The Grandmaster of Demonic Cultivation – Light Novel 01 - Mo Xiang Tong Xiu - E-Book

The Grandmaster of Demonic Cultivation – Light Novel 01 E-Book

Mo Xiang Tong Xiu

5,0

Beschreibung

"Wei Wuxian, einer der mächtigsten Männer seiner Generation, wird aufgrund seiner dämonischen Fähigkeiten gefürchtet und für den Verrat an seinem eigenen Clan gehasst. Daher hallen nach der Verkündung seines Todes Jubelschreie durch das ganze Land. Jahre vergehen bis Wei Wuxian durch ein Opferritual zurück in die Welt der Lebenden – in den Körper eines Fremden – beschworen wird! Er versucht, seine wahre Identität geheim zu halten, trifft jedoch auf einen alten Bekannten: den attraktiven und rechtschaffenen Lan Wangji. Dieser ist mittlerweile immun gegen Wei Wuxians Neckereien, was diesen natürlich nicht von den Versuchen abhält, die ruhige Haltung Lan Wangjis ins Wanken zu bringen. Als die beiden erneut in dunkle Machenschaften hineingezogen werden, müssen sie sich nicht nur ihren Gefühlen füreinander, sondern auch bösartigen Geistern und feindseligen Clan-Mitgliedern stellen, um die in dichten Nebel gehüllten Wahrheiten ans Licht zu bringen! Die berühmte chinesische Boys-Love-Light-Novel – Vorlage für den Manhua, den Donghua und die Live-Action-Serie!"

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»Freudige Neuigkeiten – Wei Wuxian ist tot!«

Noch am selben Tag, an dem die Belagerung der Grabhügel ihr Ende gefunden hatte, verbreitete sich diese Nachricht schneller als ein Lauffeuer in der gesamten Kultivierungswelt.

Plötzlich redete jeder, angesehene Familienclans wie auch wandernde Kultivierer, über die Schlacht, die von den vier großen Clans angeführt worden war und bei der Hunderte weitere mitgekämft hatten.

»Großartig, das ist wahrlich ein Grund zur Freude! Welcher Held hat den Yiling-Patriarchen zur Strecke gebracht?«

»Na wer wohl?! Sein Shidi 1 Jiang Cheng, das junge Oberhaupt des Jiang-Clans. Angeführt von den vier großen Clans, dem Jiang-Clan aus Yunmeng, dem Jin-Clan aus Lanling, dem Lan-Clan aus Gusu und dem Nie-Clan aus Qinghe legten sie im Namen der Gerechtigkeit Wei Wuxians Versteck, den die Grabhügel, in Schutt und Asche.«

»Ich muss sagen, da haben sie vortreffliche Arbeit geleistet.«

Sofort klatsche jemand in die Hände und stimmte fröhlich zu: »Das stimmt allerdings! Hätte der Jiang-Clan ihn damals nicht aufgenommen und sich seiner angenommen, wäre Wei Ying 2 nichts weiter als ein herumstreunender Taugenichts gewesen. Doch das einstige Oberhaupt hat ihn wie sein eigen Fleisch und Blut aufgezogen. Und er besitzt doch tatsächlich die Unverfrorenheit, sie alle zu verraten! Er hat sich jeden zum Feind gemacht und das Ansehen des Jiang-Clans beschmutzt. Beinahe wäre seinetwegen der gesamte Clan ausgelöscht worden. So ein undankbarer Hund!«

»Jiang Cheng hat diesen Kerl viel zu lange gewähren lassen. Ich an seiner statt hätte ihn direkt getötet, als er abtrünnig wurde, und nicht nur niedergestochen. Dann hätte er auch keine Gelegenheit gehabt, diese abscheulichen Gräueltaten zu verüben. Bei so jemandem darf man keine Gnade walten lassen – auch nicht, wenn man zusammen aufgewachsen ist und gemeinsam kultiviert hat.«

»Da habe ich aber was anderes gehört. Erlitt Wei Ying damals nicht einen Rückschlag, als er sich an den dunklen Künsten versuchte und von seinen eigenen Geistern zerfleischt wurde? Er soll bei lebendigem Leib in Stücke gerissen worden sein.«

»Ha ha ha ha! Das nennt man Karma. Ich habe es doch gleich gesagt. Diese bösen Geister, die er immer beschworen hat, haben wie ein Rudel tollwütiger Hunde alles und jeden angefallen – letztendlich sogar ihn. Geschieht ihm recht!«

»Das mag ja sein, aber wer weiß, wie die Belagerung der Grabhügel ausgegangen wäre, wenn das junge Oberhaupt des Jiang-Clans die Schwachpunkte des Yiling-Patriarchen nicht gekannt und seine Pläne entsprechend geschmiedet hätte. Vergesst nicht, welchen Gegenstand Wei Wuxian sein Eigen nannte. Und wie damals in nur einer Nacht über dreitausend angesehene Kultivierer einfach ausgelöscht worden sind!«

»Waren es nicht fünftausend?«

»Ob dreitausend oder fünftausend, ändert doch nichts an der Sache. Vielleicht waren es aber wirklich eher fünftausend.«

»Wahrhaft abscheulich …«

»Zum Glück hat er das Yin-Tiger-Amulett vor seinem Tod zerstört – eine gute Tat kann man ihm also durchaus zuschreiben. Andernfalls würde dieses unheilvolle Ding noch immer in der ganzen Welt Schaden anrichten und all die Sünden, die er begangen hat, noch weiter verschlimmern.«

Als das Wort »Yin-Tiger-Amulett« fiel, breitete sich augenblicklich bedrückende Stille aus.

Einen Moment später seufzte jemand. »Hach … Wei Wuxian war früher so ein vielversprechender junger Kultivierer und hat durchaus Gutes getan. Bereits in jungen Jahren feierte er Erfolge und genoss das Ansehen vieler. Wie konnte es nur so weit kommen …?«

Der Themenwechsel belebte die Diskussion erneut.

»Wie man sieht, muss man bei der Kultivierung letztendlich doch den traditionellen Weg gehen. Der Pfad der Dämonenlehre mag zwar für eine Weile verlockend und eindrucksvoll erscheinen, doch, pah, was passiert danach?«

Die Menge antwortete einhellig: »Man stirbt einen grausamen Tod, bei dem der Körper nicht vollständig und unversehrt bleibt!« 3

»Es lag aber nicht ausschließlich an seiner Art der Kultivierung. Letztendlich besaß Wei Wuxian einfach einen miesen Charakter, der den Himmel und die Menschen erzürnte. Somit wird Gutes belohnt und Böses bestraft. Jeder bekommt, was er verdient …«

Nach seinem Ableben hatte die Allgemeinheit schnell ihr Urteil über ihn gefällt. Dieses fiel bei jedem mehr oder minder gleich aus – denn existierte es auch nur die geringste Gegenmeinung, wurde diese sofort im Keim erstickt.

Doch es gab einen besorgniserregenden Punkt, der den Menschen keine Ruhe ließ …

Obwohl es hieß, der Yiling-Patriarch Wei Wuxian wäre bei der Belagerung der Grabhügel gestorben, war es ihnen nicht möglich, seine Seele zu beschwören. Möglicherweise war sie in Stücke gerissen worden, als die unzähligen Geister ihn verschlungen hatten – oder aber sie war entkommen.

Wenn Ersteres zuträfe, wäre das ein Grund zum Feiern, doch der Yiling-Patriarch hatte unvorstellbare Kräfte besessen. Er konnte Berge versetzen und Meere umwälzen – zumindest besagten das die Gerüchte. Für so jemanden wäre es sicher ein Leichtes, sich einer Beschwörung zu widersetzen. Sollte seine Seele also zurückkehren und von einem Körper Besitz ergreifen, könnte er wiederauferstehen. Dann stünde der Kultivierungswelt, nein, vielmehr der gesamten Menschheit, eine grausame, finstere Rache bevor. Düstere, blutige Zeiten würden anbrechen.

Daher wurden auf den Grabhügeln einhundertzwanzig Steinstatuen von Bestien aufgestellt und die großen Clans führten unablässig Seelenbeschwörungszeremonien durch. Gleichzeitig wurden jegliche Körperbesitzergreifungen durch Geister strengstens überwacht. Man sammelte allerorts Informationen bezüglich übernatürlicher Erscheinungen und war in höchster Alarmbereitschaft.

Im ersten Jahr war alles ruhig und friedlich.

Im zweiten Jahr war alles ruhig und friedlich.

Im dritten Jahr war alles ruhig und friedlich.

Im dreizehnten Jahr war immer noch alles ruhig und friedlich.

So glaubten schließlich immer mehr Menschen, dass Wei Wuxian vielleicht doch nicht über eine derartige Stärke verfügt hatte und seine Seele vielleicht doch vollständig ausgelöscht worden war.

Derjenige, der einst die Rolle des Jägers gespielt hatte, war schließlich zum Gejagten geworden.

Niemand wird bis in alle Ewigkeit verehrt und Legenden sind letztendlich nichts weiter als Legenden.

11 Jüngeres, männliches Mitglied des gleichen Clans.

12 Geburtsname von Wei Wuxian.

13 Diese Art zu sterben galt im früheren China als besonders schlimm. Zudem deutete sie an, dass der Tote im Leben besonders schwerwiegende Sünden verübt hatte.

Wei Wuxian hatte kaum die Augen geöffnet, da wurde er auch schon von jemandem getreten.

Eine donnernde visibility: hidden ertönte nah an seinem Ohr. »Was stellst du dich tot?!«

Der Tritt gegen seine Brust ließ ihn beinahe Blut spucken. Mumm hat er ja, den leibhaftigen Patriarchen zu treten, dachte erbenommen, während er rücklings auf dem Boden lag.

Wei Wuxian wusste nicht mehr, wie lange es her war, dass er die visibility: hidden eines Lebenden vernommen hatte – geschweige denn ein derartiges Gebrüll. Verschwommen nahm er eine junge, quakende visibility: hidden wahr, die nervtötend in seinen Ohren widerhallte.

»Du weißt wohl nicht, unter wessen Dach du lebst, an wessen Tisch du isst und wessen Geld du ausgibst! Was ist schon dabei, wenn ich mir ein paar Sachen von dir nehme? Die gehören doch eigentlich sowieso alle mir!«

Das Klirren und Krachen von Regalen, die umgeworfen und zerschlagen wurden, war von allen Seiten zu hören. Nur langsam wurde Wei Wuxians Sicht klarer. Vor ihm erschien schemenhaft ein Dach. Dann entdeckte er ein Gesicht, grün vor Zorn, das ihn mit wütenden Augen anfunkelte. Sein Besitzer spuckte ihn wild von oben an, während krächzend Worte aus seinem Mund schossen: »Du wagst es sogar, mich zu verpetzen! Glaubst du ernsthaft, ich hätte Angst davor, dass jemand in diesem Haus auf deiner Seite steht?«

Zwei stämmige Männer, wahrscheinlich Diener, kamen angelaufen. »Junger Herr, wir haben alles zerschlagen!«

»So schnell?«, quakte der junge Mann.

»In diesem heruntergekommenen Zimmer gibt es nicht viel«, antwortete einer der Diener.

Der junge Mann mit der quakenden visibility: hidden wirkte zufrieden. Also drehte er sich zu Wei Wuxian und schien mit seinem Zeigefinger zwischen seinen Augenbrauen ein Loch in seine Stirn bohren zu wollen. »Erst den Mut haben, mich anzuschwärzen, und sich dann tot stellen. Für wen führst du diese Scharade auf?! Als würde irgendjemand deinen Plunder haben wollen. Ich habe alles zerstören lassen. Wollen wir doch mal sehen, womit du mich jetzt noch verpetzen kannst! Nur weil du ein paar Jahre unter Kultivierern gelebt hast, hältst du dich für was Besseres?! Du wurdest doch fortgejagt wie ein streunender Hund!«

Sich mehr tot als lebendig fühlend dachte Wei Wuxian angestrengt nach. Dass er viele Jahre tot gewesen war, war nicht gespielt.

Wer war das?

Wo war er??

Und wann hatte er ein Ritual zur Körperbesitzergreifung durchgeführt???

Nachdem der quakende Mann ihn getreten, das Zimmer verwüstet und seiner Wut Luft gemacht hatte, trat er nun großspurig mit beiden Dienern aus der Tür und ließ sie mit einem lauten Knall hinter sich ins Schloss knallen. »Behaltet ihn gut im Auge und lasst ihn nicht raus! Er würde uns nur zum Gespött machen.«

Hastig stimmten die Diener zu.

Als sie fort waren, kehrte Ruhe ein.

Wei Wuxian wollte aufstehen, aber seine Glieder reagierten nicht auf seine Befehle, sodass er gezwungen war, liegen zu bleiben. Lediglich in der Lage, sich so weit zu drehen, dass er die fremde Umgebung und die Unordnung auf dem Boden betrachten konnte, wurde ihm erneut schwindelig.

Seitlich von ihm lag ein achtlos hingeworfener Bronzespiegel. Als er ihn aufhob und sich darin betrachtete, blickte er in ein ungewöhnlich weißes Gesicht. Auf die Wangenpartie war jeweils ein großer, roter, ungleichförmiger Fleck gemalt. Es fehlte nur noch die herausgestreckte blutrote Zunge, dann hätte er als der Geist eines Gehängten durchgehen können.

Ungläubig warf Wei Wuxian den Spiegel fort und rieb sich über das Gesicht, woraufhin weißer Puder herabrieselte. Glücklicherweise sah dieser Körper nicht von Natur aus so kurios aus, es handelte sich lediglich um extravaganten Geschmack.

Dass ein Mann sein ganzes Gesicht bemalte, war eine Sache, dass das Ergebnis aber derart hässlich und talentfrei ausfiel, eine andere.

Langsam erholte er sich von dem Schock und schaffte es endlich aufzustehen. Jetzt erst bemerkte er, dass sich unter seinem Körper ein Beschwörungskreis befand. Die Linien waren scharlachrot und die Form nicht richtig rund. Es wirkte ganz so, als hätte ihn jemand händisch mit Blut gemalt. Er war noch nicht vollständig getrocknet und so hing der Geruch von Eisen in der Luft. In das Innere des Kreises waren einige verworrene Beschwörungsformeln gekritzelt, die ein wenig von seinem Körper verwischt worden waren. Die übrigen Symbole und Formeln strahlten etwas Unbehagliches aus.

Wei Wuxian hatte über die Jahre alle möglichen Spitznamen bekommen, höchstes Übel, Gründer des dämonischen Wegs – alle in der Art. Er erkannte daher auf den ersten Blick, dass diese Anordnung nichts Gutes bedeutete.

Er hatte nicht von einem Körper Besitz ergriffen – ihm war einer geopfert worden!

Die Körperopferung war im Grunde genommen ein Fluch, bei dem der Beschwörer durch gewaltsame Selbstverstümmelung seinem Körper Wunden zufügte und die Formation des Bannkreises sowie die Beschwörungsformeln mit dem eigenen Blut malte. In der Mitte des Kreises sitzend, opferte er seinen Körper dann einem abgrundtief bösen Geist. Damit dieser einem einen Wunsch erfüllte, bat man ihn darum, vom Körper Besitz zu ergreifen. Der Preis für die Heraufbeschwörung war die eigene Seele, die zum großen Ganzen zurückkehrte.

Somit unterschied sich die Körperopferung vollkommen von der Körperbesitzergreifung. Bei beiden handelte es sich um verbotene Künste und sie besaßen daher auch beide keinen guten Ruf. Allerdings war erstere nicht so nützlich und beliebt wie letztere. Schließlich haben nur sehr wenige Menschen einen so starken Wunsch, dass sie sich selbst dafür opfern würden.

Da sich dementsprechend kaum jemand praktisch daran versucht hatte, war die Kunst im Laufe der Jahrhunderte beinahe in Vergessenheit geraten. Alten Überlieferungen aus zuverlässiger Quelle zufolge gab es in den vergangenen Jahrtausenden nur drei oder vier Beispiele. Und die Menschen, die sich geopfert hatten, wünschten sich alle ausnahmslos dasselbe: Rache.

Die beschworenen bösen Geister hatten diese stets perfekt ausgeführt, grausam und blutrünstig.

Wei Wuxian konnte es nicht fassen.

Wieso wurde er als »abgrundtief böser Geist« eingestuft?

Sicher, er hatte nicht den besten Ruf genossen und war einen grausamen Tod gestorben, aber er hatte erstens nie als Geist sein Unwesen getrieben und zweitens nie Rache verübt. Er konnte schwören, dass er der friedlichste und anständigste Geist zwischen Himmel und Erde war!

Problematisch war, dass es bei der Körperopferung nur um den Willen des Beschwörers ging – und egal wie sehr ihm das auch missfiel, er war bereits in diesen Körper gefahren und das Abkommen zwischen beiden Parteien galt damit stillschweigend als geschlossen. Er war verpflichtet, den Wunsch des Beschwörers zu erfüllen, andernfalls würde der Fluch auf ihn zurückfallen, seine Seele würde zerstört und er würde niemals wiedergeboren werden.

Wei Wuxian öffnete seinen Gürtel, um sein Gewand zu lockern, hob dann beide Arme und betrachtete die Handgelenke. Wie erwartet waren sie kreuz und quer mit Wunden übersät, die von einer scharfen Waffe stammen mussten. Zwar bluteten sie nicht mehr, aber Wei Wuxian wusste, dass es sich dabei nicht um gewöhnliche Verletzungen handelte. Sollte er den Wunsch des ursprünglichen Besitzers dieses Körpers nicht erfüllen, würden sie auch nicht verheilen. Je länger er brauchte, desto schlimmer würde es werden. Und überschritt er die Frist, würde es ihn, der diesen Körper erhalten hatte, mitsamt seiner Seele zerreißen.

Wieder und wieder vergewisserte sich Wei Wuxian, dass kein Fehler vorlag, und wiederholte innerlich immer wieder fluchend: Das darf doch nicht wahr sein!, bis er sich an der Wand abstützte und aufstand.

Das Zimmer war groß, aber leer und karg. Es war unklar, wann die Tagesdecke zuletzt gewaschen worden war, jedenfalls ging ein muffiger Geruch von ihr aus. In der Ecke lag ein Bambuskorb, der als Abfalleimer verwendet worden war. Bei der Auseinandersetzung war er umgestoßen worden, sodass nun überall Müll und Papier verstreut herumlag.

Wei Wuxian bemerkte Tintenflecke auf dem zusammengeknüllten Papier. Also hob er ein Knäuel auf, öffnete es und sah, dass es mit winzigen Buchstaben vollgekritzelt war. Er machte sich daran, auch alle anderen Papierknäuel vom Boden aufzusammeln.

Bei dem Geschriebenen handelte es sich um den Kummer und die Sorgen, die sich der Besitzer des Körpers verzweifelt von der Seele geschrieben hatte. Einige Passagen waren wirr und konfus, und die innere Unruhe des Verfassers wurde durch die verzerrte Schrift auf dem Papier noch verdeutlicht. Geduldig las Wei Wuxian Seite für Seite und immer mehr beschlich ihn das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte.

Allmählich konnte er sich einige Dinge zusammenreimen.

Der Besitzer dieses Körpers hieß Mo Xuanyu und er befand sich hier im Dorf Mo.

Mo Xuanyus Großvater war ein einflussreicher Mann in dieser Gegend gewesen. Die Familie war jedoch klein und er hatte keinen Sohn. Auch nach jahrelangen Bemühungen waren ihm lediglich zwei Töchter vergönnt gewesen. Die Namen der beiden wurden nicht genannt.

Die erste Tochter stammte von seiner Hauptfrau. Nach ihrer Vermählung zog ihr Mann bei der Familie Mo ein. Die zweite Tochter war zwar von außerordentlicher Schönheit, jedoch das Kind einer Dienerin. Daher war die Familie ursprünglich bei ihrem Zukünftigen nicht sehr wählerisch gewesen. Sie wollten sie einfach nur aus dem Haus haben. Wer hätte auch damit rechnen können, dass sie mit sechszehn Jahren dem Oberhaupt eines angesehenen Kultivierungsclans begegnen würde, der sich auf den ersten Blick in sie verliebte?

Ihre Treffen im Dorf Mo fanden heimlich statt und ein Jahr später gebar sie ein Kind: Mo Xuanyu.

Eigentlich zeigten sich die Bewohner des Dorfes solchen Angelegenheiten gegenüber stets verächtlich, aber die Menschen verehrten nun mal die Kultivierung. Und in den Augen Normalsterblicher wirkten Kultivierer mit ihrer mystischen und noblen Ausstrahlung wie Auserwählte des Himmels. Zudem half ihnen dieses große Oberhaupt gelegentlich aus, sodass sich das Blatt plötzlich wendete. Nicht nur die Familie Mo war stolz darauf, auch die anderen bewunderten sie zutiefst.

Nichts währt jedoch ewig.

Eine Weile konnte sie das Verlangen des Oberhaupts nach Frischfleisch zwar stillen, doch schon nach weniger als zwei Jahren war er ihrer überdrüssig und die Besuche wurden immer seltener. Als Mo Xuanyu vier Jahre alt war, kam er gar nicht mehr.

In dieser Zeit wandelte sich das Urteil der Dorfbewohner erneut in Missgunst, und zu Verachtung und Hohn kam nun auch noch spöttisches Mitleid. Die zweite Tochter der Familie Mo wollte ihr Schicksal nicht wahrhaben. Sie war fest davon überzeugt, dass der Kultivierer nicht einfach so seinen eigenen Sohn vergessen würde. Und tatsächlich sandte er eine Garde, um Mo Xuanyu zu sich zu holen, als dieser vierzehn Jahre alt war.

Die zweite Tochter konnte somit wieder erhobenen Hauptes nach vorne blicken, denn obwohl sie nicht mitgehen konnte, trat anstelle der vorherigen Schmach ein Gefühl von Stolz. Sie prahlte vor jedem damit, dass ihr Sohn in Zukunft zum Oberhaupt der Kultivierungswelt aufsteigen und seinen Vorfahren Ruhm und Ehre einbringen würde. Also änderte sich die Meinung der Dorfbewohner zum dritten Mal und sie diskutierten eifrig über das Geschehene.

Doch noch bevor Mo Xuanyu seine Ausbildung zum Kultivierer abgeschlossen hatte und in die Fußstapfen seines Vaters treten konnte, wurde er wieder zurückgeschickt – und das auf eine überaus peinliche Art und Weise. Mo Xuanyu, der homosexuell war und dies auch ohne Zurückhaltung auslebte, belästigte nämlich ein anderes Mitglied des Clans, sodass bald jeder von dieser hässlichen Angelegenheit erfuhr. Dazu kam, dass er nicht mit Talent gesegnet war und keine besondere Stärke für das Kultivieren besaß, sodass es keinen Grund gab, ihn weiter dazubehalten.

Zur Krönung führte sich Mo Xuanyu nach seiner Rückkehr auch noch wie ein Wahnsinniger auf. Niemand verstand, was in ihm vorging. An einigen Tagen ging es ihm gut, an anderen wiederum nicht, und seine Launen waren so instabil wie die eines Geisteskranken.

An dieser Stelle runzelte Wei Wuxian die Stirn.

Homosexuell und verrückt. Kein Wunder, dass er sich das Gesicht derart zu puderte und keiner sich über die blutigen Symbole auf dem Boden gewundert hatte. Selbst wenn Mo Xuanyu vom Boden bis zur Decke und zum Dach alles mit Blut beschmiert hätte, hätte das wahrscheinlich niemand seltsam gefunden. Weil jeder wusste, dass er verrückt war!

Nachdem Mo Xuanyu in sein altes Zuhause zurückgekehrt war, hatte es von allen Seiten Hohn und Spott gehagelt. Diesmal wirkte es allerdings nicht so, als könnte der Wind ein weiteres Mal drehen. Die zweite Tochter der Familie Mo ertrug diesen Rückschlag nicht. In ihr staute sich unaussprechliche Wut an, bis sie bei lebendigem Leibe daran erstickte.

Zu jenem Zeitpunkt war Mo Xuanyus Großvater bereits verstorben und seine erste Tochter hatte den Platz als Familienoberhaupt eingenommen. Diese konnte ihre kleine Schwester seit jeher nicht ausstehen und verachtete deren unehelichen Sohn nur umso mehr.

Frau Mo hatte einen Sohn, eben jenen quakenden jungen Mann, der gerade befohlen hatte, das Zimmer zu verwüsten: Mo Ziyuan.

Nachdem Mo Xuanyu so eindrucksvoll von den Kultivierern abgeholt worden war, hatte sie sich Hoffnungen gemacht, dass die Gesandten ihren Sohn ebenfalls mitnehmen und ausbilden würden. Sie waren ja schließlich verwandt. Allerdings hatte man ihn abgewiesen, oder besser gesagt: ignoriert.

Selbstverständlich. Das ist nicht wie auf dem Markt, wo man über Chinakohl verhandelt und zwei zum Preis von einem bekommt!

Es war Wei Wuxian schleierhaft, woher die Mitglieder dieser Familie ihr Selbstvertrauen hatten. Sie waren seltsamerweise alle fest davon überzeugt, dass Mo Ziyuan das Zeug und die Gabe zum Kultivierer besaß. Sie glaubten, dass, wenn er damals gegangen wäre, ihn die Kultivierer sicher anerkannt hätten und er erfolgreicher gewesen wäre als sein Cousin. Als Mo Xuanyu fortgegangen war, war Mo Ziyuan noch klein gewesen. Doch dieser Gedanke, der jeglicher Logik entbehrte, war ihm von Kindesbeinen an immer wieder eingetrichtert worden und so glaubte er nun fest daran. Ständig erniedrigte er Mo Xuanyu und warf ihm vor, er hätte ihm seine Chance zum Kultivieren genommen. All die Talismane, magische Pillen und kleinen Instrumente, die Mo Xuanyu von seiner Ausbildung mit nach Hause gebracht hatte, liebte Mo Ziyuan so sehr, dass er sie nicht mehr aus der Hand gab. Er erhob alleinigen Anspruch auf die Gegenstände und verfuhr mit ihnen, wie es ihm beliebte.

Mo Xuanyu stand zwar des Öfteren geistig vollkommen neben sich, aber auch er wusste, wann er gedemütigt wurde. Er schluckte es wieder und wieder. Mo Ziyuan wiederum nahm sich immer mehr heraus und plünderte fast sein gesamtes Zimmer. Schließlich hielt Mo Xuanyu es nicht mehr aus, trat vor seinen Onkel und seine Tante und beschwerte sich stotternd. Das erklärte den Ärger, den Mo Ziyuan gerade angezettelt hatte.

Die Schrift auf dem Papier war so klein und dicht, dass Wei Wuxian beim Lesen die Augen schmerzten und er sich fragte, was das heute nur für ein bescheuerter Tag war. Kein Wunder, dass Mo Xuanyu seinen Körper geopfert hatte, um einen bösen Geist zu beschwören, der Rache für ihn nehmen sollte.

Mittlerweile taten ihm nicht mehr nur die Augen, sondern der gesamte Kopf weh. Eigentlich musste der Beschwörer während des Rituals seinen Wunsch gedanklich präzise formulieren, und als beschworener Geist hätte Wei Wuxian diese Forderungen auch genau hören müssen. Mo Xuanyu hatte das Ritual jedoch anhand eines lückenhaften Buches über verbotene Künste durchgeführt, das er wohl heimlich irgendwo hatte mitgehen lassen. Da er das Ritual somit nicht vollständig erlernt hatte, ließ er diesen Schritt aus. Auch wenn Wei Wuxian vermutete, dass es ihm um Rache an der Familie Mo ging, blieb immer noch die Frage, wie er sie verüben sollte? Wie weit sollte er gehen? Sollte er die gestohlenen Sachen zurückholen? Die Familie Mo übel zurichten? Oder … die gesamte Familie auslöschen?

Wahrscheinlich war es das. Er sollte sie auslöschen! Immerhin wusste jeder in der Kultivierungswelt, mit welchen Worten Wei Wuxian am häufigsten beschrieben wurde: undankbar und grausam. Gab es jemanden, der den Titel »dämonischer Teufel« mehr verdiente als er?

Da Mo Xuanyu den Mut gehabt hatte, ausgerechnet ihn herbeizurufen, konnte es sich nicht um einen einfachen Wunsch handeln.

»Du hast dir den Falschen ausgesucht …«, sagte Wei Wuxian verzweifelt.

Eigentlich wollte er sich das Gesicht waschen und diesen Körper einmal begutachten, stellte dann jedoch fest, dass es im Zimmer kein Wasser gab – weder zum Trinken noch zum Waschen. Die einzige Schüssel im Raum schien für den Toilettengang gedacht zu sein.

Als er gegen die Tür drückte, stellte er fest, dass sie von außen verriegelt war. Wahrscheinlich befürchteten sie, dass Mo Xuanyu draußen herumlaufen und Unfug anstellen könnte.

Nichts veranlasste Wei Wuxian auch nur ansatzweise dazu, Freude über seine Wiedergeburt zu verspüren!

Er entschied, dass er genauso gut erst einmal meditieren konnte, um sich an seinen neuen Körper zu gewöhnen. Währenddessen brach ein neuer Tag an. Als er die Augen wieder öffnete, fielen Sonnenstrahlen durch die Tür- und Fensterspalten ins Zimmer. Obwohl er nun aufstehen und gehen konnte, schmerzte sein Kopf noch immer und es gab keine Anzeichen auf Besserung. Wei Wuxian konnte sich keinen Reim darauf machen.

»Mo Xuanyus spirituelle Energie ist verschwindend gering. Es kann also nicht sein, dass ich diesen Körper nicht kontrollieren kann. Wieso ist das nur so schwer?«

Erst als er ein Rumoren in der Magengegend verspürte, verstand er, dass sein Zustand nichts mit spiritueller Energie zu tun hatte – dieser Körper war lediglich nicht ans Fasten gewöhnt und nun hungrig. Wenn er jetzt nicht auf die Suche nach etwas Essbarem ging, würde er vielleicht als der erste böse Geist in die Geschichte eingehen, der direkt nach seiner Beschwörung den Hungertod starb.

Wei Wuxian atmete tief ein, hob einen Fuß und wollte gerade die Tür eintreten, als er plötzlich hörte, wie jemand sich näherte und der Tür schließlich einen ungeduldigen Tritt versetzte.

»Essen!«

Zwar brüllte die Person laut, machte jedoch keine Anstalten, die Tür zu öffnen.

Wei Wuxian senkte den Kopf und sah, wie sich eine Luke im unteren Teil der Tür öffnete und eine kleine Schüssel davor abgestellt wurde.

Der Diener draußen rief: »Beeil dich mal! Was trödelst du so rum?! Iss und stell dann die Schüssel wieder raus!«

Die Luke war kleiner als eine für Hunde. Durch sie passte kein Mensch, aber eine Schüssel schon. Zwei Gerichte und Reis, besonders appetitlich sah das nicht aus.

Wei Wuxian stocherte mit den Stäbchen, die im Reis steckten, im Essen herum und ein Gefühl der Traurigkeit erfüllte ihn.

Der große Yiling-Patriarch war gerade erst in die Menschenwelt zurückgekehrt, schon wurde er getreten und übel beschimpft. Sein Willkommensmahl bestand aus kalten Essensresten. Was war mit dem Blutbad? Dem Gemetzel? Der Ausrottung aller Clans? Wer würde das hier schon glauben? Er glich einem Tiger, der auf dem Flachland von Hunden schikaniert wurde. Oder einem Drachen, den im seichten Wasser Garnelen traktieren. Einem Phönix, dem man die Federn gerupft hatte, sodass er nun nicht besser war als ein Huhn.

In diesem Augenblick ertönte erneut die visibility: hidden des Dieners, doch diesmal wirkte sie wie ausgewechselt. Er lachte fröhlich. »A-Ding! Komm mal her!«

Eine klare, sanfte Frauenstimme antwortete von Weitem: »A-Tong, bringst du dem da drinnen wieder das Essen?«

Abwertend erwiderte A-Tong: »Was sollte ich sonst in diesem unheilvollen Hof machen?!«

A-Dings visibility: hidden war jetzt sehr viel näher. Sie musste mittlerweile vor der Tür stehen. »Du musst ihm nur einmal am Tag etwas zu Essen bringen. Und wenn du gelegentlich faulenzt, sagt auch niemand was. Es ist so eine entspannte Aufgabe und trotzdem beschwerst du dich noch darüber, wie unheilvoll der Hof ist. Schau mich mal an! Ich habe so viel zu tun, dass ich nicht mal ausgehen und mich etwas vergnügen kann.«

A-Tongs Beschwerde folgte prompt. »Ich bringe ihm ja nicht nur das Essen! In diesen Zeiten traust du dich noch auszugehen? Bei den vielen Untoten verriegelt doch jedermann fest seine Türen.«

Wei Wuxian hockte sich an die Tür. Mit der Schüssel und den beiden verschieden langen Stäbchen in der Hand aß er, während er nebenbei lauschte.

Anscheinend war es im Dorf Mo in letzter Zeit nicht allzu friedlich zugegangen.

Untote waren Verstorbene, die sich bewegen und laufen konnten. Sie gehörten einer relativ niedrigen Klasse transformierter Leichen an und waren keine Seltenheit. In der Regel hatten sie einen leblosen Blick, schlurften langsam herum und waren nicht besonders stark. Das reichte allerdings bereits aus, um gewöhnliche Menschen zu erschrecken. Allein ihr Fäulnisgeruch löste bei den meisten schon einen Brechreiz aus.

Für Wei Wuxian jedoch waren sie die am einfachsten zu kontrollierenden und gehorsamsten Marionetten, und es flackerte kurz ein Gefühl der Vertrautheit auf, als sie so plötzlich erwähnt wurden.

A-Tong schien der Dienerin beim Sprechen zuzuzwinkern. »Wenn du ausgehen willst, musst du mich mitnehmen. Ich beschütze dich …«

»Du? Mich beschützen? Du Angeber, kannst du diese Ungeheuer etwa abwehren?«

»Wenn ich es nicht kann, können andere es genauso wenig«, entgegnete er ihr ärgerlich, woraufhin A-Ding lachte.

»Woher willst du bitte wissen, dass andere es nicht können? Ich erzähl dir mal was: Heute sind Kultivierer bei uns eingetroffen und ich habe gehört, dass sie von einem berühmten Clan kommen! Die Herrin begrüßt sie gerade in der Empfangshalle und alle im Dorf wohnen dem seltenen Spektakel bei. Hör doch, es ist ziemlich laut, oder? Als ob ich da Zeit hätte, mit dir herumzualbern. Wahrscheinlich tragen sie mir gleich wieder etwas auf.«

Konzentriert horchte Wei Wuxian und vernahm vages Stimmengewirr aus östlicher Richtung. Einige Augenblicke dachte er nach, dann stand er auf und trat die Tür ein, sodass der Riegel mit einem Krachen zerbarst.

Die beiden Diener waren gerade dabei gewesen, kichernd verliebte Blicke und Worte auszutauschen, als die Tür zu beiden Seiten aufsprang und sie erschrocken aufschrien.

Wei Wuxian warf Schüssel und Stäbchen hin und trat geradewegs hinaus ins Sonnenlicht. Es stach so sehr in seinen Augen, dass er sie einen Moment lang nicht öffnen konnte. Auch auf der Haut spürte er ein leichtes Prickeln. Er hob die Hand vor die Augen und schloss sie für einen Moment.

A-Tongs Schrei war sogar noch schriller als der von A-Ding gewesen. Nach einem kurzen Moment des Schrecks erinnerte er sich jedoch daran, dass es der Verrückte war, der da vor ihm stand und auf dem jeder herumtrampelte. Also kehrte sein Übermut zurück. Er wollte die Blamage von eben wieder ausgleichen, sprang auf ihn zu, schimpfte ihn aus und versuchte, ihn mit einer wedelnden Geste fortzujagen wie einen Hund.

»Husch, husch! Geh zurück! Wieso bist du rausgekommen?!«

Nicht einmal einen Bettler oder eine Fliege behandelte man abwertender. Dass sich diese Diener gegenüber Mo Xuanyu ohne Hemmungen so benahmen, lag daran, dass er sich nie gewehrt hatte.

Wei Wuxian versetzte A-Tong einen leichten Tritt und lachte, als dieser sich purzelnd überschlug. »Was glaubst du, wen du hier gerade beleidigst?!« Anschließend folgte er dem Lärm in Richtung Osten.

Im Ost-Hof und in der Ost-Halle hatte sich eine Menschenmenge gebildet.

Wei Wuxian war gerade dabei, einen Schritt auf die freie Fläche zu setzen, als eine Frauenstimme, deren Lautstärke die der anderen Umstehenden übertönte, sagte: »Wir haben jemanden in der Familie, der einst das Potenzial zum Kultivierer hatte …«

Das war mit Sicherheit Frau Mo, die wieder einmal mit allen Mitteln eine Verbindung zu den Kultivierungsclans herstellen wollte. Wei Wuxian drängelte sich eilig durch die Menge und bahnte sich seinen Weg zur Empfangshalle. Noch bevor die Frau ihren Satz beenden konnte, fuchtelte er wild mit den Armen und rief: »Ich komm ja schon, ich komm ja schon! Hier bin ich, hier bin ich!«

Als er einen Blick in die Halle warf, entdeckte er eine Frau mittleren Alters, die sich gut gehalten hatte und prächtige Kleider trug. Es war Frau Mo.

Ihr eingeheirateter Mann saß eine Stufe unter ihr. Ihnen gegenüber hatten sich einige junge Männer in weißen Gewändern mit Schwertern auf ihren Rücken niedergelassen.

Zerzaust, ungepflegt und offensichtlich verrückt trat Wei Wuxian hervor. Die Menge verstummte abrupt.

Wei Wuxian tat so, als würde er nicht bemerken, dass plötzlich alles in Stille versank, und sagte ohne Scheu: »Wer hat mich gerufen? Jemand, der das Potenzial zum Kultivierer hatte, das bin ja wohl ich!«

Er hatte immer noch zu viel Puder im Gesicht, der herabrieselte, sobald er lachte. Einer der weiß gekleideten jungen Männer konnte sich bei diesem Anblick das Lachen kaum verkneifen und erntete dafür von dem neben ihm sitzenden Anführer der Gruppe einen missbilligenden Blick. Schnell setzte er wieder eine ernste Miene auf.

Wei Wuxians Aufmerksamkeit folgte der visibility: hidden und er musterte die Gruppe eingehend. Er war etwas überrascht, denn er hatte erwartet, dass die Diener maßlos übertrieben hätten. Wer hätte auch ernsthaft mit Schülern eines »berühmten Clans« gerechnet?

Die Roben der Männer besaßen elegante Ärmel und die Bänder an ihren breiten Gürteln wehten sanft im Wind. Wahrlich eine Augenweide.

Anhand ihrer Kleidung erkannte man sofort, dass sie vom Gusu-Lan-Clan stammten. Zudem waren diese Schüler Blutsverwandte der Familie Lan, zu erkennen an ihren schmalen weißen Stirnbändern, die ein Federwolkenmuster zierte.

Die Federwolke war das Symbol der Lan-Familie und das Stirnband stand für »Selbstbeherrschung«. Das Motto des Lan-Clans lautete »Rechtschaffenheit«. Gastkultivierer oder Schüler, die aus anderen Clans stammten, trugen ein Stirnband ohne das Wolkensymbol.

Der Anblick der Mitglieder des Lan-Clans verursachte Wei Wuxian Zahnschmerzen. In seinem vorherigen Leben hatte er ihre Roben häufig heimlich als »Trauerkleidung« 4 bezeichnet, daher konnte er sich nicht irren.

Frau Mo hatte ihren Neffen eine Weile nicht gesehen und erwachte daher erst nach einer ganzen Weile aus ihrer Schockstarre. Als sie die exzentrisch geschminkte Person erkannte, tobte sie innerlich. Sie durfte jedoch nicht die Fassung verlieren. Daher gab sie sich alle Mühe, ihre visibility: hidden beim Sprechen so kontrolliert wie möglich klingen zu lassen, als sie sich an ihren Mann wandte. »Wer hat den rausgelassen?! Bring ihn zurück!«

Eilig antwortete er ihr mit einem unterwürfigen Lächeln und stand mit finsterer Miene auf, um Wei Wuxian wegzuführen. Der jedoch schmiss sich auf den Boden und klammerte sich mit Händen und Füßen daran fest. Egal wie sehr Frau Mos Mann auch an ihm zog und zerrte, er bekam ihn einfach nicht vom Fleck, und auch die herbeieilenden Diener versuchten es vergeblich. Wären keine Außenstehenden anwesend gewesen, wären sie längst zu Tritten übergegangen.

Als Frau Mos Mann sah, wie sich die Miene seiner Gattin immer mehr verfinsterte, geriet er ins Schwitzen und fing an zu schimpfen: »Du verdammter Verrückter! Wenn du jetzt nicht zurückgehst, kannst du dein blaues Wunder erleben!«

Obwohl alle im Dorf wussten, dass in der Familie Mo ein junger Herr lebte, der dem Wahnsinn verfallen war, hatte sich Mo Xuanyu seit Jahren in seinem dunklen Zimmer verkrochen und sich nicht unter Menschen getraut. Sein Aussehen und Benehmen glichen dem eines Dämons, sodass die Zuschauer nun anfingen zu tuscheln und sich über die gute Unterhaltung freuten.

»Ich kann zurückgehen«, sagte Wei Wuxian und zeigte direkt auf Mo Ziyuan. »Aber sag ihm, dass er zuerst die Sachen zurückgeben soll, die er mir gestohlen hat.«

Nicht mal in seinen kühnsten Träumen hätte Mo Ziyuan erwartet, dass dieser Verrückte derart furchtlos sein konnte. Gestern noch hatte er ihm eine Lektion erteilt, und doch traute er sich heute tatsächlich, hier aufzutauchen. Er schrie mit wutverzerrtem Gesicht: »Lügner! Wann habe ich dir etwas gestohlen? Ich soll es nötig haben, dich zu bestehlen?«

»Du hast recht! Du hast nichts gestohlen, du hast die Sachen an dich gerissen!«, erwiderte Wei Wuxian.

In dem Moment erkannte Frau Mo, dass Mo Xuanyu sich offensichtlich hierauf vorbereitet hatte. Er war bei klarem Verstand und hatte sich zum Ziel gesetzt, sie alle bloßzustellen. Überraschung und Wut übermannten sie nun doch, sodass sie nicht in der Lage war, sich zurückzuhalten: »Du bist mit voller Absicht hergekommen, um Ärger zu machen, ist es nicht so?!«

Wei Wuxian spielte den Ahnungslosen. »Er hat meine Sachen gestohlen, ich möchte sie zurückhaben. Zählt das etwa als ›Ärger machen‹?«

Noch bevor Frau Mo etwas entgegnen konnte, war es um Mo Ziyuans Selbstbeherrschung geschehen und er holte mit einem Bein aus, um zuzutreten. Einer der Kultivierer machte jedoch eine kleine Bewegung mit den Fingern und Mo Ziyuan verlor den Halt, sodass sein Tritt Wei Wuxian nur streifte, ins Leere ging und er schließlich hinfiel.

Wei Wuxian aber rollte sich auf dem Boden hin und her, ganz so, als wäre er wirklich getreten worden. Er öffnete sogar seine Kleidung und offenbarte den Fußabdruck auf seiner Brust, der noch von Mo Ziyuans gestrigem Tritt stammte.

Aufgeregt und mit großem Vergnügen verfolgten die Bewohner des Dorfes das Schauspiel. Dieser Fußabdruck konnte schließlich unmöglich von Mo Xuanyu selbst stammen, und egal, wie man es auch drehte und wendete, er war trotz allem ein Blutsverwandter. Schrecklich, wie grausam diese Familie war. Nach seiner Rückkehr war es noch nicht so schlimm um ihn bestellt gewesen, höchstwahrscheinlich hatten sie ihn immer weiter in den Wahnsinn getrieben. Aber letztendlich war ihnen allen das egal, solange nur etwas Aufregendes passierte. Schließlich waren nicht sie diejenigen, die geschlagen wurden. Und das Spektakel war sogar noch spannender als der Besuch der Kultivierer!

Bei so vielen Augenpaaren, die sie beobachteten, konnte Frau Mo ihn weder schlagen noch fortjagen. Die Wut blieb ihr im Halse stecken und sie hatte keine andere Wahl, als zu vermitteln. Sie versuchte, Ruhe zu bewahren.

»Was heißt hier stehlen oder an sich reißen? Das hört sich schlimm an. Dabei sind wir doch eine Familie! Da ist es doch ganz natürlich, sich mal etwas zu leihen. A-Yuan ist doch quasi dein kleiner Bruder. Was ist so ungewöhnlich daran, wenn er sich ein paar deiner Sachen nimmt? Bist du wirklich so kleinlich, obwohl du der Ältere bist? Wegen so einer Nichtigkeit rastest du aus wie ein kleines Kind? Dabei ist es ja gar nicht so, als würde er sie dir nicht zurückgeben.«

Die Kultivierer in den weißen Roben schauten einander ratlos an. Einer von ihnen, der gerade Tee trank, verschluckte sich beinahe bei ihren Worten.

Die Schüler, die im Lan-Clan aufgewachsen waren, kannten nur die Natur und schöne Landschaften. Derartige Szenen hatten sie wahrscheinlich noch nie erlebt, geschweige denn solch unehrenwertes Gebaren bezeugt. Das heutige Erlebnis erweiterte offensichtlich ihren Horizont.

Wei Wuxian krümmte sich innerlich vor Lachen. Schließlich streckte er die Hand aus. »Dann gib sie mir zurück.«

Mo Ziyuan konnte natürlich nichts zurückgeben. Er hatte die Sachen längst weggeworfen oder zerstört. Und selbst wenn nicht, hätte er sie nicht herausrücken wollen. Sein Gesicht wurde aschfahl.

»Mutter!«, rief er. Und mit nur einem Blick machte er ihr deutlich, was in ihm vorging: Lässt du zu, dass er mich so demütigt?

Frau Mos Blick hingegen machte klar, dass er die ganze Situation nicht noch schlimmer machen möge. Doch da setzte Wei Wuxian wieder an.

»Wo wir gerade dabei sind: Nicht nur sollte er nicht meine Sachen stehlen, er sollte es umso weniger mitten in der Nacht tun. Es weiß doch jeder, dass ich den Männern verfallen bin. Auch wenn er sich nicht dafür schämt, will ich nicht in falschen Verdacht geraten.«

Frau Mo schnappte nach Luft und schrie: »Was redest du da vor den anderen Dorfbewohnern! Du hat wirklich keinerlei Schamgefühl, A-Yuan ist dein Cousin!«

Wenn es darum ging, Chaos zu stiften, hatte Wei Wuxian nichts von seinem Talent eingebüßt. Früher hatte er dabei noch auf sein Ansehen achten müssen, da niemand denken sollte, er wäre nicht anständig erzogen worden. Doch nun trug er eh den Stempel eines Verrückten, weshalb sollte er sich also noch um seinen Ruf scheren? Er konnte sich nach Herzenslust austoben. Zudem sah er sich im Recht.

»Obwohl er weiß, dass er mein Cousin ist, geht er trotzdem nicht auf Abstand. Wem mangelt es hier also an Schamgefühl?! Wenn dir dein Ansehen nicht wichtig ist, soll mir das egal sein. Aber ruiniere bitte nicht meine Unschuld! Ich möchte noch einen guten Mann finden!!!«

Mo Ziyuan schrie laut auf, hob einen Stuhl hoch und wollte ihn auf Wei Wuxian zerschmettern. Doch als dieser sah, dass er endlich explodierte, sprang er mit einem Satz auf und wich behände aus.

Der Stuhl krachte auf dem Boden auseinander, woraufhin sich die Menge, die sich in und um die Ost-Halle versammelt und die große Blamage der Familie Mo bis hierhin voller Schadenfreude mitverfolgt hatte, panisch zerstreute, da sie wohl fürchteten verletzt zu werden.

Wei Wuxian ging geduckt zu den jungen Kultivierern des Lan-Clans hinüber. Während die noch wie geistesabwesend versuchten, dem Geschehen zu folgen, raunte er ihnen zu: »Ihr habt es jetzt gesehen, oder? Oder? Er ist nicht nur ein Dieb, sondern auch ein Schläger! So ein herzloser Mensch!«

Mo Ziyuan wollte ihm folgen und ihn verprügeln, als der Anführer der jungen Männer ihn hastig aufhielt. »Junger Herr … wenn dich etwas bedrückt, dann lass uns darüber reden.«

Frau Mo erkannte, dass der junge Mann den Verrückten beschützen wollte, woraufhin sie panisch wurde und gezwungen lachte. »Das ist der Sohn meiner kleinen Schwester. Nun, er ist nicht ganz bei Verstand. Jeder im Dorf weiß, dass er ein Verrückter ist und wirre Dinge von sich gibt, die man nicht ernst nehmen sollte. Bitte …«

Bevor sie ihren Satz beendet hatte, streckte Wei Wuxian seinen Kopf hinter dem Rücken des Kultivierers hervor. »Wer sagt, dass man meine Worte nicht ernst nehmen kann? Von heute an gilt: Wer noch mal versucht, meine Sachen zu stehlen, dem schlage ich die Hand ab!«

Mo Ziyuan wurde zwar von seinem Vater festgehalten, doch als er das hörte, verlor er beinahe erneut die Beherrschung.

Fröhlich wie ein Fisch im Wasser begann Wei Wuxian zu summen und hüpfte hinaus. Der Kultivierer blockierte daraufhin den Eingang, wechselte das Thema und sprach mit ernster Miene die eigentliche Angelegenheit an. »Nun … Wir würden uns gerne heute Abend Euren West-Hof ausborgen. Bitte haltet Euch unbedingt an das, was ich zuvor gesagt habe: Verschließt am Abend fest die Fenster und Türen und kommt nicht heraus. Und begebt Euch vor allem nicht in die Nähe des Hofes.«

Frau Mo zitterte vor Wut. Da er sie aufhielt, konnte sie nicht einfach so an ihm vorbeistürmen, sodass sie schließlich nur erwiderte: »Ja, natürlich. Habt vielen Dank für eure Mühen …«

Mo Ziyuan konnte es nicht fassen. »Mutter! Dieser Verrückte hat mein Ansehen vor den Augen aller in den Schmutz gezogen, und du lässt ihn davonkommen?! Du hast doch gesagt, er sei nur ein …«

Frau Mo schnitt ihm das Wort ab. »Sei still! Wir reden später.«

Mo Ziyuan hatte noch nie den Kürzeren gezogen. Er war noch nie so blamiert worden. Und er war erst recht noch nie derart von seiner Mutter gescholten worden. Er tobte vor Wut. »Dafür wird dieser Verrückte heute Nacht mit dem Leben bezahlen!«

Nachdem Wei Wuxian den Verrückten gespielt hatte und zum Tor hinausspaziert war, präsentierte er sich nun der Öffentlichkeit, indem er eine Runde durchs Dorf drehte – worüber sich unzählige Passanten überrascht zeigten. Er hatte großen Spaß daran und lernte die Freuden des Verrücktseins kennen. Selbst das Make-up, das ihn wie den Geist eines Erhängten aussehen ließ, fing an, ihm zu gefallen. Er zögerte das Abwaschen ein wenig hinaus, indem er gedanklich scheinheilige Ausreden erfand. Hier ist ja sowieso kein Wasser, dann wasche ich es eben nicht ab.

Er ordnete seine Haare und warf einen Blick auf seine Unterarme. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass die Wunden verblassten oder heilten. Das bedeutete, das eine so harmlose Racheaktion für Mo Xuanyu bei Weitem nicht ausreichte.

Sollte er etwa wirklich die Familie Mo auslöschen?

Wenn er ehrlich war, wäre auch das kein großes Problem.

Während er darüber nachdachte, kehrte er zum Anwesen der Mos zurück. Mit kurzen, schnellen Schritten schlich er zum West-Hof und entdeckte die Schüler des Lan-Clans, die auf den Dächern und Mauern standen und ernst miteinander sprachen. Er zog sich vorsichtig ein Stück zurück, hob seinen Blick und beobachtete sie eindringlich.

Obwohl der Gusu-Lan-Clan maßgeblich an der Offensive der Kultivierungsclans gegen ihn beteiligt gewesen war, waren diese Jungen zu jener Zeit entweder noch nicht geboren oder noch sehr jung gewesen. Die Sache hatte also nichts mit ihnen zu tun.

Wei Wuxian beobachtete sie bei den Vorbereitungen. Bei genauerem Hinsehen bemerkte er plötzlich etwas Seltsames.

Wieso kamen ihm diese schwarzen Flaggen, die an den Dächern und Mauern angebracht waren und im Wind flatterten, nur so bekannt vor?

Die Flaggen nannte man Yin-Anziehungsflaggen. Befestigte man sie an einer lebenden Person, lockten sie finstere spirituelle Wesen, hasserfüllte Seelen, wütende Untote und böse Geister in einem bestimmten Radius an, die dann diese Person anfielen. Da nur die eine Person, an der man die Flagge befestigte, zur Zielscheibe wurde, nannte man sie auch die Zielscheibenflagge. Man konnte sie aber auch an Häusern befestigen. Allerdings musste sich darin zumindest eine lebende Person befinden. Der Angriffsradius erweiterte sich dadurch auf alle Menschen innerhalb des Hauses.

Da dort, wo die Flagge angebracht wurde, dunkle Yin-Energie entstand und wie schwarzer Wind emporzusteigen schien, nannten einige sie auch Schwarzwind-Flaggen. Wenn die Kultivierer also so eine Fahnenformation im West-Hof aufstellten und den Menschen untersagten, sich diesem zu nähern, konnte das nur bedeuten, dass sie Untote herbeilocken und auf einen Schlag vernichten wollten.

Der Grund, weshalb sie ihm so bekannt vorkamen, lag auf der Hand. Denn wie hätte er sie nicht wiedererkennen können? Der Erfinder dieser Flaggen war immerhin kein Geringerer als er, der Yiling-Patriarch!

Obwohl er in der Kultivierungswelt verschrien war und sie ihn lieber tot als lebendig sahen, hatten sie wohl durchaus Verwendung für die Sachen, die er entwickelt hatte.

Ein Kultivierer, der auf dem Dach stand, bemerkte, dass er sie beobachtete. »Geh lieber zurück. Dies ist kein Ort, an dem du dich zurzeit aufhalten solltest.«

Obwohl er ihn fortschickte, war es freundlich gemeint und auch seine Art zu reden unterschied sich maßgeblich von der der Diener. Wei Wuxian nutzte seine unvorsichtige Güte aus, hüpfte hoch und riss eine Fahne herunter.

Der Kultivierer erschrak, sprang von der Mauer herunter und verfolgte ihn. »Nicht anfassen! Das ist nichts, was du an dich nehmen solltest!«

Wei Wuxian rannte und jauchzte. Mit zerzausten Haaren tanzte er wild, mit Händen und Füßen herumfuchtelnd, durch den Hof. Meisterhaft mimte er den Verrückten. »Ich geb sie nicht zurück! Ich geb sie nicht zurück! Ich will sie haben! Ich will sie!«

Der Kultivierer holte ihn mit nur zwei Schritten ein und packte ihn am Arm. »Gibst du sie jetzt zurück? Wenn nicht, bin ich gezwungen, dich zu schlagen!«

Wei Wuxian hielt die Flagge fest umklammert und ließ sie nicht los. Der Anführer der Gruppe war gerade dabei, die Formation der Flaggen zu vervollständigen, als er die Szene mitbekam. Leicht wie eine Feder sprang er von der Mauer. »Jingyi, lass gut sein. Hol einfach die Flagge zurück, du musst dich nicht mit ihm streiten.«

»Sizhui, ich habe ihn doch noch gar nicht geschlagen! Schau ihn dir an, er hat die Fahnenformation völlig ruiniert!«, antwortete Lan Jingyi.

In der Zwischenzeit hatte Wei Wuxian bereits in Höchstgeschwindigkeit die Yin-Anziehungsflagge in seiner Hand analysiert. Die Symbole waren richtig aufgemalt und an den Beschwörungsformeln gab es auch nichts auszusetzen. Alles war fehlerfrei, sodass bei der Benutzung nichts schiefgehen konnte. Das einzige Manko war, dass die Person, die die Flagge bemalt hatte, nicht sehr erfahren war. Die Formeln konnten nur böse Geister und Untote im Umkreis von maximal zweieinhalb Kilometern anlocken, aber das müsste wohl ausreichen.

Lan Sizhui lächelte ihn an. »Junger Herr Mo, es wird bald dunkel und wir werden hier gleich Untote jagen. Nachts ist es sehr gefährlich. Du solltest besser schnell zurück auf dein Zimmer gehen.«

Wei Wuxian versuchte, den Kultivierer einzuschätzen. Er bewegte sich elegant und anmutig. Sein Äußeres strahlte Würde aus und ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen. Ein stattlicher junger Mann, das musste Wei Wuxian anerkennen. Die Formation der Flaggen war tadellos und seine Manieren waren vorbildlich. Es war Wei Wuxian schleierhaft, wer an so einem fürchterlichen Ort und aus dem altbackenen Haufen des Lan-Clans so einen Nachfahren hatte produzieren können.

Lan Sizhui setzte erneut an: »Diese Flagge …«

Bevor er jedoch den Satz beenden konnte, warf Wei Wuxian sie auch schon empört zu Boden. »Es ist doch nur eine blöde Flagge, was soll schon so toll daran sein?! Ich male viel besser als ihr!« Dann nahm er die Beine in die Hand und rannte fort.

Die Kultivierer, die noch auf dem Dach waren und zugeschaut hatten, lachten so sehr über seine schamlose Prahlerei, dass sie beinahe vom Dachvorsprung fielen.

Lan Jingyi war einerseits wütend, andererseits lachte auch er. Er hob die Yin-Anziehungsflagge auf und klopfte den Staub von ihr ab. »Er ist wirklich verrückt!«

»Sag das nicht. Komm lieber schnell her und hilf mit«, erwiderte Lan Sizhui sanft.

Wei Wuxian drehte noch gemütlich zwei Runden und schlenderte erst abends zurück zu Mo Xuanyus kleinem Zimmer. Den Türriegel hatte er zerstört und niemand hatte sich um die Unordnung auf dem Boden gekümmert. Er tat so, als würde er das Chaos nicht sehen, suchte sich eine freie Stelle auf dem Boden und setzte seine Meditation fort.

Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Lärm der Außenwelt ihn vor Anbruch des Tages aus seiner Sitzung reißen würde.

Wilde Schritte, vermischt mit Schluchzen und ängstlichen Schreien, kamen rasch näher. Wei Wuxian hörte, wie sich einige Sätze wiederholten: »Geh rein und zerr ihn einfach raus!« »Das musst du melden!« »Was gibt’s da zu melden, tötet ihn!«

Als er die Augen öffnete, waren bereits einige Diener hineingestürmt. Laternen erhellten den ganzen Hof und jemand schrie: »Bringt diesen verrückten Mörder in die Haupthalle! Er soll mit dem Leben bezahlen!«

Wei Wuxians erster Gedanke war, dass den Kultivierern vielleicht ein Fehler bei der Flaggenformation unterlaufen war. Bei seiner Erfindung konnte die kleinste Nachlässigkeit ein großes Desaster herbeiführen. Aus diesem Grund hatte er zuvor ja extra geprüft, ob die Bemalung der Yin-Anziehungsflaggen Fehler aufwies. Als mehrere Hände ihn nach draußen zerrten, streckte er sich und ließ es einfach geschehen. So sparte er sich die Mühe, selbst zu laufen.

In der Ost-Halle war so viel los wie am helllichten Tag, als die Dorfbewohner sich hier versammelt hatten. Alle Diener und Familienangehörigen waren gekommen, einige trugen noch ihre Schlafgewänder und hatten es nicht einmal mehr geschafft, sich zu kämmen. Und sie alle waren entsetzt.

Frau Mo saß wie gelähmt auf ihrem Stuhl, als wäre sie gerade aus der Bewusstlosigkeit erwacht. Auf ihren Wangen sah man eine Tränenspur, ihre Augen waren noch feucht. Als Wei Wuxian jedoch hereingeschleppt wurde, verwandelte sich das Leid in ihren Augen augenblicklich in Hass. Eiskalt blickte sie ihn an.

Auf dem Boden vor ihr entdeckte er eine Gestalt in der Form eines Menschen. Sein Leib war mit einem weißen Tuch zugedeckt worden und nur noch der Kopf schaute hervor. Mit ernster Miene beugten sich Lan Sizhui und die anderen Kultivierer gerade über den Körper, um ihn zu untersuchen. Leise diskutierten sie. Die Worte drangen an Wei Wuxians Ohr: »… Sie wurde vor weniger als dreißig Minuten entdeckt?«

»Wir hatten die Untoten gerade unter Kontrolle gebracht und eilten vom West- zum Ost-Hof, da lag die Leiche schon im Korridor.«

Bei der Gestalt handelte es sich um Mo Ziyuan. Wei Wuxian warf einen kurzen Blick zu ihm hinüber und konnte nicht anders, als erneut hinzusehen.

Diese Leiche sah aus wie Mo Ziyuan, dann wiederum aber auch nicht. Die Kopfform und die Gesichtszüge waren zwar eindeutig die dieses kleinlichen Cousins, aber die Wangen und Augenhöhlen waren tief eingefallen und die Augäpfel traten hervor, während die Haut ganz faltig war. Verglichen mit dem eigentlichen Mo Ziyuan, einem jungen Mann, schien diese Person um zwanzig Jahre gealtert zu sein. Auch schien es, als wäre ihm sein gesamtes Fleisch und Blut ausgesaugt worden zu sein, sodass er nur noch aus Knochen bestand, die von einer dünnen Schicht Haut umhüllt wurden. Wenn Mo Ziyuan zuvor nur hässlich gewesen war, dann war sein jetziger Leichnam nun hässlich und alt.

Wei Wuxian betrachtete die Leiche gerade genauer, als Frau Mo angestürmt kam. In ihrer Hand blitzte etwas in einem kalten Licht auf. Es war ein Dolch.

Lan Sizhui reagierte im Bruchteil einer Sekunde und wandte den Angriff ab. Noch bevor er etwas sagen konnte, kreischte Frau Mo los: »Mein Sohn ist grausam ermordet worden, ich muss ihn rächen! Wieso hältst du mich auf?«

Wei Wuxian versteckte sich hinter Lan Sizhui und ging in die Hocke. »Was hat das mit mir zu tun, dass dein Sohn grausam ermordet wurde?«

Lan Sizhui hatte die Szene miterlebt, die Wei Wuxian tagsüber in der Ost-Halle gemacht hatte. Anschließend hatte er zahlreiche ausgeschmückte Gerüchte über diesen unehelichen Sohn vernommen. Er hatte großes Mitleid mit diesem Geisteskranken und konnte daher nicht anders, als ihn zu verteidigen. »Werte Frau Mo, dem Erscheinungsbild der Leiche Eures Sohnes nach zu urteilen sind Blut, Fleisch und seine gesamte Energie vollständig aus ihm herausgesogen worden. Was eindeutig darauf hinweist, dass er bösen Geistern zum Opfer gefallen ist. Dieser Mann war es also sehr wahrscheinlich nicht.«

Frau Mos Brustkorb bebte. »Was wisst ihr denn schon?! Der Vater dieses Verrückten war ein Kultivierer, er hat sicher auch einiges an dunklen Zaubern gelernt!«

Lan Sizhui wandte sich um, schaute den anscheinend bedröppelten Wei Wuxian an und sagte: »Nun, dafür habt Ihr keine Beweise, daher …«

»Den Beweis findet ihr am Körper meines Sohnes!« Frau Mo wies auf die Leiche am Boden. »Schaut ihn euch doch selbst an! A-Yuans Leiche hat mir bereits verraten, wer sein Mörder ist!«

Keiner der Umstehenden musste etwas tun, denn Wei Wuxian zog mit Freude das weiße Tuch weg. Er riss es vom Hals runter bis zu den Füßen.

An Mo Ziyuans Leiche fehlte etwas.

Sein linker Arm war von der Schulter abwärts einfach verschwunden!

Frau Mo war außer sich. »Seht ihr das?! Ihr habt es hier und heute doch alle gehört, oder? Was der Verrückte gesagt hat. Er meinte, wenn A-Yuan noch einmal seine Sachen anfasst, würde er ihm den Arm abschlagen!« Nach diesem emotionalen Ausbruch verbarg sie schluchzend ihr Gesicht. »Aber mein armer A-Yuan hat überhaupt nichts von diesem Verrückten genommen. Und jetzt wurde er nicht nur von ihm verleumdet, ihm wurde auch noch irrsinnig und ohne jeden Skrupel das Leben genommen …«

Irrsinnig und ohne jeden Skrupel!

Viele Jahre waren vergangen, seit jemand ihn mit diesen Worten beschrieben hatte, und trotzdem fühlte es sich sehr vertraut an.

Wei Wuxian zeigte auf sich, hatte aber nichts zu erwidern. Er wusste auch nicht, ob nun er oder Frau Mo verrückt war. Drohungen dieser Art, etwa, dass er ganze Familien und Clans ausrotten und Abertausende Menschen töten, oder dass er ein Blutbad anrichten würde, hatte er in jungen Jahren oft ausgesprochen. Meist hatte er das allerdings nur so dahingesagt. Hätte er alles, was er je von sich gegeben hatte, auch wirklich wahr machen können, wäre er längst der Herrscher über die gesamte Kultivierungswelt.

Frau Mo wollte überhaupt keine Rache für ihren Sohn, sie suchte nur nach jemandem, an dem sie ihre Wut auslassen konnte.

Wei Wuxian wollte sich auf keinen weiteren Streit mit ihr einlassen und dachte kurz nach. Dann streckte er seine Hand aus, durchsuchte Mo Ziyuans Brust und zog etwas unter seiner Kleidung hervor. Als er es aufrollte, stellte er fest, dass es eine Yin-Anziehungsflagge war.

Augenblicklich begriff er. »Daran ist nur er selbst schuld!«

Als Lan Sizhui und die anderen sahen, was er von Mo Ziyuans Brust hervorgezogen hatte, verstanden auch sie. Wenn man an das Drama von zuvor zurückdachte, konnte man sich nämlich denken, was vorgefallen war: Mo Xuanyu hatte Mo Ziyuan in einem Anfall von Wahn bis auf die Knochen blamiert, sodass dieser sich an ihm rächen wollte. Da Mo Xuanyu jedoch draußen herumgestreunt war, war von ihm den halben Tag lang keine Spur zu finden gewesen. Also war Mo Ziyuan stattdessen in der Nacht heimlich zur Tat geschritten und hatte ihm eine Lektion erteilen wollen. Als die Nacht anbrach und er heimlich hinausging, kam er am West-Hof vorbei und entdeckte die Yin-Anziehungsflaggen auf den Mauerdächern. Er dachte, die eindringliche Warnung, abends das Haus nicht zu verlassen, nicht zum West-Hof zu gehen und schon gar nicht diese schwarzen Flaggen anzufassen, diente nur der Abschreckung jener, die diese kostbaren Schätze stehlen wollten. Er hatte keine Ahnung, welche Wirkung die Flaggen in Wirklichkeit besaßen und verwandelte sich, sobald er eine eingesteckt hatte, in eine lebendige Zielscheibe. Seit er seinen verrückten Cousin um dessen Talismane und magische Gegenstände gebracht hatte, hatte sich dieses Verhalten zur Sucht entwickelt. Er war ein notorischer Dieb und beim Anblick dieser wundersamen Zaubermittel brannte es ihm unter den Nägeln. Er musste sie unbedingt in die Finger bekommen.

Als die Besitzer der Flaggen im West-Hof mit den Untoten beschäftigt waren, passte er die Gelegenheit ab und steckte heimlich eine ein.

Für die Flaggenformation wurden insgesamt sechs Yin-Anziehungsflaggen verwendet, wovon fünf im West-Hof angebracht worden waren. Die Kultivierer des Lan-Clans dienten als Köder, trugen jedoch unzählige spirituelle Waffen zum Schutz bei sich. Mo Ziyuan hingegen hatte zwar nur eine Flagge gestohlen, trug jedoch nichts bei sich, das ihn hätte beschützen können. Er war somit ein leichtes Opfer und die bösen Geister wurden auf ganz natürliche Weise von ihm angezogen.

Wenn es nur Untote gewesen wären, wäre das nicht weiter tragisch gewesen. Sie hätten ihn vielleicht ein paar Mal gebissen, aber er wäre nicht sofort gestorben und man hätte ihn noch retten können. Zu seinem Pech hatte diese Yin-Anziehungsflagge jedoch etwas Gefährlicheres als Untote angelockt: Einen unbekannten bösen Geist, der ihn nicht nur tötete, sondern auch noch seinen Arm entwendete!

Wei Wuxian warf einen Blick auf sein Handgelenk und tatsächlich, die Wunden am linken Unterarm waren vollständig verheilt. Anscheinend erkannte der Pakt Mo Ziyuans Tod als seinen Verdienst an. Immerhin hatte er die Yin-Anziehungsflaggen ja überhaupt erst erfunden, und man konnte sagen, dass durch eine Aneinanderreihung von Zufällen und durch Umwege das Ziel letztendlich erreicht worden war.

Frau Mo kannte das ungebührliche Verhalten ihres Sohnes zwar nur zu gut, würde jedoch niemals zugeben, dass Mo Ziyuans Tod eigenverschuldet war. So wurde sie erst unruhig und wirkte beschämt, dann rastete sie schließlich aus. Sie nahm eine Teeschale und schleuderte sie Wei Wuxian an den Kopf. »Hättest du ihn gestern nicht vor all den Leuten gedemütigt, wäre er nachts nicht rausgegangen! Das ist alles deine Schuld, du Bastard!«

Wei Wuxian war längst darauf vorbereitet und wich aus.

Frau Mo wandte sich zu Lan Sizhui um und fuhr ihn schrill an: »Und ihr! Ein nutzloser Haufen seid ihr! Schimpft euch Kultivierer und wollt Dämonen vertreiben, dabei schafft ihr es nicht mal, ein Kind zu beschützen! A-Yuan war doch noch so jung!«

Die anwesenden Kultivierer waren ebenfalls noch jung und hatten bisher nur bei wenigen Gelegenheiten praktische Erfahrungen sammeln können. Sie hatten nicht mit den ungewöhnlichen Ereignissen an diesem Ort gerechnet, geschweige denn mit solch bestialischen Geistern. Sie waren sich bereits darüber bewusst, dass sie etwas übersehen hatten und hatten dementsprechend Schuldgefühle. Aber derart willkürlich beschimpft zu werden, ließ sie dennoch erbleichen. Immerhin kamen sie von einem angesehenen Clan und niemand hatte es bisher gewagt, so mit ihnen umzuspringen.

Die Lehren des Gusu-Lan-Clans waren sehr streng und untersagten es, die Hand gegen normale Menschen zu erheben, die sich nicht wehren konnten. Sie durften nicht einmal unhöflich werden. Und selbst wenn es ihnen nicht behagte, mussten sie alles mit unglücklicher Miene herunterschlucken.

Wei Wuxian konnte das nicht mehr mit ansehen. Selbst nach all den Jahren ist der Lan-Clan immer noch so tugendhaft. Wozu soll diese sinnlose Selbstbeherrschung gut sein? Man kann doch nicht all seine Emotionen unterdrücken. Schaut mich an!

»Pah!«, platze es aus Wei Wuxian heraus. »Was glaubst du, wen du da beschimpfst?! Behandelst du wirklich helfende Fremde wie deine hauseigenen Diener? Diese Leute kommen von weither, um die Dämonen und Geister zu vertreiben – ohne dafür Geld zu fordern. Und plötzlich schulden sie dir was? Wie alt war dein Sohn? Dieses Jahr wäre er doch siebzehn geworden. Er soll noch ein Kind gewesen sein? Wie alt ist denn ein Kind, dass es die menschliche Sprache nicht versteht? Wurden wir gestern nicht mehrmals eindringlich gewarnt, nichts innerhalb der Formation anzufassen und uns dem West-Hof nicht zu nähern? Dein Sohn geht mitten in der Nacht hinaus, um Sachen zu stehlen, und dafür gibst du mir die Schuld? Und ihnen?«

Lan Jingyi und die anderen atmeten auf und in ihre Gesichter trat endlich wieder Farbe.

Frau Mo war in tiefster Trauer und hegte zugleich einen unbändigen Hass. In ihrem Kopf schwirrte überall das Wort »sterben« herum. Es war aber nicht sie, die sterben und ihren Sohn begleiten wollte, es sollten stattdessen alle anderen Menschen auf der Welt sterben – besonders die, die vor ihr standen. Wie immer, wenn etwas vorfiel, kommandierte sie ihren Mann herum. Also packte sie ihn und keifte: »Ruf die Leute zusammen! Sie sollen alle reinkommen!«

Ihr Mann jedoch war geistig abwesend. Vielleicht war der Tod seines einzigen Sohnes ein zu schwerer Schlag für ihn, jedenfalls stieß er sie zurück.

Darauf war seine Gattin nicht vorbereitet und fiel zu Boden, starr vor Schreck.

Normalerweise hätte Frau Mo ihn nicht einmal packen müssen, sie hätte nur etwas lauter werden müssen und er hätte sich darum gekümmert. Doch jetzt wagte er es plötzlich, sich zu wehren!

Die Diener des Hauses erschraken beim Anblick ihres Gesichtsausdrucks. A-Ding wollte ihr zitternd aufhelfen. Ihre Herrin jedoch ballte nur die Hand vor der Brust zusammen und befahl ihrem Mann mit bebender visibility: hidden zu verschwinden. »Du … Du … Geh mir aus den Augen!«

Ihr Mann schien sie nicht zu hören, sodass A-Ding A-Tong mit Blicken Signale gab und A-Tong ihn schließlich hastig hinausbrachte.

Im Ost-Hof herrschte überall großes Durcheinander. Als es endlich ruhiger wurde, machte sich Wei Wuxian wieder daran, die Leiche zu untersuchen. Er hatte jedoch kaum einen Blick auf sie geworfen, als ein schriller Schrei aus dem Hof ertönte.

Die Menschen in der Halle strömten hinaus. Im Ost-Hof entdeckten sie zwei Personen verkrampft auf dem Boden. Eine davon war A-Tong, der zusammengesackt dasaß. Er lebte. Die andere lag am Boden. All sein Blut und Fleisch schien ihm ausgesaugt worden zu sein. Er war faltig und vertrocknet. Sein linker Arm fehlte und sein Körper war so blutleer, das aus den Wunden nichts mehr floss. Der Zustand der Leiche glich dem von Mo Ziyuan.

Frau Mo hatte gerade A-Dings stützenden Arm abgeschüttelt, doch als sie die Leiche auf dem Boden sah, wurde ihr Blick leer. Die Kraft, um eine Szene zu machen, verließ sie und sie fiel in Ohnmacht.

Wei Wuxian stand gerade in ihrer Nähe, fing sie auf und übergab sie der herbeieilenden A-Ding. Dann schaute er auf sein rechtes Handgelenk, von dem nun auch Wunden verschwanden.

Sie waren gerade über die Türschwelle der Halle getreten und noch nicht einmal aus dem Ost-Hof heraus gewesen, als Frau Mos Mann an Ort und Stelle einen grausamen Tod gestorben war. Es war in Sekundenschnelle geschehen.

Lan Sizhui, Lan Jingyi und die anderen waren alle etwas bleich um die Nase. Lan Sizhui gewann als Erster seine Fassung zurück und fragte A-Tong, der immer noch auf dem Boden saß: »Hast du etwas gesehen?«

A-Tong war zu Tode erschrocken und bekam den Mund nicht auf. Er war nicht imstande zu antworten, sondern schüttelte nur ununterbrochen den Kopf.

Lan Sizhui war höchst beunruhigt. Er wies seine Gefährten an, ihn ins Haus zu bringen und drehte sich dann zu Lan Jingyi um. »Hast du das Signal gesendet?«