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Der Lotuspier wurde zerstört und Rache scheint für den Erben des Jiang-Clans unmöglich. Doch dann begeht Wen Chao einen großen Fehler, der eine Reihe tragischer Ereignisse nach sich zieht. Die Schreckensherrschaft des Wen-Clans gerät ins Wanken … Während die Vergangenheit beleuchtet, was keiner vergessen kann, versetzt die Nachricht über die Wiederauferstehung des Yiling-Patriarchen die Menschen in der Gegenwart in Angst und Schrecken. Damit sich Wei Wuxians Schicksal nicht wiederholt, müssen er und Lan Wangji den Mörder von Nie Mingjue überführen – doch dessen teuflisches Spiel ist an Heimtücke kaum zu übertreffen …
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Seitenzahl: 553
Impressum
Kapitel 19: Loyalität (Fortsetzung)
3
Um drei Uhr nachts kamen sie in Yunmeng an.
Vor dem Haupttor des Lotuspiers brannte helles Licht, das golden vom Wasser reflektiert wurde.
Es war ein überaus seltenes Ereignis, dass so viele Boote auf einmal am Pier anlegten. Nicht nur die Torwächter waren verblüfft, sondern auch die Greise, die entlang des Flusses noch Mitternachtssnacks an ihren Ständen verkauften.
Jiang Cheng stieg als Erster vom Boot. Nachdem er einige Worte mit einer Wache gewechselt hatte, kamen augenblicklich unzählige bewaffnete Clanmitglieder aus dem Haupttor.
Grüppchenweise verließ die Menge die Boote und wurde von Gastkultivierern des Yunmeng-Jiang-Clans hineingeführt. Endlich erwischte Oberhaupt Ouyang seinen Sohn, schalt ihn leise und zerrte ihn fort.
Wei Wuxian und Lan Wangji traten aus der Kabine und sprangen nun ebenfalls vom Fischerboot.
»Junger Herr, ich werde hier draußen auf dich warten«, meinte Wen Ning.
Wei Wuxian wusste, dass er das Haupttor des Lotuspiers nicht durchschreiten würde, und ebenso wusste er, dass Jiang Cheng ihm auch auf keinen Fall Eintritt gewähren würde, also nickte er.
»Werter Herr Wen, ich leiste dir Gesellschaft«, sagte Lan Sizhui.
»Du bleibst bei mir?« Damit hatte Wen Ning niemals gerechnet und freute sich sehr darüber.
Lan Sizhui lächelte. »Genau, immerhin müssen die werten Qianbeis 1 noch einige wichtige Dinge besprechen, da bringt meine Anwesenheit herzlich wenig. Wir können uns weiter unterhalten. Wo waren wir gerade stehengeblieben? Hat Wei Qianbei wirklich ein zweijähriges Kind wie einen Rettich in die Erde gesteckt?«
Obwohl er leise sprach, hörten die beiden vor ihm aufgrund ihrer außergewöhnlich guten Ohren, was er sagte. Wei Wuxian stolperte. Lan Wangji hob für einen Moment die Augenbrauen, setzte dann jedoch sofort wieder seine gewohnte Miene auf. Erst nachdem ihre Silhouetten hinter dem Haupttor des Lotuspiers verschwunden waren, fuhr Lan Sizhui leise fort: »Der Kleine kann einem wirklich leidtun. Wobei … Ich erinnere mich auch daran, wie Hanguang-Jun mich als Kind mal unter einem Haufen Hasen vergraben hat. In einigen Dingen ähneln sie sich sehr …«
Bevor Wei Wuxian durch das Tor geschritten war, hatte er einen tiefen Atemzug genommen, um sich zu beruhigen. Drinnen angekommen war er jedoch überhaupt nicht so aufgeregt, wie er angenommen hatte. Vielleicht lag es daran, dass vieles erneuert worden war. Der Übungsplatz war nun doppelt so groß und die unzähligen neuen Gebäude mit den geschwungenen Dachtraufen in den unterschiedlichsten Größen waren imposanter und prächtiger als die alten. Von dem Lotuspier, den er in Erinnerung hatte, erkannte er kaum etwas wieder.
Wei Wuxian fühlte sich verloren. Er wusste nicht, ob die Gebäude von früher lediglich von den prachtvollen neuen verdeckt wurden oder ob sie abgerissen worden waren – schließlich waren sie tatsächlich schon alt gewesen.
Auf dem Übungsplatz fanden sich die Mitglieder der unterschiedlichen Clans in einer Phalanx-Formation zusammen, meditierten im Schneidersitz, kurierten sich weiter aus und regenerierten ihre spirituelle Energie. Nachdem sie beinahe einen ganzen Tag und eine ganze Nacht solche Strapazen durchgemacht hatten, waren sie alle überaus erschöpft und mussten ein wenig verschnaufen.
Jiang Cheng führte die Clanoberhäupter und bedeutsamen Kultivierer erst in die Haupt- und dann in die Trainingshalle, um mit ihnen die am Tag zuvor stattgefundene Angelegenheit zu besprechen.
Wei Wuxian und Lan Wangji folgten ihnen, und obwohl einige dies etwas unangebracht fanden, konnten sie nichts dagegen sagen.
Sobald sie hineingingen, trat jemand vor, der wie ein Gastkultivierer wirkte. Noch ehe sie sich hatten setzen können, richtete er das Wort an Jiang Cheng. »Oberhaupt.« Anschließend flüsterte er ihm einige Worte ins Ohr, worauf dieser die Stirn runzelte.
»Ich werde sie jetzt nicht empfangen. Sie sollen an einem anderen Tag wiederkommen. Siehst du denn nicht, in welcher Situation wir uns gerade befinden?«
Der Gastkultivierer entgegnete: »Das habe ich den beiden Frauen bereits mitgeteilt, aber sie sagten … dass sie wegen der gestrigen Sache hier sind.«
»Was ist ihr Hintergrund? Welchem Clan gehören diese Kultiviererinnen an?«, erkundigte sich Jiang Cheng.
Der Gastkultivierer antwortete: »Sie gehören keinem Clan an und sind auch keine Kultiviererinnen. Meine Wenigkeit kann versichern, dass sie über keinerlei spirituelle Energie verfügen und ganz gewöhnliche Frauen sind. Sie sind beide heute angekommen und führen wertvolle Heilkräuter mit sich, aber sie haben nicht gesagt, welches Oberhaupt sie schickt. Sie meinten lediglich, dass sie Euch etwas Wichtiges zu berichten hätten, Oberhaupt. Ihren Worten nach zu urteilen, wirkte ihr Anliegen auf mich keinesfalls wie eine Bagatelle. Um sie nicht zu verprellen, habe ich sie in einem Gästezimmer untergebracht. Die Heilkräuter befinden sich noch nicht im Lager. Sie wurden aber bereits untersucht und sind nicht verflucht.«
Nicht jedem war es gestattet, das Oberhaupt des Yunmeng-Jiang-Clans zu treffen, und dann waren sie noch nicht einmal gewillt, ihre Herkunft preiszugeben. Obendrein handelte es sich bei ihnen auch noch um gewöhnliche Frauen, die weder über spirituelle Energie verfügten noch einem Clan angehörten. Allerdings trugen sie wertvolle Heilkräuter bei sich, sodass der zuständige Gastkultivierer es nicht wagte, sie nachlässig zu behandeln. Selbst wenn es sich nicht um so ein kostbares Geschenk gehandelt hätte, schon allein aufgrund ihres merkwürdigen Auftretens hatte der Diener die beiden nicht ignorieren können.
»Werte Herrschaften, setzt euch bitte hin, wo es euch beliebt. Und bitte entschuldigt mich für einen Moment, ich bin sogleich zurück«, sagte Jiang Cheng.
»Selbstredend, Oberhaupt Jiang«, antwortete die Menge einhellig.
Doch Jiang Cheng war nicht sogleich zurück, sondern blieb eine ganze Weile fort.
Sich nicht um seine Gäste zu kümmern galt als unhöflich, ganz besonders in so einer Notsituation, wo jeder nur darauf wartete, über diese wichtige Angelegenheit zu sprechen.
Nach fast einer Stunde war Jiang Cheng immer noch fort, sodass viele der Anwesenden nun entweder unruhig oder unzufrieden wurden.
Da kam Jiang Cheng endlich zurück.
Als er gegangen war, war er wie immer gewesen, nun jedoch waren seine Gesichtszüge kalt und streng. Fast schon fliegend eilte er herein, gefolgt von zwei Personen. Es waren zwei Frauen, wahrscheinlich jene, die um ein Treffen mit ihm gebeten hatten.
Die Menge war davon ausgegangen, dass etwas an ihnen besonders sein musste, denn auch wenn sie gewöhnlich waren, so hatten sie doch kostbare Geschenke mit sich geführt. Zu ihrer Überraschung hatten die beiden Frauen ihre besten Jahre jedoch bereits hinter sich.
Ihr Alter zeichnete sich in ihren Augen- und Mundwinkeln ab.
Eine von ihnen wirkte unterwürfig und verängstigt, während die andere am ganzen Körper voller Staub war und zudem noch an die fünf, sechs Narben von Schnitten im Gesicht hatte. Die Narben waren alt und die Frau wirkte unheimlich. Man konnte durchaus sagen, dass sich einem bei ihrem Anblick der Magen umdrehte.
Die Anwesenden waren schwer enttäuscht und fragten sich, warum Jiang Cheng solche Frauen mit in die Trainingshalle brachte.
Schließlich wies er ihnen Plätze im Zentrum zu. Mit finsterer Miene sagte er zu den beiden Frauen, die sich zitternd hinsetzten: »Erzählt es hier.«
Oberhaupt Yao fragte: »Oberhaupt Jiang, was hat das zu bedeuten?«
»Diese Sache ist derart unerhört, dass meine Wenigkeit es nicht gewagt hat, leichtsinnig zu handeln. Ich habe sie gründlich verhört, was ein wenig Zeit in Anspruch genommen hat. Ich bitte um Ruhe, werte Herrschaften. Schenkt den beiden bitte euer Gehör.« Dann wandte Jiang Cheng sich um und fragte: »Wer von euch möchte anfangen?«
Die beiden Frauen tauschten Blicke aus. Die verstaubte Frau war mutiger und stand auf. »Ich mache den Anfang!« Beiläufig grüßte sie die Menge und fing an zu reden: »Ich möchte eine alte Geschichte erzählen, die etwa elf Jahre in der Vergangenheit liegt.«
An Jiang Chengs Tonfall hatten die Anwesenden erkannt, dass es sich bei dem, was diese Frau zu erzählen hatte, keinesfalls um eine Belanglosigkeit handeln konnte. Fieberhaft dachten sie darüber nach, was vor elf Jahren gewesen war.
»Ich heiße Sisi. Früher habe ich meinen Körper verkauft, und man kann durchaus sagen, dass ich eine Zeit lang sehr gefragt gewesen bin. Vor über zehn Jahren wollte ich einen reichen Händler heiraten, doch seine Frau erwies sich als unerwartet aggressiv. Sie hat eine Gruppe kräftiger Männer angeheuert, die mir das Gesicht aufschlitzten, sodass ich jetzt so aussehe.«
Die Frau sprach ohne jegliches Schamgefühl und redete nicht um die Angelegenheit herum, woraufhin einige Kultiviererinnen sich mit ihren Ärmeln die Münder verdeckten, während die Männer die Stirn runzelten.
Sisi fuhr fort: »Mit dem entstellten Gesicht war für mich nichts mehr wie zuvor. Niemand würdigte mich mehr eines Blickes, und so konnte ich natürlich nicht mehr meinen Geschäften nachgehen. Das Bordell, in dem ich gearbeitet habe, warf mich raus. Ich konnte nichts anderes und fand daher nirgendwo Arbeit. Also tat ich mich mit einigen älteren Frauen zusammen. Deren Kunden waren nicht sonderlich anspruchsvoll und wenn Arbeit anfiel, nahmen sie mich mit. Solang ich mein Gesicht verdeckte, klappte es auch irgendwie.«
Als sie an diesem Punkt der Erzählung angelangte, hielten einige es nicht mehr aus. Unverhüllte Verachtung war in ihren Blicken zu erkennen. Es war ihnen unerklärlich, warum Jiang Cheng von ihnen verlangte, der schmutzigen Geschichte dieser Frau zu lauschen. Die Clanoberhäupter bewahrten jedoch die Fassung und ließen sie ausreden. Und so kam sie nun auch zum Punkt.
»Eines Tages haben die Frauen in meiner Gasse und ich plötzlich einen besonderen Auftrag bekommen. Wir waren über zwanzig, und der Auftrag war an uns alle gerichtet. Wir wurden mit einer Pferdekutsche abgeholt und an einen anderen Ort gebracht. Nachdem meine betagten Schwestern den Preis verhandelt hatten, waren sie während der Fahrt in Höchststimmung. Ich aber fand das seltsam. Um es ganz direkt zu sagen: Alle waren entweder alt und hatten an Wert verloren, oder sie hatten wie ich einen Schönheitsmakel. Wir haben so viel Geld bekommen, und dann auch noch im Voraus. Wie konnte man so viel Glück haben? Zudem wirkten die Personen, die uns aufgesucht hatten, äußerst verdächtig. Sie hatten uns sofort zu einer Kutsche geführt und fortgebracht, damit niemand etwas mitbekam. Wie man es auch betrachtete, sie konnten nichts Gutes im Schilde führen!«
Die Anwesenden dachten das Gleiche und die anfängliche Verachtung wich nun der Neugier.
Sisi fuhr fort: »Als die Kutsche den Zielort erreichte, bogen wir direkt in einen Hof ein und stiegen aus. Niemand von uns hatte je so ein großes und prächtiges Haus gesehen. Wir waren alle geblendet und wagten es nicht, auch nur einen Laut von uns zu geben. Ein Junge lehnte am Eingang und spielte mit einem Dolch herum. Als er uns sah, rief er uns herein und schloss die Tür, sobald wir eingetreten waren. In dem riesigen Zimmer, in das er uns führte, befanden sich nur zwei Menschen. In einem großen Bett lag ein Mann unter einer Baumwollsteppdecke. Er schien dreißig oder vierzig Jahre alt zu sein, wirkte krank und eher tot als lebendig. Als er bemerkte, dass jemand hereinkam, waren seine Augäpfel das Einzige, das sich noch bewegen konnte.«
»Ah!«
In der Trainingshalle schien jemandem plötzlich ein Licht aufgegangen zu sein, sodass er nun überrascht aufschrie.
»Vor elf Jahren?! Das war … Das war …!«
Sisi redete weiter: »Wir hatten zuvor Anweisungen bekommen, was wir zu tun hatten. Jede von uns sollte nacheinander ihr bestes Können zeigen und der Person im Bett dienen. Keinen Moment lang sollten wir ruhen. Ich hatte erwartet, dass es dabei um einen imposanten Kraftprotz ginge, dabei war es ein kranker Tropf. Wie sollte der durchhalten, wenn wir uns ihm voll widmen würden? Wahrscheinlich würde er sein Leben bereits aushauchen, ehe wir richtig losgelegt hatten. Wer war denn schon so pervers, dass er deswegen seinen Tod riskierte? Außerdem waren sie reich, es lag also sicher nicht daran, dass sie sich keine jungen, hübschen Frauen leisten konnten. Wieso also haben sie ausgerechnet so alte und hässliche wie uns angeheuert? Ich war gerade auf ihn gestiegen und dachte noch darüber nach, als plötzlich ein junger Mann zu lachen schien. Ich erschrak und bemerkte erst da, dass sich neben dem Bett ein Vorhang befand, hinter dem eine weitere Person saß!«
Alle Anwesenden in der Halle hielten die Luft an.
Sisi erzählte weiter: »Erst da begriff ich, dass die Person schon die ganze Zeit über hinter dem Vorhang gesessen hatte. Als sie lachte, wehrte der Mann auf dem Bett sich plötzlich und schleuderte mich fort, dann rollte er sich von der Matratze. Die Person hinter dem Vorhang lachte nur umso mehr. ›Vater, ich habe dir Frauen gebracht, die liebst du doch so sehr. Und zwar sehr viele. Freust du dich denn nicht?‹«
Obwohl Sisi diejenige gewesen war, die diesen Satz ausgesprochen hatte, bekamen die anderen Gänsehaut. Vor ihrem inneren Auge erschien ein lächelndes Gesicht.
Jin Guangyao!
Und der halb tote Mann auf dem Bett war mit Sicherheit Jin Guangshan!
Jin Guangshans Tod war in der Kultivierungswelt stets ein offenes Geheimnis gewesen. Er war sein Leben lang ein derartiger Charmeur gewesen, dass es beinahe an Obszönität gegrenzt hatte. Überall hatte er seine Liebe und seine Saat hinterlassen, und natürlich hatte seine Todesursache ebenfalls damit in Zusammenhang gestanden. Das große Oberhaupt des Lanling-Jin-Clans hatte sich selbst dann noch auf Teufel komm raus mit Frauen vergnügt, als er körperlich geschwächt gewesen war, und sein Ende während des Akts gefunden. Hätte man so eine Geschichte publik gemacht, wäre wahrlich nicht sonderlich viel von seiner Würde übrig geblieben.
Nachdem Frau Jin den schmerzlichen Verlust ihres einzigen Sohnes und ihrer Schwiegertochter erlitten hatte, war sie ohnehin schon mehrere Jahre in tiefer Trauer gewesen. Bei dem Gedanken daran, dass sich ihr Mann kurz vor seinem Tod mit anderen Frauen herumgetrieben hatte und dabei ums Leben gekommen war, war sie so wütend geworden, dass sie ebenfalls erkrankt und bald darauf verstorben war. Der Lanling-Jin-Clan hatte verzweifelt versucht, die Gerüchte im Keim zu ersticken, und doch hatte jeder insgeheim Bescheid gewusst. Nach außen hin hatten sie schmerzlich seinen Verlust beklagt, während sie in Wahrheit der Ansicht gewesen waren, dass es ihm recht geschehen sei und sein Tod überaus passend gewesen war.
Keiner der Anwesenden hatte damit gerechnet, heute eine noch widerwärtigere, abscheulichere Wahrheit präsentiert zu bekommen. Überall in der Trainingshalle hörte man, wie die Menschen nach Luft schnappten.
Sisi erzählte weiter: »Der Mann wollte schreien und sich wehren, doch seine ganze Kraft hatte ihn verlassen. Der Jugendliche, der uns zuvor hereingeführt hatte, kam zu uns und kicherte, während er ihn zurück in das Bett zog. Dann nahm er ein Seil, trat auf seinen Kopf und fesselte ihn. Zu uns meinte er, dass wir weitermachen und selbst dann nicht aufhören sollten, wenn er dabei sterben würde. Niemand von uns hatte sich je in so einer Situation befunden. Wir erschraken halb zu Tode, wagten es aber nicht, uns zu widersetzen. Uns blieb nichts anderes übrig, als weiterzumachen. Als die elfte oder zwölfte von uns an der Reihe war, schrie diese plötzlich schrill auf und rief, dass er wirklich gestorben sei. Ich trat vor, um nachzusehen. Er atmete tatsächlich nicht mehr. Doch die Person hinter dem Vorhang meinte: ›Habt ihr nicht gehört? Hört nicht auf, selbst wenn er tot ist!‹«
Oberhaupt Ouyang konnte sich nicht länger zurückhalten: »Wie man es auch dreht und wendet, Jin Guangshan war sein leiblicher Vater. Wenn diese Geschichte wirklich der Wahrheit entspricht … wäre das zu … zu …«
Sisi fuhr fort: »Als ich sah, dass der Mann tot war, wusste ich, das war’s, wir würden hier sicher auch nicht lebend herauskommen. Und tatsächlich töteten sie alle meiner über zwanzig alten Schwestern, keine ließen sie am Leben …«
»Und wieso wurdest du als Einzige verschont?«, fragte Wei Wuxian.
»Ich weiß es auch nicht! Damals habe ich verzweifelt um mein Leben gebettelt und gesagt, dass ich das Geld nicht mehr will und dass ich es auf keinen Fall jemandem erzählen werde. Zu meiner Überraschung haben sie mich tatsächlich nicht getötet, sondern brachten mich an einen anderen Ort. Dort schlossen sie mich für elf Jahre ein. Erst vor Kurzem bin ich zufällig von jemandem befreit worden und entkommen.«
»Wer hat dich gerettet?«, wollte Wei Wuxian wissen.
»Das weiß ich nicht. Ich habe das Gesicht meines Retters nie direkt gesehen. Aber nachdem er gehört hat, was mir widerfahren war, wollte er nicht weiter zulassen, dass dieser scheinheilige, teuflische Mensch die ganze Welt belügt. Auch wenn er gerade alle hinters Licht führt, möchte mein Retter alles aufdecken, was passiert ist. Er möchte Gerechtigkeit für die Geschädigten und dass meine armen Schwestern im Jenseits ihren Frieden finden.«
Wei Wuxian fragte: »Und hast du einen Beweis für das alles?«
Sisi zögerte einen Moment, ehe sie antwortete: »Nein. Aber wenn auch nur ein einziges meiner Worte gelogen ist, soll man mich nicht mal in eine Bambusmatte einwickeln, wenn ich sterbe!« 2
Oberhaupt Yao rief sofort: »Sie hat so klare Details genannt, das ist sicher keine Lüge!«
Lan Qiren runzelte stark die Stirn und drehte sich zu der anderen Frau. »Mir kommt es so vor, als hätte ich dich schon einmal gesehen.«
»Wahrscheinlich … Wahrscheinlich habt Ihr das«, entgegnete sie panisch.
Die Umstehenden waren verblüfft. Sisi war eine Prostituierte, diese Frau etwa auch? Wie hätte Lan Qiren ihr da begegnet sein sollen?
Die Frau meinte: »Ich habe meine Herrin oft zu den Diskussionskonferenzen des Yueling-Qin-Clans begleitet.«
»Der Yueling-Qin-Clan?«, fragte eine Kultiviererin. »Du bist eine Dienerin des Yueling-Qin-Clans?«
Eine Kultiviererin, die gute Augen hatte, rief sie direkt beim Namen: »Du bist … Bicao, Frau Qins persönliche Dienerin! Richtig?«
Mit Frau Qin meinte sie Qin Cangyes Frau, und damit auch die leibliche Mutter von Jin Guangyaos Ehefrau, Qin Su.
Die Frau nickte. »Aber mittlerweile bin ich nicht mehr beim Qin-Clan.«
Oberhaupt Yao war überaus aufgeregt und schlug mit der Hand auf den Tisch, als er aufstand. »Hast du auch etwas, das du uns erzählen möchtest?«
Bicaos Augen waren rot. »Die Sache, von der ich berichten möchte, ist sogar noch ein wenig früher passiert, etwa vor zwölf oder dreizehn Jahren.«
»Ich habe meiner Herrin viele Jahre gedient und das Fräulein meines Clans aufwachsen sehen. Meine Herrin hat sich immer besonders liebevoll um Fräulein Su gekümmert, doch kurz vor ihrer Hochzeit hatte meine Herrin durchgehend schlechte Laune. Ständig hatte sie nachts Albträume, und auch tagsüber brach sie manchmal einfach so aus heiterem Himmel in Tränen aus. Ich dachte, dass es daran läge, dass ihre Tochter bald heiraten würde und ihr der Abschied so schwerfiel. Immerzu tröstete ich sie und meinte, dass Fräulein Sus künftiger Gatte, Lianfang-Zun Jin Guangyao, ein junger und vielversprechender Mann sei, der dazu noch liebevoll und aufrichtig war, und dass sie es sicher sehr gut haben würde. Aber zu meiner Überraschung wirkte die Herrin noch erschütterter, als ich das sagte. Als schließlich der Tag der Hochzeit näher rückte, offenbarte mir meine Herrin eines Abends plötzlich, dass sie den zukünftigen Gatten von Fräulein Su treffen würde, und zwar gleich. Und sie wollte, dass ich sie dabei heimlich begleitete. Ich meinte, dass sie ihn doch zu sich rufen könne, warum also wollte sie mitten in der Nacht klammheimlich aufbrechen, um sich mit einem jungen Mann zu treffen? Wenn andere das erfahren würden, würden womöglich noch unschöne Gerüchte aufkommen. Doch meine Herrin war fest entschlossen, sodass mir nichts anderes übrig blieb, als sie zu begleiten. Als wir ankamen wies sie mich allerdings an, draußen zu warten und nicht mit hineinzukommen. Daher habe ich von ihrem Gespräch nichts mitbekommen und kann deswegen nicht aus unmittelbarer Erfahrung sagen, was sie zu Jin Guangyao gesagt hat. Ich weiß nur, dass meine Herrin wenige Tage darauf, als der Hochzeitstag von Fräulein Su feststand und sie die Einladung erhielt, in Ohnmacht fiel. Und auch nach der Hochzeit war meine Herrin stets betrübt und erkrankte schließlich vor Kummer. Ihre Krankheit verschlimmerte sich nach und nach. Erst kurz vor ihrem Tod konnte sie es nicht mehr für sich behalten und erzählte mir alles.« Bicao weinte. »Lianfang-Zun Jin Guangyao und Fräulein Su sind überhaupt kein Ehepaar, sondern Geschwister ...«
»Wie bitte?!«
Selbst wenn in diesem Moment ein Blitz in die Trainingshalle eingeschlagen hätte, so hätte er es nicht mit der gewaltigen Kraft dieses Satzes aufnehmen können.
Vor Wei Wuxians innerem Auge erschien Qin Sus leichenblasses Gesicht.
»Meine arme Herrin ist wirklich zu bemitleiden … Das ehemalige Oberhaupt des Jin-Clans war ein Schuft. Aufgrund ihrer Schönheit gelüstete es ihm nach meiner Herrin, und nachdem er sich einmal auswärts betrunken hatte, verging er sich an ihr ... Wie hätte sie sich denn zur Wehr setzen sollen? Auch danach wagte sie es nicht, ein Wort darüber zu verlieren. Mein Herr war Jin Guangshan treu ergeben, daher hatte sie überaus große Angst. Jin Guangshan war sich nicht im Klaren darüber, dass er der Vater von Fräulein Su ist, doch meine Herrin hatte es natürlich nicht vergessen können. Sie wagte es nicht, Jin Guangshan aufzusuchen, und da sie wusste, wie sehr Fräulein Su Jin Guangyao liebte, haderte sie sehr lange. Schließlich aber suchte sie ihn vor der Hochzeit doch noch heimlich auf und erzählte ihm von der Sache. Verzweifelt flehte sie ihn an, die Hochzeit irgendwie abzusagen, bevor es noch zu einem großen Fehler käme. Wie hätte sie auch damit rechnen können … Wie hätte sie auch damit rechnen können, dass Jin Guangyao sie trotzdem heiraten würde – obwohl er ganz genau wusste, dass Fräulein Su seine Schwester war!«
Was noch erschreckender war: Er hatte sie nicht nur geheiratet, sie hatten sogar ein gemeinsames Kind gehabt!
Das war wirklich ein zum Himmel schreiender Skandal!
Ein Raunen ging durch die Menge und wurde immer lauter.
»Das ehemalige Oberhaupt Qin war Jin Guangshan über so viele Jahre gefolgt, doch der hat sich sogar an der Frau seines treuen Untergebenen vergriffen. Dieser Jin Guangshan!«
»Letztendlich gibt es wohl kein Geheimnis auf der Welt, das für immer unentdeckt bleibt …«
»Als Jin Guangyao seine Position im Lanling-Jin-Clan festigen wollte, war die Hilfe seines Schwiegervaters Qin Cangye unabdingbar. Wie also hätte er sie da nicht heiraten können?«
»So jemand skrupellosen wie ihn hat die Welt wirklich noch nicht gesehen!«
Wei Wuxian flüsterte Lan Wangji zu: »Jetzt wird auch klar, warum er damals im Geheimzimmer zu Qin Su meinte, dass A-Song sterben musste.«
In der Trainingshalle erinnerten sich jetzt auch andere an A-Song.
Oberhaupt Yao sagte: »So, wie es aussieht, erlaube ich mir die Annahme, dass sein Sohn wahrscheinlich überhaupt nicht von anderen heimlich ermordet worden ist, sondern er selbst seinen Tod zu verantworten hat.«
»Wieso?«
Oberhaupt Yao analysierte: »Kinder von Personen, die eng miteinander verwandt sind, weisen in den meisten Fällen Zeichen von geistiger Unterentwicklung auf. Jin Rusong war zum Zeitpunkt seines Todes gerade einmal wenige Jahre alt, also genau in dem Alter, in dem Kinder anfangen, Dinge zu begreifen. Bei Kindern, die noch sehr jung sind, bemerken Umstehende es nicht, wenn etwas nicht stimmt. Doch sobald er größer geworden wäre, wäre sofort ans Licht gekommen, dass er nicht so ist wie die anderen. Selbst wenn man nicht vermutet hätte, dass seine Eltern blutsverwandt sind, so hätten andere sich unvermeidlich über ihn das Maul zerrissen und mit dem Finger auf ihn gezeigt. Außerdem hätten Gerüchte die Runde gemacht, wie dass es an dem dreckigen Prostituiertenblut liegen würde, das durch Jin Guangyaos Adern fließt, und dass er nur deshalb ein derartiges Kind gezeugt hätte …«
Die Menge fand diese Ausführung durchaus schlüssig. »Oberhaupt Yao, Ihr seid wirklich scharfsinnig!«
Oberhaupt Yao fuhr fort: »Und zudem war derjenige, der Jin Rusong damals angeblich vergiftet hat, ausgerechnet das Oberhaupt, dass sich zuvor gegen den Bau der Spähtürme ausgesprochen hatte. Wer glaubt da noch an einen Zufall?« Er lachte kalt. »Jedenfalls, ganz gleich wie es gewesen ist, Jin Guangyao brauchte keinen Sohn, der höchstwahrscheinlich geistig unterentwickelt war. Er tötete Jin Rusong, hängte es dem Oberhaupt an, das sich ihm widersetzt hatte, und nutzte anschließend die Rache für seinen Sohn als Vorwand, um eine offene Strafexpedition gegen den Clan zu starten, der sich ihm nicht gebeugt hatte. Dies war zwar grausam und kalt, doch er schlug damit zwei Fliegen mit einer Klappe. Lianfang-Zun ist wirklich hinterlistig!«
Plötzlich wandte sich Wei Wuxian an Bicao und fragte: »Am Abend der Diskussionskonferenz auf dem Goldene Schuppen Plateau hast du Qin Su getroffen, oder?«
Bicao hielt inne, und Wei Wuxian fragte weiter: »An dem Abend hatten Qin Su und Jin Guangyao eine Auseinandersetzung im Duftpalast. Sie meinte, sie hätte jemanden getroffen, der ihr etwas erzählt hätte. Diese Person hätte ihr sogar einen Brief mitgegeben und würde sie auf keinen Fall belügen. Damit meinte sie dich, oder?«
»Ja«, gab Bicao zu.
Wei Wuxian fragte weiter: »Du hattest dieses Geheimnis schon so viele Jahre für dich behalten, wieso hast du dich plötzlich dazu entschlossen, es ihr doch zu erzählen? Und wieso trittst du jetzt damit an die Öffentlichkeit?«
»Weil … ich Fräulein Su aufzeigen musste, was für ein Mensch ihr Gatte ist. Und eigentlich wollte ich damit überhaupt nicht an die Öffentlichkeit gehen, aber Fräulein Su hat sich auf dem Goldene Schuppen Plateau unerklärlicherweise das Leben genommen. Ich muss unbedingt das wahre Gesicht dieses Teufels in Menschengestalt aufdecken, damit meiner Herrin und dem Fräulein, das ich habe aufwachsen sehen, Gerechtigkeit widerfährt«, erklärte Bicao.
Wei Wuxian lächelte. »Aber hast du denn wirklich nicht damit gerechnet, dass es sie unfassbar treffen würde, wenn du es ihr erzählst? Oder ist dir das wirklich nicht bewusst? Gerade weil du es Qin Su erzählt hast, hat sie sich das Leben genommen.«
»Ich …«, Bicao rang um Worte.
Ungehalten sagte Oberhaupt Yao: »Dieser Aussage kann ich nicht zustimmen. Wäre es etwa das Richtige gewesen, die Wahrheit zu verschweigen?«
Sofort ergriff ein anderer für ihn Partei: »Da kann man doch niemandem die Schuld geben. Hach, Frau Ji... Qin Su war einfach zu schwach.«
Einige der älteren Kultiviererinnen meinten hingegen: »Qin Su kann einem wirklich leidtun. Damals habe ich sie noch beneidet und mir gedacht, dass sie wirklich ein schönes Leben hat. Sie stammte aus einer guten Familie und fand einen ebenso guten Ehepartner. Sie war die einzige Herrin des Goldene Schuppen Plateaus und ihr Mann liebte sie aus tiefstem Herzen. Wer hätte das gedacht, tse, tse.«
Eine der Kultiviererinnen schien gleichgültig. »Dinge, die nach außen hin so schön scheinen, sind häufig voller Makel. Daran gibt es überhaupt nichts Beneidenswertes.«
Wahrscheinlich wusste Qin Su, dass sie genau derartige Kommentare nicht ertragen würde, und hat deshalb Selbstmord begangen. Während sie augenscheinlich mitleidig klingen, tratschen sie in Wahrheit mit großem Vergnügen darüber,dachte sich Wei Wuxian.
Er senkte den Blick und entdeckte einen goldenen Jadearmreif um Bicaos Handgelenk. Er war von höchster Qualität und mit Sicherheit nichts, was eine Dienerin sich ohne Weiteres leisten konnte. Wei Wuxian lächelte. »Hübscher Armreif.«
Hastig zog Bicao an ihrem Ärmel und senkte wortlos den Kopf.
Nie Huaisang fragte abwesend: »A… Aber wer hat die beiden Damen … hierhergeschickt?«
»Wieso sollte man sich darüber den Kopf zerbrechen?!«, entgegnete Oberhaupt Yao.»Ganz gleich, wer es war, eins ist gewiss: Er ist ein Verfechter der Gerechtigkeit und steht auf jeden Fall auf unserer Seite.«
Sofort hörte man zustimmende Rufe. »Genau!«
Doch Wei Wuxian war da anderer Meinung. »Bei dem Retter von Fräulein Sisi handelt es sich mit Sicherheit nicht um eine gewöhnliche Person, sie hat sowohl Zeit als auch Geld. Aber ein Verfechter der Gerechtigkeit? Das ist damit noch längst nicht gesagt.«
Lan Wangji stimmte ihm zu: »Vieles daran ist verdächtig.«
Hätte Wei Wuxian das gesagt, hätte ihm kaum jemand Beachtung geschenkt, doch da es Lan Wangji gewesen war, verstummte die Menge augenblicklich.
»Was daran ist verdächtig?«, fragte Lan Qiren.
»Vieles. Zum Beispiel: Warum tötet jemand derart Grausames und Brutales wie Jin Guangyao zwanzig Menschen, verschonte aber Sisi als Einzige? Jetzt gibt es zwar eine Zeugin, aber was ist mit einem Beweis?«, fragte Wei Wuxian.
Ständig äußerte er eine gegenteilige Meinung als die enthusiastische Menge, sodass einige verstimmt waren.
Oberhaupt Yao äußerte sich lautstark dazu: »Das nennt man eine gerechte Strafe des Himmels.«
Wei Wuxian lächelte leicht und sagte nichts mehr. Er wusste, dass seine Worte jetzt zu niemandem durchdringen würden und dass niemand wirklich über seine geäußerten Zweifel nachdenken würde. Wenn er noch mehr sagen würde, würden die anderen sich womöglich wieder gegen ihn wenden.
Vor über zehn Jahren hatte er sich überhaupt nicht um andere geschert. Er hätte einfach ausgesprochen, was er aussprechen wollte, und sie hätten zuhören müssen, ganz gleich, ob sie wollten oder nicht. Jetzt aber hatte Wei Wuxian kein Interesse mehr daran, sich ins Rampenlicht zu drängen. Und so wurden die empörten Stimmen in der Halle immer lauter.
»Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Mensch so undankbar ist und völlig ohne Sinn und Verstand handelt«
Die Bezeichnungen »undankbar« und »ohne Sinn und Verstand« waren für über zehn Jahre stets mit Wei Wuxian in Verbindung gebracht worden. Im ersten Moment dachte er daher, sie würden ihn schon wieder beschimpfen, und begriff erst einen Augenblick später: Es waren die gleichen Menschen, die fluchten, und auch benutzten sie dafür die gleichen Worte, doch das Objekt ihrer Beschimpfungen hatte sich geändert, was ein wenig ungewohnt war.
Direkt im Anschluss meinte eine Person: »Damals hat Jin Guangyao es doch nur dank seiner Beziehung zu Chifeng-Zun und Zewu-Jun geschafft, langsam die Leiter nach oben zu erklimmen. Wie sonst könnte er als Sohn einer Prostituierten heute auf diesem Posten sitzen? Und dann hat er doch tatsächlich Chifeng-Zun umgebracht! Zewu-Jun ist gerade immer noch bei ihm, da bleibt nur zu hoffen, dass ihm nichts zugestoßen ist!«
Anfangs hatte keiner von ihnen geglaubt, dass Nie Mingjues Tod, der Fall mit der zerteilten Leiche und die Angriffe der Untotenhorde bei den Grabhügeln etwas mit Jin Guangyao zu tun hatten, jetzt auf einmal aber glaubten sie es alle.
»Nicht nur seine Schwurbrüder, auch seine leiblichen Brüder sind dem Unheil nicht entkommen. Die Jahre vor Jin Guangshans Tod ist er damit beschäftigt gewesen, überall die unehelichen Kinder seines Vaters zu beseitigen – weil er Angst hatte, dass jemand auftauchen und ihm seinen Posten streitig machen würde. Mo Xuanyu hat Glück gehabt. Wäre er nicht verrückt gewesen und deswegen zurück nach Hause gejagt worden, wäre es ihm wahrscheinlich wie den anderen ergangen, die aus allen möglichen Gründen verschwunden sind.«
»Garantiert hatte er auch bei Jin Zixuans Tod seine Finger im Spiel!«
»Wer erinnert sich noch an Xiao Xingchen? Xiao Xingchen, der hell wie der Mond strahlte und sanft wie eine Frühlingsbrise war. Und dann war da noch der Fall des Yueyang-Chang-Clans. Xue Yang, der in den Fall verwickelt gewesen ist, wurde ebenfalls mit aller Kraft von Lianfang-Zun geschützt.«
»Als Xiao Xingchen damals vom Berg herabgestiegen ist, wollten ihn doch viele Clans für sich als Gastkultivierer gewinnen, oder? Auch der Lanling-Jin-Clan hat ihn zu sich eingeladen, doch er hat höflich abgelehnt. Damals war der Jin-Clan äußerst selbstgefällig und wurde daher von ihm abgewiesen – was eine große Schmach für den Clan darstellte. Und dieser Groll von damals war sicher auch einer der Gründe, weshalb der Lanling-Jin-Clan später Xue Yang beschützt hat. Kurz gefasst: Sie wollten einfach sehen, wie Xiao Xingchen ein grausames Ende erlitt.«
»Pah! Was glaubt dieser Clan eigentlich, wer er ist? Warte nur ab, was passiert, wenn du uns nicht beitrittst?«
»Hach, wie bedauerlich. Damals hatte ich das Glück, Xiao Xingchen Daozhangs Können bei einer Nachtjagd mit eigenen Augen zu sehen. Sein Umgang mit Shuanghua war beeindruckend.«
»Jin Guangyao hat Xue Yang später dann aber doch noch beseitigt. Da scheint es zu Konflikten gekommen zu sein.«
»Ich habe gehört, dass Jin Guangyao während seiner Zeit als Spion beim Qishan-Wen-Clan überhaupt nicht ehrlich gewesen ist und sich das so gedacht hat: Wenn die Sonnenabschuss-Kampagne nicht gut laufen sollte, würde er einfach weiter beim Wen-Clan bleiben, ihm bei seinen üblen Machenschaften zur Hand gehen und Wen Ruohan weiter Honig ums Maul schmieren. Wenn der Wen-Clan aber fiel, würde er einfach den Spieß umdrehen und dadurch zum Helden werden.«
»Wen Ruohan schäumt in der Unterwelt sicher vor Wut auf ihn. Damals hat er Jin Guangyao immerhin als seinen Vertrauten ausgebildet. Das Meiste von Jin Guangyaos Schwertkunst hat Wen Ruohan ihm beigebracht!«
»Das ist doch noch gar nichts. Ich habe gehört, dass Chifeng-Zuns Überraschungsangriff nur deswegen fehlgeschlagen ist, weil Jin Guangyao absichtlich falsche Informationen übermittelt hat!«
»Ich verrate auch ein Geheimnis. Bei dem Geld und den Materialien für die Spähtürme, die er errichtet hat, hat er doch andere Clans gemolken. Alle Clans haben sich beteiligt, aber ich habe gehört, dass er für sich selbst heimlich … eine ordentliche Summe unterschlagen hat.«
»Um Himmels willen … Unfassbar. Er ist wirklich schamlos. Und ich habe noch geglaubt, dass er wahrhaft gute Absichten verfolgt. Unsere Ehrlichkeit wurde den Hunden zum Fraß vorgeworfen!«
Wei Wuxian fand die Szene ein wenig komisch. Wieso glaubt ihr das so schnell, wenn es nur Gerüchte sind? Und wie habt ihr davon erfahren, wenn es doch Geheimnisse sein sollen?
Diese Gerüchte kursierten nicht erst seit einem Tag, wurden aber während Jin Guangyaos Herrschaft sehr gut unterdrückt, zudem hatte ihnen niemand wirklich Glauben geschenkt. Heute Nacht schienen diese Gerüchte jedoch mit einem Mal zur unumstößlichen Wahrheit geworden zu sein und das Fundament für Jin Guangyaos zahlreiche Verbrechen zu bilden, die als Beweis für seinen Wahn angesehen wurden.
»So wie es aussieht, hat dieser Mann seinen Vater, seinen Bruder, seine Frau, seinen Sohn, seinen Herrn, und seine Freunde getötet … Und dann auch noch der Inzest. Das ist wirklich erschreckend!«
»Der Lanling-Jin-Clan ist äußerst tyrannisch, und Jin Guangyao ist besonders autoritär – nie hört er auf die Meinung von anderen. Diese dekadenten, gebieterischen Praktiken, die heute vorherrschen, hat er ebenfalls allein zu verantworten. Denkt er wirklich, dass wir unseren Ärger einfach runterschlucken?!«
»Wahrscheinlich fühlt er sich bedroht, weil in den letzten Jahren viele Clans immer stärker geworden sind und ihre Macht allmählich zunimmt. Er befürchtet, dass er gestürzt werden könnte, wie der Qishan-Wen-Clan damals. Deswegen wollte er Nägel mit Köpfen machen und uns alle auf einen Schlag loswerden, oder?«
Oberhaupt Yao lachte kalt. »Wenn das so ist, dann sollten wir seine größte Angst wahr werden lassen.« Er schlug auf den Tisch. »Wir greifen das Goldene Schuppen Plateau an!«
Inmitten der ganzen Jubelschreie in der Halle dachte sich Wei Wuxian: Noch einen Tag zuvor ist diese furchterregende Person noch der Lianfang-Zun gewesen, der von allen in den höchsten Tönen gelobt wurde. Innerhalb eines Tages ist er zur allgemeinen Zielscheibe für Beleidigungen geworden.
Plötzlich wandte sich jemand um. »Werter Herr Wei. Dieser Schuft Jin Guangyao hat das Yin-Tiger-Amulett in seinem Besitz. Diese Angelegenheit vertrauen wir dir an.«
Wei Wuxian war verwirrt. »Hä?«
Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihn jemand von sich aus ansprechen würde, und dann auch noch so freundlich. Er hatte ihn sogar »werter Herr« genannt, anstelle von beleidigenden Bezeichnungen wie »Wei-Schuft« oder »Wei-Hund«, was ihn leicht überraschte.
Augenblicke später meinte ein anderes Clanoberhaupt ebenfalls: »Genau! Was diesen Pfad betrifft, kann doch wohl niemand dem Yiling-Patriarchen das Wasser reichen! Jin Guangyao wird sein blaues Wunder erleben, ha ha ha ha …«
Wei Wuxian verschlug es umgehend die Sprache. Das letzte Mal, dass andere ihn derartig gelobt hatten, war bereits über zehn Jahre her, zur Zeit der Sonnenabschuss-Kampagne. Obwohl ihn endlich jemand in seiner Position als Feind aller Kultivierungsclans abgelöst hatte, empfand Wei Wuxian darüber keinen Funken Freude und es rührte ihn auch nicht, dass die Menschen ihn endlich akzeptierten. Er kam nicht umhin zu zweifeln.
Hat sich damals auch eine Gruppe an irgendeinem Ort versammelt so wie heute Abend? Haben sie auch eine geheime Konferenz abgehalten, wahllos geschimpft und dann die Belagerung der Grabhügel beschlossen?
Als die Versammlung endete, waren die Essensvorbereitungen in der Banketthalle des Yunmeng-Jiang-Clans gerade abgeschlossen. Das Mahl begann, doch es fehlten zwei Personen.
»Wo sind denn Wei … der Yiling-Patriarch und Hanguang-Jun?«, fragte ein Clanoberhaupt verwundert.
Jiang Cheng saß auf dem Ehrenplatz und gab die Frage an den Gastkultivierer neben sich weiter: »Wo sind sie?«
Dieser antwortete: »Sie haben die Halle verlassen und wollten sich umziehen. Sie meinten, dass sie nicht am Bankett teilnehmen würden und sind ein wenig zum Spazieren hinausgegangen. Sie kommen später zurück.«
Jiang Cheng lachte kalt. »Unverändert, keine Manieren.«
Mit diesem Satz schien er auch Lan Wangji einzuschließen, was Lan Qiren offenbar nicht sehr erfreute. Wenn nicht einmal Lan Wangji Manieren hatte, dann konnte es so etwas wie Manieren auf der Welt nicht geben. Bei dem Gedanken daran biss er die Zähne zusammen und dachte an Wei Wuxian.
Jiang Cheng zähmte seine Gesichtszüge wieder und sagte höflich: »Werte Herrschaften, bitte speist doch schon einmal, ich werde die beiden Herren später zurückbitten.«
Außerhalb des Lotuspiers ließ sich Lan Wangji von Wei Wuxian führen. Er fragte nicht, wohin sie gingen, und sie wanderten in aller Ruhe umher.
Am Pier verkauften noch einige Händler ihre Speisen. Wei Wuxian ging zu einem Stand hin, betrachtete die Ware und lächelte. »Es war richtig, nicht mit ihnen zu essen. Komm, komm, komm, Lan Zhan. Dieses Fladenküchlein ist lecker. Ich lade dich ein! Ich hätte gern zwei, bitte.«
Der Besitzer des Standes lächelte und wickelte die beiden Küchlein in Fettpapier ein. Wei Wuxian wollte sie gerade entgegennehmen, als ihm plötzlich einfiel, dass er gar keine Münzen bei sich hatte – wie sollte er Lan Wangji da einladen? Doch Lan Wangji hatte sie bereits für ihn entgegengenommen und bezahlte mit einer Hand.
»Ach, herrje. Tut mir leid, wieso läuft es ständig so ab? Jedes Mal, wenn ich dich einladen will, klappt es nicht.«
»Das macht nichts«, erwiderte Lan Wangji.
Wei Wuxian senkte den Kopf und biss einmal ab. »Wenn ich hier früher etwas am Pier essen wollte, musste ich nicht bezahlen. Ich konnte mir einfach etwas aussuchen und mich dann aus dem Staub machen. Nach einem Monat ging der Standbesitzer von selbst zu Onkel Jiang, um das Geld einzufordern.«
Lan Wangji hinterließ einen kleinen, halbmondförmigen Abdruck in dem runden Küchlein in seiner Hand. Mit gleichgültiger Stimme meinte er: »Jetzt musst du auch nicht bezahlen.«
Wei Wuxian lachte. »Ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha!«
Mit wenigen Bissen aß er sein Küchlein auf, knüllte das Fettpapier zusammen und warf es spielerisch in die Luft. Nachdem er sich überall umgeschaut hatte, sagte er schließlich: »Es ist nicht mehr viel los. Früher war der Ort hier voller Essensstände – ganz egal wie spät es auch war –, und sie verkauften alle möglichen Speisen. Es gab viele Menschen, die nachts ausgingen und am Lotuspier Mitternachtssnacks essen wollten. Und es gab auch viele Boote, nicht weniger als bei euch in der Stadt Caiyi.«
Dann fuhr er fort: »Jetzt jedoch sind es viel weniger. Lan Zhan, du bist zu spät gekommen. Du hast die Zeit verpasst, als es hier am lebhaftesten und lustigsten zuging.«
Doch Lan Wangji widersprach: »Es ist nicht zu spät.«
Wei Wuxian lächelte. »Damals, als ich in der Wolkennische war, habe ich mehrmals gesagt, dass du mich in Yunmeng besuchen sollst, aber du hast mich ständig ignoriert. Ich hätte hartnäckiger sein und dich einfach direkt herschleifen sollen. Wieso isst du so langsam? Schmeckt es dir nicht?«
»Während der Mahlzeit ist Konversation untersagt«, erklärte Lan Wangji.
Er kaute immer sorgsam und langsam. Wenn er unbedingt sprechen musste, ging er vorher sicher, dass er kein Essen mehr im Mund hatte.
»Dann rede ich nicht mehr mit dir, iss. Ich dachte schon, es schmeckt dir nicht und wollte dir schon anbieten, dass du mir den Rest geben kannst.«
Lan Wangji wandte sich an den Standbesitzer. »Noch eins bitte.«
Schließlich hatte Wei Wuxian sein drittes Küchlein gegessen, während Lan Wangji noch an seinem ersten kaute. Wei Wuxian führte ihn immer weiter vom Lotuspier weg und zeigte auf dem Weg auf alles Mögliche. Er wollte Lan Wangji unbedingt den Ort zeigen, an dem er aufgewachsen war, an dem er gespielt und Unsinn getrieben hatte. Er wollte ihm erzählen, welche bösen Dinge er hier angestellt und wie er sich geprügelt und Fasanen gefangen hatte. Und währenddessen beobachtete er die kleinsten Veränderungen in Lan Wangjis Mimik und erwartete jede Reaktion mit Spannung.
»Lan Zhan! Schau dorthin, schau dir diesen Baum an«, rief Wei Wuxian.
Lan Wangji hatte sein Küchlein nun ebenfalls aufgegessen, faltete das Fettpapier ordentlich zu einem kleinen Rechteck und hielt es in der Hand, als er in die Richtung schaute, in die Wei Wuxian zeigte.
Es war ein gewöhnlicher Baum. Der Baumstamm war kerzengerade und seine Äste ragten ausladend in die Höhe. Er war wohl mehrere Jahrzehnte alt.
Wei Wuxian lief zu dem Baum, ging mehrere Runden um ihn herum und schlug gegen den Stamm. »Ich bin mal auf diesen Baum geklettert.«
»Du bist auf jeden Baum schon mal geklettert, an dem wir auf dem Weg hierher vorbeigekommen sind«, warf Lan Wangji ein.
Doch Wei Wuxian widersprach: »Dieser Baum ist besonders! Er war der erste, auf den ich nach meiner Ankunft am Lotuspier geklettert bin. Das war mitten in der Nacht. Meine Shijie 3 ist mit einer Laterne hergekommen, um mich zu suchen, und weil sie Angst hatte, dass ich herunterfallen würde, stellte sie sich unter den Baum, um mich aufzufangen. Aber was konnten ihre dünnen Ärmchen schon auffangen, also habe ich mir schließlich ein Bein gebrochen.«
Lan Wangji sah auf seine Beine und fragte: »Warum bist du mitten in der Nacht auf einen Baum geklettert?«
Wei Wuxian krümmte sich vor Lachen. »Es gab keinen Grund. Du weißt doch, ich gehe gern mitten in der Nacht raus, um Unfug zu treiben, ha ha!« Während er sprach, griff er nach zwei Ästen und kletterte den Baumstamm entlang nach oben. Mit Leichtigkeit gelangte Wei Wuxian immer höher und hörte erst auf, als er fast in der Baumkrone angekommen war. Dann meinte er: »Hm, ungefähr hier müsste es gewesen sein.«
Er vergrub sein Gesicht in den dichten Blättern und schaute erst nach einer ganzen Weile hinab. Seine Stimme war hoch und er schien zu lachen. »Damals hat mir die Höhe Angst gemacht, doch jetzt merke ich, dass es eigentlich gar nicht so hoch ist.«
Als er den Baumstamm berührt hatte, war sofort Hitze in seine Augen geschossen. Jetzt, wo er nach unten schaute, verschwamm seine Sicht.
Lan Wangji stand unter dem Baum, hob den Kopf und schaute ihn an. Auch er trug weiß. Zwar hielt er keine Laterne, doch umhüllte ihn das Mondlicht wie ein schwacher Heiligenschein, wodurch er am ganzen Körper strahlte. Er richtete seinen Blick Richtung Baumkrone, ging einige Schritte vorwärts und schien seine beiden Arme ausstrecken zu wollen.
Plötzlich überkam Wei Wuxian ein überstarker Impuls.
Er wollte noch einmal herunterfallen, genauso wie damals.
Eine Stimme in seinem Herzen sagte: Wenn er mich auffängt, werde ich …
Genau in dem Moment ließ Wei Wuxian los.
Als Lan Wangji sah, wie er ohne jede Vorwarnung vom Baum fiel, weiteten sich seine Augen mit einem Mal, und er schnellte wie ein Blitz hervor.
Er fing Wei Wuxian auf, oder besser gesagt: Wei Wuxian stürzte sich in seine Arme.
Lan Wangji war schlank und sah wie ein vornehmer junger Herr aus, doch seine Kraft war nicht zu unterschätzen. Nicht nur die seiner Arme war erschreckend, auch sein gesamter Unterkörper zeugte von großer Stabilität. Allerdings war es ein erwachsener Mann, der hier gerade vom Baum sprang, und obwohl er Wei Wuxian erwischte, brachte ihn das leicht ins Taumeln, sodass er einen Schritt zurück machen musste. Schnell fand er jedoch wieder festen Halt.
Als er Wei Wuxian loslassen wollte, bemerkte er, dass dieser seine Arme eng um seinen Hals geschlungen hatte, weshalb Lan Wangji nicht in der Lage war, sich zu bewegen.
Er konnte Wei Wuxians Gesicht nicht sehen, ebenso wenig wie Wei Wuxian seines. Aber das musste er auch gar nicht. Er schloss die Augen und atmete den kühlen Sandelholzduft ein, der Lan Wangji umhüllte. Leise sagte er: »Danke.«
Er hatte keine Angst zu fallen. Durch die vielen Stürze in all den Jahren hatte er Übung darin, doch geschmerzt hätte es trotzdem. Wenn es jemanden gäbe, der für ihn da wäre und ihn auffangen würde, wäre es das schönste auf der Welt.
Als Lan Wangji hörte, wie er sich bedankte, schien sein Körper zu erstarren. Die Hand, die er eigentlich auf Wei Wuxians Rücken hatte legen wollen, stoppte einen Moment, ehe Lan Wangji sie schließlich zurückzog. Nach einer kurzen Stille meinte er: »Du brauchst mir nicht zu danken.«
Nachdem sie sich eine ganze Weile umarmt hatten, lösten sie sich voneinander. Wei Wuxian stand aufrecht vor ihm wie ein tapferer Mann und tat so, als wäre nichts gewesen. »Lass uns zurückgehen!«
»Schaust du dich nicht mehr um?«, fragte Lan Wangji.
»Doch! Aber draußen gibt es nichts mehr. Wenn wir weitergehen, ist dort nur Wildnis, und davon haben wir in letzter Zeit genug gesehen. Wenn wir zurück im Lotuspier sind, zeige ich dir noch einen letzten Ort.«
Beide kehrten wieder zum Pier zurück und schritten durch das Haupttor. Nachdem sie den Übungsplatz hinter sich gelassen hatten, kamen sie an einem prächtigen kleinen Gebäude vorbei, vor welchem Wei Wuxian innehielt. Er betrachtete es länger und wirkte, als würde ihn etwas beschäftigen.
»Was ist?«, fragte Lan Wangji.
Wei Wuxian schüttelte den Kopf. »Nichts. Das Haus, in dem ich früher gewohnt habe, stand hier. Aber jetzt ist es nicht mehr da. Es wurde tatsächlich abgerissen. Die Gebäude hier sind alle neu.«
Sie gingen an zahlreichen Gebäuden vorbei und kamen schließlich an einem ruhigen Ort tief im Lotuspier an. Vor ihnen befand sich eine achteckige schwarze Halle.
Sanft stieß Wei Wuxian die Tür auf, ganz so, als würde er befürchten, jemanden zu erschrecken, dann trat er ein.
Am Ende der Halle waren Ahnentafeln ordentlich aufgereiht.
Dies war die Ahnenhalle des Yunmeng-Jiang-Clans.
Er suchte sich ein Sitzkissen aus Rohrkolben und kniete sich im Fersensitz hin. Dann nahm er drei Räucherstäbchen vom Opfergabentisch, zündete sie mit einer Kerze an und steckte sie anschließend in das Bronzegefäß vor den Ahnentafeln. Er verbeugte sich dreimal tief vor zwei der Ahnentafeln und sagte dann zu Lan Wangji: »Früher war ich hier Stammgast.«
Lan Wangjis Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte dieser verstanden. »Als Strafe?«
Wei Wuxian war überrascht. »Woher weißt du das? Aber ja, genau so war es. Ständig hat Frau Yu mich bestraft und mich knien lassen.«
Lan Wangji nickte. »Ein wenig davon ist mir zu Ohren gekommen.«
Wei Wuxian kaufte ihm das nicht ab. »Wenn es sogar von Yunmeng zu euch nach Gusu durchgedrungen ist, kann man sicher nicht mehr nur von ein wenig sprechen. Aber ganz ehrlich, in all den Jahren bin ich keiner anderen Frau begegnet, die so jähzornig war wie Frau Yu. Wegen jeder noch so kleinen Sache hat sie mich in die Ahnenhalle gescheucht, damit ich hier niederknie. Ha ha ha …«
Doch davon abgesehen hatte Frau Yu niemals etwas getan, das ihm wirklich geschadet hatte.
Plötzlich erinnerte er sich daran, dass er sich hier in einer Ahnenhalle befand und Frau Yus Tafel direkt vor ihm stand. Eilig nahm er seine Worte zurück: »Verzeihung, Verzeihung.« Um sein loses Mundwerk wiedergutzumachen, zündete er drei weitere Räucherstäbchen an. Gerade als er sie hoch über seinen Kopf hielt und sich gedanklich bei ihr entschuldigte, wurde es neben ihm dunkel. Er wandte seinen Kopf und sah, dass Lan Wangji sich ebenfalls hingekniet hatte.
Da sie sich in einer Ahnenhalle befanden, war es nur natürlich, aus Höflichkeit seinen Respekt zu zollen. Lan Wangji nahm sich ebenfalls drei Räucherstäbchen, schob seine Ärmel hoch und zündete sie an einer roten Kerze an. Seine Bewegungen waren akkurat, sein Gesichtsausdruck voller Ernst.
Wei Wuxian neigte seinen Kopf und betrachtete ihn, unwillkürlich krümmten sich seine Mundwinkel nach oben. Lan Wangji warf ihm einen Blick zu und erinnerte ihn an die Räucherstäbchen in seiner Hand. »Die Asche.«
Die drei Räucherstäbchen in Wei Wuxians Hand brannten bereits eine Weile. Es hatte sich daher ein wenig Asche angehäuft, die jeden Moment herunterfallen würde. Und doch weigerte er sich beharrlich, sie in das Gefäß zu stecken, und meinte stattdessen aufrichtig: »Lass uns das zusammen machen.«
Lan Wangji hatte keine Einwände, also knieten sie beide mit je drei Räucherstäbchen vor den Ahnentafeln und verbeugten sich gemeinsam vor Jiang Fengmians und Yu Ziyuans Tafeln.
Einmal, zweimal – ihre Verbeugungen verliefen absolut synchron.
»Fertig«, sagte Wei Wuxian. Dann steckte er die Räucherstäbchen voller Ernsthaftigkeit in das Gefäß. Abschließend sah er zu Lan Wangji rüber, der in der aufrechtesten Haltung kniete, die man sich vorstellen konnte. Wei Wuxian legte seine Handflächen aneinander und sagte gedanklich: Onkel Jiang, Frau Yu, ich bin’s wieder. Ich störe erneut eure friedliche Ruhe.Aber ich wollte diesen Menschen wirklich unbedingt hierherbringen und ihn euch zeigen. Die beiden Verbeugungen von gerade eben galten dem Himmel und der Erde sowie Vater und Mutter. Ich bitte euch, die Person hier neben mir für mich frei zu halten. Die letzte Verbeugung fehlt noch, die erbringe ich in Zukunft mal bei Gelegenheit … 4
In diesem Moment ertönte hinter den beiden plötzlich ein kaltes Lachen.
Wei Wuxian betete gerade andächtig, als er die Stimme vernahm. Erschrocken riss er die Augen weit auf. Als er sich umdrehte, sah er, wie Jiang Cheng mit verschränkten Armen vor der Ahnenhalle stand.
Seine Stimme war eisig, als er sprach: »Wei Wuxian, du siehst dich wohl wirklich nicht als einen Außenstehenden. Du kommst und gehst, wie es dir passt, und bringst auch einfach so jemanden mit, wenn dir danach ist. Erinnerst du dich noch daran, wessen Clan das hier ist und wer über ihn herrscht?«
Als Wei Wuxian bemerkte, dass er entdeckt worden war, wusste er, dass er nicht um die gehässigen Bemerkungen herumkommen würde. Doch er wollte sich nicht streiten.
»Ich habe Hanguang-Jun keine anderen geheimen Orte des Lotuspiers gezeigt. Ich wollte lediglich herkommen, um Räucherstäbchen für Onkel Jiang und Frau Yu anzuzünden. Ich bin schon fertig und wir gehen jetzt auch wieder.«
»Wenn du gehst, dann bitte so weit weg wie möglich«, zischte Jiang Cheng. »Ich will weder noch mal sehen noch hören, dass du im Lotuspier herumlungerst.«
Wei Wuxians Augenbrauen zuckten und er sah, wie Lan Wangji seine rechte Hand auf seinen Schwertgriff presste. Hastig drückte er dessen Handrücken runter.
»Achte auf deine Worte«, ermahnte Lan Wangji Jiang Cheng.
Ungerührt sagte Jiang Cheng: »So wie ich das sehe, solltet viel eher ihr auf euer Verhalten achten.«
Wei Wuxians Augenbrauen zuckten immer mehr und er bekam ein immer mulmigeres Gefühl. »Hanguang-Jun, lass uns gehen.«
Er drehte sich um und verbeugte sich noch einige Male tief vor Jiang Fengmians und Frau Yus Ahnentafeln, ehe er mit Lan Wangji gemeinsam aufstand.
Jiang Cheng hielt Wei Wuxian zwar nicht auf, als er sich vor seinen Eltern verbeugte, hielt sich mit seinen Sticheleien aber auch nicht im Geringsten zurück. »Du solltest dich tatsächlich ordentlich vor ihnen hinknien. Immerhin bist du einfach so hier aufgetaucht und hast sie mit deinem Anblick beleidigt und ihre Ruhe gestört.«
Wei Wuxian warf ihm einen Blick zu. Seine Stimme war ruhig, als er sprach: »Ich habe nur ein paar Räucherstäbchen angezündet, langsam reicht es ja wohl.«
»Ein paar Räucherstäbchen angezündet? Wei Wuxian, bist du dir deiner Position denn nicht mal ansatzweise im Klaren? Du wurdest längst aus dem Clan geworfen und trotzdem bringst du irgendeine x-beliebige Person mit, um für meine Eltern Räucherstäbchen anzuzünden?!«
Eigentlich hatte Wei Wuxian schon an ihm vorbeigehen wollen, als er diesen Satz jedoch hörte, blieb er plötzlich stehen und fragte mit tiefer Stimme: »Sprich Klartext, wer ist hier eine x-beliebige Person?«
Wäre er allein gewesen, wäre es ihm egal gewesen, was Jiang Cheng gesagt hatte. Er hätte einfach so tun können, als hätte er es nicht gehört. Aber Lan Wangji war mit ihm zusammen hier, und er wollte einfach nicht, dass dieser ebenfalls Jiang Chengs Sticheleien und direkte Angriffe ertragen musste, die immer gehässiger wurden.
»Du bist wirklich vergesslich«, spottete Jiang Cheng.»Wer die x-beliebige Person ist? Dann lass mich deinem Gedächtnis mal auf die Sprünge helfen. Weil du den Helden spielen und dem zweiten jungen Herrn Lan hier neben dir helfen musstest, haben der gesamte Lotuspier und meine Eltern dafür den Preis gezahlt. Und als wäre das eine Mal nicht genug gewesen, hast du beim zweiten Mal sogar die Wen-Hunde retten wollen und meine Schwester und die anderen mit hineingezogen. Wie großartig du doch bist. Und was noch großartiger ist: Du bist auch noch so großzügig, dass du die beiden mit zum Lotuspier bringst. Den Wen-Hund lässt du vor unseren Toren herumstreunen und den zweiten jungen Herrn Lan bittest du herein, um Räucherstäbchen anzuzünden. Du willst mich, und sie, wohl absichtlich ärgern.«
Er machte weiter: »Wei Wuxian, was glaubst du, wer du bist? Wer hat dir die Erlaubnis erteilt, dass du Leute in unsere Ahnenhalle bringen kannst, wie es dir beliebt?«
Wei Wuxian wusste es längst: Jiang Cheng hatte diese offene Rechnung nie vergessen und wollte sie begleichen. Die Zerstörung des Lotuspiers und die darauf folgenden Tragödien lagen Jiang Chengs Ansicht nach nicht nur an Wei Wuxian. Auch Wen Ning und Lan Wangji konnten sich der Verantwortung nicht entziehen, und bei keinem der drei würde er seinen Unmut zurückhalten. Ganz besonders dann nicht, wenn sie vor ihm herumliefen und sogar alle zusammen zum Lotuspier kamen.
Wahrscheinlich schäumte er längst vor Wut über. Dies war auch der Grund, weshalb Wei Wuxian Jiang Cheng hatte meiden wollen, als er hierherkam.
Wenn Jiang Cheng ihm Vorwürfe machte, konnte er sich nicht rechtfertigen, aber er konnte es nicht dulden, dass er seine Gehässigkeit gegen Lan Wangji richtete.
»Jiang Cheng, du müsstest mal hören, was du von dir gibst. Ist das denn angebracht? Vergiss deine Position nicht, immerhin bist du ein Clanoberhaupt. Wo sind deine Manieren hin, dass du vor den Ahnentafeln von Onkel Jiang und denen der anderen einen renommierten Kultivierer eines anderen Clans beleidigst?«, erwiderte Wei Wuxian.
Eigentlich wollte er Jiang Cheng nur daran erinnern, dass er zumindest Lan Wangji gegenüber ein wenig Anstand wahren sollte, doch Jiang Cheng war überaus empfindlich und bildete sich daher ein, aus seinen Worten eine versteckte Anspielung darauf herauszuhören, dass er als Clanoberhaupt ungeeignet sei. Sofort legte sich ein schwarzer Schleier über sein Gesicht. Eine Ähnlichkeit zu Frau Yus zorniger Miene war unverkennbar. Harsch rief er: »Wer ist denn derjenige, der die Seelen meiner Eltern beleidigt?! Macht euch bitte noch mal klar, auf wessen Boden ihr euch gerade befindet. Es reicht ja wohl, dass ihr euch draußen so anstandslos benehmt, aber unterlasst das gefälligst, wenn ihr euch in der Ahnenhalle meines Clans vor den Seelen meiner Eltern aufhaltet! Immerhin haben sie dich aufgezogen. Ich schäme mich bereits an deiner Stelle!«
Niemals hätte Wei Wuxian mit so einem heftigen Angriff gerechnet. Er traf ihn gänzlich unvorbereitet. Er war sowohl überrascht als auch zornig. »Halt die Klappe!«, platzte es aus ihm heraus.
Jiang Cheng zeigte nach draußen. »Treib so viel Unfug, wie du willst, aber mach es draußen. Egal ob unter Bäumen oder auf Booten, völlig gleich ob du jemanden umarmen oder sonst was machen willst! Raus aus meinem Zuhause, verschwinde aus meinem Blickfeld!«
Als Wei Wuxian hörte, wie er die Bäume erwähnte, pochte sein Herz. Hatte Jiang Cheng etwa gesehen, wie er sich in Lan Wangjis Arme gestürzt hatte?
Ja, das hatte er.
Jiang Cheng hatte persönlich nach Wei Wuxian und Lan Wangji gesucht. Er war in die Richtung gegangen, die der Händler ihm gezeigt hatte. Eine innere Stimme schien ihm zu sagen, welche Orte Wei Wuxian auf jeden Fall aufsuchen würde. Also hatte er ihr Gehör geschenkt und die beiden dann tatsächlich gefunden – und gesehen, wie Wei Wuxian und Lan Wangji sich innig unter einem Baum umarmt und sich eine ganze Weile nicht voneinander gelöst hatten.
Augenblicklich hatte Jiang Cheng Gänsehaut bekommen.
Zwar hatte er in der Vergangenheit böswillig Vermutungen über Lan Wangjis und Mo Xuanyus körperliches Verhältnis aufgestellt, jedoch dienten diese nur dazu, Wei Wuxian verbal anzugreifen. Er hatte sie nicht wirklich verdächtigt. Niemals hätte er gedacht, dass Wei Wuxian wirklich mit Männern etwas anfing, immerhin waren sie von klein auf zusammen aufgewachsen, und Wei Wuxian hatte niemals Interesse in diese Richtung bekundet. Immerzu hatte sein Herz leidenschaftlich für schöne Frauen geschlagen.
Und bei Lan Wangji konnte das noch viel weniger stimmen, immerhin war er berühmt für seine strenge Enthaltsamkeit und schien weder an Männern noch an Frauen Interesse zu haben.
Doch wie man es auch betrachtete, es war keine gewöhnliche Umarmung gewesen, oder zumindest hatten sie dabei nicht wie Freunde oder Brüder gewirkt. Sofort hatte Jiang Cheng sich daran erinnert, dass Wei Wuxian nach seiner Wiederauferstehung die ganze Zeit über wie eine Klette an Lan Wangji geklebt hatte, und auch Lan Wangjis Verhalten ihm gegenüber war kein Vergleich zu damals in seinem vorherigen Leben. Er war sich augenblicklich sicher, dass die beiden wirklich ein intimes Verhältnis zueinander pflegten.
Er hatte nicht kehrtmachen und gehen, aber auch nicht hervortreten und auch nur ein Wort mit den beiden wechseln können, also war er ihnen weiter heimlich gefolgt. Jede Bewegung und jeden Blick, den die beiden austauschten, sah er nun unvermeidbar mit völlig anderen Augen.
Es mischten sich Fassungslosigkeit, die Ansicht, dass dies abnormal wäre, und auch ein leichter Ekel in ihm und all dies war sogar stärker als sein Hass. Erst als Wei Wuxian Lan Wangji in die Ahnenhalle gebracht hatte, war Jiang Chengs bis dahin so lang unterdrückter Zorn wieder wachgerufen worden und hatte seine Rationalität und Etikette verschlungen.
Wei Wuxian riss sich mit aller Kraft zusammen und meinte: »Jiang Wanyin, du … entschuldigst dich, sofort.«
Jiang Cheng spottete verbittert: »Mich entschuldigen? Wieso sollte ich? Weil ich euch bei etwas erwischt habe?«
Wei Wuxian wurde wütend. »Hanguang-Jun ist nichts weiter als ein Freund, was glaubst du denn, was für ein Verhältnis wir haben?! Ich warne dich, entschuldige dich sofort, zwing mich nicht, dich zu verprügeln!«,
Bei diesen Worten erstarrte Lan Wangjis Gesichtsausdruck. Jiang Cheng hingegen prustete: »Solche ›Freunde‹ habe ich noch nie gesehen. Du warnst mich? Weshalb denn? Wenn ihr beiden auch nur das leiseste Schamgefühl besitzen würdet, wärt ihr nicht hergekommen …«
Als Wei Wuxian bemerkte, wie sich Lan Wangjis Miene veränderte, nahm er an, Jiang Chengs Worte hätten ihn aufgewühlt. Wei Wuxian machte das so wütend, dass er am ganzen Körper anfing zu zittern. Er wagte es nicht mal, daran zu denken, was Lan Wangji durch den Kopf gehen musste, nachdem er derart von Jiang Cheng gedemütigt worden war. Die Wut schoss in ihm hoch und er warf einen Talisman.
»Jetzt reicht’s aber mal langsam!«
Der Talisman kam schnell und wuchtig. Er traf Jiang Chengs rechte Schulter und explodierte, woraufhin dieser taumelte.
Jiang Cheng hatte nicht damit gerechnet, dass Wei Wuxian so plötzlich angreifen würde, zudem war seine spirituelle Energie noch nicht vollständig zurück, sodass die Explosion ihn mit voller Wucht getroffen hatte. Seine Schulter blutete, und während Ungläubigkeit über sein Gesicht huschte, schnellte Zidian auch schon hervor und schlug surrend und leuchtend zu.
Lan Wangjis Bichen kam aus der Scheide und parierte den Angriff.
Die drei kämpften vor der Ahnenhalle.
Äderchen schwollen in Jiang Chengs Augen an und mit abscheulich verzerrter Miene rief er: »Gut! Dann kämpfen wir eben! Als ob ich Angst vor euch hätte!«
Nach einigen Schlägen schreckte Wei Wuxian aber plötzlich auf: Dies war die Ahnenhalle des Yunmeng-Jiang-Clans, er hatte hier gerade eben noch gekniet und um Jiang Fengmians und Frau Yus Segen gebeten, doch jetzt griff er vor ihren Augen zusammen mit Lan Wangji ihren Sohn an!
Als hätte man ihn unter einen eiskalten Wasserfall gestellt, wurde es vor seinen Augen nun abwechselnd hell und dunkel. Lan Wangji schaute ihn an, drehte sich ruckartig um und packte ihn an der Schulter.
Jiang Chengs Gesichtsausdruck veränderte sich und er rief seine Peitsche zurück. Seine Augen blitzten alarmiert.
»Wei Ying«, sagte Lan Wangji.
Seine tiefe Stimme dröhnte in Wei Wuxians Ohren und vibrierte unablässig. Wei Wuxian fragte sich schon, ob etwas mit seinen Ohren nicht stimmte und reagierte: »Was?«
Er spürte, wie etwas von seinem Gesicht tropfte. Als er mit der Hand fühlte, färbte sich diese rot. Ihm wurde schwindelig, während Blut aus seiner Nase und seinem Mund auf den Boden fiel.
Dieses Mal war es nicht gespielt.
Wei Wuxian klammerte sich an Lan Wangjis Armbeuge und versuchte angestrengt, sich auf den Beinen zu halten. Er bemerkte, wie er Lan Wangjis weiße, frisch gewechselte Kleidung vollblutete und streckte unwillkürlich die Hand aus, um das Blut abzuwischen. Obwohl es nicht der richtige Zeitpunkt dafür war, sorgte er sich darum. Ich habe schon wieder seine Kleidung schmutzig gemacht.
»Was ist mit dir?!«, fragte Lan Wangji.
Wei Wuxian antwortete nicht auf seine Frage, sondern sagte bloß: »Lan Zhan … Lass uns gehen.«
Ich gehe. Sofort. Und ich komme nie wieder zurück.
»Gut«, erwiderte Lan Wangji.
Er machte keine Anstalten, den Kampf mit Jiang Cheng fortzusetzen. Stattdessen nahm er Wei Wuxian wortlos auf den Rücken und ging.
Jiang Cheng war sowohl schockiert als auch skeptisch. Der Schock rührte von Wei Wuxians fürchterlichem Zustand, und dass er plötzlich aus Mund und Nase blutete. Andererseits hegte er auch Zweifel daran, ob das nicht nur ein Trick war, um zu entkommen – denn immerhin hatte er in der Vergangenheit oft Leuten etwas vorgespielt, um sie zu veräppeln.
Als Jiang Cheng sah, wie die beiden gehen wollten, hielt er sie auf: »Stehen bleiben!«
»Aus dem Weg!«, entgegnete Lan Wangji zornig.