.
Wei Wuxian, der gerade die Schüssel hatte entgegennehmen wollen, zog den vor Schreck erstarrten Wen Ning zurück.
Jiang Cheng brüllte ihn an: »Was stimmt nicht mit dir?!«
Wen Ning erschrak derart, dass er immer weiter zurückwich, während Jiang Cheng Wei Wuxian am Kragen packte und schrie: »Du tötest den Wen-Hund nicht, wenn du ihn siehst?! Du ziehst ihn auch noch aus der Schusslinie?! Willst du sterben?!«
Obwohl er seine ganze Kraft einsetzte, waren seine Arme einfach zu schwach und kraftlos, sodass Wei Wuxian sich sofort losreißen konnte.
Jiang Cheng schien jetzt erst zu bemerken, wo er sich befand. Er blickte sich um und fragte alarmiert: »Wo sind wir hier?«
Wen Ning antwortete aus einiger Entfernung: »In der Kontrollstation von Yiling. Aber hier ist es sehr sich…«
Sofort wandte sich Jiang Cheng an Wei Wuxian: »Kontrollstation?! Bist du ihnen etwa in die Falle gegangen?«
»Nein!«, antwortete Wei Wuxian.
Jiang Cheng klang harsch: »Nicht? Was machst du dann in einer Kontrollstation? Wie bist du hierhergekommen? Sag mir nicht, dass du die Wen-Hunde um Hilfe gebeten hast?!«
Wei Wuxian packte ihn. »Jiang Cheng, beruhige dich erst mal, hier sind wir vorerst sicher! Komm zu dir, es ist nicht gesagt, dass die kernzerschmelzende Hand …«
Nichts drang mehr zu Jiang Cheng durch, er war bereits fast vollständig dem Wahnsinn verfallen. Manisch lachend würgte er Wei Wuxian. »Wei Wuxian, ha ha ha ha ha ha ha ha! Wei Wuxian! Du! Duuu …«
Im nächsten Moment wurde die Tür aufgetreten und eine rote Silhouette schnellte herein. Zusammen mit einem silbernen Licht zischte sie durch den Raum direkt auf Jiang Cheng zu. Er wurde von einer Nadel in den Schädel gestochen und fiel augenblicklich zurück auf das Bett.
Wen Qing drehte sich um und schloss die Tür. Leise, aber wütend, sagte sie: »Wen Ning, wie töricht bist du eigentlich, dass du ihn hier so laut herumbrüllen und schallend lachen lässt?! Hast du keine Angst, dass sie jemand entdeckt?!«
Wen Ning war, als würde er seiner Retterin gegenüberstehen. »Schwester!«
»Von wegen Schwester! Seit wann bist du so wagemutig? Du traust dich sogar, jemanden zu verstecken! Ich habe mich bereits heimlich umgehört. Kein Wunder, dass du so plötzlich nach Yunmeng wolltest! Du bist wahrhaft mutig. Wer hat dir das Selbstvertrauen dazu gegeben? Wenn Wen Chao herausfindet, was du getan hast, wird er dich zerreißen. Glaubst du etwa, dass ich ihn aufhalten könnte, wenn er sich ernsthaft dazu entscheidet, jemanden auszuschalten?«
Sie sprach schnell und klar. Ihr Tonfall war kraftvoll und duldete keine Widerworte, sodass Wei Wuxian keine Gelegenheit fand, sie zu unterbrechen.
Wen Ning wurde leichenblass. »Aber Schwester, der junge Herr Wei …«
Harsch erwiderte sie: »Da du aus Dankbarkeit gehandelt hast und das ein nachvollziehbarer Grund ist, werde ich das nicht weiter kommentieren. Aber die beiden dürfen auf keinen Fall zu lange hierbleiben! Du bist spontan in Yunmeng aufgetaucht und dann sehr schnell wieder abgehauen, während Wen Chao ganz plötzlich eine Person abhanden gekommen ist. Glaubst du wirklich, dass er so dumm ist? Früher oder später wird er mit seinen Männern hier suchen kommen. Diese Kontrollstation unterliegt meiner Aufsicht, und dies ist dein Zimmer. Welche Strafe wird dich erwarten, wenn jemand merkt, wen du hier versteckst? Denk mal gründlich darüber nach!«
Sie hatte die Situation so deutlich geschildert, jetzt fehlte nur noch, dass sie auf Wei Wuxian zeigte und ihm sagte, dass sie sich schleunigst vom Acker machen und ihnen keinen Ärger einbringen sollten.
Wäre Wei Wuxian der Verletzte oder ihr Retter jemand anderes, wäre er mit Sicherheit sofort entschlossen aufgestanden, hätte sich verabschiedet und wäre gegangen. Aber es war Jiang Cheng, um den es hier ging. Und nicht nur das: Er hatte sogar seinen Kern verloren und war mental überaus instabil. Was er auch tat, diese Entschlossenheit konnte er nicht aufbringen. Außerdem war es ja der Wen-Clan gewesen, der sie überhaupt erst in diese Lage gebracht hatte, sodass er es irgendwo auch nicht einsah. Wei Wuxian blieb nichts anderes übrig, als schweigend die Zähne zusammenzubeißen.
Wen Ning warf ein: »A… Aber es war der Wen-Clan, der …«
Wen Qing unterbrach ihn: »Nur weil der Wen-Clan so etwas tut, heißt das nicht, dass wir dafür verantwortlich sind. Und es bedeutet auch nicht, dass wir dessen Sünden ausbaden müssen. Wei Ying, du brauchst mich gar nicht so anzusehen. Richte deinen Groll nicht gegen die falsche Person. Ich bin zwar die Leiterin der Kontrollstation hier in Yiling, aber ich habe das Amt nur auf Befehl hin angetreten. Ich bin Apothekerin und Ärztin und habe nie jemanden getötet, und das Blut der Menschen eures Clans klebt erst recht nicht an meinen Händen!«
Tatsächlich hatte er noch nie gehört, dass Wen Qing jemanden getötet oder ein Massaker angerichtet hatte. Es gab nur viele, die gehofft hatten, sie würde ihnen helfen. Da Wen Qing eine der wenigen innerhalb des Wen-Clans war, die Dinge mit gesundem Menschenverstand anging und manchmal sogar ein paar gute Worte für andere bei Wen Ruohan einlegte, hatte sie einen guten Ruf.
Im Raum herrschte Stille.
Nach einer Weile meinte Wen Qing: »Zieht die Nadel nicht heraus. Sobald der Kerl aufwacht, dreht er durch, und jeder draußen würde sein Gebrüll hören. Ihr könnt sie rausziehen, wenn er sich erholt hat, und dann seht zu, dass ihr schleunigst von hier verschwindet. Ich will mich auf keinen Fall mit Wen Chao herumschlagen müssen, besonders nicht mit der Frau an seiner Seite. Mir wird schon schlecht, wenn ich sie nur sehe!«
Nachdem sie das gesagt hatte, ging sie augenblicklich zur Tür hinaus.
»Meint sie damit … dass wir nicht lange, aber zumindest für ein paar Tage bleiben … dürfen?«, fragte Wei Wuxian.
Eifrig nickte Wen Ning. »Danke, Schwester!«
Wen Qing warf von draußen einen Beutel mit Heilmitteln ins Zimmer und rief von Weitem: »Wenn du mir wirklich danken willst, dann leg dich etwas mehr ins Zeug! Was für ein Teufelsgebräu war das bitte eben in der Schüssel?! Koch das noch mal!«
Obwohl Wen Ning direkt von dem Medizinbeutel getroffen worden war, sagte er freudig: »Die Medizin, die meine Schwester zusammengestellt hat, ist garantiert gut. Bestimmt hundertmal besser als meine.«
Endlich beruhigte sich Wei Wuxian vollkommen. »Danke.«
Wei Wuxian war sich darüber bewusst, dass dieses Geschwisterpaar ein gewaltiges Risiko einging – sie, indem sie ein Auge zudrückte, und er, indem er von sich aus Hilfe angeboten hatte. Es war, wie Wen Qing gesagt hatte: Wenn Wen Chao sich wirklich entschloss, jemanden zu erledigen, würde Wen Qing ihn trotz ihrer Stellung wahrscheinlich nicht aufhalten können. Wer wusste, ob sie nicht selbst sogar noch mit hineingezogen werden würde. Letztendlich war das Kind von jemand anderem nicht vergleichbar mit dem eigenen Kind.
Mit der Nadel im Kopf schlief Jiang Cheng drei Tage lang. Seine Knochen und oberflächlichen Wunden verheilten in dieser Zeit. Was jedoch nicht heilen würde, waren die Narbe der Disziplinierungspeitsche und der goldene Kern. Die Narbe würde niemals verblassen und der Kern nie wieder zurückkommen.
Während der drei Tage hatte Wei Wuxian viel nachgedacht und einen Entschluss gefasst: Er verabschiedete sich von Wen Ning, nahm Jiang Cheng auf seinen Rücken und legte eine gute Strecke zurück, bevor er sich von einem Förster eine Hütte mietete.
Er schloss die Tür und zog die Nadel aus Jiang Chengs Schädel.
Es dauerte lange, bis Jiang Cheng die Augen öffnete. Er wachte zwar auf, rührte sich jedoch nicht. Er drehte sich nicht einmal um und es interessierte ihn auch nicht, wo sie sich befanden. Er trank und aß nichts, ganz so, als würde er nur noch sterben wollen.
»Willst du wirklich sterben?«, fragte Wei Wuxian.
»Auch wenn ich lebe, kann ich mich nicht rächen. Wer weiß, wenn ich sterbe, kann ich mich ja vielleicht in einen bösartigen Geist verwandeln.«
»Du hast von klein auf an Seelen-Beruhigungszeremonien teilgenommen, nach deinem Tod wirst du dich daher sicher nicht in einen bösartigen Geist verwandeln.«
»Wenn ich mich in beiden Fällen nicht rächen kann, was für einen Unterschied macht es dann, ob ich tot oder am Leben bin?«
Nach dieser Frage sprach er nicht mehr.
Wei Wuxian saß neben dem Bett und schaute ihn eine Weile an, bis er schließlich auf seine Oberschenkel schlug, aufstand und sich an die Arbeit machte.
Als der Abend beinahe angebrochen war, war er endlich fertig mit Kochen und stellte das Essen auf den Tisch. »Steh auf, lass uns essen.«
Natürlich ignorierte Jiang Cheng ihn.
Wei Wuxian saß am Tisch und hob die Stäbchen. »Wie willst du deinen goldenen Kern denn zurückholen, wenn du nicht zu Kräften kommst?!«