Hedigers letzter Tag - Adrian Stürm - E-Book

Hedigers letzter Tag E-Book

Adrian Stürm

4,9

Beschreibung

Marcel Hediger hat ein Leben lang Witze und Geschichten erzählt. Doch das Erzählen ist ihm vergangen. Er erzählt keine Witze mehr. Er spricht überhaupt nicht mehr. Er, oder was von ihm übriggeblieben ist, hängt einfach nur noch still im nackten Raum, einen halben Meter über dem Boden, und schweigt. Keine der vielen einst von ihm zum Leben erweckten alten Geschichten kommen über seine Lippen - auch keine neue. Er ist tot. Er war schon tot, tot bevor er endgültig gestorben ist. Er war seit fünf Jahren tot, um treffend zu sein - seit jenem Tag, der alles verändert hatte. Jetzt, da er endlich das Zeitliche gesegnet hat, wird er für die Nachwelt zum Leben erweckt und beginnt zu leben - und das nicht grundlos. Mehr als 1000 Tage nach seinem Dahinscheiden wird sein Fall zu den Akten gelegt und als ungelöst klassifiziert werden. Jetzt wird er weiterleben, jetzt erst recht, was ja seine Absicht gewesen ist. Als Teil seiner eigenen, letzten Geschichte - weiterleben mit uns bis heute, bis morgen, für immer. Wie eigentlich? Genau das erfahren wir in seiner letzten Geschichte 'Hedigers letzter Tag' - Ready du Teigaff!?

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In Memoriam Hans W.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

28. April 2015

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6-

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Prolog

Marcel Hediger hat ein Leben lang Witze und Geschichten erzählt. Doch das Erzählen ist ihm vergangen. Er erzählt keine Witze mehr. Er spricht überhaupt nicht mehr. Er, oder was von ihm übrig geblieben ist, hängt einfach nur noch still im nackten Raum, einen halben Meter über dem Boden, und schweigt.

Keine der vielen, einst von ihm zum Leben erweckten alten Geschichten kommen über seine Lippen – auch keine neue. Er ist tot. Er war schon tot, tot bevor er endgültig gestorben ist. Er war seit fünf Jahren tot, um treffend zu sein – seit jenem Tag, der alles verändert hatte.

Jetzt, da er endlich das Zeitliche gesegnet hat, wird er für die Nachwelt zum Leben erweckt und beginnt zu leben – und das nicht grundlos. Mehr als 1000 Tage nach seinem Dahinscheiden wird sein Fall zu den Akten gelegt und als ungelöst klassifiziert werden. Jetzt wird er weiterleben, jetzt erst recht, was ja seine Absicht gewesen ist. Als Teil seiner eigenen, letzten Geschichte – weiterleben mit uns bis heute, bis morgen, für immer. Wie eigentlich?

Genau das erfahren wir in seiner letzten Geschichte 'Hedigers letzter Tag' – Ready du Teigaff!?

28. April 2015

- 1 -

"Benno, die werden sich noch wundern. Aber dann ist es zu spät", seufzte Marcel Hediger, starrte seinen Freund an, der neben ihm auf dem Sofa hockte, seinen einzigen Freund, der ihm geblieben war, und murmelte: "Tja, wer hätte das damals gedacht? Benno, du etwa?"

Benno schwieg – wie eigentlich immer. Er war über die Jahre wortkarg geworden, ja richtiggehend träge und alt, schaute Marcel Hediger kurz an, um seinen Kopf wieder zu senken und auf das Sofa zu betten.

"Die Zeit geht spurlos an uns vorüber. Doch jeder Tag und jede Nacht hinterlässt neue, tiefere Spuren", sinnierte Marcel Hediger. Sein Gesicht war voller Furchen und seine Handrücken mit Altersflecken übersäht. Alles an ihm war in die Jahre gekommen, bis auf seine Augen, die noch immer wild leuchteten und einen letzten Hauch von Lebensenergie versprühten. "Benno, wer, wie du und ich, keine Zeit mehr hat, dem läuft auch diese noch davon. Ach, mein Freund, niemand hätte damals gedacht, dass es so kommen würde. Doch es ist so gekommen." Er nickte, schaute auf, nach links, nach rechts, als suchte er nach etwas, und griff zu. "Magst du noch ein Stück Schokolade – Zartbitter? Schau her, ich breche dir ein Stück ab."

Marcel Hediger brummte etwas von 'Theobromin' und 'Alles wird gut', strich sich mit der flachen Hand über das Gesicht und öffnete erneut seine Augen. Vor sich sah er den Fernseher von Sony, diese schwarze Flimmerkiste, die auch schon bessere Tage gesehen hatte. Dahinter wusste er die Wohnwand aus Mahagoni, dieses Protzteil, das jedem Ökofutzi die Galle hochkommen liess, ihr aber damals so sehr gefallen hatte. Zur Linken führte die Türe auf den Balkon hinaus und zur Rechten gelangte man zum spartanischen Essraum und zur Küche.

Marcel Hediger griff in seine rechte Hosentasche, faltete das Stofftuch auf und schnäuzte hinein. Seine Hand zitterte. Sorgsam faltete er das Taschentuch wieder zweimal, legte es auf das Salontischchen, beugte sich noch etwas mehr vor und griff nach dem Aschenbecher. Der rote Streichholzkopf raute sich an der Schachtel auf, knisterte und hauchte dem Hölzchen sein kurzes Leben ein, das nur wenig über den ersten Zug hinaus währte und sein Ende im Aschenbecher ausglimmte.

"Es ist, wie es ist, und eines Tages wirst du – du! – recht gehabt haben und es wird die Letzte gewesen sein."

Wie in Zeitlupentempo führte Marcel Hediger die rechte Hand an seine Lippen. Er inhalierte tief, pustete Wolke um Wolke in Richtung Decke, drückte endlich die Kippe aus und wandte den Oberkörper der Wand hinter dem Sofa zu. Das Portrait zeigte eine vielleicht fünfzig jährige Frau im Profil.

"Jetzt sind die guten alten Zeiten, nach denen wir uns im Alter zurücksehnen werden, hast du damals gesagt. Damals vor ich weiss nicht wie vielen Jahren. Weisst du noch, meine geliebte Helga, damals in Erfoud im Süden Marokkos? Damals war die Welt noch in Ordnung."

Marcel Hediger lächelte, schaute sich weiter im Wohnzimmer um und nickte. Damals, das war viel zu lange her. Was blieb waren einzig die Erinnerungen, mit jedem Jahr etwas verschwommener, etwas verblasster, etwas vager, etwas vernebelter. Kein Wunder bei all den Jahren, die er seine Erinnerungen schon sammelte und mit sich herumschleppte.

Genau das hatte er kommen sehen und bereits in frühen Jahren Vorkehrungen getroffen. Heute war das Wohnzimmer voller Staubfänger, die alle ihre eigene Geschichte erzählten – alles Erinnerungsstücke an längst vergangene Zeiten. Da war die Vase aus Ägypten neben dem Fernsehgerät, der Teppich aus dem grossen Bazar in Istanbul unter dem Salontischchen, oder etwa die fünf Töpfe mit den verschiedensten Orchideenarten, die Helga in den Jahrzehnten vor ihrem Tod gekauft hatte. Ja, das Wohnzimmer lebte – genau wie er, Marcel Hediger.

Er betrachtete den Erni an der Wand. Ihm wurde warm ums Herz. Helga war vernarrt gewesen in die drei Pferde. Nur deshalb hatten sie das Bild gekauft. Wann immer er die Stuten anschaute, diese geballte Muskelkraft, dann war Helga wieder bei ihm. Er seufzte und schaute sich um. Er verspürte ihre Nähe.

Anfänglich hatte ihm das Poster nicht gefallen. Er wollte ein Ölgemälde oder wenigstens eine Lithografie. Doch Helgas Geld hatte nicht gereicht. Und sie war glücklich und zufrieden gewesen mit der auf Papier gedruckten Kunst – und deshalb auch er. Wenigstens hatte er ihr diesen Eindruck vermittelt.

Helga war es nie um Kunst gegangen. Sie hatte den Ausdruck von Leben gesehen, den die drei Pferde für sie verkörperten, das braune im Vordergrund, das schwarze im Hintergrund und das helle dazwischen. Sie hatte Pferde geliebt, das Animalische an ihnen, das Wilde, das Unberechenbare. Er, Marcel Hediger, war dagegen immer der Ruhigere von ihnen gewesen, der Fels in der Brandung, der Realist. Stunde um Stunde hatte er am seichten Ufer beim Fliegenfischen verbracht, während sie jeden Tag wie den letzten gelebt hatte. Irgendwann war es dann ihr letzter gewesen – damals vor so langer Zeit.

Marcel Hediger seufzte. Seine Fingerspitzen glitten über das naturbelassene Ledersofa. Zusammen hatten sie dieses auf dem Flohmarkt erstanden – ebenso die beiden dazu passenden Sessel. Die drei Möbelstücke waren schon damals alt gewesen. Doch all die Zeit in ihrem Heim hatten sie die notwendige Aufmerksamkeit bekommen, waren von Helga mit irgendwelchen, von einem Hausierer gekauften Ölen behandelt worden und sahen heute noch gleich aus wie am ersten Tag.

"Wir brauchen keine Statussymbole", hatte Helga immer wieder behauptet, "wir haben uns."

Das waren ihre Worte gewesen – immer und immer wieder. Bis auch er, Marcel Hediger, ihren Worten Glauben geschenkt und die Flecken auf dem einen Sessel und die aufgerauten Stellen auf der dem Fenster zugewandten Seite des Sofas nicht mehr gesehen hatte. Wie sollte er diese Flecken auch sehen? Sie hatten ja sich – Helga hatte Marcel und Marcel hatte Helga – und das reichte für mehr als ein gemeinsames Leben und war wichtiger als jedes Sofa der Welt.

Er seufzte. In Gedanken sah er sie vor sich im Sessel sitzen, sah, wie sie schlief, wie sie lächelte, wie sie weinte. Helga war ihr Leben lang von den eigenen Emotionen überwältigt worden, hatte pausenlos im Sonnenschein ihre Stockzähne gezeigt und bei jeder Szene im Kinosaal frische Tränen vergossen. Es war unbestritten – Helga hatte ein Leben lang mit Leib und Seele gelebt. Er, Marcel Hediger, war dagegen ein Leben lang in auf den ersten Blick zinslosen Raten gestorben. Doch heute, an diesem 28. April 2015, einem einfach nur tristen Regentag, dachte niemand mehr an sie. Die Nachwelt hatte sie vergessen, wogegen er noch lebte und seine Erinnerungen wie angesparte Zinsen mit sich herumtrug – was ihm wiederum Angst bereitete. Was nur sollte dereinst mit seinen Erinnerungen geschehen?

Marcel Hediger tastete nach den Pantoffeln. Sein Augenlicht war nicht mehr wie früher. Doch das spielte keine Rolle. Seit sie nicht mehr war, brauchte er nicht mehr zu sehen.

Er spürte, wie seine Füsse in den Pantoffeln Halt fanden. Zuerst im Linken und dann im Rechten, bei dem die Naht nicht mehr hielt und seine grosse Zehe täglich mehr Freiheiten genoss. Marcel Hediger stützte sich auf der Lehne des Sofas ab und stemmte seinen schmächtigen Oberkörper in die Höhe. Von da oben sah die Welt doch schon ganz anders aus.

Das Hochzeitsfoto stand auf dem Fenstersims – wie schon vor einem Jahr und so manches Jahr davor. Marcel Hedigers Hand zitterte als er nach dem Rahmen griff. Seine Fingerkuppen glitten über die Muscheln, die ein Fischer beidseitig angeklebt hatte. Bestens erinnerte er sich an jene gemeinsamen Osterferien und den Kauf des Rahmens an der Rue de Geaume in Marseille. Mit viel Eifer hatte er um den Preis gefeilscht.

Marcel Hediger seufzte und starrte die Wand zu seiner Rechten an. Gefühlte hundert Fotos hingen da, zeugten von Fernreisen, von zurückliegenden Feiern mit Freunden und sonstigen Anlässen, aber vor allem von einem Mann und einer Frau in den verschiedensten Altersstadien. Er seufzte erneut – wie so oft in den zurückliegenden Tagen, Wochen, Monaten und Jahren.

"Das ist der Anfang vom Ende meiner letzten Geschichte", murmelte er und klatschte in seine Hände. "Na, Hediger, ready du Teigaff!?"

- 2 -

Das Leben war grausam, wusste Marcel Hediger. Früher hatte der Mensch seine Zeit in der Hand gehabt. Heute bestimmte die Uhr am Handgelenk über seine Zeit – tickte unaufhörlich und brachte aber nie, was sich ihr Träger versprach.

"Warum nur bekommt der Zahn der Zeit nie Karies?", murmelte Marcel Hediger und stellte sich das Leben mit von Karies entzahntem Kiefer vor. Sein Erinnerungsvermögen reichte nicht, um geistig so weit in seine eigene Kleinkindheitszeit zurückzugehen, als er noch zahnlos an der Zeit genagt hatte.

An einem Donnerstag im Monat April 1932 war er, Marcel, in einer Kleinstadt in Westeuropa zur Welt gekommen – zeit-, zahn- und karieslos, irgendwann morgens kurz nach 10 Uhr. Die ganze Welt hatte sich über seine Geburt gefreut – nicht so er, Marcel Hediger. Und schon gar nicht über seine ersten beiden Jahre mit zahnendem Ober- und Unterkiefer und permanent feurigbrennendem Hintern in Stoffwindeln. Er freute sich auf die windellosen Jahre, und je mehr er denken konnte, umso mehr sehnte er den Kindergarten herbei und die ersten zweiten Zähne. Kaum den Schritt in den Kindergarten zum ersten Mal zurückgelegt, freute er sich auf die Primarschule, und in der Primarschule angekommen fand er zwar seinen Stuhl, aber nicht seinen Platz.

Nur zu gut erinnerte sich Marcel Hediger an Ronald, wahrlich keine Leuchte, aber eigentlich auch kein Unmensch. Nur hatte sein Mitschüler ausgerechnet an ihm den Narren gefressen und in ihm sein Lieblingsopfer gefunden. Immer wieder wurde er zu Ronalds Zielscheibe, musste ihn im Schachspiel gewinnen oder bei der Matheprüfung abschreiben lassen und bekam danach trotzdem sein Fett weg. Es waren karge Jahre in der Primarschule – nicht nur wegen der aufgekommenen Kriegswirren im nachbarschaftlichen Hitler-Deutschland.

Marcel Hediger sehnte sich nach einer Zeit ohne Ronald. Das Gymnasium versprach einen Neuanfang, hielt aber nicht wirklich. War es zuvor der Mitschüler gewesen, der ihm das Leben zur Hölle gemacht hatte, so übernahmen nun die Lehrer diese Aufgabe, allen voran Mathematiklehrer Hans-Peter Peterhans-Peter. Marcel wurde an der Wandtafel blossgestellt, auf seine damalige Kleinwüchsigkeit reduziert und erntete Hohn und Spott. Also wollte Marcel Hediger die Zeit als minderbegleiteter Unterjähriger – oder nicht ganz Volljähriger – schnell hinter sich bringen, ohne Lebensfreude, ohne Genuss, ohne bleibende positive Erinnerung, einzig mit einer unstillbaren Vorfreude auf alles, was noch kommen mochte.

Auf die Matura folgten die 17 Wochen Militärdienst und das Studium an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, kurz ETH genannt. Dann keimte die Vorfreude auf die erste Liebe, die Vorfreude auf den Start ins Berufsleben, die Vorfreude auf die Hochzeit, die Vorfreude auf das erste Kind, die Vorfreude auf die erste grosse Reise nach Indien, die Vorfreude auf die Umschulung zum Flugzeugnavigator in einer Douglas-DC-3, die Vorfreude auf die erneute Umschulung zum Co-Piloten, die Vorfreude auf Luxusferien in Amerika, Venedig, St-Tropez und auf Capri, die Vorfreude auf die eigene Ferienwohnung in St. Moritz, die Vorfreude auf die Beförderung auf den linken Sessel, gleichbedeutend mit jenem des Flugzeugkapitäns, die Vorfreude auf die Pensionierung, die Vorfreude auf das Leben, das doch endlich beginnen sollte – irgendwie, irgendwann. Doch das Leben liess wie eine Diva auf sich warten.

Ja, Marcel Hediger wollte schon leben, aber er konnte es nicht. Und als er endlich zur Erkenntnis gekommen war, dass er leben konnte, da war es zu spät und er starb auch schon wieder – und alles nur wegen ihr. Und er blieb tot bis zu seinem Tod, den er, wie er Benno zuvor mehrmals erläutert hatte, wahrlich mehr als verdiente, der aber einfach zu lange hatte auf sich warten lassen.

Ein Leben lang lebte Marcel Hediger nicht im Heute, sondern vertröstete sich auf das Morgen. Doch das Morgen versprach nur, brachte aber nie und vertröstete ihn immer wieder weiter auf das Übermorgen, das noch mehr versprach und noch weniger hielt. Wozu all sein Streben, fragte er sich im Nachhinein. Doch da war es bereits zu spät und er endgültig gestorben und somit neu geboren und mitten im Leben – bei uns und mit uns.

- 3 -

28. April 2015 – Marcel Hediger seufzte. Heute war sein letzter Tag, wusste er und starrte auf die Bananenkiste am Boden. Sie war leer – ganz leer. Eigentlich so leer wie seine Jugendzeit. Wobei, bei allem Pessimismus, so leer war seine Jugendzeit nun auch wieder nicht gewesen. Oft war er in die Knie gegangen, aber immer wieder aufgestanden. Und wenn er so nachdachte, so hatte er eigentlich als Junge viel öfters gelacht als geweint.

"Im Leben geht es nicht darum, blaue Flecken zu vermeiden, sondern Narben zu sammeln", murmelte der alte Mann. Ein Lächeln spielte mit seinen Mundwinkeln. Kurz nur, für den Bruchteil einer Sekunde vielleicht, hatte er geschmunzelt – und gerade nochmals. "Einzig diese Narben, als Zeichen der Abnützung, zeugen im hohen Alter davon, dass wir uns dem Leben gestellt haben."

In Gedanken war er bei Felix, seinem besten Kollegen aus der Primarschulzeit. Unvergessliche Streiche hatten sie zusammen ausgeheckt. Erneut schmunzelte Marcel Hediger. Es gab sie, die Erinnerungen, die seinen Lippen ein Lächeln abrangen.

Felix war der einzige Mensch gewesen, der nie nach Marcels Leben getrachtet hatte – war Hediger überzeugt. Felix hatte mit ihm seine in einer alten Schuhschachtel angesparten Süssigkeiten ebenso geteilt wie die Leidenschaft für den Fussball – natürlich in Grün-Weiss – und die Sehnsucht nach Reisen durch ferne Länder und zu fremden Kulturen. Ob es ihn, Felix, noch gab, fernab im Pazifik auf der Osterinsel, wohin er sich schon in jungen Jahren vor dem Militärdienst geflüchtet hatte?

Marcel Hediger seufzte erneut. Die Guten hatten immer seinen Weg gekreuzt, die Schlechten aber waren mit ihm gefahren – ausnahmslos. Wobei Felix, diese treue Seele, für eine kurze Zeit als Ausnahme die Regel bestätigt hatte.

"Was machst du heute, mein Freund", murmelte Marcel Hediger. "Bist du einsam und alleine wie ich?"

Marcel Hediger wusste nicht mehr, wann er begonnen hatte, mit sich selbst zu sprechen. In jungen Jahren hatte er unter der Dusche gesungen, daran erinnerte er sich gut. Er hatte nicht jeden Ton getroffen, aber dafür seine Umgebung mit voller Inbrunst beschallt. Irgendwann nach ihrem Abgang war die Wohnung zu leer geworden, und er hatte die Leere mit Worten gefüllt – zuerst noch mit gedachten, dann mit geflüsterten und zu guter Letzt mit gesprochenen.

"Felix, mein Freund", sagte Marcel Hediger, "ich hoffe, du hast deinen Frieden in dieser Welt gefunden und vertröstest dich nicht auf eine andere."

Nachdenklich wiegte er den Kopf von einer Seite zur anderen, hielt inne und öffnete seine geballte Faust. Ein rotes Etwas aus Plastik oder Gummi tauchte zwischen seinen Fingern auf. Ja, da war er wieder, der luftlose Luftballon. Und mit ihm die Erinnerung. Die Erinnerung an die Zeit mit seinem besten Freund Felix. Was hatten sie sich mit der roten Farbe und den grauen Wasserpistolen amüsiert!

Marcel Hediger schmunzelte.

- 4 -

"Schau her, Marcel, das ist mein Versteck." Felix strahlte über das ganze Gesicht, als er die Kartonschachtel unter der Treppe hervorkramte, die zum Mehrfamilienhaus an der Ebnetstrasse 1 führte. "Am letzten Wochenende hat mir Tante Rosa zwei Wasserballons geschenkt. Ich glaube, sie mag mich."

"Wer ist Tante Rosa?"

"Mein Vater nennt sie eine anonyme Alkoholikerin. Keine Ahnung, was anonym bedeutet."

"Mein Vater sagt immer anno dazumal. Eigentlich in jedem zweiten Satz, wenn er von früher spricht", erklärte Marcel. "Die Erwachsenen sprechen ganz eigenartig, gar nicht so wie wir."

"Sie sprechen immer nur von gestern und nie von heute. Das Heute interessiert sie nicht."

"Vielleicht kommt deine Tante Rosa ursprünglich aus einem Land namens Alkoholika. Dessen Einwohnerinnen nennen sich Alkoholikerinnen. Auf welchem Kontinent liegt dieses Land?"

"Was, wenn Alkoholika eine Stadt und kein Land ist? Meine Tante ist in Skandinavien aufgewachsen, in einer grossen Stadt mit einem noch grösseren Schloss, in dem eine Königsfamilie wohnt", meinte Felix nachdenklich. "Stell dir mal vor, die Alkoholiker stellten in dieser Stadt nur Wasserballons her, in einer ganz riesigen Fabrik mit hundert Schornsteinen."

"Wau, das wäre toll."

In diesem Augenblick läutete die Klingel beim Kindergarten Lindenwies. Felix lachte und griff erneut in die Schachtel.

"Marcel, ich habe eine Idee."

Er hielt eine graue Spielzeugpistole und einen Topf mit rotem Deckel in der Hand.

"Caran d'Ache", las Marcel laut vor, "was willst du mit der Wasserfarbe?"

"Komm mit zum Garten."

Felix jagte davon. Seine langen blonden Haare wehten auf und ab und seine dünnen Beine schnellten abwechselnd vorwärts. Marcel folgte mit Mühe und immer grösserem Rückstand.

"Was machst du da?", keuchte er endlich und schnappte nach Luft. Nur zu gut hatte er gesehen, wie sein Freund den ersten Ballon in den Zuber mit Wasser getaucht hatte. "Wollen wir die Kindergärtler mit Ballons bewerfen?"

"Wasserbomben machen Spass, aber ich habe eine bessere Idee."

Ja, genau, Felix hatte immer die besseren Ideen. War Marcel noch ebenbürtig im Kopieren, so blieb Felix' Kreativität und Einfallsreichtum für ihn unerreichbar. Einmal etwa nahm Felix ein Feuerzeug mit in die Schule und erhitzte damit während mehreren Minuten die Türklinke. Als Lehrer Huber, das war jener mit dem spitzen Ziegenbart und den drei Härchen auf der einen und den fünf auf der anderen Wange, ins Klassenzimmer gestürmt kam, schrie und jaulte er so was von laut auf, dass er dem Herrn Pfarrer auf der Kanzel Konkurrenz machte. Die Verbrennungen dritten Grades machten einen Arztbesuch unumgänglich. Der Unterricht fiel aus und Felix wurde zur Strafe in den Putzdienst verbannt.

Nicht nur gegenüber den Lehrern, nein auch gegenüber der sonstigen erwachsenen Obrigkeit liess der Respekt der beiden Jungs zu wünschen übrig. Einmal hockten sie auf der Natursteinmauer beim Schulhaus Ebnet und schauten auf die vorbeiflitzenden Autos hinunter. Schon seit Minuten hielten sie die rohen Eier in ihren feuchten Händen.

"Was meinst du, wann kommt einer?"

"Keine Ahnung. Die Sonne brennt. Wir schwitzen selbst im Schatten. Lange darf es nicht mehr dauern, sonst sind die Eier hart."

"Da, ich erkenne dieses Geräusch 100 Kilometer gegen den Wind. Das kesselt und knattert wie nur ein VW kesselt und knattert. Siehst du, schon wieder ein Käfer, mit luftgekühltem Vierzylinder-Boxermotor und Heckantrieb. Natürlich wieder mit Verdeck. Warum fährt hier nie ein Amischlitten vorbei, so ein Cadillac Cabriolet mit 7,4 Liter grossem Sechzehnzylinder-V-Motor. Das würde passen."

Gebannt harrten Marcel und Felix eine weitere Viertelstunde aus. Sie lauschten, beobachteten, diskutierten, behaupteten, bis sich Felix ruckartig aufrichtete und den Zeigefinger auf seine geschlossenen Lippen presste. Marcel schwieg sofort und kniff seine Augen zu dünnen Schlitzen zusammen.

"Da, schau an, endlich. Das ist ein MG TC... ohne Verdeck!"

"Was nun?"

"Konzentrier dich, wie besprochen. Gleich ist er da. Wir haben nur einen Versuch."

Die beiden Jungs richteten sich auf, fixierten den roten Flitzer, streckten gleichzeitig den linken Arm mit ausgefahrenem Zielzeigefinger aus und führten den rechten Wurfarm locker über ihren Kopf. Die Reifen quietschten.

"Zack, voll auf den Beifahrersitz", schrie Felix, "genauer geht es nicht."

"Ich habe nur den Kotflügel erwischt. Aber..." Marcel zog seine Mütze tiefer ins Gesicht. "Der Fahrer steigt aus. Er flucht. Der sieht ja aus wie der Herr Bürgermeister."

"Nichts wie weg", rief Felix und rannte los. "Der Herr Bürgermeister fährt doch einen roten MG TC?!"

"Echt?"

Von diesem Tag an wusste auch Marcel Hediger, wie des Herrn Bürgermeisters Sportroadster aussah respektive wie er drei Tage später mit von der heissen Sommersonne im Stoffsessel eingekochten Rühreiern duftete. Genauso lange dauerte es, bis der Dorfpolizist Sprenger die beiden Übeltäter ausfindig gemacht hatte und dann bei der Familie Hediger an der Haustüre klingelte.

Ein andermal spielten Felix und Marcel Cowboy und Indianer. Sie schossen mit Metallpfeilen auf die am Ast hängenden reifen Äpfel, bis nur noch Löcher übrig blieben.

"Was meinst du, Marcel, wie hoch können wir den Pfeil schiessen?", fragte Felix und spannte erneut den Bogen. "Glaube mir, jetzt löchere ich die Wolke dort oben."

Felix liess los. Es surrte in der Luft, dann war es still.

"Siehst du ihn noch?", fragte Marcel besorgt und hielt sich die flache Hand über die Stirne. "Ich nicht."

"Ich auch nicht. Aber er muss irgendwo da oben sein, ganz bestimmt. Ich glaube nicht, dass er in der Wolke stecken bleibt."

"Was, wenn er doch oben bleibt?"

"In der Wolke? Du..."

'...hast sie wohl nicht mehr alle', wollte Felix noch sagen, zuckte aber zusammen, knallte Po voran auf den Boden und schrie auf – eigentlich alles gleichzeitig.

"Aaaahhhhhhhhhhhh!!!!!!!!"

"Felix, was ist?"

"Mein Rücken, meine Hose!" Felix machte einen Satz und fiel vornüber in den Matsch, mit dem Hosenbund in den Kniekehlen. "Ich hänge fest!"

"Was...", Marcel riss seinen Mund weit auf, "...was ist mit deiner Hose?"

"Ich hänge fest!" Felix wälzte sich in alle Richtungen. Doch es gelang ihm nicht, sich zu erheben. "So hilf mir doch."

"Wie?"

"Nun mach schon!"

Langsam begriff auch Marcel. Der Metallpfeil hatte aus einem unerklärlichen Grund die Wolke verfehlt, seine Spitze wieder der Erde zugeneigt, war mit immer grösserer Geschwindigkeit unbemerkt auf die beiden Jungs zugerast und hatte sich – Felix' Rücken nur leicht aufritzend – an Haut und Hemd vorbei in die Manchesterhose gebohrt und diese ins Erdreich getackert. Felix respektive seine Hose konnte sich nicht mehr von der Stelle rühren. Marcel umklammerte den Pfeil.

"Er gibt nach", sagte er nach mehrmaligem Zerren und streckte endlich seine geballte Faust in die Luft. "So, Felix, da haben wir den frechen Kerl, der dir an die Wäsche wollte. Bist du verletzt?"

"Mein Arsch brennt höllisch. Ist aber nicht so schlimm. Wir Indianer... ahhh... wir kennen keine Schmerzen."

"Das war Glück. Der Pfeil hätte dich den Skalp kosten können."

"Was heisst hier Glück?", murrte Felix, griff sich zwischen die Pobacken, führte seine Finger an seine Nase und zog den Gurt rasch hoch. "Ich habe mir in die Unterhosen gemacht. Das bleibt aber unter uns!"

Indianer kannten keine Schmerzen, machten aber die Hose voll. So und nicht anders musste es auch im Wilden Westen gewesen sein, war Marcel überzeugt. Er verstaute Bogen, Köcher und Pfeile im Geheimversteck unter der Treppe und verkroch sich für den restlichen Nachmittag zu Hause in seinem Zimmer.

Nicht immer fanden sich Marcel Hedigers Mitmenschen in der Opferrolle. Meistens spielten seine Mitmenschen ihm fiese Streiche.

"Iss vom gelben Schnee", hatten ihm seine falschen Freunde schon im Kindergarten gesagt, "der schmeckt wie Limonade."

In der Mittelschule steckten ihn die Mitschüler Po voran in den Abfalleimer, nicht zwecks endgültiger Entsorgung, sondern zwecks temporärer Ausstellung auf dem Materialkasten von Geografielehrer Schneider. Dieses Exemplar unterrichtender geistiger Umnachtung sah noch schlechter als ein Maulwurf. Er brauchte die halbe Lektion, um den fehlenden Schüler zu vermissen, und die zweite Hälfte der Lektion, um ihn oben auf dem Schrank auszumachen – oder wenigstens das, was er von Marcel Hediger erkannte. Denn von unten sah der Lehrer nichts weiter als die verschwommenen Umrisse der beiden Unterschenkel, die braunen Halbschuhe mit den ausgefransten Schnürsenkeln und Marcels Wuschelkopf. Zur Strafarbeit am Mittwochnachmittag verknurrte der intellektuell tiefstfliegende Pauker natürlich nur den armen Aussenseiter und keinen der Übeltäter, die Marcel erst in seine missliche Lage gebracht hatten.

Zu guter – oder besser schlechter – Letzt war da noch Patrick, der Klassenprimus in der Oberstufe. Unfairerweise die unangefochtene Nummer eins sowohl in Mathe und Sport als grad auch noch bei den Mädchen. Um diesen zu imponieren musste immer wieder Marcel dran glauben. "Wäre ich du, ich würde nicht ich sein wollen", war Patricks Lieblingsspruch. Und nach diesem lebte er.

Nahm Marcel eine Klassenarbeit entgegen, starrte er zuerst auf das rote Geschmier des Paukers und danach in das selbstgefällige Grinsen Patricks. War Marcel Torhüter, wälzte er sich im Matsch und Patrick jubelte. Kreuzte die niedliche Liliane – die blonden, langen Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden oder auch offen – Marcels Weg und schenkte ihm ihr süssestes Lächeln, dann auch nur, weil Patrick direkt hinter ihm stand und ebenfalls seine weissen Zähne zeigte.

Marcel Hedigers Jugendzeit war geprägt von einem einzigen emotionalen Auf und Ab. Felix, sein einziger Freund, verbrachte seine Freizeit hauptsächlich auf Tennis- und Fussballplätzen. Die anderen Mitschüler duldeten Marcel, wenn überhaupt. Und so begann der einsame Junge seine ihm ganz eigene Welt zu konstruieren. Eine Welt, in die er sich zurückzog, gar regelrecht hineinfloh. Er verschlang einen Klassiker nach dem anderen, stillte seinen literarischen Wissensdurst und entdeckte dabei vor allem eines – seine grenzenlose Fantasie.

Um sich besser in jene Zeit zurückzuversetzen, sollten wir uns eines vor Augen führen: Damals sprachen die Menschen noch miteinander oder schrieben sich Seiten füllende Briefe. Es gab kein Internet, kein Facebook, kein Twitter, kein WhatsApp, kein ach was auch immer in der Zukunft noch alles erfunden werden sollte. Beim Sprechen schaute man sich gegenseitig in die Augen, und das Telefon, damals ein grosser, an der Wand befestigter Kasten mit Drehwahlscheibe, geringeltem Kabel und einem gigantischen Hörer mit Sprechmuschel, klingelte ganz selten und lenkte kaum von der zwischenmenschlichen Kommunikation ab. Unter einem Netz verstand man ein zartbesaitetes Textilwerk, in dem ein behaarter Achtfüssler auf Insektenjagd ging, bestenfalls noch gespannte Leitungen, über die der Strom floss und die damaligen Muscheltelefone – das Telefon wohlverstanden noch mit 'ph' geschrieben – mit Energie versah. Aber bestimmt kein Internet, in dem Daten in verschlüsselter Form verschoben werden konnten.

Um nicht zu Hause zu vereinsamen, war Marcel Hediger gar nichts anderes geblieben als raus aus der Komfortzone seiner elterlichen Behausung zu gehen, raus ins Leben. In jener Zeit, in der Geschichtenerzähler als weiterentwickelte Form des Minnesängers noch eine Daseinsberechtigung hatten, entdeckte auch Marcel Hediger seine Leidenschaft für das Wort Goethes – und entdeckte damit womöglich seine einzige wirkliche Begabung.

Umgeben von seinen erfundenen Protagonisten fühlte er sich geborgen, lernte viel über sich und seine eigene Bestimmung, erkannte die Bedeutung des Wortes 'Selbstbewusstsein', kämpfte sich in die Aussenwelt zurück und ging aus jeder neuen Geschichte gestärkter hervor. Seine Geschichten hatten es in sich. Sie handelten von Unterdrückung, Leidenschaft, Wille, Ausdauer, Einsatz, Opfer und Kampf, die mit Ruhm und Ehre belohnt wurden, wobei Marcel eine ihm eigene Erzählform entwickelte und spritzigen Witz gekonnt mit bitterstem Sarkasmus paarte. Minutenlang stellte er sich die überflüssigsten Fragen. Er überlegte sich etwa, ob ein Kannibale, der sich selbst verspeiste, sein Körpergewicht verdoppelte oder ob er durch die Selbstverspeisung ganz verschwand. Oder ob der Vogel Strauss, der sich, aus welchem unerklärlichen Grund auch immer, als Vogel betitelte, obwohl er wissentlich nicht fliegen konnte, nun ein Tier war oder ein Vogel.

Marcel Hediger erzählte seine struben Witze und Geschichten. Mit jeder Woche scharten sich mehr Zuhörer um ihn – wohl verstanden nicht nur seine Mutter oder seine Grosstanten. Alle Augenpaare richteten sich in diesen Minuten auf ihn, denn er beherrschte den Spannungsaufbau wie kein Zweiter. Und so las man ihm seine Worte von den Lippen ab, liess sich von ihm in ferne Länder und fremde Kulturen entführen und verharrte gebannt, bis er seine Erzählung mit einer überraschenden Wendung auflöste. Seine Lieblingsgeschichten drehten sich um einen verpfändeten Diamantring oder einen Mord auf einer exotischen Insel, von der die Mitschüler nicht einmal wussten, dass diese existierte. Am Schluss kam jeweils sein Lieblingswitz.

"Was ist das Gegenteil von 'analog'?"

Seine Zuhörer taten Marcel Hediger den Gefallen und zuckten mit ihren Schultern, worauf er schmunzelnd auflöste: "Anna sagte die Wahrheit."

Auf seine letzten Worte folgte ein überwältigendes Gelächter und Geklatsche, das weitere Leute neugierig machte, die man dann in der nächsten Erzählrunde auf dem Pausenplatz antraf. Marcel Hediger fühlte sich wie Jesus inmitten seiner Jünger. Nur teilte er mit seinen Zuhörern keine Brote und Fische, sondern Geschichten. Nicht das Wort Gottes, sondern das Wort Goethes. Immer seltener ging es ihm wie dem lachenden Clown, der hinter seiner Maske die Tränen kaschierte.

Einer seiner treusten Zuhörer war Felix. Genau dieser Felix, mit dem er die geheime Schatztruhe unter der Treppe an der Ebnetstrasse 1 geplündert hatte.

"Schau her, Marcel", jauchzte Felix und griff nach dem Farbtopf mit dem roten Deckel, "jetzt kommt noch die Farbe in den Ballon rein, dann ein Knopf ins Ende, mehrmals schütteln – fertig."

"Wir bewerfen die Kindergärtler mit roter Farbe?"

"Nicht doch", schmunzelte Felix. Er schob sich den gefüllten Ballon unter das weisse Hemd. "Viel besser."

Hinter einer Hecke versteckt, lauerten die beiden den Kleinen auf und verhielten sich still wie ein Staubkorn im Mausoleum. Als die Kindergärtler singend um die Ecke bogen, sprang Felix hinter der Hecke hervor.

"Komm Marcel, richte deine Pistole auf mich. Ja, genau so wie ich – peng, peng." Er jaulte laut auf und zischte Marcel zu: "So, und jetzt zerplatze deinen Ballon."

Marcel Hediger tat wie befohlen. Und so zielten die beiden gegenseitig auf sich und ballerten munter drauflos. Ihre Hemden verfärbten sich tiefrot. Blut spritzte in der Luft herum und auf den Boden. Ihre Gesichter und Hände waren rot verschmiert, als Felix und Marcel gleichzeitig tot umfielen und sich nicht mehr rührten – so tot waren sie. Quentin Tarantino hätte seine wahre Freude an der Darbietung gehabt.

Kreischend rannten die kleinen Kinder davon und nach Hause, konnten eine Woche lang abends nicht mehr einschlafen und wurden von den schlimmsten Alpträumen heimgesucht. Felix und Marcel hockten noch lange hinter dem Haselstrauch, hinter den sie sich versteckt hatten, und hielten sich ihre Bäuche. Sie lachten auch noch, als die Herbstsonne schon fast hinter dem Horizont verschwunden war und die nächste Moralpauke der Eltern nicht mehr lange auf sich warten liess.

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28. April 2015 – Marcel Hediger seufzte und wippte den Kopf in einer Art und Weise hin und her, wie es eigentlich nur die Inder beherrschten. Er streckte seinen Arm aus, liess den Luftballon in die Bananenkiste fallen und fuhr sich mit den gespreizten Fingern durch das Haar. Ein Schmunzeln spielte mit den Mundwinkeln des alten Mannes und liess diese nach oben zucken. Ja, es hatte sie doch noch gegeben, die vereinzelten Glücksmomente in seinem Leben. Seine Jugendzeit war nicht mal so übel gewesen. Nur schien diese Zeit des Glücks heute fern und vergessen.

Mit den Fingerspitzen berührte er die Oberfläche des Aschenbechers. Ganz deutlich spürte er das Leben, das einst gewesen war und heute nur noch in seiner Vorstellung weiterexistierte. Irgendwie erinnerte ihn der Aschenbecher an sich selbst, an Marcel Hediger.

Die drei Fossilien, eingeschlossen im Granit, den ein marokkanischen Steinmetz in die Form des Aschenbechers gebracht hatte, waren Orthozeren, also trichterförmige Pfeilspitzkrebse, vielleicht auch versteinerte Kopffüssertiere, je nachdem, welchem der marokkanischen Verkäufer Marcel Hediger nun mehr Glauben schenken wollte.

Der alte Mann erinnerte sich, wie der Einheimische in seiner beigefarbenen Djellaba, diesem traditionellen, lang wallenden Gewand, und mit der Kapuze tief in der Stirn, Stein um Stein vergebens gespaltet hatte, bis er in der gleissenden Sonne der Sahara auf genau diesen – seinen – Stein gestossen war. Der Metz hatte ein Fossil nach dem anderen vom Granit befreit, bis die drei Orthozeren wie auf einer Matratze ruhten und das Gestein zum Aschenbecher verkommen war.