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Wer bestimmt darüber, wie und wann wir sterben? Tommy Schmidt wirft einen komischen und provokanten Blick auf ein wichtiges politisches und gesellschaftliches Thema. Satirisch zugespitzt, streitbar und unterhaltsam. Satirischer Roman – oder realistische Zukunftsvision? Deutschland in einer nicht allzu fernen Zukunft: Lasse Wiesenthal ist erfolgreicher Eventunternehmer, Ende fünfzig und unheilbar krank. Die Ärzte sagen ihm einen jahrzehntelangen Leidensweg mit einem langsamen, aber unaufhaltsamen Verfall voraus. Statt sich diesem Schicksal zu ergeben, plant er seinen Freitod durch Sterbehilfe. Es soll ein Abschiedsfest sein. Und das ist dann auch gleich eine Geschäftsidee: Sterben als das ultimative Event! Man kann mit Geld oder mit Organen bezahlen, denn sowohl aktive Sterbehilfe als auch Organhandel sind inzwischen gesetzlich liberalisiert. Er baut ein Eventcenter, das Heaven’s Gate, das auch von Kranken- und Rentenversicherungen mitfinanziert wird. Dumm nur: Wie viele große Bauvorhaben verzögert sich die Fertigstellung um Jahre: Proteste, Naturschutz, Pfusch, Schwarzarbeiter, Mafia, Bombenblindgänger, Betrug, alles, was passieren kann, passiert auch. Währenddessen steuert Lasses Leben unabänderlich auf sein Ende zu. Sterben als das ultimative Event! Ein satirischer Blick auf ein wichtiges gesellschaftliches Thema.
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Seitenzahl: 428
Satirischer Roman – oder realistische Zukunftsvision? Deutschland in einer nicht allzu fernen Zukunft: Lasse Wiesenthal ist erfolgreicher Eventunternehmer, Ende fünfzig und unheilbar krank. Die Ärzte sagen ihm einen jahrzehntelangen Leidensweg mit einem langsamen, aber unaufhaltsamen Verfall voraus. Statt sich diesem Schicksal zu ergeben, plant er seinen Freitod durch Sterbehilfe. Es soll ein Abschiedsfest sein.
Und das ist dann auch gleich eine Geschäftsidee: Sterben als das ultimative Event! Man kann mit Geld oder mit Organen bezahlen, denn sowohl aktive Sterbehilfe als auch Organhandel sind inzwischen gesetzlich liberalisiert. Er baut ein Eventcenter, das Heaven’s Gate, das auch von Kranken- und Rentenversicherungen mitfinanziert wird.
Dumm nur: Wie viele große Bauvorhaben verzögert sich die Fertigstellung um Jahre: Proteste, Naturschutz, Pfusch, Schwarzarbeiter, Mafia, Bombenblindgänger, Betrug, alles, was passieren kann, passiert auch. Währenddessen steuert Lasses Leben unabänderlich auf sein Ende zu.
Wer bestimmt darüber, wie und wann wir sterben? Tommy Schmidt wirft einen komischen und provokanten Blick auf ein wichtiges politisches und gesellschaftliches Thema. Satirisch zugespitzt, streitbar und unterhaltsam.
Tommy Schmidt
Heaven's Gate
Satirischer Roman
eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2017
Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg
Tel. +4940 31108081, [email protected]
www.culturbooks.de
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj
eBook-Herstellung: CulturBooks
Erscheinungsdatum: März 2017
ISBN 9783959880732
Für Louis, Anton, Sigrid, Ingi und Moni.
Das mag ich so an Jan: Er rückt mit der Wahrheit raus, da muss man den Herrn Dr. med. nicht lange bitten: »Dieses Kribbeln wird bleiben und sich langsam weiter ausdehnen, auch auf das andere Bein.«
Aha. Na, dann hab ich schon ’ne Ahnung, wie es weitergeht, hab mich da schon mal ein bisschen informiert: »Schließlich werden meine Beine gelähmt sein, dann fangen die Arme an zu kribbeln, bevor auch die gelähmt sind, und das geht dann jahrelang so, bis ich mich schließlich gar nicht mehr rühren kann. Richtig?«
»Ja, genau.«
»Und wie lange leb ich dann noch?«
»Da gibt’s eigentlich keine Obergrenze. Es gibt Leute, die leben seit dreißig Jahren ...«
»Klingt eher nach sie werden gelebt. Wahrscheinlich von Pflegerobotern.«
»Okay, Lasse, stimmt. Das Leben, das du die letzten dreißig Jahre geführt hast ...«
»Sorry, warte mal, das Handy ... Ja? Wie, die Geburt verzögert sich. Sind die irre? Die Location kostet hunderttausend Euro am Tag! Die sollen mich nicht verarschen, die sollen jetzt die Scheißwehen einleiten, da gibt’s Mittel! ... Sorry, Jan, das war echt wichtig.«
»Du bringst jetzt tatsächlich die Geburt von Cynthia Willis’ Baby? Live auf AggleTV? Lasse, du bist echt verrückt. Also dieses ...«
»Sorry noch mal ... Nein! Kein Kaiserschnitt! Okay, okay, dann morgen, ist okay. Du machst das super. Was? … Nee, alles okay, bin grad beim Arzt. Ja, alles okay, bis nachher.«
»War das Benno? Der war schon immer ganz der Papa. Also noch mal, dein Trip auf dem Gaspedal ist bald vorbei, und in spätestens fünf Jahren bist du wirklich vollständig gelähmt. Du hast die Welt aufgemischt und auf den Kopf gestellt, niemand hat in weniger als sechzig Jahren mehr Unruhe gestiftet als du. Am besten setzt du dich auf die Terrasse und schreibst einfach deine Memoiren. Ach ja, du hattest vorhin nach Therapien gefragt. Tut mir leid, medizinisch gibt’s da noch nichts. Ach du, Lasse, sag mal, hast du die Karten für … danke, Lasse, Miriam wird begeistert sein.«
»Hieß die nicht Agneta?«
»Schlechte Witze sind ein gutes Zeichen, Lasse, bis der Morbus bei dir richtig einschlägt, dauert es wirklich noch ’ne ganze Weile, genieße die Zeit, die dir bleibt.«
Ich liege auf dem Sofa in unserer Wohnung in Kreuzberg. Ich wohne mit Benno zusammen, der ist allerdings selten da. Wenn ich hier liege, dann surfe ich entweder auf meinem Tablet rum und schreibe Messages, oder ich lasse meine Gedanken fließen, und das ist auch einer der wenigen Orte auf der Welt, wo ich das richtig gut kann.
Sechs Wochen ist das jetzt schon her, dass Jan mir seine Diagnose in the face geballert hat. Ich bin Eventunternehmer, und es gibt tatsächlich wirklich nichts, was ich verpasst haben könnte – und dass mein Vorhang in fünf Jahren fällt: okay. Aber diese Lähmungsscheiße werd ich mir nicht geben, no go, never! Ich muss das jetzt mal den Kindern sagen.
Meine geliebte Nelly. Die Mutter von Benno und Karla. Sie ist vor zehn Jahren an Krebs gestorben, und das war echt bitter. Eine der schönsten Frauen des Landes, abgemagert, kahl, wund. Ich hab sie auch in diesem Zustand geliebt, na klar. Aber das hat sie kaum getröstet, sie hat es gehasst, so ausgeliefert zu sein: fremde Menschen, die an ihr herumbehandeln, Maschinen, die bestimmen, wann und wie sie sich bewegt, Krankenschwestern, die mit Morphium dealen, sich aber nicht in Geld, sondern in Unterwürfigkeit bezahlen lassen. Meine Kinder werden so was nicht noch mal erleben: Ich steig da rechtzeitig aus.
Hab ich gesagt, ich bin Unternehmer? Richtig! Ich wäre keiner, hätte ich bei der Gelegenheit nicht gleich auch eine Geschäftsidee: Heaven’s Gate – für einen selbstbestimmten Wechsel in ein anderes Dasein. Sterben ist out, wir nennen es »freiwilliges Ableben« und verkaufen es als ultimatives Erlebnis. Wie eine Art umgekehrtes Wellness-Geburtshaus, auch mit soner Atmo. Man kann sich Zimmer nach Themen aussuchen, zum Beispiel »Zen-Garten« oder »Waldschlösschen«. Musik, Duftnoten, Buffet. Außerdem bringt man Freunde und Angehörige mit. Geiler als jede Pyramide, jedes Potentaten-Mausoleum, ein ewiges Denkmal, mein ewiges Denkmal für die Art des Ablebens als Event – eine Idee, geboren von Lasse Wiesenthal, Eventunternehmer in Berlin. Ich check schon Grundstücke und Architekten, meine Anwälte prüfen die Rechtslage. Das ist schon ein bisschen tricky, kein Vergleich zu der Show von Cynthias Geburt.
Benno, mein Junge, steckt schon knietief im Projekt. Er tut sich mit dem Thema Sterben nicht so schwer wie Karla, er ist viel jünger, er hat Nellys Drama nicht so haut- und seelennah mitgekriegt. Bin gespannt, wie Karla reagiert, wenn sie erfährt, dass ich selbst mein erster Kunde sein werde, im Heaven’s Gate.
Moment, da kommt eine Mail von … aha, Benno. Die Kalifornier entschuldigen sich für ihr Rumgezicke wegen der Hotels ohne Swimmingpool und bitten uns um das Hotelarrangement gemäß Teilnehmerangebot. Ich wusste, dass sie erst ein bisschen schmollen und dann einlenken würden, bevor sie sich ein Hostel mit wild gewordenen italienischen Schülern teilen müssen. Zurzeit veranstalte ich gerade die S.Y.N.C., die wichtigste internationale Internetkonferenz, die sonst in Kalifornien stattfindet. Weil aber ein paar wichtige Russen kein Visum für die USA kriegen, ist es halt in Berlin, und wenn es in Berlin ist, dann mach ich das, wer sonst. Auf der S.Y.N.C. wird nervös diskutiert, was es für wen bedeutet, dass Apple und Google fusioniert haben, um wenigstens gemeinsam gegen die Chinesen bestehen zu können. Dass Facebook getreu dem Prinzip »Gier frisst Hirn« allzu schamlos die persönlichen Daten seiner Mitglieder verwertet hat und seine Weltmarktführung an GROOPS abgeben musste. Und dass Vidspace klammheimlich mit allen relevanten Rechteverwertern Lizenzvereinbarungen getroffen hat und man da nun wirklich alles umsonst sehen und hören kann, wodurch YouTube ziemlich in die Defensive geraten ist.
Überhaupt, die Kalifornier: Als hätten sie sonst keine Probleme, wollen sie unbedingt Hotels mit Swimmingpool! Wahrscheinlich haben sie seit Wochen nicht mehr gebadet. Klar, in den letzten fünf Jahren hat es in Kalifornien so viel geregnet wie sonst in einem einzigen Februar. Aber Hotels mit Swimmingpool sind in Berlin nun mal leider immer ein Jahr im Voraus durchgebucht von Leuten, die sich das leisten können, zum Beispiel Russen, Chinesen und Araber. Ich sag Benno, dass er die Amis in Hotels mit einer »save water, save money!«-Offer einquartieren soll: annehmbare Zimmerpreise, die einen Trinkwasserverbrauch von zwanzig Liter pro Person und Tag beinhalten. Spätestens seit in Berlin die meisten Schwimmbäder schließen mussten, haben wir verstanden, dass Wasser selbst in Deutschland ein knappes Gut ist.
Stau. Kein Problem, immer ist irgendwas. Vor drei Wochen war es ein ukrainischer Laster, der nicht unter einer Brücke durchpasste, aber auch nicht wenden konnte. Eine Woche später war es das austretende Wasser eines Rohrbruchs, das den märkischen Sand unter der Fahrbahndecke weggespült hat. Und diese Fahrbahndecke war dann zu dünn für einen belgischen Reisebus, der seinen Arsch in den Himmel reckte. Heute ist es ein Umzug bunter Skelette, die einen Totentanz feiern. Mädchen in farbenfrohen Kleidern, das Gesicht zum Totenkopf geschminkt. Monster mit Sombreros, von oben bis unten mit Patronengurten behängt, vorangetrieben von einer Marschkapelle. Wahnsinn, wie viele Mexikaner es in Berlin gibt. Obwohl, mehr als die Hälfte der Mitläufer sind bestimmt zugezogene Schwaben und Westfalen, die gestern noch beim High-Heels-Race der Dragqueens am Nollendorfplatz rumgestanden haben. Mein arabischer Taxifahrer murmelt Flüche, bis er es nicht mehr aushält und sich mit hochrotem Kopf in die Hupe stemmt. Warum hat er es denn so eilig? Meine Taxifahrten allein in Berlin aneinandergereiht würden locker für einmal rund um den Globus reichen. Zeit, sich mal wieder mit einem Taxifahrer zu fetzen: »Jetzt piss dich nicht so ein. Das ist mein Taxi, und in meinem Taxi werden keine Kinder beschimpft, auch nicht, wenn sie mit gelben Blumen schmeißen.«
»Das ist nicht dein Taxi, das ist mein Taxi.«
»Es ist meins, ich bezahle es. Und wenn du nicht die Luft anhältst, steige ich auf der Stelle aus.«
Das wirkt. Bis nach Zehlendorf sind es von hier aus gut dreißig Euro. Zapata und Pancho Villa, beide von Hunderten Kugeln durchsiebt, reichen mir kleine bunte Totenköpfe aus Marzipan durchs Fenster.
Ich mache dem Taxifahrer ein Friedensangebot: »Hey, du, heute ist Día de los muertos, der Tag der Toten, die ihre mexikanischen Verwandten besuchen. Komm schon, nimm einen, ihr Araber mögt doch so süßes Zeug.«
Er nimmt eins und lacht. Der Spuk zieht weiter. Wir passieren schon den Zeli-Brunnen, gleich müssen wir da sein. Der Zeli-Brunnen besteht aus lauter Wasserspeiern. Frauen, Kinder, Frösche, Fabeltiere, alle speien Wasser. Sollten sie. Dabei sind sie selbst am Verdursten. In den Brunnen Berlins fließt schon lange kein Wasser mehr. Früher war nur der Betrieb selbst zu teuer, aber jetzt ist das Wasser schon zu kostbar geworden für Zierbrunnen. Außerdem würde es nicht lange im Brunnen bleiben. Im letzten Frühjahr, als der Zeli-Brunnen wie jedes Jahr in Betrieb genommen werden sollte, warteten schon früh morgens zig Leute mit Kanistern. Keiner wollte hören, dass das kein Trinkwasser sei. Der Bezirk Steglitz-Zehlendorf hat dann wie – soviel ich weiß – alle anderen Bezirke auch beschlossen, ihre Brunnen auf bessere Zeiten warten zu lassen.
Da sind wir: Im Gut Preussen kann man sehr gut große Reden schwingen und diskrete Verhandlungen führen. Außerdem kriegt man hier noch ein ehrliches Filet und nicht nur so Vollwertkompositionen aus … ach, ich mag gar nicht dran denken. Und für gut zahlende Gäste gibt’s auch genug Wasser.
Karla, meine Süße. Sie sieht so bezaubernd aus. So reizend! Meine Tochter. Wie Nelly. Und wie ihre Mutter kann sie echt zur Furie werden.
»Paps, danke, dass du deine Kinder ins feinste Restaurant der Stadt einlädst. Aber wieso ins Hinterzimmer? Seit wann willst du nicht gesehen werden? Was stimmt denn da nicht?«
»Karla, Benno, jetzt hört mir mal gut zu. Mein Projekt Heaven’s Gate für selbstbestimmtes ...«
»Du meinst dein Sterbehaus für zahlende Gäste.«
»Karla! Jetzt lass Papa doch mal ausreden!«
»Also dieses Projekt, das ist jetzt nicht mal irgend ’n Flagshipstoreopening oder so. Das ist mein Lebenswerk! Das wird das Beste, was ich je gemacht habe. Und ich selbst werde mein erster Gast.«
Totenstille. Wie in einer Grabkammer. Nur das entfernte Klirren und Klappern von Gläsern und Tellern, das Lachen der Saalgäste, ihre Gespräche über neue Häuser, Kinder, Operninszenierungen, Mandate und Vorstandsposten sind zu hören. Karla will Klarheit. »Karla will Klarheit«, das war immer son Running Gag zwischen mir und Nelly, Karla wollte immer genau wissen, was läuft: »Der Verdacht hat sich also bestätigt, und du läufst seit sechs Wochen mit der Diagnose rum. Richtig? Du lässt Benno Investoren für dein Sterbehaus akquirieren, während du längst weißt, dass du selbst bald als Erster durch dein Heaven’s Gate mit einer Wohlfühlabschiedsvorstellung treten wirst. Und das erzählst du uns hier bei geschmorten Bäckchen an Hagebuttenjus, bravo, Paps, Vorhang zu für Lasse Wiesenthal!«
Ich sag jetzt mal lieber nichts. Aber Benno: »Als ich dich neulich von der Cynthia-Geburtsshow angerufen hab, da warst du echt komisch am Telefon. Du warst da grad beim Arzt. Und der hat dir da gerade die Diagnose verpasst, stimmt’s?«
Und zu Karla: »Ich finde, das ist Papas Sache. Vielleicht will er sich und uns ja ersparen, das alles noch mal mitzumachen.«
»Ja, Mama hat schlimm gelitten, aber sie hat auch um ihr Leben gekämpft! Und du, Benno, du hast auch verdammt um dein Leben gekämpft. Monatelang, jede Minute.«
Karla liebt mich, Benno versteht mich, und ich mach jetzt eine klare Ansage in eigener Sache: »Leute, jetzt hört mal zu: Ich bin noch nicht mal sechzig und hatte ein total erfülltes Leben. Ich hab euch erwachsen gekriegt, ohne Ende Spaß gehabt und werde jetzt noch ein bisschen die Welt verändern, okay? Das Heaven’s Gate ist ja auch eine Mission. Ein Statement! Und, ja, stimmt, ich hab keinen Bock, voll behindert von anderen Leuten abhängig zu sein. Und was Mama passiert ist, muss heute echt nicht mehr sein.«
Bei Karla und mir kullern Tränen, Benno isst. Ich wusste, es würde ihm schmecken im Gut Preussen. Dann erhebt er sein Glas, steht auf und prostet uns zu: »Auf Mama!«
Mein Sohn. Musste ich als Säugling um mein Leben kämpfen? Nein, musste ich nicht. Aber Benno musste es, drei Monate lang. Als Frühgeburt von gerade mal siebenhundert Gramm. Wissenschaft und Forschung hatten viel aufzubieten, und nirgends auf der Welt hatten Frühgeborene dieser Größe bessere Überlebenschancen als in Berlin. Aber auch die lagen bei kaum mehr als fifty-fifty.
Ärzte, Schwestern und Nelly, alle haben an Bennos Seite gekämpft. Der Tod zerrte an seinen winzigen Gliedern, jeden Atemzug musste Benno dem Tod abtrotzen, jedes Beeep, jede Kurve vom Dauer-EKG waren Zeichen kleiner Siege.
Auch ich habe gekämpft, an der Businessfront: Immerhin, es ging um alles oder nichts! Auch dieser Kampf hatte was Existenzielles, ich hatte wieder alles auf eine Karte gesetzt, hätte ich das Ding vergeigt, hätte es mich komplett zerlegt, es ging um Erfolg oder Untergang: die X-Edges, das ultimative Extremsportevent. Extrem-Downhill mit Mountainbikes, Extrem-Freeclimbing, Extrem-Bungeejumping. Mit Limit Experiences zum Zugucken konnte man viel Geld verdienen, die Leute zahlten nicht schlecht für das Erlebnis, dabei zu sein, wenn andere an ihrer Stelle auf des Messers Schneide ritten.
Ein Bungeejumper lag dann auf der Intensivstation der Chirurgie, einen Flur hinter der Frühgeborenenstation. Benno hat es geschafft: Extrem-Brutkasten-Surviving! Ich habe es auch geschafft, die X-Edges gingen echt durch die Decke, ich war endgültig auf dem Erfolgstrip. Der Bungeejumper hat es nicht geschafft. Er war Anfang zwanzig, so alt, wie Benno jetzt.
Ich denke an Nelly, die für Bennos Leben gekämpft und den Kampf um ihr eigenes Leben schließlich verloren hat. Und ich denke an das Initial-Meeting für Heaven’s Gate: die Businessplan-Präsentation für Investoren. Wir müssen das sorgfältig vorbereiten, die richtigen Leute einladen, eine passende Meeting Location casten, spätestens im Dezember sollte das stattfinden.
Auf dem Parkplatz fällt Karla noch was ein: »Du, Paps, erinnerst du dich an unsere Zeit in Los Angeles? Ist gut zwanzig Jahre her. Da hat der total unabhängige Eventunternehmer Lasse Wiesenthal seine Familie unter den Arm genommen, alles andere hinter sich gelassen und beschlossen, Amerika aufzumischen. Wenn ich dich erinnern darf: Dein Ziel war, den Superbowl zu veranstalten! Das hat nicht ganz geklappt, Paps, das hat alles gar nicht geklappt. Das war aber auch nicht wirklich schlimm! Wir sind ganz einfach zurück nach Berlin, und du hast erst mal etwas kleinlaut wieder kleinere Brötchen gebacken und bist bald wieder groß rausgekommen. Heute spricht niemand mehr davon. Und das ist der Unterschied, Paps: Aus Los Angeles kann man zurückkehren. Denk mal drüber nach.«
Ich verspreche es ihr und gebe ihr und Benno einen Gutenachtkuss. Die L.A.-Nummer hatte ich glatt verdrängt. Karla bringt mir so was bei passenden Gelegenheiten immer in Erinnerung. Das ist dann ziemlich unbequem. Aber auch wertvoll. Wenn ich Karla nicht hätte. Sie bringt mich wieder auf den Boden.
Ein licht- und luftdurchfluteter Konferenzraum am Wannsee. Pappeln rascheln vor der Terrasse. Könnte fast ein Zimmer im Heaven’s Gate sein. Alle, die ich eingeladen habe, sind auch gekommen. Sie kennen mich, wenn nicht von gemeinsamen Geschäften, dann aus den Medien. Ich gelte als schillernde, undurchsichtige Persönlichkeit mit der Gabe, Illusionen zu verkaufen. Dabei umgebe ich mich mit schillernden, undurchsichtigen Persönlichkeiten, und wundersamerweise kommt immer irgendwie Geld dabei raus. Vor allem aber bin ich bekannt dafür, dass man Geld mit mir verdienen kann.
Meine Gäste:
Dr. Hahn, Vertreter mehrerer Pensions- und Investmentfonds. Spielt bei Verhandlungen mit großer Hingabe den leidenschaftslosen Profi. Mit seiner wahren Leidenschaft für Tontaubenschießen und Tweedanzüge kaschiert er geschickt sein Gespür für Trends. Guter Typ, bisschen älter als ich. Ich hatte ihn mal als Teilnehmer bei einer Talkshow.
Kati Singhammer, früher Weltmeisterin im Ski-Abfahrtslauf, jetzt im Vorstand eines Fitness- und Wellnesskonzerns. Temperamentvoll, offen und ehrlich. Keine Kinder, ab und zu mal Männer. Immer hoch konzentriert bei der Sache. Merkt jeden Fehler sofort. Ich hatte sie als Keynote Speaker beim Zukunftstag der privaten Krankenkassen.
Dominik Fehr, der Sohn von Hermann Fehr, dem Tiefkühlkostmilliardär, will mehr die Welt verändern als Geld verdienen. Er ist besessen von seiner Mission. Wahrscheinlich will er damit auch eine Sinnkrise kompensieren, die er hatte, als er einen Aufsichtsratsposten im Tiefkühlimperium seines Vaters übernehmen musste. Seine erste eigene Milliarde hat Dominik Fehr mit Ungeziefer gemacht: Kakerlaken, Maden, Mehlwürmer, Heuschrecken. Wobei eine derart rückständige Form des Sprachgebrauchs – »Ungeziefer« – bei den »Pionieren neuer Grundlagen für die Ernährung der Menschheit« nur Kopfschütteln auslösen würde. Es wäre die gleiche Rückständigkeit, die es okay fände, weiterhin für die Produktion von einem Kilogramm Rindfleisch acht Kilogramm Getreide mit über fünfzehntausend Liter Wasser zu verbrauchen. Dazu kommen die Vernichtung von biodiversem Regenwald und der Ausstoß von dreihundertfünfunddreißig Kilogramm Treibhausgasen.
Dominik hat in ein Start-up investiert, das mit einem Produkt unter dem Markennamen Breat® gerade den weltweiten Lebensmittelmarkt aufmischt. Mit einer konsequenten Kommunikationsstrategie. Erstens: Breat® ist weder Fleisch noch Fisch, aber es ist hochwertige Nahrung. Zweitens: Breat® spricht nicht darüber, woraus es gemacht ist, aber gerne, woraus es besteht: Eiweiß, Proteine, Vitamine, Kalzium. Drittens: In allen ökologischen Bilanzierungsmodellen ist Breat® Fleisch und Fisch deutlich überlegen. Viertens: Es schmeckt! Fünftens: Je nach nationalem Markt ist es bis zu neunzig Prozent billiger als Fleisch oder Fisch.
Ich habe für Dominik vor einiger Zeit eine große Presseverkostung mit internationalen Spitzenköchen organisiert. Serviert wurde im Nouvelle Epoque am Griebnitzsee. Eingeladen waren die international wichtigsten Gastrokritiker sowie Celebrities mit bekannter Leidenschaft für erlesenste Gourmetspeisen: Oscarpreisträger, Bestsellerautoren, Stardirigenten, Thronfolger, Modemacher. Und weil es Dominik um »Neues Essen für eine neue Gesellschaft« ging, hatte ich auf seinen ausdrücklichen Wunsch auch nicht zu wenige querdenkende und noch queerer lebende Paradiesvögel dazu geladen, die wahrscheinlich noch nie in ihrem Leben mehr als hundert Euro für ein Mittagessen ausgegeben hatten. Alle Geschlechter waren vertreten: Männer, Frauen und alles, was nach eigenem Bekenntnis dazwischen oder daneben liegt. Das gleichzeitige Aufeinandertreffen so vieler Maîtres führte zu einem irren Wettbewerb der Fantasien: Wirsingschaum, Zwergorangenkompott, Brennnesselgel, gepuffter Dinkel, Pfefferminzpapier mit »Himbeerklecker« ist nur das, was ich mir merken und überhaupt benennen konnte.
Für unsere Gäste im Nouvelle Epoque war es Routine, sich an sich selbst zu berauschen. Aber hier hatten sie sich gerade in einem gemeinsamen Geschmacksabenteuer zur nouvelle epoque empordelektiert – ohne es zu wissen. Was alle Kreationen gemein hatten: Es gab weder Fleisch noch Fisch. Das wussten alle vorher. Was außer Dominik und den Köchen niemand wusste (auch ich nicht): Alle Gerichte basierten auf Breat®! Eine groß angelegte Werbekampagne mit allen Köchen und Kreationen und ihren Rezepten brachte es dann ans Licht.
Der große Durchbruch in Deutschland kam mit der Einführung der hundertprozentigen Verbrauchssteuer auf Fleisch und Fisch, mit der die Bundesregierung im ausdrücklichen Auftrag ihrer Wähler ihren Beitrag zur Erfüllung der international vereinbarten Klimaziele leisten wollte.
Wie Dr. Hahn hat auch Dominik ein sicheres Gespür für Trends, wobei Dominiks Domäne eher technologische Felder sind, die von Dr. Hahn volkswirtschaftliche. Was Dominik davon überzeugt hat, ein Engagement bei Heaven’s Gate in Betracht zu ziehen: »Wer sich freiwillig hauptsächlich von Mehlwürmern, Schaben und Asseln ernährt, der ist auch bereit, für seine Einschläferung zu bezahlen.« Natürlich gibt es auch im Gut Preussen Breat®-Gerichte. Ich bezweifle aber, dass ich in dieser neuen Geschmackswelt noch ankomme.
Obwohl er sehr viel Geld verdient, scheint Dominik überhaupt kein Interesse an persönlichem Eigentum zu haben. Er wohnt zwar meistens in den besten Hotels und lässt sich mit komfortablen Mietwagen chauffieren. Aber wenn man bei Dominik überhaupt von einem festen Wohnsitz sprechen kann, dann von einem Hotelzimmer in Frankfurt, das er jährlich einmal im Voraus bezahlt.
Als weiterer Teilnehmer wäre da noch Marlon Reitz, wenig älter als Benno. Keine Ahnung, warum eine der größten Hotelketten der Welt einen Praktikanten schickt.
Die Gesichter sind neugierig bis skeptisch. Natürlich waren alle heiß auf das Thema meiner Einladung: »Selbstbestimmtes Sterben – der Milliardenmarkt der Zukunft«. Jetzt will ausgerechnet Lasse Wiesenthal, der Erlebnismacher, der Big Player im Entertainmentbusiness, den First Mover im Sterbemarkt geben?
Nach einstimmendem Begrüßungsbla bin ich schnell mitten im Thema: »Nachdem wir gelernt haben, unser Leben zu gestalten, lernen wir nun, auch das Sterben zu beherrschen. Wir sind nicht länger verurteilt zu leiden, bis die Medizin ihre Macht an das Schicksal abgeben muss. So, wie wir aufhören zu essen, wenn wir satt sind, werden wir aufhören zu atmen, wenn unser Leben erfüllt ist. Und weil wir bestimmen können, wann es passiert, können wir auch bestimmen, wie es passiert.«
Jetzt übernimmt Benno mit einer Chart-Präsentation: »Ein Beispiel, das den Wandel veranschaulicht: Ludwig K. ist hundert Jahre alt, war Soldat in der Wehrmacht, Monteur bei Zuse & Knorr Waggonbau, ist seit fünfundzwanzig Jahren Rentner, seit zwanzig Jahren Witwer und hat vor fünfzehn Jahren das letzte Mal seine Kinder gesehen, als sie ihm die Kostenübernahme für eine Beinprothese verweigerten. Hätte es vor zwanzig Jahren die gesetzlichen, moralischen und medizinischen Rahmenbedingungen und das Angebot gegeben, das wir jetzt schaffen werden, dann wäre er damals zu uns gekommen. Mit seiner Frau. Nun, glücklicherweise haben sich die Bedingungen geändert: Wäre Ludwig K. heute achtzig Jahre alt, würde er mit seiner Frau ein Paar-Arrangement wählen. Sie würden selbstbestimmt und zuversichtlich nach einem von Schicksalsschlägen gezeichneten, aber letztlich erfüllten Leben vereint aus diesem scheiden. Sie hätten dabei das gute Gefühl, ihre Familie und die Gesellschaft von einer Verantwortung zu befreien, die sie diesen gar nicht erst aufbürden wollen.«
Danke, Benno, gut gemacht. Aber jetzt mach mal Platz für Papa, wir kommen zum Essential Mission Statement: »Befreien wir das Sterben vom Leid, den Tod von der Verzweiflung. Machen wir das Sterben zum letzten, zum ultimativen Erlebnis, mit Heaven’s Gate!«
Stille. Verhaltenes zustimmendes Kopfnicken. Kati wendet sich an Benno: »Benno, was glaubst du: Wenn deine Mutter noch leben würde und sie würde heute die Diagnose von damals bekommen – würde sie ins Heaven’s Gate gehen?«
»Ganz sicher würde sie das.«
Gut, dass meine Tochter nicht mit am Tisch sitzt, Karla hätte das empört verneint. Aber sie hätte sich überhaupt nicht erst an diesen Tisch gesetzt! Nun wendet sich Kati an mich: »Glaubst du das auch, Lasse?«
»Kati, du hast Nelly selbst gut genug gekannt, um zu wissen, was sie nicht gemacht hätte. Sie hätte sich niemals mit kriminellen selbst ernannten Sterbehelfern auf einem Parkplatz in der Schweiz zur Giftübergabe getroffen, um dann in einem drittklassigen Hotelzimmer zu krepieren. Die Zeit war nicht reif fürs Heaven’s Gate. Wir haben jetzt eine aufgeklärte Gesellschaft, die das Selbstbestimmungsrecht von Ablebewilligen respektiert. Und eine entsprechende Rechtslage. Nelly wäre ins Heaven’s Gate gekommen. Schon aus Protest gegen die erdrückende Übermacht der Metastasen. Was ihr am Ende ja auch zu schaffen gemacht hat, war das Gefühl der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins. Das hat die Schmerzen noch unerträglicher gemacht.«
Ich habe mich in Rage geredet. Große Worte! Pathos! Sorry, Nelly, du weißt, ich liebe das. Ich bin so, und wäre ich nicht so, würde ich nicht können, was niemand kann wie ich: Großes bewegen.
Giftübergabe. Gift, schon der mittelalterliche Klang dieses Wortes weckt bei Dominik Fehr, dem Weltverbesserer, das Gefühl, hier einen Beitrag leisten zu müssen: »Ihr habt für den eigentlichen, sagen wir mal den das Ableben auslösenden Prozess bestimmt schonende Methoden anzubieten.«
Er sieht mich eindringlich und auffordernd an. Kein Problem. Allerdings trägt er Aggle-Glasses. Ich würde ihm zutrauen, dass er mich mit dem einen Auge ansieht, wie man einen Gesprächspartner ansieht, und mit dem anderen Auge Echtzeitanalysen zu dem, was ich gerade gesagt habe, mitscannt. Mich macht das irre.
Benno hat damit überhaupt kein Problem. Er ist in Hochform und hat immer eine Antwort parat. Er lässt einfach die relevanten Keywords droppen, und Dominik ist erst mal zufrieden: »Wir suchen noch. Sehr vielversprechend ist ein Verfahren mit einer Mischung aus hypnotischer Tiefenentspannung und der Gabe von muskelentspannenden und atemreflexüberwindenden Mitteln auf pflanzlicher Basis. Messungen im Magnetresonanztomografen haben gezeigt, dass das Belohnungssystem des Gehirns dabei stimuliert wird.«
Ich setz noch eins drauf: »Sterben, wie wir das kennen, das ist Angst, Schmerzen, das ist bäh. Aber bei uns im Heaven’s Gate erlebt der Mensch seinen Tod als Abschied in einem Glücksgefühl!«
Marlon Reitz, der »Praktikant«, muss jetzt endlich auch mal was sagen. Ich denk, ich hör nicht richtig: »Ist ja alles ganz schön, was Sie uns hier erzählen, Herr ...«
»Wiesenthal.«
»Herr Wiesenthal. Aber meine Kapitalhalter würde schon mal interessieren, wann und in welchem Umfang damit Geld verdient ...«
»Das kann er doch jetzt noch gar nicht sagen, Herr Kollege«, unterbricht Dr. Hahn. Und macht auf seine Art gleich weiter: »Herr Wiesenthal, wie weit geht denn Ihre Wertschöpfungskette? Kann ich mich im Heaven’s Gate auch gleich bestatten lassen?«
Und wieder übernimmt Benno. Junge, Junge, wenn der Herr Juniorchef so weitermacht, darf ich froh sein, wenn ich im Heaven’s Gate noch Familienrabatt bekomme!
»Wir planen eine eigene Verrottungsanlage. Also keine Gräber, Urnen etc. Die Ritualräume zum Ableben können auch als Andachtsräume von Angehörigen und Freunden jederzeit gebucht werden. Mit den gleichen Optionen wie die Ritualräume, also Einrichtung, Musik, Buffet etc.«
»Und wie verfahren Sie mit Organspendern?«
»Wie? Entschuldigung … was …«
»Sehen Sie, Herr Wiesenthal, ich bin Organspender. Ich interessiere mich für Ihr Angebot, ich meine, ich persönlich. Aber ich habe auch einen Organspendeausweis. Ich wüsste gerne, wie Sie die Organentnahme und die entsprechende Logistik für den Weitertransport organisieren.«
Benno und ich sehen uns an und versuchen dabei, nicht allzu ratlos zu wirken. Nein, da waren wir blank. Durch Bestechungsskandale war Organspende total unpopulär geworden. Aber Benno ist nicht der Typ, der eine Blöße zu erkennen gibt, wenn dadurch seine Führungsrolle infrage gestellt werden könnte.
»Verzeihen Sie, Herr Dr. Hahn. Wir haben höchsten Respekt vor Ihrer ehrenhaften altruistischen Haltung als Organspender. Menschen Ihres charakterlichen Formats sind in der Minderheit. Wir hielten diese marginale Zielgruppe schlicht gesagt nicht für relevant.«
Dr. Hahn gibt weiterhin den wohlwollenden Mentor: »Rechnen Sie damit, dass in nicht allzu langer Zeit, das Entgeltverbot für Organ-›Spender‹ fallen wird. Unsere Gesellschaft wird sich diesen Luxus nicht mehr leisten können. Darauf müssen Sie vorbereitet sein.«
»Danke, Herr Dr. Hahn, wir werden uns damit noch mal befassen.«
Für Kati wäre das nicht so wichtig gewesen, das mit der Organspende, das verrät schon ihr Gesichtsausdruck. Aber sie scheint jetzt schon richtig begeistert vom Projekt. Und sie ist begeistert von Benno, den sie noch als Baby kennt und der jetzt in Richtung Impressario für postvitale Happenings kaum noch aufzuhalten ist. In ihrer sportlichen Art resümiert Kati ganz gerne mal zwischendurch, was sie atmosphärisch wahrgenommen hat, aber noch einer Definition bedarf: »Ich denke, wir sind uns einig. Im Sprachgebrauch der Marke Heaven’s Gate gibt es eigentlich keinen Tod, kein Sterben und keine Leichen, richtig? Gibt es denn Trauer?«
Okay, Benno, das ist jetzt mal meine Baustelle: »Ja, auch im Heaven’s Gate hat Trauer ihren Platz. Aber es ist eine reine, gesunde Trauer, die nicht von Verzweiflung vergiftet ist. Wir trauern nicht um Opfer vom Sensenmann. Wir fühlen eine versöhnliche Trauer, die man empfindet, wenn sich ein Mensch für immer verabschiedet, weil er eine Reise antritt. Und dieser geliebte Mensch freut sich auf seine Reise, weil er weiß, dass er keine Angst haben muss, weil er keine Qualen zu erwarten hat. Wir freuen uns mit ihm. Wir feiern ein Fest!«
Puh, ich muss mich setzen. Musste grad an Nelly denken, und schon bleibt mir die Stimme weg. Kati legt mir ihre Hand auf die Schulter, sie ahnt, wie’s mir geht. Dr. Hahn und Benno nutzen die Stille, um ein paar Details zu beflüstern. Dominik Fehr erledigt wichtige Dinge auf seinem Tablet, und der Hotelkonzernpraktikant stürzt schluchzend aus dem Raum. Wir werden nie erfahren, warum.
Mein Blick schweift ziellos umher. Draußen: die silbrig zitternden Blätter der Pappeln im Wind. Eine Frau mit großem Hund. Albernde Teenager. Drinnen hängen sauber gerahmte Fotos von Olympischen Spielen. Eine völlig ausgepowerte, ausgezehrte Läuferin auf allen vieren japsend hinter der Ziellinie. Ein Speerwerfer in höchster Anspannung und mit weit aufgerissenen Augen, unmittelbar vor dem Abwurf. Ein Stabhochspringer, der noch im Fall mit einer Mine bitterer Enttäuschung der gerissenen Latte hinterhersieht. Muhammad Ali, deutlich von Hinfälligkeit gezeichnet, entzündet das Olympische Feuer.
Marlon Reitz kommt wieder rein. »Verzeihung, ich musste mich eben mal frisch machen. Machen wir weiter?«
Benno bringt sich in Position. »Leid, Sterben, Trauer, Verzagtheit, all das und in Kombination, das verlangt Diskretion, die gebotene Intimität hier zu verletzen wäre obszön. Abschied nehmen im Heaven’s Gate trägt aber keines dieser Merkmale, im Gegenteil: Wir feiern Abschiedsfeste! Mit Rückblick auf ein erfülltes Leben voller Ereignisse und Erfolge, Meilensteine und Weichen (Benno zwinkert mir zu!). Entsprechend völlig neuartig ist auch unser Auftritt in der Öffentlichkeit: offen. Wir lancieren Storys, die zeigen, wie unsere Gäste ihren Abschied vorbereiten. Es wird Reportagen von Abschiedsfesten geben und Livestreams. Das Heaven’s Gate ist der große Bahnhof für die Reise in ein neues Dasein.«
Das hat gesessen. Bravo, Benno. Dem ist fürs Erste nichts mehr hinzuzufügen. Die Gäste verabschieden sich in Freundschaft. Bis auf die Hotelkette werden alle dabei sein.
Ich lehne mich zurück in meinen sehr bequemen ledernen Konferenzstuhl und beobachte Benno. Selbst wie er die Unterlagen zusammenräumt, den Beamer einpackt, seine Notizen sortiert, wirkt konzentriert und überlegen. Benno, mein Held, als Handvoll im Brutkasten hat er den Tod besiegt, allerdings bleibend verwundet: Seine linke Hand ist spastisch gelähmt. Und weil man Respekt nicht geschenkt kriegt und als behinderter Spast erst mal willkommenes Opfer für Gespött ist, hat Benno auch diesen Kampf kämpfen müssen: Respekt. Er hat es allen gezeigt. Er handhabt seine linke Hand so selbstverständlich, dass man schon mal auf den Gedanken kommt, eigentlich seien alle anderen behindert. Aber manchmal frag ich mich schon, ob er zwischendurch nicht einfach mal innehalten sollte.
»Sag mal, Benno, du bist grad mal dreiundzwanzig und lädst dir das ganze Projekt auf die Schultern. Ist das nicht ein bisschen früh ein bisschen viel?«
»Papa, in fünf Jahren bin ich achtundzwanzig, und dann muss ich Heaven’s Gate sowieso allein managen, ist doch so, oder? Da fang ich doch am besten gleich mal an! Ach übrigens, Dr. Hahn hat mir vorhin ein paar sehr interessante Zahlen zugesteckt, die wir morgen gut gebrauchen können. Du weißt ja, morgen sind wir beim Bürgermeister.«
So weit ist es also schon, ohne Benno hätte ich den Termin glatt vergessen. Schlimmer noch, ohne ihn wäre der gar nicht zustande gekommen!
»Ah, Herr Wiesenthal, Sie sind das also! Sie haben mir das eingebrockt! Kommen Sie, Sie wissen schon, dieses Desaster mit der Geburt von Cynthia Willis’ Tochter! Wahnsinn, was für eine Scheiße! Willkommen beim Regierenden Bürgermeister der Bundeshauptstadt, beim Herz, bei der Seele von Berlin!«
Er ist also immer noch sauer wegen der paar Sitzblockierer, die er wegräumen lassen musste. Klar, ein Medienhype um ein Baby eines Popsternchens, während am gleichen Tag in Berlin fast hundert No-Names geboren werden, die meisten direkt ins Prekariat hinein. Aber man darf sich von dieser defizitorientierten Denke der Berliner nicht lähmen lassen. Es wäre blöd gewesen, Cynthias Baby nicht zu vermarkten, immerhin hat sie zwei Millionen Fans auf GROOPS!
»Wenn Sie die Seele Berlins sind, Herr Bürgermeister, dann führen Sie die Berliner aus ihrer selbst geschaffenen Depression! Schaffen Sie Werte durch Umwertung! Berlin als die erste Stadt des Universums, in der nicht mehr ›gestorben‹ wird! Hier wird feierlich Abschied genommen!«
Ich rede mich wieder in Rage, ich fühle mich nun mal zuständig für großes Drama. Aber zum Glück hab ich ja Benno dabei.
»Herr Bürgermeister, ich denke, das Konzept von Heaven’s Gate ist Ihnen geläufig. In der Korrespondenz mit Ihren Referenten ist mir aber aufgefallen, dass unsere Idee als eine wahrgenommen wird, die den sterbewilligen Bürger als fiskalische Einkommensquelle in den Mittelpunkt stellt. Das ist naheliegend, greift aber zu kurz. Der Gewinn für Berlin sind nicht die erwartbaren Mehrwertsteuer-Mehreinnahmen aus Sterbehilfedienstleistungen. Der Gewinn liegt in einer volkswirtschaftlichen Umwälzung!«
Immerhin, der Bürgermeister ist jetzt neugierig. Sein üppiges Amtszimmer im schönen Roten Rathaus, all die Annehmlichkeiten, die der Repräsentant, das Oberhaupt einer der bedeutendsten Städte der Welt, umgeben von Kunst und Kultur genießen darf, all das kann den chronischen Schmerz nicht dauerhaft betäuben, den die Schuldenlast von siebzig Milliarden Euro verursacht. Der Bürgermeister bemüht sich erkennbar, Benno zu folgen:
»Herr Bürgermeister, Ihr Dilemma ist, dass die Leute, die Sie wählen, älter werdende Leistungsbezieher sind: Langzeitarbeitslose, Rentner, Behinderte, während die jungen Leistungsträger, also junge, gut ausgebildete Angestellte und Selbstständige, die Ihren Haushalt sanieren sollen, gnadenlos abwandern. Heaven’s Gate wird die demografischen Verzerrungen aufhalten und günstigenfalls umkehren. Die früheren Opfer von Altersarmut und Altersdepression werden dabei selbst die treibenden Kräfte sein, indem sie sich in sinnstiftender Initiative von einer mehrwertfreien Lebenserhaltungsmaschinerie emanzipieren! Die Devise wird heißen: Statt zwanzig Jahre zu leiden, feiere ich lieber ein halbes Jahr Abschied und gehe dann von selbst! Kranken- und Rentenversicherer sparen Milliarden! Das bedeutet spürbare Entlastung für Leistungswillige, die nach und nach zurückkehren! Und Tausende junge Ambitionierte finden sinnvolle Aufgaben in einem völlig neuartigen Dienstleistungszweig.«
Halt. Moment. Jetzt muss Herr Nagel auch mal etwas sagen. Es muss natürlich etwas Bedeutendes sein, was der ziemlich blasse »Referent für ethische Fragen« hier beisteuert: »Die Lösung der von Ihnen so eindrucksvoll beschworenen Probleme soll also darin bestehen, dass unsere Kinder ihre Eltern umbringen, hab ich Sie da richtig verstanden, Herr Wiesenthal?«
Herr Nagel hat gar nichts verstanden, aber zum Glück ist er ja auch nicht Bürgermeister. Der jedenfalls deutet die Zeichen richtig: »Herr Nagel, bitte!«
Benno fährt unbeeindruckt fort: »Außerdem erstreckt sich das Wertschöpfungspotenzial der Stadt in Bezug auf das Heaven’s Gate auch auf eine ihrer letzten profitablen Geschäftsfelder: den Tourismus. Schwaben, Russen, Afrikaner, aus aller Welt werden Menschen kommen, um hier in Berlin ihre letzten Tage zu verbringen und im Heaven’s Gate ihren Abschied zu nehmen. Und sie kommen nicht allein: Familien, Freunde, ganze Sippschaften und Belegschaften von Betrieben werden sie mitbringen! Wir sind da übrigens in Verhandlungen mit einem internationalen Hotelunternehmen.«
Hotelunternehmen? Ich denke, ich höre nicht richtig: Marlon Reitz, der junge inkompetente Hoteltyp, der war doch aus dem Meeting rausgelaufen, die sind doch jetzt nicht im Konsortium, oder? Verschweigt mir Benno etwas? Nee, das war wahrscheinlich nur eine seiner typischen Blendgranaten. Gezielt triggern mit Keyword-Augenpulver. Niemand versteht sich auf Nebelkerzen so virtuos wie er. Na ja, gelernt hat er es von mir …
Dem Bürgermeister ist anzusehen, dass er sich gerne an einen anderen Strohhalm geklammert hätte als ausgerechnet an etwas, was er mit seinem begrenzten psychosozialen Horizont nur als kommerzielles Sterbehaus deuten kann. Aber was soll er machen? Das Heaven’s Gate ist die Lösung, und sie wird ihm gerade zu Füßen gelegt. Er braucht nur zuzugreifen. Er beginnt aber auch zu verstehen, dass die Heilsbringer hier nicht als Bittsteller auftreten. Mit einem traumhaft schönen Füllfederhalter als Insigne geliehener Macht – ein Geschenk des Gouverneurs der Partnerstadt Tokio, die mit Berlin das Schicksal einer Metropole teilt, nach horrenden Bedeutungsverlusten den Schlüssel zu neuen Bedeutungsgewinnen noch nicht gefunden zu haben – deutet der Bürgermeister auf eine Stelle im Nordosten seines hölzernen Stadtmodells: »Ich hätte da vielleicht ein Grundstück anzubieten. Auf dem Gelände eines früheren Städtischen Krankenhauses in Weißensee.«
Na bitte, geht doch! Relativ zentrale Lage, Wohngegend mit aufgeklärten, relativ jungen Bildungsbürgern, Familiengegend. Der Ethikreferent hätte uns, wenn er uns schon nicht verhindern kann, lieber zwischen Reifenservice und Flatrate-Puff verbannt. Aber auch er sucht jetzt – noch etwas unbeholfen – nach den Zeichen der Zeit und nach seiner Rolle in einem Spiel, dessen Regeln er noch nicht kapiert hat: »Wie gedenken Sie denn, die Kirchen einzubinden, Herr Wiesenthal?«
Danke, Benno, dass ich auch mal was sagen darf: »Die Kirchen sind herzlich eingeladen, uns ihre Gedanken mitzuteilen. Die eine oder andere sakrale Dienstleistung ist gewiss für den einen oder anderen Gast attraktiv, ich denke da an letzte Ölungen, Andachten, Beichten, Abendmahl, gerne auch erbauliche Reden, so was. Allerdings sind negative Begriffe generell tabu, also Schuld, Sünde, Sühne, Leid Christi – das bedeutet Bad Vibrations, Sie verstehen, das alles hat keinen Platz im Heaven’s Gate. Das Gleiche gilt natürlich auch für Muslime, Juden, Hinduisten, Shintoisten, Zoroastristen oder wer auch immer seinen letzten Weg aus welcher Glaubensrichtung auch immer kommend im Heaven’s Gate antritt: Jeder ist willkommen, aber es gilt das unbedingte Gebot der positiven Grundeinstellung!«
Na, Benno, wie war ich? »High five«, sagt mir sein Augenzwinkern.
Herr Nagel mag gerne noch eine Weile daran zweifeln, ob er diese Haltung für vermittelbar hält. Die Leute, deren Interessen er zu vertreten hat, werden sich wahrscheinlich nicht so ganz von ihm vertreten fühlen, wenn wir unser Projekt durchziehen. Soll uns recht sein. Uns reicht es fürs Erste, den Bürgermeister gewonnen zu haben.
Jetzt haben wir Kapital und ein Grundstück in Aussicht. Prima! Es wird Zeit für einen Architektenwettbewerb! Dafür müssen wir aber erst mal jemanden beauftragen, der uns die Ausschreibung macht. Und bis zur Präsentation der Entwürfe dauert es dann bestimmt wieder ein paar Wochen.
Ich liege zu Hause auf dem Sofa und sehe aus dem Fenster. Ein bisschen nachmittägliches Wolkendrama über den Dächern vom Graefe-Kiez, ein paar Vögel.
In die Wohnung gegenüber ist eine Frau in meinem Alter eingezogen. Sie ist sehr schön und anscheinend sehr gesund, vor allem aber gesundheitsbewusst. Sie isst ganz sicher kein Fleisch und keinen Fisch, vielleicht lässt sie sich ja mal zu einem Breat®-Tofu-Karree einladen, das soll im Uschi’s Patentrezepte am Reuterplatz ganz vorzüglich sein. Mal sehen.
Ihr Balkon hat die Ausmaße einer Terrasse, das spärliche Geländer aus dünnen Stahlstreben lässt alles, was auf der Terrasse geschieht, von meinem Sofa aus gut erkennen. Als Erstes hängt sie tibetische Gebetsfahnen auf. Die sind neu, noch unberührt von Wind und Wetter, anders als die ausgeblichenen heiligen Fetzen im Görlitzer Park, an denen sich wundersamerweise noch kein Vandale vergriffen hat. Als Nächstes stellt sie die Statue einer indischen Gottheit auf. Der Gott hat vier Arme, große Ohren, einen dicken Bauch, anstelle der Nase einen Elefantenrüssel und einen Stoßzahn. Jetzt bewegt sich meine Nachbarin, die eine Art Judoanzug trägt, sehr bewusst, sehr konzentriert und sehr langsam in einer Art Zeitlupentanz. Ich glaub, das ist Tai Chi.
Für spirituelle, religiöse, okkulte oder esoterische Dinge hab ich wirklich nichts übrig. Allerdings, ich muss schon sagen, meine Nachbarin macht einen sehr ausgeglichenen, zufriedenen Eindruck und strahlt die Energie eines sehr erfahrenen Mädchens aus. Stolze Falten statt Make-up, Naturbusen statt BH. Ihre Aura würde gut ins Heaven’s Gate passen. Ich gebe also alle Widerstände auf und lasse diese angenehmen Eindrücke positiv auf mich wirken.
Eben hab ich noch einen schönen Post gelesen, Benno hat fürs Heaven’s Gate eine Seite auf GROOPS eingerichtet:
POST AUF DER GROOPS-SEITE DES HEAVEN’S GATE
Benno@Heaven’s Gate
Unser Grundstück! Wie man sieht, ist es groß, und wie man sieht, haben wir ein kleines Gierschproblem: Unkrautwurzelflechtwerk bis zwei Meter runter. Das heißt, nein!, wir haben KEIN PROBLEM: Bald kommen die Bagger, und das Zeug ist ruckzuck draußen, und wir graben ’ne schöne große Baugrube! YEAH!
KOMMENTARE:
Gus »Berliner Bär« Hellnwein
YEAH! Aber freut euch nicht zu früh: Bauen in Berlin dauert laaaaaange. Also, viel Spaß mit dem Bauaufsichtsamt ;-)
Gustav Mergentheimer
Habt Ihr mal ’ne Baugrunduntersuchung gemacht? Okay, märkischer Sand, das ist ja bekannt, dass das nicht so easy ist. Aber in der Gegend ist 45 einiges runtergegangen! Ich würd mal gucken wegen Blindgängern. Da, wo Ihr bauen wollt, da war ja ein Krankenhaus, und da haben die Nazis ziemlich unappetitliche Dinge getrieben.
Schätze, wir sind bald der Talk of Town. Die Zahl der GROOPS-Fans wächst jedenfalls rapide. In zwei Stunden kommt Karla. Die Gute! Verlässt ihre Reinickendorfer Idylle, um ihrem Vater was zu kochen. Seit zehn Jahren schon ist sie mit Paul zusammen, einem liebenswürdigen Langweiler. Nach dem Tod ihrer Mutter war Paul das Beste, was ihr passieren konnte. Klar, sie liebt Nelly und mich, aber auf Paul kann sie sich verlassen.
Leben mit Nelly und mir war Stress. Den einen Tag kratzen wir das letzte Geld für Tütensuppen zusammen, am nächsten geht’s schon wieder ins Nobelrestaurant, wo wir mit den biergetränkten Scheinen aus dem Eintrittsgeld des Vorabends bezahlen. Einmal, beim Kindergeburtstag – Karla wurde acht – haben wir ihr zuliebe versucht, eine normale Familie zu sein. Die Feier war gigantisch und absolut unvergesslich. Aber die »Normale-Familie-Show« war ein totaler Reinfall: Als die Mütter kamen, um ihre Töchter abzuholen, waren diese superhappy und von oben bis unten in allen Farben vollgekleckert. Unser üppig tätowiertes Au-pair-Mädchen aus Kuba tanzte mit ihnen Salsa in der Küche. Da hingen auch ein paar Werke von einem befreundeten Künstler, deren einziges wirklich eindeutig erkennbares Merkmal war, dass sie hauptsächlich aus gefüllten Präservativen bestanden. Kein Wunder, dass die eine oder andere Gegeneinladung ausblieb. Nelly und ich machten uns schreckliche Vorwürfe. Aber nicht lange: Nachdem das Projekt »Normale Familie« nun mal so kolossal gescheitert war, veranstalteten wir unter dem Motto »jetzt erst recht« ein Performancefestival, auf dem Nelly und Karla als »Stern und Klecks« auftraten, wovon Karla ihren kopfschüttelnden Klassenkameradinnen voller Stolz Fotos zeigte.
Nelly. Ich hatte sie auf der ersten Veranstaltung meiner neu gegründeten Agentur Lasse’s Passieren kennengelernt. Nelly hatte ein mobiles Tattoostudio und tätowierte eigene Motive zwischen Klo und T-Shirt-Merchandisern. Die Location war voll, die Kasse war voll, und trotzdem war es wirtschaftlich am Ende ein Fiasko: Heiko, der Sänger der Wedontcareabouts sang »Save me, save me, save me« und machte einen Stagedive. Es war aber niemand bereit gewesen, ihn aufzufangen. Er brach sich einige Knochen, ich hatte keine Haftpflichtversicherung und zahlte die Behandlungskosten. Dabei war es mir selbst kaum besser ergangen: In derselben Nacht bin ich mit dem Bandbus der Wedontcareabouts noch im Schaufenster eines Küchenstudios gelandet, was ich aber erst im Krankenhaus erfuhr – von Nelly.
Heiko und ich zogen vollkommen unterschiedliche Schlüsse aus den Ereignissen: Heiko war froh, dass er den Exzess als permanente Grenzerfahrung einigermaßen überstanden hatte. Heiko hatte zu einem Zeitpunkt, an dem er noch Optionen hatte, gemerkt, dass er noch Optionen hatte. Er hatte für seinen Geschmack genug riskiert und wurde Lehrer. Meine Erkenntnis dagegen war: Okay, wenn ich das überlebt habe, dann bin ich wohl unsterblich! Und wer unsterblich ist, der kann auch mit Tempo zweihundertvierzig einen Opel rechts überholen und kann dabei eine nächste Line auflegen und reinziehen, ohne anhalten zu müssen – reine Gewohnheitssache. Nelly war genauso. Und wenn es sie bei ihrem berühmten Versuch erwischt hätte, in einer Neujahrsnacht betrunken die Donau nackt zu durchschwimmen, hätte das jeder tragisch, aber passend gefunden. Stattdessen dieses jämmerliche Ende: Ihr Tod hatte keine Größe, war kein Statement, keine Haltung, keine Würde, nur Blöße und Schmerzen.
In meiner GROOPS-Timeline erscheint ein Post von Karla. Karla mit Paul beim Junggesellenabschied von Michael. Nett. Alle Posts von Karla sind nett. Karla mit Paul bei der Hochzeit von Michael und Sandra. Karla mit Paul vor dem Eiffelturm in Paris. Karla mit Paul im Dirndl auf dem Oktoberfest. Karla mit Paul und ihrem Pferd auf der Koppel. Wie hätten meine Posts ausgesehen, hätte es damals schon GROOPS gegeben?
Ein riesiges Rockfestival auf einem Acker im Outback von Niedersachsen. Eine Produktion von Lasse’s Passieren. Das Wohnmobil von Atze bis zum Bodenblech im Morast. Atze ist der größte Merchandiser hier: T-Shirts von allen Bands, CDs, Kassetten, Nietenarmbänder – und Koks. Das liegt allerdings nicht auf seinen ausladenden Tapeziertischen, das gibt’s für ausgewählte Kunden im Wohnmobil. Die Kunden: Vince, Frontmann von Sarin Deluxe, Wendy, Nachwuchsmodel und Drummerin einer Band, deren Namen ich vergessen habe und ich. Wir rüsseln mit einem zusammengerollten Backstagepass den zerkratzten Campingtisch blank. Ich bin ziemlich entspannt, Wendy nicht so ganz.
»Ich zahle morgen, Atze, morgen krieg ich mein Honorar vom letzten Shooting.«
Wendy zeigt ein paar Fotos.
»Hier, meine letzte Session.«
Für die Bilder der ersten Session hätte Atze sich noch begeistern lassen. Die Bilder der letzten sahen so aus, als würde Wendy nie wieder eine Session machen. Aber dass das wirklich ihre letzte Session war, ahnte sie noch nicht. Auch ich bin skeptisch: »Ihr macht immer noch auf Heroin-Chic? Ist das nicht längst out? Und das hier, sorry, das ist viel Heroin. Und wenig chic.«
»Das war noch nicht in der Post.«
»In der Post-Production können sie vielleicht deine Einstiche wegretuschieren. Das hier, das hat nicht mehr den Charme des verruchten Vamps, Wendy. Das ist Junkie-Elend!«
Atze zeigt auf einen Artikel in der Blatt-Zeitung: »Da guck, dein Fotograf hat sich gestern zu viel weggemacht. Da kommt kein Honorar mehr. Sam war eh ein Penner.«
Wendy weint ein bisschen, nimmt wortlos ihre Designeruhr ab und gibt sie Atze.
»Geschenk von Sam?«
Wendy nickt stumm.
»Echt ’n Penner, der Sam.«
Atze legt noch was auf und findet es dann wohl lustig, den Artikel rauszureißen und einen Fünf-Gramm-Brief daraus zu falten. Na ja, die Uhr war immerhin von Cartier. Keine zwei Stunden später wird Atze verhaftet, keine Ahnung, was aus ihm geworden ist. Vince. Vince war in seiner Selbstunsicherheit total labil. Auf der Bühne ein Star, aber nach der Show, wenn die Fans weg waren, wollte er von jedem Ordner noch mal hören, wie großartig er gewesen war. Und wenn da nicht genug zurückkam, tröstete er sich mit Drogen. Dadurch wurde er schlechter. Erst blieben die Fans weg, dann kamen auch die Ordner nicht mehr, und er nahm noch mehr Drogen. Soweit ich weiß, hat ihm eine Therapie geholfen, die aber sehr schmerzhaft war. Es funktionierte nämlich überhaupt nicht, tausendmal hintereinander »Ich nehme nix mehr, ich nehme nix mehr, ich nehme nix mehr« zu sagen. Das brachte in etwa so viel wie die Aufforderung: »Denken Sie jetzt nicht an Drogen! Auf keinen Fall! Hören Sie, Sie dürfen jetzt unter keinen Umständen an Drogen denken!« Was half, war die Aktivierung »innerer Ressourcen«, wie das moderne Therapeuten nennen. In seinem Fall hieß das, sich selbst zuhören und sich selbst toll finden. Er war nämlich ein ganz passabler Musiker.
Ich hatte mein Unternehmen, meine Familie, jede Menge Ziele und Möglichkeiten, und ich nahm keine Drogen mehr. Wendy wollte sich den einzig möglichen Optionen Therapie und Knast schon bald nach unserer Begegnung durch Suizid entziehen, nachdem sie verstanden hatte, dass ein viel beachtetes Aufblitzen als Heroin-Chic-Model niemals eine Modelkarriere begründen kann, wenn einem die sonstigen Voraussetzungen dafür fehlen. Und das mit dem Suizid hat dann auch nicht geklappt: Wendy stürzte sich auf einem Festival, auf dem sie mit ihrer Band einen ziemlich miesen Nachmittagsauftritt hingelegt hatte, von einer Lichttraverse. Das war nicht tief genug, um sich zuverlässig umzubringen, aber immerhin tief genug, um in ein Koma zu fallen, das ihr Leben in allen seinen bizarren Äußerungsformen schlagartig beenden sollte, es aber nicht tat. Da war sie jünger als Karla jetzt.
Seit über dreißig Jahren ist Wendy nun gefangen zwischen Leben und Tod. Etwa einmal im Jahr gibt sie ein Lebenszeichen von sich, indem sie unzusammenhängendes Zeug aus ihrer Vergangenheit brabbelt. Sie liegt in einem kleinen Einzelzimmer im Pflegeheim. Ein Flatscreen mit einem Lautsprecher, einer Webcam und einem Mikrofon wurde installiert. Ein Remote-Dialogsystem für den besonderen Umstand entwickelt, dass einer der Dialogpartner noch nie einen Touchscreen gesehen hat.
Neben Wendys damals noch lebenden Eltern sind auch die Eltern von Lydia zugeschaltet. Lydia war auch ein »Model« im »Portfolio« von Sam. Lydia war in den Tagen von Sams Selbstmord und Wendys erfolglosem Versuch spurlos verschwunden. Sam kann definitiv nicht mehr befragt werden, aber bei Wendy besteht ja zumindest theoretisch die Hoffnung, dass sie mal irgendein Zeichen von sich gibt, das zu Lydia führen könnte. Je weniger – und das ist eben nicht nichts – sie sagt, desto größer ist der Aufwand, den die verzweifelten Eltern für die Deutung des fast Nichts betreiben. Es war aber noch nie etwas Verwertbares dabei.
Auch ich hab Zugriff auf das System mit der Webcam, aber wenn da nicht ab und zu eine Fliege durchs Zimmer fliegen würde oder Pfleger oder ein Physiotherapeut einen Routinedienst verrichteten, würde man meinen, das Bild sei eingefroren oder überhaupt nur ein Still. Würde man allerdings ein Standbild von heute mit einem kurz nach dem Bezug ihres Zimmers vergleichen, würde man sehen, dass Wendy in ihrer Reglosigkeit gealtert ist. Den Zellen und dem Stoffwechsel ist es relativ egal, ob man dreißig Jahre rumliegt oder ob man sich selbst, sein Leben und seinen Körper so scheiße findet, dass man sich vom höchsten Punkt der Bühne – und selbst die Bühne bedeutete Wendy ja nichts mehr – fallen lässt. Ein Absturz als letzter Aufstand gegen die eigenen Abwehrkräfte, die dann am Ende doch triumphiert haben. Der Organismus hat seine eigenen Werte, er interessiert sich nicht für das Scheitern von Träumen.
Irgendwann ist in meiner GROOPS-Chronik direkt unter einem Post mit Karla und Paul ein Post mit einem Foto von Wendy erschienen: die linke Hand, zwei Drumsticks haltend, in die Hüfte gestemmt, die rechte mit ausgestrecktem Mittelfinger in die Kamera haltend, lange Haare mit Uniformmütze, Pilotensonnenbrille und einen riesigen Joint zwischen den Zähnen. Ich hab mich total erschrocken bei der Vorstellung, Karla könnte das sehen. Es tut mir leid, Wendy, nein, ich schäme mich nicht für dich. Ich hab mich einfach für ein anderes Leben entschieden, ich meine, ich hab mich überhaupt für das Leben entschieden, und da passt du, ehrlich gesagt, nicht so gut rein.
Ich bin ein wenig aufgeregt heute: Wir erleben gleich die Präsentation mehrerer Architekturentwürfe. So ein Architektenwettbewerb ist extrem kompliziert, mit Auslobung, Fachjury usw. Na ja, immerhin bin ich eingeladen, zusammen mit meinen Projektpartnern – Dr. Hahn, Kati, Dominik, dem Bürgermeister (der seinen »Ethikreferenten« zum Glück zu Hause gelassen hat) und natürlich Benno. Drei Entwürfe haben es in die letzte Runde geschafft, und dafür haben die Architekten beeindruckend schöne Modelle angefertigt, die uns nun präsentiert werden. Na ja, immerhin geht es um Baukosten im oberen zweistelligen Millionenbereich.
Nr. 1 wirkt auf mich wie eine Mischung aus Kloster und Hospiz: sehr diskret, sehr kontemplativ, sehr würdevoll. Man könnte dort Schilder aufstellen mit dem Hinweis Wir bitten um Ruhe – hier wird gestorben. Von außen betrachtet wirkt der Entwurf dann auch eher geheimnisvoll und unnahbar. Kompakt und verschlossen, fast schon abweisend. Hm.