The Grandmaster of Demonic Cultivation – Light Novel 02 - Mo Xiang Tong Xiu - E-Book

The Grandmaster of Demonic Cultivation – Light Novel 02 E-Book

Mo Xiang Tong Xiu

5,0

Beschreibung

Wei Wuxian und Lan Wangji befinden sich auf einer Reise, um das Geheimnis des mysteriösen linken Arms zu lösen. Ihr Weg führt sie in die Geisterstadt Yi, in der sich die Lage rasch zuspitzt: Der Mann, der von Wei Wuxian vor einer Horde Untoter gerettet wurde, scheint nicht der zu sein, für den er sich ausgibt. Er weiß um Wei Wuxians wahre Identität und fordert ihn daher auf, ihm bei einer Sache behilflich zu sein. Welche Absichten verfolgt der Mann und welche Verbindung besteht zwischen ihm und dem blinden Geistermädchen? Die Antworten auf diese Fragen sind schrecklicher als Wei Wuxian zu ahnen wagt. Klar ist aber, dass Lan Wangji nie zulassen würde, dass ihm etwas zustößt. Warum eigentlich? Haben sich seine Gefühle über die Jahre etwa so sehr verändert …? Band 2 von 5 der erfolgreichen chinesischen Boys-Love-Light-Novel!

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3

Das klare Geräusch des Fingerschnippens hörte sich für Song Lan an, als wäre etwas direkt neben seinem Ohr explodiert. Mit einem kräftigen Stoß schickte er die vier Yin-Krieger, die ihn fest zu Boden gedrückt hatten, hoch in die Lüfte! Dann sprang er mit einem Satz auf und griff nach seinem Langschwert und seinem Fliegenwedel – beidhändig zerschnitt er die vier Yin-Krieger in kleine, bunte Papierschnipsel.

Nun ruhte das Langschwert an Wei Wuxians Hals, während der Fliegenwedel drohend auf die Kultivierungsschüler gerichtet war. Innerhalb von Sekunden hatte sich die Situation im Laden drastisch verändert.

Wei Wuxian sah aus dem Augenwinkel, wie Jin Ling seine Hand an den Griff seines Schwerts legte, und wies ihn eilig zurecht: »Keine Bewegung, richte nicht noch mehr Chaos an! Selbst wenn ihr ihn alle auf einmal angreifen würdet, wärt ihr keine Gegner für diesen … Song Lan.«

Wei Wuxians neuer Körper besaß nur geringe spirituelle Kräfte, außerdem hatte er nicht einmal sein Schwert bei sich. Und dann war da noch dieser Xiao Xingchen, dessen Absichten unklar waren. War er nun ein Freund oder ein Feind?

»Ihr Kinder solltet besser rausgehen und die Erwachsenen sich in Ruhe unterhalten lassen«, sagte Xiao Xingchen.

Er machte Song Lan gegenüber eine Geste mit der Hand, der still gehorchte und die jungen Kultivierer hinausscheuchte.

Wei Wuxian beruhigte sie: »Geht ruhig raus. Ihr könnt hier gerade sowieso nicht helfen. Das Giftpulver müsste mittlerweile zu Boden gefallen sein. Rennt also draußen nicht herum und wirbelt es auf! Zudem solltet ihr langsam atmen.«

Auch wenn Jin Ling wusste, dass Wei Wuxian recht hatte und er hier wirklich keine Hilfe wäre, wurmte es ihn. Innerlich tobend wollte er protestieren, stapfte dann aber doch lieber wütend hinaus.

Lan Sizhui folgte ihm, doch bevor er die Türschwelle überschritt, hielt er inne. Er schien etwas sagen zu wollen, tat es aber nicht. Also sprach Wei Wuxian ihn an: »Sizhui, du bist hier der Besonnenste, achte auf die anderen! Schaffst du das?«

Lan Sizhui nickte.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, ergänzte Wei Wuxian.

»Ich habe keine Angst«, erwiderte Lan Sizhui.

»Wirklich nicht?«

»Wirklich nicht.« Dann lächelte Lan Sizhui plötzlich. »Qianbei 1, du bist Hanguang-Jun 2 wirklich ähnlich.«

Wei Wuxian war verwundert. »Wir ähneln uns? Wie das?« Offensichtlich hätten die beiden nicht unterschiedlicher sein können.

Lan Sizhui lächelte immer noch, antwortete jedoch nicht, sondern führte den Rest der Gruppe aus dem Laden.

Ich kann es nicht genau erklären, aber sie geben einem beide ein vergleichbares Gefühl. So, als würde man sich wegen nichts Sorgen machen und sich vor nichts fürchten müssen, solange nur einer von ihnen in der Nähe ist.

Xiao Xingchen holte eine kleine rote Pille hervor und schluckte sie. »Wie rührend«, kommentierte er anschließend das Geschehene. Die violett-rote Farbe auf seinem Gesicht verschwand augenblicklich.

»Ein Gegenmittel für das Untoten-Giftpulver?«, fragte Wei Wuxian.

»Genau. Viel effektiver als dein grauenhafter Reisbrei, oder? Und geschmacklich auch wesentlich süßer.«

»Dein Schauspiel war wirklich überragend. Von der Szene draußen, als du tapfer die Untoten niedergemetzelt und dich völlig verausgabt hast, bis hin zu dem Moment, in dem du den Angriff auf Jin Ling pariert und dein Bewusstsein verloren hast, diese gesamte Aufführung hast du für uns inszeniert, richtig?«

Xiao Xingchen bewegte verneinend einen Finger hin und her. »Nicht für ›euch‹, sondern für ›dich‹. Ich habe schon so viel über den berühmten Yiling-Patriarchen gehört. Aber es ist immer besser, etwas mit den eigenen Augen zu sehen, als es nur vom Hörensagen zu kennen.«

Wei Wuxian reagierte nicht. Er hatte nicht vor, sich von Xiao Xingchen aus der Fassung bringen zu lassen. Also fuhr dieser fort.

»Lass mich raten, du hast ihnen nicht erzählt, wer du eigentlich bist, oder? Deswegen habe ich deine wahre Identität auch nicht aufgedeckt und sie nach draußen geschickt. So können wir uns hinter verschlossenen Türen ungestört unterhalten. Na, bin ich nicht rücksichtsvoll?«

»Stehen die ganzen Untoten in der Stadt Yi unter deiner Kontrolle?«, wollte Wei Wuxian wissen.

»Selbstverständlich. Bereits als du hier angekommen bist und diesen Pfiff ausgestoßen hast, kamst du mir suspekt vor. Daher beschloss ich, mich selbst darum zu kümmern und das Ganze genauer unter die Lupe zu nehmen. Und das war auch gut so! Denn wenn selbst eine so niedere Kunst wie die Beschwörung durch aufgemalte Augen eine derart ungeheure Wirkung erzielt, kann es sich bei dem Anwender nur um den Erfinder persönlich handeln.«

Sie hatten beide den dunklen Pfad der Kultivierung gewählt, einem Gleichgesinnten konnte Wei Wuxian daher nichts vormachen. »Und was genau willst du von mir, dass du sogar die Jungen als Geiseln nimmst?«

Xiao Xingchen lachte. »Ich möchte, dass du mir einen Gefallen tust, Qianbei. Es ist auch nur ein kleiner Gefallen.«

Dass der Shidi 3 seiner Mutter ihn Qianbei nannte, brachte die Rollen völlig durcheinander. Wei Wuxian wollte innerlich gerade auflachen, als er sah, wie Xiao Xingchen einen Seelen-Verschlussbeutel hervorholte und auf dem Tisch absetzte.

»Bitte.«

Wei Wuxian legte seine Hand auf den Beutel.

Für einen Moment fühlte er den Stoff, ganz so wie man einen Puls fühlte.

»Wem gehört die Seele? Sie ist derart fragmentiert, dass man sie selbst mit dem besten Kleister nicht mehr zusammenkleben könnte. Es ist nur noch ein Hauch ihrer selbst übrig.«

»Wieso sollte ich dich um Hilfe bitten, wenn man diese Seele einfach so wieder zusammenfügen könnte?«

Wei Wuxian zog seine Hand zurück.

»Du willst, dass ich sie repariere? Tut mir leid, dass ich dir das so direkt sagen muss, aber dieser klägliche Rest da drin ist einfach zu wenig. Außerdem scheint dieser Mensch zu Lebzeiten unvorstellbare Qualen durchgemacht und große Schmerzen erlitten zu haben. Höchstwahrscheinlich hat er Selbstmord begangen und will gar nicht mehr in diese Welt zurückkehren. Und wenn eine Seele diesen Wunsch nicht hegt, kann sie in den meisten Fällen auch nicht gerettet werden. Wenn ich mich nicht irre, wurde dieser Hauch von einer Seele gewaltsam von jemandem zusammengefügt. Sobald sie den Seelen-Verschlussbeutel verlässt, kann sie jederzeit zerbrechen. Aber das weißt du mit Sicherheit bereits.«

Xiao Xingchen entgegnete ihm: »Ich weiß nichts davon. Es ist mir aber auch egal. Du wirst meiner Bitte nachkommen, ob du willst oder nicht. Vergiss nicht, Qianbei, dass die Kinder da draußen sehnsüchtig darauf warten, dass du sie aus der Gefahr rettest.«

Er wirkte äußerst merkwürdig: Seine Stimme klang zwar freundlich und etwas Süßliches schwang in ihr mit, während er sprach, doch er verhielt sich völlig grundlos bösartig. Es schien, als würde er einen in der einen Sekunde »Bruder« und »Qianbei« nennen und in der nächsten töten können.

Wei Wuxian lachte: »Auch bei dir ist es etwas ganz anderes, dich in echt zu erleben, als dich nur vom Hörensagen zu kennen. Xue Yang, wieso verkleidet ein Schurke wie du sich als wandernder Kultivierer?«

»Xiao Xingchen« hielt kurz inne, dann hob er die Hand und nahm die Bandagen um seine Augen ab.

Schicht für Schicht glitt der Stoff hinab und entblößte ein hell wie die Sterne funkelndes Augenpaar. Es waren unversehrte gesunde Augen.

Der Mann vor Wei Wuxian hatte ein junges, sympathisches Gesicht, das man durchaus als aufgeweckt bezeichnen konnte. Beim Lachen entblößte er zwei Eckzähne, die so niedlich waren, dass es fast ein wenig kindlich wirkte, und die von der Grausamkeit und der Rauheit, die in seinen Augen lagen, ablenkten.

Xue Yang warf die Bandagen in eine Ecke und sagte: »Ach je, du hast mich durchschaut.«

»Du hast absichtlich so getan, als hättest du Schmerzen und Angst, damit wir Mitleid mit dir haben und deine Bandagen nicht anrühren. Du hast absichtlich einen Teil von Shuanghua freigelegt und du hast auch absichtlich preisgegeben, dass du ein wandernder Kultivierer bist. Nicht nur hast du dich selbst verletzt, um uns zu überlisten, du bist auch sehr geschickt darin, die Gefühle deiner Mitmenschen zu beeinflussen und für deine Zwecke zu nutzen. Und du bist in die Rolle des Helden mit einem unerschütterlichen Gerechtigkeitssinn geschlüpft, der der Zivilisation den Rücken gekehrt hat. Würdest du nicht so viel wissen und können, was du eigentlich nicht wissen und können solltest, hättest du mich tatsächlich davon überzeugt, dass du Xiao Xingchen bist.«

Zudem hatte Song Lan bei der Seelenbefragung einmal mit »Xiao Xingchen« und einmal mit »die Person hinter euch« geantwortet. Wenn die Person hinter der Gruppe Xiao Xingchen gewesen wäre, hätte es für Song Lan keinen Grund gegeben, eine andere Bezeichnung zu verwenden. Außer natürlich, wenn Xiao Xingchen und diese Person nicht ein und dieselbe Person waren.

Song Lan hatte ihnen mitteilen wollen, dass dieser Mann sehr gefährlich war. Er hatte jedoch befürchtet, dass, wenn er direkt mit »Xue Yang« antwortete, sie ihn nicht enttarnen würden, sodass er schließlich diese Antwort gewählt hatte.

Xue Yang lachte. »Was soll ich denn machen, wenn er so einen guten Ruf hat und ich so einen schlechten? Natürlich muss ich mich als er ausgeben, um mir das Vertrauen anderer zu erschleichen.«

»Deine Schauspielkünste sind überragend«, entgegnete ihm Wei Wuxian.

»Zu viel der Ehre. Ich habe eine Freundin, deren Schauspielkünste wirklich erstklassig sind – aber ich selbst bin davon noch weit entfernt. Nun reicht es aber mal mit dem belanglosen Geplauder. Wei Qianbei, du musst meiner Bitte nachkommen«, antwortete Xue Yang.

»Die schwarzen Nägel, mit denen Song Lan und Wen Ning kontrolliert werden können, hast du hergestellt, oder? Und wenn du sogar in der Lage bist, eine Hälfte des Yin-Tiger-Amuletts wiederherzustellen, wozu brauchst du dann meine Hilfe bei der Regeneration dieser Seele?«

Xue Yang entgegnete: »Das ist nicht das Gleiche. Du bist der Begründer des dämonischen Wegs. Hättest du nicht zuvor das Yin-Tiger-Amulett hergestellt, hätte ich niemals eine der Hälften nachbilden können. Natürlich hast du mehr drauf als ich. Daher kannst du sicher das vollbringen, was mir nicht gelingen mag.«

Wieso Fremde so ein unerklärliches Vertrauen in ihn setzten, war ihm ein Rätsel. Wei Wuxian strich sich über sein Kinn. Er wusste nicht, was er auf die Höflichkeit erwidern sollte, also machte er ihm ein Kompliment: »Du bist zu bescheiden.«

»Das ist keine Bescheidenheit, sondern die Wahrheit. Ich habe noch nie zu Übertreibungen geneigt. Wenn ich sage, dass ich eine ganze Familie massakriere, dann massakriere ich sie auch mit Sicherheit. Nicht mal ein Hund wird dann von mir verschont.«

»So wie den Chang-Clan aus Yueyang?«, fragte Wei Wuxian.

Bevor Xue Yang antworten konnte, sprang die Tür des Haupteingangs plötzlich auf und ein schwarzer Schatten flog über den Boden.

Wei Wuxian und Xue Yang wichen gleichzeitig zurück und entfernten sich vom Tisch.

Rasch nahm Xue Yang den Seelen-Verschlussbeutel an sich.

Der hereingestürmte Song Lan drückte sich mit einer Hand leicht von dem Tisch ab, machte einen Salto in der Luft und landete auf dem Tisch. Ruckartig hob er den Kopf und schaute zur Tür, während schwarze Adern sich auf seinen Wangen abzeichneten.

Wen Ning, Eisenketten hinter sich herziehend, durchdrang den weißen Nebel und den schwarzen Wind, überschritt die Türschwelle und betrat den Raum.

Wei Wuxian hatte bereits zuvor, als er zuanfang auf der Flöte seine Melodie gespielt hatte, Wen Ning herbeibeschworen und ihm folgende Anweisungen erteilt: »Kämpfe draußen und lass etwas von ihm übrig! Pass auf die lebenden Menschen auf! Und lass keine anderen Untoten näher ran.«

Wen Ning hob seine rechte Hand und schwang die Eisenkette.

Song Lan parierte den Angriff mit seinem Fliegenwedel.

Ineinander verschlungen schlugen die beiden Waffen nun gegeneinander.

Wen Ning zog an der Eisenkette und wich zurück. Da Song Lan nicht losließ, wurde er unweigerlich von Wen Ning aus der Tür geschliffen.

Die Kultivierungsschüler hatten sich bereits in einem anderen Laden verschanzt. Sie reckten ihre Hälse und konnten ihre Blicke nicht abwenden.

Der Fliegenwedel, die Eisenketten und die Langschwerter klirrten, sodass Funken in alle Richtungen sprühten. Der Kampf dieser beiden bösartigen Untoten war unvergleichlich brutal: In jeder Bewegung steckte ein Akt der Gewalt und jeder Angriff wurde bestialisch ausgeführt.

Nur bösartige Untote konnten sich so eine raue Auseinandersetzung liefern. Würden lebende Menschen sich so bekämpfen, hätte ihnen längst ein Arm oder ein Bein gefehlt oder es wäre ihnen die Schädeldecke geplatzt!

»Was glaubst du, wer gewinnen wird?«, fragte Xue Yang.

»Wozu Vermutungen anstellen? Sicher Wen Ning«, entgegnete ihm Wei Wuxian.

»Leider wollte er, auch nachdem ich seine Schläfen mit unzähligen Nägeln bearbeitet habe, nicht auf mich hören. Wobei Dinge, die zu sehr auf ihren Herrn hören, einem auch ganz schön Kopfzerbrechen bereiten können.«

Gleichgültig erwiderte Wei Wuxian: »Wen Ning ist kein Ding.«

Xue Yang lachte auf. »Ach, meinst du wirklich, ja?« Noch während er redete, griff er Wei Wuxian mit dem Schwert an.

Behände wich dieser aus und fragte: »Greifst du öfter an, obwohl du deinen Satz noch nicht beendet hast?«

Xue Yang gab sich überrascht. »Natürlich. Ich bin doch ein Schurke?! Das weißt du doch. Ich will dich aber nicht töten. Ich möchte dich vorerst nur bewegungsunfähig machen. Und dann nehme ich dich mit, sodass du mir in aller Ruhe dabei helfen kannst, diese Seele wiederherzustellen.«

»Ich habe doch schon gesagt, dass ich da nichts machen kann«, erklärte Wei Wuxian.

»Du musst mich doch nicht so schnell abweisen. Auch wenn du allein keine Idee hast, können wir zu zweit die Köpfe zusammenstecken und die Sache analysieren«, erwiderte Xue Yang und erneut hatte er zugestochen, bevor er seinen Satz beendet hatte.

Wei Wuxian wich seinem Angriff aus, indem er sich duckte.

Überall auf dem Boden lagen die Schnipsel der Papiermenschen verstreut.

Dieser Schurke hat so einiges drauf.

Wei Wuxian erkannte, dass Xue Yang seine Angriffe immer schneller ausführte und seine Hiebe immer gezielter und aggressiver wurden.

»Nutzt du es aus, dass mein Körper so wenig spirituelle Energie besitzt?«

»So ist es!«, bestätigte Xue Yang direkt.

Endlich begegnete Wei Wuxian einer Person, die noch dreister war als er selbst. Unwillkürlich musste er grinsen.

»Lieber mache ich mir einen Helden zum Feind als einen Schurken. Ich meine dich. Ich lege mich nicht mit dir an, jemand anderes wird das übernehmen.«

Xue Yang grinste zurück. »Und wer bitte soll das tun? Dieser HanguangJun etwa? Ich habe ihm über dreihundert Untote auf den Hals gehetzt, er …« Noch bevor er ausgeredet hatte, segelte eine Person in einer weißen Robe von oben herab und Bichens eisiges, klares Licht schnellte in seine Richtung.

Eine frostige Atmosphäre umgab Lan Wangji, als er sich vor Wei Wuxian stellte.

Xue Yang schleuderte Shuanghua nach vorn und blockte die Klinge. Die beiden legendären Schwerter lieferten sich ein kurzes Duell. Dann flog jedes von ihnen zurück in die Hand seines Besitzers.

»Das nennt man wohl perfektes Timing?«, sagte Wei Wuxian.

Lan Wangji antwortete lediglich mit einem »Mhm« und kreuzte anschließend weiter mit Xue Yang die Klingen.

Noch vor wenigen Momenten war es Xue Yang gewesen, der Wei Wuxian durch den Laden gejagt hatte. Doch nun war es Xue Yang, der von Lan Wangji immer weiter zurückgedrängt wurde.

Er erkannte, dass die Lage nicht wirklich günstig für ihn war. Er schaute sich kurz um. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und im nächsten Moment warf er Shuanghua von seiner rechten in seine linke Hand, sodass er etwas aus seinem rechten Ärmel schütteln konnte.

Wei Wuxian machte sich darauf gefasst, dass er Giftpulver oder Ähnliches hervorholen würde, sah dann jedoch, dass Xue Yang ein Langschwert aus seinem Ärmel zog und nahtlos zum Zweischwert-Angriff überging.

Die Spitze des Langschwerts war düster und unheimlich. Als er es schwang, sonderte es eine schwarze Aura ab. Ein absoluter Gegensatz zu Shuanghuas silbernem Glanz.

Xue Yang griff mit beiden Schwertern gleichzeitig an. Das Zusammenspiel seiner Hände war perfekt aufeinander abgestimmt und mit einem Mal gewann er die Oberhand.

»Jiangzai?«, fragte Lan Wangji.

Xue Yang war überrascht. »Ach? Hanguang-Jun kennt doch tatsächlich dieses Schwert?! Welch eine Ehre.«

Jiangzai war Xue Yangs eigenes Schwert. Sein Name bedeutete »Unheil bringen« und es war, seinem Besitzer gleichend, ein düsteres Schwert, das bereits grausame Blutbäder angerichtet hatte.

Wei Wuxian mischte sich ein. »Der Name passt ja wie die Faust aufs Auge.«

»Zieh dich zurück. Du wirst hier nicht gebraucht«, sagte Lan Wangji.

Gehorsam befolgte Wei Wuxian seinen Ratschlag und wich zurück. Vom Eingang aus warf er einen Blick aus dem Fenster nach draußen, wo Wen Ning gerade ausdruckslos Song Lan am Hals packte, in die Lüfte hob und anschließend gegen eine Wand schmetterte, sodass dieser dort ein großes Loch in der Form eines Menschen hinterließ.

Ungerührt dessen umfasste Song Lan daraufhin Wen Nings Handgelenk und rammte ihn wirbelnd in den Boden.

Der unsägliche Lärm des Kampfes der beiden bösartigen, ausdruckslosen Untoten ertönte ununterbrochen. Beide hatten kein Schmerzempfinden und fürchteten sich somit auch nicht vor Verletzungen. Solang sie nicht in ihre Einzelteile zerstückelt würden, würden sie weiterkämpfen können – auch wenn ihre Arme und Beine gebrochen wären.

»Dort werde ich anscheinend auch nicht gebraucht«, sagte Wei Wuxian zu sich selbst.

Plötzlich entdeckte er Lan Jingyi, der ihm wild aus dem gegenüberliegenden pechschwarzen Laden zuwinkte.

Ha, dort werde ich bestimmt gebraucht.

Er hatte gerade erst einen Schritt getan, da erstrahlte Bichens Klinge.

Für den Bruchteil einer Sekunde lockerte sich Xue Yangs Griff und Shuanghua glitt ihm aus der Hand.

Lan Wangji nutzte die Gelegenheit und ergriff das Schwert.

Da Shuanghua nun jemand anderem in die Hände gefallen war, zielte Jiangzai unablässig mit seinen Angriffen auf Lan Wangjis linken Arm.

Die Wut, die in Xue Yangs Augen aufblitzte, als die Attacken fehlschlugen, jagte Wei Wuxian einen eiskalten Schauer über den Rücken.

Bedrohlich forderte Xue Yang von Lan Wangji: »Gib mir das Schwert zurück!«

»Du verdienst dieses Schwert nicht«, entgegnete der ihm.

Xue Yang lachte kalt.

Wei Wuxian verließ den Laden und ging rüber zu den Kultivierungsschülern. Dort angekommen wurde er sofort von der Gruppe Jungen umkreist.

»Ihr seid alle unversehrt, oder?«, erkundigte Wei Wuxian sich.

»Ja! Wir haben alle auf dich gehört und langsam geatmet.«

»Sehr schön. Wer nicht auf meine Worte hört, bekommt noch mal meinen Reisbrei zu essen«, mahnte er die Schüler.

Einige der Jungen, die in den Genuss gekommen waren, taten so, als müssten sie sich übergeben.

In diesem Moment hörte man von überallher nahende Schritte. Am Ende der langen Straße zeigte sich bereits eine schwankende Silhouette.

Auch Lan Wangji hatte das Geräusch vernommen. Mit einer wehenden Bewegung seines Ärmels holte er seine Zither Wangji hervor. Er schleuderte sie auf den Tisch, während er Bichen in seine linke Hand warf und sich weiterhin unbeirrt mit Xue Yang duellierte. Ohne sich umzudrehen, streckte er seine rechte Hand aus und fuhr einmal über die Saiten. Die Klänge der Zither ertönten und hallten bis zum Ende der Straße. Als Echo erklang das wohlbekannte, sonderliche Geräusch der explodierenden Köpfe der Untoten.

Mit der einen Hand kämpfte Lan Wangji weiterhin gegen Xue Yang, während er sich mit der anderen seiner Zither widmete. Gefasst überblickte er die Szene, dann zupfte er erneut gemächlich einige Saiten.

Obwohl er seine beiden Hände gleichzeitig für Angriffe nutzte, strahlte er dennoch eine Aura der Ruhe aus.

»Beeindruckend!«, platzte es aus Jin Ling heraus.

Er hatte gesehen, wie Jiang Cheng und Jin Guangyao auf Nachtjagd gegangen und Monster erlegten hatten, und daher angenommen, dass seine Onkel die stärksten Kultivierer der Welt seien. Bei Lan Wangji hingegen überstieg Jin Lings Angst immer seinen Respekt diesem gegenüber. Gerade vor dessen Verstummungszauber und seiner kalten Aura fürchtete er sich. Nun jedoch konnte Jin Ling nicht anders, als ihn für seine Fertigkeiten zu bewundern.

Zufrieden sagte Lan Jingyi: »Selbstverständlich ist Hanguang-Jun beeindruckend. Er prahlt nur einfach nicht überall damit herum und hängt es nicht an die große Glocke, nicht wahr?«

Das »nicht wahr« war an Wei Wuxian gerichtet. Verwundert blickte der den Schüler an. »Fragst du etwa gerade mich? Warum denn das?«

»Findest du Hanguang-Jun etwa nicht beeindruckend?«, fragte Lan Jingyi hastig.

Wei Wuxian fuhr sich übers Kinn. »Doch, doch, beeindruckend. Natürlich, sehr beeindruckend. Er ist der Stärkste.« Während er antwortete, konnte er ein Grinsen nicht unterdrücken.

Diese erschütternde Nacht voller Gefahren war fast vorüber und es würde bald hell werden. Dies war jedoch alles andere als eine erfreuliche Nachricht. Mit dem Tageslicht würde sich nämlich auch der dämonische Nebel verdichten. Wenn es so weit wäre, würden ihre Handlungsmöglichkeiten wieder erheblich eingeschränkt sein!

Für Wei Wuxian und Lan Wangji allein bestünde kein Problem. Doch mit einer ganzen Gruppe zu entwischen, war schwierig, wenn sie von einer Horde Untoter umzingelt würden.

Während Wei Wuxian sich den Kopf über eine Strategie zerbrach, ertönte plötzlich erneut das klare Klackern des Bambusstocks, der auf den Boden schlug.

Der Geist des blinden, zungenlosen Mädchens war wieder da!

Wei Wuxian fällte augenblicklich eine Entscheidung: »Los, wir gehen!«

»Wohin?«, fragte Lan Jingyi.

»Wir folgen dem Geräusch des Bambusstocks«, antwortete Wei Wuxian.

Jin Ling war verwundert. »Du willst, dass wir einer Geisterseele folgen? Wer weiß, wo die uns hinführt!«

»Wir folgen ihr«, bestätigte Wei Wuxian. »Nachdem ihr hier angekommen seid, hat euch dieses Geräusch doch immer wieder verfolgt, oder? Als ihr weiter in die Stadt hineingelaufen seid, hat sie euch so zum Stadttor geführt. Sie hat also versucht, euch von hier zu verscheuchen, um euch zu retten!«

Diese bizarren, mal näherkommenden, mal sich entfernenden Geräusche des Bambusstocks waren eine Maßnahme, mit der sie Lebende, die in die Stadt kamen, vertrieb. Sie hegte damit aber nicht unbedingt böse Absichten. Der Papierkopf des Yin-Kriegers, gegen den Wei Wuxian zuvor getreten war, war vielleicht auch als Abschreckung von ihr dort platziert worden.

Wei Wuxian fuhr fort: »Außerdem wollte sie uns gestern Abend eindeutig etwas sehr Dringendes mitteilen, nur konnte sie sich nicht richtig ausdrücken. Als Xue Yang auftauchte, ist sie sofort verschwunden. Höchstwahrscheinlich hat sie sich vor ihm versteckt, also steckt sie sicher nicht mit ihm unter einer Decke.«

»Xue Yang? Wo kommt denn auf einmal Xue Yang her? Waren es nicht Xiao Xingchen und Song Lan?«

»Ach, das erkläre ich euch später. Auf jeden Fall ist der, der gerade dort drinnen gegen Hanguang-Jun kämpft, nicht Xiao Xingchen, sondern Xue Yang, der sich als Xiao Xingchen ausgegeben hat.«

Das Klackern des Bambusstocks war immer noch zu hören. Es wirkte, als würde sie zwar warten, sie aber auch zur Eile drängen. Folgten sie ihr, würden sie vielleicht in irgendeine Falle laufen. Folgten sie ihr nicht, würden sie von Untoten umzingelt, die Untoten-Giftpulver versprühten, was auch nicht viel sicherer wäre.

Entschlossen trafen die jungen Kultivierer ihre Wahl und eilten gemeinsam mit Wei Wuxian in Richtung des klopfenden Geräuschs des Bambusstocks. Und tatsächlich, als sie sich in Bewegung setzten, bewegte sich das Geräusch mit ihnen. Manchmal sahen sie durch den dünnen Nebel vage die zierlichen Umrisse des Wesens vor ihnen. Manchmal wiederum sahen sie gar nichts.

Nachdem Lan Jingyi losgerannt war, fragte er: »Laufen wir jetzt einfach so weg?«

Wei Wuxian blickte zurück und rief: »Hanguang-Jun, den Rest überlassen wir dir! Wir gehen schon mal vor!«

Die Saiten der Zither vibrierten und es klang, als würde jemand »Mhm« sagen, sodass Wei Wuxian prusten musste.

»Das war’s? Mehr sagst du nicht?«, fragte Lan Jingyi.

»Was soll ich denn noch sagen?«

»Warum kommt da nicht so etwas wie: ›Ich mache mir Sorgen um dich, also bleibe ich hier!‹ ›Geh!‹ ›Nein! Ich gehe nicht! Wenn, dann hauen wir zusammen ab!‹ So was wäre doch viel angebrachter.«

Wei Wuxian war perplex. »Wo hast du denn das her? Wie kommst du nur darauf, dass so ein Dialog zwischen uns stattfinden sollte? Dass man mir so etwas zutraut, kann ich ja noch verstehen, aber glaubst du ernsthaft, euer Hanguang-Jun würde so etwas sagen?«

Die jungen Kultivierer des Lan-Clans verneinten dies sofort vehement: »Nein!«

»Na also. Zeitverschwendung. Jemand so Verlässliches wie euer Hanguang-Jun wird mit Sicherheit allein klarkommen, davon bin ich überzeugt. Also kümmere ich mich um meine Angelegenheiten. Es reicht, wenn er nachher zu uns stößt oder ich zu ihm gehe.«

Sie folgten dem Klopfen des Bambusstocks, bogen dabei mehrere Male ab und waren noch keine Viertelstunde unterwegs, da erstarb das Geräusch vor ihnen ganz plötzlich.

Wei Wuxian streckte den Arm zur Seite aus, stoppte so die jungen Kultivierer hinter sich und ging allein einige Schritte weiter.

Im immer dichter werdenden Dämonennebel erschien vor ihm ein einzelnes Haus.

Ein Quietschen erklang.

Jemand öffnete die Tür des Hauses und wartete still darauf, dass die Gruppe eintrat.

Wei Wuxian spürte, dass sich irgendein Wesen im Inneren befinden musste. Kein bösartiges, das Menschen tötete oder ihnen Schaden zufügte, sondern eins, das ihnen etwas mitteilen und ihre Zweifel und Fragen ausräumen konnte. Also sagte er: »Lasst uns reingehen, jetzt, wo wir eh schon hier sind.«

Er hob bewusst seinen Fuß und betrat das Haus. Während er sich an die Dunkelheit gewöhnte, warnte er die anderen, ohne sich umzudrehen: »Achtet auf die Türschwelle, nicht, dass ihr stolpert!«

Einer der Jungen wäre tatsächlich beinahe über die hohe Türschwelle gestolpert und fragte entnervt: »Wieso ist die so hoch? Das hier ist doch kein Tempel.«

»Es ist zwar kein Tempel, aber ein Ort, an dem ebenfalls eine sehr hohe Türschwelle benötigt wird«, antwortete Wei Wuxian.

Sie zündeten einige Feuertalismane an und das gelb-orange flackernde Licht erhellte den Raum.

Der Boden war mit Stroh ausgekleidet, ganz vorn befand sich ein Altartisch, unter dem einige kleine Hocker unterschiedlicher Größen standen. Auf der rechten Seite befand sich ein kleiner, dunkler Raum. Darüber hinaus gab es noch sieben oder acht pechschwarze Holzsärge.

»Ist das hier eine Sarghalle? Werden hier Tote aufbewahrt?«, fragte Jin Ling.

»Genau. Leichen von Menschen, die niemand kennt, die Unglück bringen, wenn man sie zu Hause aufbewahrt 4, oder die bald begraben werden sollen, werden meist in Sarghallen untergebracht. Es ist also quasi eine Zwischenstation für Tote.«

Das kleine Zimmer rechts diente wahrscheinlich als Ruheraum für die Wache.

»Mo Qianbei, wieso sind die Türschwellen von Sarghallen so hoch?«, fragte Lan Sizhui.

»Sie halten sich transformierende Leichen auf«, antwortete Wei Wuxian.

Lan Jingyi war überrascht. »Man kann die Transformation in einen Untoten mit einer hohen Türschwelle verhindern?«

»Das nicht, aber manchmal kann man damit niedere sich transformierende Leichen daran hindern auszubrechen.« Wei Wuxian drehte sich um und stellte sich vor die Türschwelle. »Nehmen wir mal an, ich wäre tot und würde mich gerade verwandeln.«

Die Menge nickte, also fuhr er fort: »Wenn der Beginn der Transformation noch nicht lange her ist, sind meine Glieder doch steif, oder? Und ich könnte viele Bewegungen nicht richtig ausführen, richtig?«

»Ist das nicht klar?«, sagte Jin Ling. »Du könntest kaum noch gehen und deine Beine nicht mehr wirklich bewegen, dir bliebe nichts anderes übrig, als zu hüpfen …« Als er das sagte, ging ihm ein Licht auf.

»Richtig. Ich könnte nur springen«, sagte Wei Wuxian, schloss die Beine und wollte nach draußen springen. Da die Türschwelle jedoch zu hoch war, kam er kein einziges Mal raus und seine Zehen prallten immer wieder gegen die Türschwelle.

Die jungen Kultivierungsschüler fanden die Szene urkomisch. Und bei der Vorstellung, wie eine soeben transformierte Leiche sich, wie von Wei Wuxian vorgeführt, vergeblich bemühte, nach draußen zu springen, und dabei jedes Mal von der Türschwelle gestoppt wurde, mussten sie automatisch lachen.

»Ihr habt es verstanden, oder? Hört auf zu lachen, das sind nun mal Volksgebräuche. Sie sind zwar hinterwäldlerisch und wirken simpel, wenn es aber darum geht, niedere sich transformierende Leichen aufzuhalten, erzielen sie tatsächlich eine Wirkung. Die Glieder einer sich transformierenden Leiche sind so steif, dass sie sich so schnell nicht wieder aufrichten kann, wenn sie von der Türschwelle aufgehalten wurde. Bis ihr das gelänge, wäre es bereits hell und der Hahn würde krähen oder die Wache würde sie entdecken. Dass das gewöhnliche Volk, das nichts mit Kultivierung am Hut hat, so eine Methode ersinnt, ist doch schon sehr beachtlich«, schalt sie Wei Wuxian.

Jin Ling hatte ebenfalls gelacht, beherrschte sich jedoch augenblicklich wieder und sagte: »Wieso hat die Geisterseele uns zu dieser Sarghalle geführt? Wird man hier etwa nicht von Untoten umzingelt? Und wo ist sie überhaupt hin?«

»Wahrscheinlich wird man hier wirklich nicht von Untoten umzingelt. Wir stehen hier schon so lange, aber hat einer von euch etwas von einem gehört?«, fragte Wei Wuxian.

Plötzlich erschien die Seele des Mädchens auf einem der Särge.

Aufgrund Wei Wuxians vorheriger Unterweisung hatten sie alle das Mädchen bereits genau betrachtet. Sie hatten sogar gesehen, wie ihr das Blut aus den Augen quoll und dass ihr die Zunge herausgerissen worden war, sodass nun bei ihrem erneuten Anblick niemand mehr nervös wurde oder Angst bekam.

Wie Wei Wuxian gesagt hatte, wurde man mutiger, je öfter man erschreckt wurde, und so konnten sie ihr nun ruhig entgegentreten.

Dieses Mädchen hatte keinen festen Körper. Von ihrer Geistergestalt strömte ein schwaches, düsteres Licht aus. Sie war klein und zierlich und hatte zarte Gesichtszüge. Hätte man sie etwas zurechtgemacht, wäre sie das hübsche Mädchen von nebenan gewesen. So breitbeinig, wie sie gerade dasaß, sah sie jedoch keinesfalls elegant aus. Der Bambusstock, der als Blindenstab fungierte, lehnte seitlich am Sarg, während sie ihre beiden zarten Beine hinabbaumeln und wild hin und her schaukeln ließ. Sanft klopfte sie auf den Deckel, sprang anschließend von ihm herunter, drehte einige Runden um den Holzsarg und blieb dann gestikulierend vor ihnen stehen.

Diesmal waren ihre Bewegungen sehr leicht zu verstehen. Sie tat so, als würde sie etwas hochklappen.

»Sie will, dass wir den Sarg für sie öffnen?«, fragte Jin Ling.

»Könnte es sein, das ihr Leichnam dort drin ist und sie möchte, dass wir ihn begraben, damit sie ihren Frieden findet?«, rätselte Lan Sizhui.

Das war die logischste Vermutung. Viele Seelen fanden nur deshalb keinen Frieden, weil ihre Körper nicht anständig begraben wurden.

Wei Wuxian stand auf der einen Seite des Sargs, während die jungen Kultivierer ihm von der anderen aus helfen wollten, ihn zu öffnen. Wei Wuxian lehnte jedoch ab. »Ihr braucht mir nicht zu helfen, tretet alle ein Stück zurück. Vielleicht ist da keine Leiche drin, sondern wieder etwas, das euch mit Untoten-Giftpulver vollspritzt.«

Also öffnete er den Sarg allein.

Der Deckel fiel dumpf zu Boden.

Als Wei Wuxian seinen Kopf senkte, sah er einen Leichnam. Es war jedoch nicht der des Mädchens: In dem Sarg lag der Körper eines jungen Mannes.

Seine Hände waren zu einer friedlichen Geste übereinandergelegt worden, während sie sanft auf einem Fliegenwedel ruhten.

Er trug eine schneeweiße Kultiviererrobe.

Die Konturen seiner unteren Gesichtshälfte waren attraktiv und elegant. Sein Gesicht war kreidebleich und die Farbe seiner Lippen blass. Seine obere Gesichtshälfte war von einer vier Finger breiten Schicht von Bandagen bedeckt. An der Stelle, wo eigentlich die Augäpfel hätten sein sollen, war nicht die typische Erhöhung zu sehen, stattdessen fielen die Bandagen in die Leere hinab: Dort befanden sich keine Augen, sondern lediglich zwei Höhlen.

Als das Mädchen hörte, dass sie den Sarg geöffnet hatten, kam sie suchend näher, streckte die Hand in den Sarg und fühlte eine Weile wild darin herum. Sie ertastete das Gesicht des Toten, stampfte mit den Füßen und zwei blutige Tränenspuren rannen aus ihren blinden Augen.

Es bedurfte keiner Worte oder weiterer Gesten, sie alle hatten verstanden: Dieser Leichnam, der in dieser verlassenen Sarghalle lag, war der echte Xiao Xingchen.

Tränen von Geistern konnten nicht zu Boden fallen. Nachdem das Mädchen eine Weile still und leise geweint hatte, biss sie plötzlich die Zähne zusammen und stand auf. Sie machte hastige und wütende Laute, als hätte sie das dringende Bedürfnis, ihnen ihr Herz auszuschütten. »Sollen wir noch mal eine Seelenbefragung durchführen?«, fragte Lan Sizhui.

»Nein. Es ist gut möglich, dass wir nicht die Fragen stellen würden, die sie gestellt haben möchte. Und außerdem habe ich das Gefühl, dass ihre Antwort sehr kompliziert und schwer verständlich wäre«, erwiderte Wei Wuxian.

Obwohl er nicht direkt »Ich befürchte, dass das zu schwierig für dich ist« sagte, war Lan Sizhui dennoch ein wenig beschämt. Insgeheim fasste er daher einen Entschluss: Wenn ich zurück bin, muss ich die Seelenbefragung mehr üben. Ich muss unbedingt so flüssig spielen und so schnell antworten können wie Hanguang-Jun.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Lan Jingyi.

»Probieren wir es mit ›Empathie‹«, antwortete Wei Wuxian.

Wenn es darum ging, Informationen von grollenden Geistern zu erhalten, hatte jeder große Clan seine eigenen besonderen Methoden. Wei Wuxians größte Stärke war die »Empathie«.

Diese Technik war nicht so anspruchsvoll wie die anderer Clans, jeder konnte sie anwenden. Es ging darum, dass man die grollende Seele darum bat, vom eigenen Körper Besitz zu ergreifen. Der Körper diente somit als Medium, um in die Erinnerungen des Verstorbenen einzutauchen. Auf die Art konnte man hören, was er gehört hatte, sehen, was er gesehen hatte, und fühlen, was er gefühlt hatte.

Da man von den äußerst starken Gefühlsregungen der Seele wie Trauer, Wut, Wahn und anderen Emotionen mitgerissen werden konnte, nannte man diese Technik »Empathie«.

Unter allen Methoden war sie die direkteste, einfachste und kürzeste sowie die effektivste – allerdings auch die gefährlichste. Es gab niemanden, der eine Besitzergreifung durch eine grollende Seele nicht fürchtete und sie nicht tunlichst vermied.

Empathie war ein Spiel mit dem Feuer, bei dem man sich schnell selbst verbrennen konnte. War man nur etwas nachlässig, schnitt man sich ins eigene Fleisch. Sobald die grollende Seele sich nicht an die Abmachung hielt und die Gelegenheit für einen Angriff ausnutzte, war eine andauernde Körperbesitzergreifung noch der glimpflichste Ausgang.

Jin Ling widersprach daher vehement: »Das ist zu gefährlich! So eine dunkle Kunst durchzuführen ohne einen …«

Wei Wuxian unterbrach ihn: »Okay, wir haben keine Zeit mehr. Stellt euch alle ordentlich hin. Beeilung, im Anschluss müssen wir ja noch zurück und nach Hanguang-Jun suchen. Jin Ling, du bist der Überwacher.«

Beim Empathie-Ritual spielte der Überwacher eine unabdingbare Rolle. Um sicherzustellen, dass derjenige, der das Ritual durchführte, sich von den Emotionen des grollenden Geistes lösen konnte, musste er mit dem Überwacher ein geheimes Zeichen vereinbaren. Das bestand am besten aus einem Satz oder einem Geräusch, das dem Beschwörer sehr vertraut war. Der Überwacher musste die Situation die ganze Zeit über im Blick behalten, und sobald er bemerkte, dass sie sich veränderte, musste er sofort handeln und den Beschwörer aus der Besitzergreifung lösen.

Jin Ling zeigte auf sich selbst. »Ich? Du willst, dass meine Wenig... du willst, dass ich dich dabei überwache, wie du so etwas tust?«

»Wenn der junge Herr Jin es nicht macht, kann ich das übernehmen«, bot Lan Sizhui an.

»Jin Ling, hast du ein silbernes Glöckchen dabei?«, fragte Wei Wuxian.

Silberne Glöckchen waren das Erkennungsmerkmal des Jiang-Clans aus Yunmeng.

Jin Ling war von klein auf bei den beiden Clans aufgewachsen und hatte abwechselnd auf dem Goldene Schuppen Plateau 5 des Jin-Clans und am Lotuspier des Jiang-Clans gewohnt, sodass er Gegenstände beider Clans bei sich tragen musste. Und tatsächlich holte er zögerlich ein einfaches, kleines Silberglöckchen hervor, auf dem das Symbol des Jiang-Clans, eine neunblättrige Lotusblüte, eingraviert war.

Wei Wuxian starrte es eine Weile an.

Jin Ling bemerkte, dass sich sein Gesichtsausdruck dabei leicht veränderte. »Was ist?«

»Nichts.« Wei Wuxian nahm das Glöckchen und gab es Lan Sizhui. »Das silberne Glöckchen des Yunmeng-Jiang-Clans wirkt fokussierend und klärend, nimm das als Geheimzeichen.«

Jin Ling streckte die Hand aus und holte sich seinen Besitz zurück. »Ich mach’s selbst!«

Lan Jingyi schnaubte. »Erst willst du nicht, dann willst du doch. Du hast wirklich das Temperament eines jungen Fräuleins.«

Wei Wuxian wandte sich an die Geisterseele: »Du darfst in mich eintauchen.«

Das Mädchen wischte sich über die Augen und das Gesicht, dann bewegte sie sich auf Wei Wuxians Körper zu und ihre Seele drang vollständig in ihn ein.

Langsam glitt Wei Wuxian den Sarg herab.

Eilig sammelten die jungen Kultivierer das am Boden liegende Stroh zu einem Haufen, um ihn aufgerichtet hinzusetzen. Jin Ling klammerte sich fest an das Glöckchen. Es war ungewiss, woran er gerade dachte.

Gerade, als die Geisterseele in seinen Körper eindrang, fiel Wei Wuxian plötzlich ein Problem ein: Dieses junge Fräulein ist blind. Wenn ich Empathie bei ihr durchführe, werde ich dann auch zu einem Blinden und kann nichts mehr sehen? Dann wäre ja alles für die Katz. Was soll’s, wird schon irgendwie ausreichen, wenn ich hören kann.

Nachdem sich eine Weile lang alles um ihn herum gedreht hatte, schien es, als wäre die Seele, die zuvor sanft in der Luft geschwebt hatte, nun auf festem Boden gelandet. Das Mädchen blinzelte, und Wei Wuxian mit ihr. Überraschenderweise war es vor seinen Augen nicht pechschwarz, stattdessen breitete sich eine wunderschöne Landschaft vor ihm aus, klar und farbenfroh.

Er konnte sehen!

Als er darüber nachdachte, kam er zu dem Schluss, dass das Mädchen zu diesem Zeitpunkt ihrer Erinnerung wohl noch nicht erblindet war.

Während des Empathie-Rituals waren es die Erinnerungen, an die die stärksten Emotionen geknüpft waren, und die Szenen, die sie anderen am meisten mitteilen wollte, die vor Wei Wuxians Augen erschienen. Er konnte in Ruhe zuschauen und das fühlen, was sie fühlte.

In diesem Moment teilten die beiden alle Sinne – die Augen des Mädchens waren seine Augen, ebenso wie ihr Mund der seine war.

Das Mädchen saß an einem Flussufer und machte sich am Wasser zurecht. Obwohl ihre Kleider zerschlissen waren, musste eine gewisse Grundhygiene beibehalten werden. Auf Zehenspitzen schlug sie einen Takt, während sie ein Liedchen summte und gleichzeitig ihre Haare zurechtmachte. Sie schien unzufrieden, ganz gleich, wie sehr sie auch in ihren Haaren herumnestelte, und Wei Wuxian spürte, wie sie mit einer dünnen Holzhaarnadel in den Haaren herumstocherte. Dann senkte sie plötzlich den Kopf und betrachtete ihr eigenes Spiegelbild. Wei Wuxians Blick ging mit dem des Mädchens nach unten und das Flusswasser reflektierte eine junge Dame mit ovalem Gesicht und spitzem Kinn.

Ihre Augen waren pupillenlos und gänzlich weiß.

Sie sieht eindeutig aus wie eine Blinde, aber ich kann doch gerade sehen?!, dachte Wei Wuxian.

Sie war mit ihren Haaren fertig, klopfte sich den Staub vom Hintern ab und sprang auf. Dann nahm sie den Bambusstock zu ihren Füßen und ging hüpfend den Fluss entlang. Beim Gehen schleuderte sie den Stock umher und hörte nicht auf, nach den Ästen und Blättern über sich zu schlagen, nach den Steinen zu ihren Füßen zu treten und die Grashüpfer in den Büschen aufzuschrecken.

Als ihr von Weitem Menschen entgegenkamen, hörte sie augenblicklich auf herumzuspringen. Sie nahm den Bambusstock ordentlich an sich und klopfte damit auf den Boden. Im Schneckentempo schritt sie vorwärts und wirkte dabei sehr vorsichtig.

Es waren einige Dorffrauen, die auf sie zukamen. Als sie sie sahen, traten sie zur Seite, um ihr Platz zu machen, dann tuschelten sie miteinander.

Eilig nickte das Mädchen. »Danke, danke.«

Eine Frau schien Mitleid mit ihr zu haben. Sie nahm das weiße Tuch ab, das ihren Korb bedeckte, holte einen dampfend heißen Hefekloß hervor und überreichte ihn der jungen Frau mit den Worten: »Kleine, sei vorsichtig! Hast du Hunger? Iss den hier.«

»Ah«, machte das Mädchen und bedankte sich: »Das kann ich doch nicht annehmen, ich, ich …« Die Frau legte den Hefekloß in ihre Hand und sagte: »Nimm ihn!«

Als das Mädchen den Hefekloß in der Hand hielt, entgegnete sie: »A-Qing dankt dir, Schwester!«

Das Mädchen hieß also A-Qing.

Nachdem A-Qing sich von den Dorffrauen verabschiedet hatte, aß sie den Hefekloß mit wenigen Bissen auf und fing wieder an, meterhoch herumzuspringen.

Wei Wuxian sprang zwangsläufig in ihrem Körper mit, bis ihm schwindelig wurde.

Diese junge Dame besitzt wirklich ein wildes Temperament. Ich verstehe: Sie tut nur so, als wäre sie blind. Diese weißen Pupillen sind wahrscheinlich angeboren. Obwohl sie nach außen hin wie eine Blinde wirkt, kann sie in Wirklichkeit sehen und nutzt das aus, um sich das Mitleid der Menschen zu erschleichen und sie auszunutzen.

Bei einem jungen Mädchen, dass allein herumstreunte und von dem man dachte, dass es nichts sehen würde, ließ man automatisch seine Deckung fallen. In Wahrheit jedoch sah sie klar und deutlich und konnte sich dadurch blitzschnell an die Umstände anpassen, was durchaus eine kluge Methode zum Selbstschutz war.

A-Qings Geisterseele war allerdings wirklich blind, was bedeutete, dass sie zu Lebzeiten erblindet sein musste.

Wie um alles in der Welt wurde aus einer gespielten Blindheit eine echte? Hatte sie etwa etwas gesehen, das sie nicht hätte sehen sollen?

Und so sprang A-Qing überall herum, wo keine Menschen waren, während sie sich an belebten Orten als verängstigte Blinde ausgab. Immer wieder gehend und stoppend kam sie schließlich bei einem Markt an.

An Orten mit vielen Menschen zeigte sie natürlich ihr ganzes Können, klopfte mit dem Bambusstock auf den Boden und spielte ihre Rolle mit Bravour. Langsam bewegte sie sich durch die Menschenmenge und prallte plötzlich mit einem Mann mittleren Alters in einem teuren Gewand zusammen. Sie tat erschrocken und sagte wiederholt: »Entschuldigung! Entschuldigung! Ich kann nicht sehen, Entschuldigung!«

Von wegen sie kann nichts sehen, sie war schnurstracks in den Mann reingerannt!

Wütend drehte sich der Mann um und schien gerade seinem Unmut Luft machen zu wollen. Als er jedoch entdeckte, dass es sich bei ihr um eine Blinde und dazu noch um eine etwas hübschere junge Dame handelte, befürchtete er, von den Leuten angeprangert zu werden, wenn er sie auf offener Straße ohrfeigen würde. Also konnte er nur leicht mit ihr schimpfen. »Pass auf, wo du hinläufst!«

A-Qing entschuldigte sich abermals.

Der Mann wollte gerade weitergehen, konnte es dann allerdings doch nicht dabei bewenden lassen und kniff A-Qing kräftig mit der rechten Hand in den Hintern.

Da Wei Wuxian dasselbe wie A-Qing fühlte, war es für ihn, als hätte der Mann in seinen Hintern gekniffen. Augenblicklich überkam ihn eine Gänsehaut. Er wollte diesem Wüstling so heftig eine scheuern, dass dieser den Boden küsste.

A-Qing schrumpfte in sich zusammen und bewegte sich nicht. Sie schien sehr verängstigt. Als der Mann weg war, begab sie sich klopfend in eine versteckte Seitengasse. Außer Sichtweite schnaubte sie und zog dann einen Geldbeutel aus der Brusttasche. Sie leerte den Inhalt aus, um ihn zu zählen. Dabei schnaubte sie noch einmal. »So ein Drecksack! Sieht so tugendhaft und vornehm aus, hat aber kaum Geld bei sich. Wie sehr ich auch schüttle, es kommen kaum Münzen raus.«

Wei Wuxian wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. A-Qing war gerade mal ein Teenager und schätzungsweise noch keine fünfzehn Jahre alt, jedoch schon sehr routiniert darin, Leute zu verfluchen – und noch geübter, wenn es darum ging, ihnen ihr Geld abzuknöpfen.

Hättest du mich damals bestohlen, hättest du sicher nicht so geflucht. Ich war ziemlich wohlhabend.

Er sinnierte noch darüber, wann er so arm wie eine Kirchenmaus geworden war, als A-Qing bereits ihr nächstes Ziel anvisiert hatte. Sie schlüpfte in ihre Rolle als Blinde, trat aus der Gasse und ging eine Weile weiter. Erneut setzte sie ihre vorherige Taktik ein, rempelte einen Mann in einer weißen Kultiviererrobe an und tat so, als würde es ihr leidtun. »Entschuldigung! Entschuldigung. Ich kann nicht sehen, Entschuldigung!«

Wei Wuxian schüttelte innerlich den Kopf. Meine Liebe, du änderst ja nicht einmal deine Worte!

Der Kultivierer wankte von dem Zusammenstoß, drehte sich dann um und half ihr erst mal dabei, wieder festen Halt zu finden. »Mir ist nichts passiert. Du kannst nichts sehen, junge Dame?«, erkundigte er sich bei ihr.

Dieser Mann war äußerst jung, seine Robe war schlicht und sauber. Auf dem Rücken trug er ein Langschwert, das in ein weißes Tuch gewickelt war. Seine untere Gesichtshälfte war sehr attraktiv, auch wenn er etwas abgemagert wirkte. Die obere Gesichtshälfte war mit Bandagen umwickelt, die vier Finger breit waren und unter denen ein leichtes Blutrot hervorschimmerte.

A-Qing schien einen Moment wie vom Donner gerührt. Dann sagte sie: »So … So ist es!«

»Dann mach etwas langsamer, lauf nicht so schnell. Wenn du noch mal mit jemandem zusammenstößt, wäre das nicht gut«, riet ihr Xiao Xingchen.

Ohne auch nur mit einem weiteren Wort zu erwähnen, dass er selbst nichts sehen konnte, nahm er A-Qings Hand und führte sie an den Straßenrand. »Geh hier entlang. Hier sind weniger Menschen.«

Seine Worte und Handlungen waren sanft und vorsichtig. A-Qing zögerte kurz, als sie ihre Hand ausstreckte. Ehe sie es sich jedoch anders überlegen konnte, schnappte sie sich geschwind den Geldbeutel, der an seiner Hüfte hing, und sagte: »A-Qing dankt dir, Bruder!«

»Nicht Bruder, sondern Daozhang 6«, erwiderte Xiao Xingchen. 

A-Qing blinzelte. »Ein Daozhang kann doch auch ein Bruder sein.«

Xiao Xingchen lächelte sie an. »Wenn du mich schon Bruder nennst, dann gib mir wenigstens meinen Geldbeutel zurück.«

Selbst wenn ein Taschendieb zehnmal so flink wie sie wäre, könnte er die Sinne eines Kultivierers nicht täuschen. Als sie erkannte, dass es brenzlig für sie wurde, nahm sie den Stock und die Beine in die Hand und raste los – kam jedoch nicht weit, da Xiao Xingchen sie mit einer Hand hinten am Kragen packte und festhielt. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht so schnell rennen. Was, wenn du noch mal mit jemandem zusammenstößt?«

A-Qing wand sich und versuchte zu entkommen. Ihr Mund regte sich und ihre oberen Zähne bissen sich an ihrer Unterlippe fest.

Oh nein, sie will »Perverser« schreien!, dachte Wei Wuxian.

Genau in dem Moment bog ein Mann mittleren Alters in ihre Seitengasse ein. Bei A-Qings Anblick blitzten seine Augen auf und er raste fluchend auf sie zu. »Hab ich dich erwischt, du kleine Diebin, gib mir mein Geld zurück!«

Durch Schimpfen allein konnte er seiner Wut nicht genug Luft machen, also holte er mit einer Hand aus.

Erschrocken zog A-Qing eilig ihren Kopf ein und kniff die Augen zusammen. Bevor die Ohrfeige jedoch auf ihrer Wange landen konnte, wurde der Schlag unerwartet auf halbem Weg von jemandem aufgehalten.

»Bitte beruhigt Euch. So sollte man nicht mit einem jungen Mädchen umgehen«, meinte Xiao Xingchen.

A-Qing öffnete die Augen und linste verstohlen auf das Geschehen.

Offensichtlich hatte der Mann viel Kraft aufgewendet, seine Hand wurde jedoch mit augenscheinlicher Leichtigkeit von Xiao Xingchen zurückgehalten, sodass er sie nun keinen Millimeter weiter bewegen konnte. Er war zwar eingeschüchtert, gab aber dennoch nicht nach. »Was spielst du den Helden, du dahergelaufener Blinder?! Ist dieses kleine Miststück etwa deine Geliebte? Du weißt doch hoffentlich, dass sie eine Diebin ist?! Sie hat meinen Geldbeutel gestohlen. Wenn du sie deckst, bist du ebenfalls ein Dieb!«

Xiao Xingchen ergriff ihn mit einer Hand, während er mit der anderen A-Qing packte und sich zu ihr umdrehte. »Gib ihm sein Geld zurück!«

Eilig fischte A-Qing den kleinen Geldbeutel aus ihrer Brusttasche und überreichte ihn ihm. Xiao Xingchen ließ daraufhin den Mann los, der mit gesenktem Kopf den Inhalt zählte. Keine Münze fehlte.

Kurz starrte er den Blinden an, wusste jedoch instinktiv, dass er sich nicht mit ihm anlegen sollte, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als peinlich berührt von dannen zu ziehen.

»Du bist wirklich mutig. Du traust dich zu stehlen, obwohl du blind bist«, sagte Xiao Xingchen.

Empört sprang A-Qing hoch. »Er hat mich begrapscht! Er hat mir in den Hintern gekniffen, das hat ganz schön wehgetan! Was ist also dabei, wenn ich ihm dafür etwas Geld abnehme? In dem großen Beutel war kaum was drin, und da traut er sich noch, jemandem eine wütende Ohrfeige verpassen zu wollen?! Dieser abgebrannte Mistkerl!«

Ganz offensichtlich hast du ihn zuerst angerempelt und wolltest zur Tat schreiten. Und jetzt ist auf einmal er derjenige, der sich zuerst schuldig gemacht hat. Da verdreht jemand ganz schön die Tatsachen, dachte Wei Wuxian.

Xiao Xingchen schüttelte den Kopf. »Wenn das so ist, solltest du dich erst recht nicht mit ihm anlegen. Wenn ich heute nicht hier gewesen wäre, wäre die Sache wahrscheinlich nicht mit einer Ohrfeige vom Tisch gewesen. Pass auf dich auf, junge Dame!« Er drehte sich um und ging in die andere Richtung.

Seinen eigenen Geldbeutel hat er nicht zurückgefordert. Dieser Daozhang scheint ein echter Frauenfreund zu sein.

Mit dem kleinen Geldbeutel, den sie gestohlen hatte, stand A-Qing eine Weile wie vom Donner gerührt da. Dann steckte sie ihn ein und rannte dem Mann mit dem Bambusstock auf den Boden klopfend hinterher. Als sie ihn eingeholt hatte, knallte sie mit dem Kopf gegen seinen Rücken.

Wieder konnte dieser nicht anders, als ihr dabei zu helfen, festen Stand zu finden. »Was gibt’s denn noch?«

»Ich habe immer noch deinen Geldbeutel!«, entgegnete A-Qing.

»Schenk ich dir. Es ist nicht viel drin. Stiehl nichts mehr von anderen, bevor du nicht alles ausgegeben hast.«

»Ich habe es gerade erst verstanden, als dieser elende Mistkerl herumgeflucht hat. Du bist also auch blind?«

Als er den zweiten Satz hörte, verfinsterte sich Xiao Xingchens Gesichtsausdruck augenblicklich, ebenso wie auch sein Lächeln verschwand.

Die unschuldigen, wagemutigen Worte von Kindern waren die schlimmsten. In ihrem Unwissen verletzten sie einen daher häufig am direktesten.

Das blutige Rot unter den Bandagen um Xiao Xingchens Augen wurde immer sichtbarer und schien fast durch den Stoff zu dringen. Während er die Hand hob, um seine Augenpartie zu verdecken, zitterten seine Arme leicht. Die Schmerzen und Wunden, die beim Aushöhlen von Augen entstanden, heilten nicht so einfach.

A-Qing nahm an, er hätte nur Kopfschmerzen, und sagte fröhlich: »Dann komm ich mit dir mit!«

Xiao Xingchen zwang sich zu einem Lächeln. »Wozu willst du mit mir mitgehen? Möchtest du eine Kultiviererin werden?«

»Du bist ein großer Blinder, und ich bin eine kleine Blinde. Wenn wir zusammen reisen, können wir uns umeinander kümmern. Ich habe keinen Vater und keine Mutter und keinen Ort, an den ich heimkehren könnte. Ist es da nicht egal, mit wem ich gehe und wohin ich gehe?«

Sie war klug und befürchtete, dass Xiao Xingchen sich nicht darauf einlassen würde, hatte aber auch durchschaut, dass er ein guter Mensch war, und versuchte es daher mit einer Drohung. »Ich bin sehr schnell, wenn es darum geht, Geld auszugeben. Wenn du mich nicht mitnimmst, ist es im Nu weg und ich muss bald wieder Menschen bestehlen und belügen. Dann wird mich jemand so heftig verprügeln, dass ich nicht mehr weiß, wo vorn und hinten ist. Ich bin doch wirklich zu bemitleiden.«

Xiao Xingchen lachte. »So gerissen wie du bist, belügst du die Leute wohl eher so lange, bis die nicht mehr wissen, wo vorn und hinten ist. Wer könnte dich schon derart verprügeln?«

Nachdem er eine Weile zugeschaut hatte, machte Wei Wuxian eine wundersame Entdeckung: Der von Xue Yang gespielte Xiao Xingchen war dem echten wirklich täuschend ähnlich gewesen! Vom Aussehen einmal abgesehen, hatte alles bis ins kleinste Detail gestimmt. Er hätte es sogar geglaubt, wenn jemand ihm gesagt hätte, dass Xiao Xingchen zu jenem Zeitpunkt von Xue Yangs Körper Besitz ergriffen hatte.

A-Qing winselte und bettelte, dann spielte sie die arme Blinde und klebte den ganzen Weg über an ihm. Xiao Xingchen sagte ihr mehrmals, dass es sehr gefährlich wäre, mit ihm mitzugehen, doch A-Qing wollte einfach nicht auf ihn hören. Es verschreckte sie nicht einmal, als Xiao Xingchen an einem Dorf vorbeikam und einen alten Ochsen austrieb, der sich über die Jahre in einen Geist verwandelt hatte. 7 Sie rief immer noch die ganze Zeit über »Daozhang« und verfolgte ihn wie die Pest, ohne sich je mehr als drei Meter von ihm zu entfernen.

Während sie ihm so hinterherlief, fand Xiao Xingchen anscheinend Gefallen an ihrer Klugheit und ihrem Mut, zudem kam sie ihm nicht in die Quere. Da sie außerdem ein blindes, junges Mädchen war, das niemanden hatte, duldete er sie schließlich stillschweigend an seiner Seite.

Eigentlich dachte Wei Wuxian, dass Xiao Xingchen ein Ziel haben müsste. Bei den Erinnerungen jedoch, die nun an ihm vorbeizogen, schloss er aus den Dialekten der Menschen sowie den Orten, die sie besuchten, dass er keine klare Route verfolgte. Er schien keinen bestimmten Ort anzuvisieren – viel eher wirkte es so, als würde er dort auf Nachtjagd gehen, wo der Weg sie beide hinführte, und dass sie dorthin gingen, wo Gerüchte über Geistererscheinungen und seltsame Ereignisse kursierten.

Vielleicht hatte ihm der Fall des Chang-Clans aus Yueyang so sehr zugesetzt, dass er sich nicht mehr in die Angelegenheiten der Kultivierungsclans hatte einmischen wollen. Wobei er andererseits aber auch nicht seine Ambitionen aufgeben konnte und sich daher wohl dazu entschieden hatte, durch das Land zu ziehen und auf Nachtjagden zu gehen. Immerhin ist jedes Problem, das man lösen kann, ein Problem weniger auf der Welt.

In diesem Moment spazierten Xiao Xingchen und A-Qing gerade auf einem langen, ebenen Weg, auf dessen beiden Seiten sich dichtes Gestrüpp befand, das bis zu den Hüften reichte. Plötzlich schrie A-Qing auf.

Sofort fragte Xiao Xingchen: »Was ist passiert?«

»Ach, nichts, ich habe mir nur gerade den Fuß verknackst«, antwortete A-Qing.

Wei Wuxian war im Bilde: Sie hatte nicht aufgeschrien, weil sie sich den Fuß verletzt hatte. Sie lief ganz normal, und hätte sie nicht vor Xiao Xingchen die Blinde gespielt, damit er sie nicht fortjagte, hätte sie mit einem Satz hoch in die Lüfte springen können.

A-Qing hatte geschrien, weil im Gestrüpp eine schwarz gekleidete Menschengestalt lag. Sie wusste zwar nicht, ob der Mensch tot oder am Leben war, ging aber eh davon aus, dass es keine Rolle spielte, da wahrscheinlich beides problematisch wäre. Offensichtlich wollte A-Qing nicht, dass Xiao Xingchen die Gestalt entdeckte, also drängte sie: »Los, lass uns gehen und bei irgendeiner Stadt da vorne Pause machen, ich bin todmüde!«

»Du bist am Fuß verletzt, soll ich dich huckepack nehmen?«, bot Xiao Xingchen ihr an.

A-Qing war höchsterfreut und klopfte mit dem Bambusstock auf den Boden. »Ja, ja, ja!«

Xiao Xingchen lachte, drehte sich mit dem Rücken zu ihr und kniete mit einem Bein nieder. Gerade als A-Qing sich auf ihn stürzen wollte, drückte Xiao Xingchen sie runter, stand auf und sagte konzentriert: »Ich rieche Blut.«

Auch A-Qing konnte einen ganz schwachen Hauch von Blut wahrnehmen. Der Nachtwind wehte jedoch, sodass er in einem Moment in der Luft lag und im anderen schon nicht mehr. Sie stellte sich unwissend. »Echt? Wieso rieche ich dann nichts? Wahrscheinlich schlachtet hier in der Nähe gerade irgendeine Familie Schweine oder Hühner.«

Noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte, schienen die Götter sich gegen sie wenden zu wollen: Die Person im Gebüsch hustete.

Obwohl das Geräusch kaum vernehmbar war, entging es Xiao Xingchens Ohren nicht. Sofort machte er die Richtung aus, trat ins Gebüsch und kniete sich neben die Person.

Da er ihn nun doch entdeckt hatte, stampfte A-Qing mit den Füßen. Sie tat so, als würde sie den Weg zu ihnen suchen und fragte: »Was ist los?«

Xiao Xingchen fühlte den Puls der Person. »Hier liegt jemand.«

»Kein Wunder, dass es hier nach Blut riecht. Ist er tot? Sollen wir ihm ein Loch schaufeln und ihn begraben?«

Natürlich war die Handhabe mit einem Toten weniger kompliziert als mit einem Lebenden, sodass A-Qing es nicht abwarten konnte, diese Person tot zu sehen.

»Er ist noch nicht tot. Er ist nur schwer verletzt«, erwiderte Xiao Xingchen.

Er überlegte kurz, dann nahm er die Person auf dem Boden behutsam auf den Rücken.

Der Platz, der eigentlich ihr zugestanden hatte, wurde nun von diesem Störenfried besetzt, dessen ganzer Körper blutverschmiert war. A-Qing war klar, dass Xiao Xingchen sie jetzt nicht mehr in die Stadt tragen würde, also schmollte sie und rammte mit dem Bambusstock einige tiefe Löcher in den Boden. Doch sie wusste, dass Xiao Xingchen Menschen in Not einfach helfen musste, also konnte sie sich nicht beschweren. 

Sie traten beide zurück auf den Weg und schritten weiter den Pfad entlang. Je weiter sie gingen, desto bekannter kam Wei Wuxian die Gegend vor und er erinnerte sich plötzlich.

Ist das nicht der Weg, auf dem Lan Zhan und ich in die Stadt Yi gekommen sind?

Und tatsächlich, am Ende des Pfads ragte die Stadt Yi auf.

Zu jenem Zeitpunkt waren die Stadttore noch nicht so heruntergekommen gewesen, der Stadtturm war noch ganz und die Mauern noch nicht beschmiert.

Als sie die Tore hinter sich gelassen hatten, nahm der Nebel zwar etwas zu, im Vergleich zu dem aktuell vorherrschenden, dichten Dämonennebel war er aber kaum der Rede wert. Auf beiden Seiten schien aus den Fenstern der Häuser Kerzenlicht und es waren Menschenstimmen zu hören. Obwohl es ein recht abgelegener Ort war, wohnten hier dennoch ein paar Menschen.

Xiao Xingchen trug einen blutüberströmten Verwundeten auf seinem Rücken und war sich darüber im Klaren, dass kein Laden so einen Gast aufnehmen würde. Er suchte daher gar nicht erst nach einer Herberge, sondern erkundigte sich bei der ihnen entgegenkommenden Nachtwache, ob es in der Stadt eine leerstehende Sarghalle gäbe.

»Dort drüben gibt es eine. Der alte Wächter der Halle ist gerade letzten Monat verstorben, sodass sich nun niemand mehr um sie kümmert«, berichtete der Mann. Und da Xiao Xingchen blind war und Schwierigkeiten damit hatte, Wege zu finden, brachte er ihn auch gleich dorthin.

Es war jene Sarghalle, in der Xiao Xingchens Leichnam nun nach seinem Tod aufbewahrt wurde.

Nachdem er sich bei der Nachtwache bedankt hatte, trug Xiao Xingchen den Verletzten in den Ruheraum auf der rechten Seite. Das Zimmer war weder klein noch groß. An der Wand stand ein schmales, niedriges Bett. Zudem befanden sich in dem Raum alle möglichen Küchenutensilien und was man sonst so benötigte.

Vorsichtig legte Xiao Xingchen den Mann ab, holte Pillen aus seinem Kosmos-Beutel und steckte sie in dessen fest zusammengepressten Mund.

A-Qing tastete sich erst eine Weile durch das Zimmer, bis sie schließlich freudig jubelte: »Hier sind so viele Sachen! Hier ist ein Topf!«

»Gibt es hier einen Herd?«, erkundigte sich Xiao Xingchen.

»Ja!«

»A-Qing, versuch doch bitte, etwas Wasser aufzukochen. Aber pass auf, dass du dich nicht verbrennst!«

A-Qing schmollte und machte sich an die Arbeit. Xiao Xingchen befühlte die Stirn des Mannes und gab ihm eine weitere Pille zu schlucken.

Wei Wuxian wollte sich das Gesicht dieses Mannes unbedingt genauer anschauen, doch A-Qing hatte sichtlich wenig Interesse an ihm und war so genervt, dass sie ihn keines Blickes würdigte. Nachdem sie Wasser abgekocht hatte, wischte Xiao Xingchen dem Mann damit langsam das Blut aus seinem Gesicht. Nun doch neugierig linste A-Qing von der Seite rüber und unwillkürlich entfuhr ihr ein tonloses »Huch?«. Sie war so verwundert, weil dieser Mann, nachdem er nun sauber war, unerwartet gut aussah.

Als Wei Wuxian das Gesicht betrachtete, blieb ihm fast das Herz stehen.

Ganz wie erwartet war es Xue Yang.

Feinde sind wohl dazu bestimmt, einander immer wieder zu begegnen. Xiao Xingchen, du … hast wirklich ein Riesenpech.

Dieser Xue Yang sah ganz und gar wie ein Jugendlicher aus und wirkte äußerst charismatisch, aber auch etwas kindlich. Wer hätte ahnen können, dass dieser junge Mann, der beim Lachen seine beiden Eckzähne entblößte, ein tollwütiger Wahnsinniger war, der ganze Clans massakrierte?!

Wei Wuxian rechnete. Dies hier müsste sich zu jener Zeit abgespielt haben, als Jin Guangyao zum Oberhaupt der Kultivierungswelt aufgestiegen war. Dass Xue Yang in diesem Moment so in Mitleidenschaft gezogen aussah, lag mit Sicherheit daran, dass er gerade Jin Guangyaos »Beseitigung« entkommen und dem Tod von der Schippe gesprungen war. Natürlich wäre es Jin Guangyao peinlich gewesen, publik zu machen, dass er ihn nicht getötet hatte. Oder er war davon ausgegangen, dass Xue Yang sowieso nicht überleben würde, sodass er nach außen hin verkündet hatte, dass Xue Yang bereits beseitigt worden war.

Die Bösen überlebten jedoch stets die Helden, sodass Xue Yang, als sein Leben am seidenen Faden hing, von seinem einstigen Gegner Xiao Xingchen gerettet worden war.

Der arme Xiao Xingchen war nicht einmal auf die Idee gekommen, das Gesicht dieses Mannes genauer zu ertasten und rettete durch eine Verkettung von Zufällen seinem Erzfeind, der seinen Zustand überhaupt erst verschuldet hatte, das Leben.

Obwohl A-Qing sehen konnte, hatte sie nichts mit der Kultivierungswelt am Hut und kannte Xue Yang daher nicht – und noch viel weniger wusste sie von ihrer Fehde. Sie kannte nicht einmal Xiao Xingchens Namen …

Wei Wuxian seufzte innerlich. Mehr Pech hätte er nicht haben können. Es schien, als würde das Unglück der gesamten Welt Xiao Xingchen verfolgen.

In dem Moment runzelte Xue Yang die Stirn.

Xiao Xingchen war gerade dabei, ihn zu untersuchen und seine Wunden zu verbinden, als er spürte, dass Xue Yang wieder zu sich kam. »Nicht bewegen«, sagte er.

Jemand wie Xue Yang, der so viele schlimme Dinge getan hatte, besaß von Natur aus eine außergewöhnlich hoch ausgeprägte Alarmbereitschaft. Sobald er Xiao Xingchens Stimme hörte, öffnete er ruckartig die Augen und setzte sich sofort auf. Er verzog sich rasch in eine Ecke, ging in Deckung und starrte Xiao Xingchen feindselig an. Sein Blick glich dem einer Bestie, die man in die Enge getrieben hatte, und die nichts von ihrer Grausamkeit und Boshaftigkeit verbarg.

Bei diesem Anblick standen A-Qing die Haare zu Berge. Dies spürte auch Wei Wuxian, und er schrie innerlich: »Sag was! Xue Yangs Stimme hat Xiao Xingchen ganz sicher nicht vergessen!«

»Du …«, sagte Xue Yang.

Als er den Mund aufmachte, wusste Wei Wuxian, dass es hoffnungslos war, und Xiao Xingchen ihn nicht erkennen würde.

Xue Yangs Kehle war ebenfalls verletzt worden und er muss eine große Menge Blut gehustet haben. Seine Stimme war nun so rau, dass man sie überhaupt nicht wiedererkannte!

Auf der Bettkante sitzend wiederholte Xiao Xingchen: »Ich habe doch gesagt, du sollst dich nicht bewegen, deine Wunde geht sonst gleich wieder auf. Sei unbesorgt, ich habe dich gerettet, von daher werde ich dir jetzt ja wohl auch nicht schaden.«