Onkel Max kämpft gegen Corona und Trump - Adrian Stürm - E-Book

Onkel Max kämpft gegen Corona und Trump E-Book

Adrian Stürm

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Beschreibung

Onkel Max hat ein Leben lang erzählt. Von Trump, Corona und sonstigen Seuchen. Doch das Erzählen ist ihm vergangen. Er spricht nicht mehr. Was von ihm übrig geblieben ist, sind die Erinnerungen an längst vergangene Tage, Erinnerungen an meinen Grossonkel, an den liebenswürdigsten fiktiven Ständerat aller Zeiten. Fiktiv? Onkel Max ist Teil meiner Vergangenheit, Teil meiner Kindheit, Teil jener Jahre, die ich so kaum geschätzt habe und denen ich heute oft wehmütig nachtrauere. Er hat mich geprägt, wie mich keine andere Person geprägt hat. Vor allem während Lockdown und Trumps Wahlkampf. Mama und Papa arbeiteten im Industriebetrieb, er am Fliessband, sie im Büro. Doch Onkel Max ist immer bei mir gewesen. Er hat neben uns gewohnt, ist Teil unserer Familie gewesen. Die einen halten sich eine Katze, die anderen einen Hund. Wir unseren Onkel Max. Und er uns. Eine eigenartige Symbiose. Oft werde ich gefragt, was so speziell an meinem Onkel Max gewesen ist. Eine gute Frage, auf die es auch eine gute Antwort gibt. Genau deshalb habe ich diese meine Antwort schriftlich festgehalten - im Tagebuch des Bösen.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Dienstag, 16. Juni 2015

Jahre später - Donnerstag, 9. Januar 2020

Sonntag, 12. Januar 2020

Mittwoch, 15. Januar 2020

Mittwoch, 22. Januar 2020

Donnerstag, 30. Januar 2020

Mittwoch, 5. Februar 2020

Freitag, 21. Februar 2020

Mittwoch, 26. Februar

Montag, 2. März 2020

Mittwoch, 11. März 2020

Freitag, 13. März

Montag, 16. März 2020

Freitag, 20. März 2020

Dienstag, 24. März 2020

Donnerstag, 26. März 2020

Sonntag, 29. März 2020

Dienstag, 7. April 2020

Samstag, 11. April 2020

Mittwoch, 15. April 2020

Montag, 20. April 2020

Mittwoch, 22. April 2020

Dienstag, 28. April 2020

Mittwoch, 29. April 2020

Freitag, 1. Mai 2020

Samstag, 2. Mai 2020

Sonntag, 3. Mai 2020

Dienstag, 5. Mai 2020

Donnerstag, 7. Mai 2020

Freitag, 8. Mai 2020

Sonntag, 10. Mai 2020

Montag, 11. Mai 2020

Dienstag, 12. Mai 2020

Donnerstag, 14. Mai 2020

Freitag, 15. Mai 2020

Samstag, 16. Mai 2020

Sonntag, 17. Mai 2020

Dienstag, 19. Mai 2020

Donnerstag, 21. Mai 2020

Samstag, 23. Mai 2020

Sonntag, 24. Mai 2020

Montag, 25. Mai 2020

Donnerstag, 28. Mai 2020

Pfingstsamstag, 30. Mai 2020

Dienstag, 2. Juni 2020

Freitag, 5. Juni 2020

Dienstag, 9. Juni 2020

Donnerstag, 11. Juni 2020

Samstag, 13. Juni 2020

Montag, 15. Juni 2020

Freitag, 19. Juni 2020

Sonntag, 21. Juni 2020

Mittwoch, 24. Juni 2020

Freitag, 26. Juni 2020

Sonntag, 28. Juni 2020

Dienstag, 30. Juni 2020

Mittwoch, 1. Juli 2020

Dienstag, 7. Juli 2020

Samstag, 11. Juli 2020

Dienstag, 14. Juli 2020

Freitag, 17. Juli 2020

Dienstag, 21. Juli 2020

Montag, 3. August 2020

Freitag, 14. August 2020

Sonntag, 16. August 2020

Nachwort – Dienstag, 3. November 2020

Prolog

Onkel Max hat ein Leben lang erzählt. Von Trump, Corona und sonstigen Seuchen. Doch das Erzählen ist ihm vergangen. Er erzählt nicht mehr. Er spricht überhaupt nicht mehr. Was von ihm geblieben ist, sind die Erinnerungen an vergangene Tage. Erinnerungen an meinen Grossonkel, an den liebenswürdigsten fiktiven Ständerat aller Zeiten. Fiktiv?

Onkel Max ist Teil meiner Vergangenheit, Teil meiner Kindheit, Teil jener Jahre bis zu meiner Volljährigkeit, die ich so kaum geschätzt habe und denen ich heute oft wehmütig nachtrauere. Er hat mich geprägt wie keine andere Person. Papa und Mama arbeiteten im Industriebetrieb, er am Fliessband, sie im Büro. Doch Onkel Max ist immer bei mir gewesen. Er hat neben uns gewohnt, als Teil unserer Familie. Die einen halten sich eine Katze, die anderen einen Hund. Wir unseren Onkel Max. Und er uns. Eine eigenartige Symbiose.

Irgendwann ist er von uns gegangen, still und unbemerkt, wie sein ganzes Leben gewesen ist. Dabei hat er ein Leben lang gesät, zu Lebzeiten aber nie geerntet. Denn jede Saat braucht so ihre Zeit. Ach, was habe ich alles von ihm gelernt. Noch heute spreche ich gelegentlich mit ihm. So wie ich meine ganze Jugendzeit mit ihm gesprochen habe. Nur sind die heutigen Dialoge schwieriger zu führen als all die lebendigen, welche die Tage meiner Pubertät geprägt haben.

Wir sind verschieden gewesen, Onkel Max und ich. Er, der pensionierte Witwer, der den zweiten Weltkrieg und den Aufbau der heutigen Sozialstaaten ebenso miterlebt hat wie den Zerfall der UdSSR oder die Entstehung der EU. Ich, Lara, die vom Leben noch ungeprüfte junge Frau, erst noch blond, die jeden Tag mehr Fragen gesammelt hat, als er beantworten konnte. Aber auch Onkel Max hat mir so manche Frage gestellt, einfach aus seinem Blickwinkel. Und ich habe ihm meine Welt erklärt.

Noch heute werde ich gefragt, was so speziell an meinem Onkel Max gewesen ist. Abgesehen davon, dass er ein Leben lang in den Ständerat einziehen wollte und, obwohl Onkel gerufen, ein ganz normaler Nachbar und nicht mit mir verwandt gewesen ist. Eine gute Frage, auf die es auch eine gute Antwort gibt. Genau deshalb habe ich diese meine Antwort schriftlich festgehalten – im Tagebuch des Bösen.

Dienstag, 16. Juni 2015

Endlich Sommer. Blauer Himmel. Keine Wolken. Hohe Temperaturen. Späte Sonnenuntergänge. Das Grau von April und Mai ist gewichen. Keine Viren in der Luft. Noch nicht.

Einziger Schatten am Horizont: Der angebliche Immobilien-Mogul Donald Trump, seines Zeichens zweitklassiger 'you are fired!'-Reality TV-Star, gibt die Kandidatur für die amerikanische Präsidentschaft bekannt. Er, mit der ihm eigenen Bravade, die einzig Superlative, Ausrufezeichen und das Adjektiv 'great' kennt, macht Amerika great again. Oder will es wenigstens. Nicht zum ersten Mal. Die erneute Proklamation grenzt an eine Parodie. Wie sein Regierungs-Programm aussieht, weiss nur er. Hinter einer grossen Mauer zu Mexiko im Süden.

"Ladies and Gentlemen", ruft er seinen Bewunderern zu, "ich bewerbe mich offiziell" – die organisierten Bewunderer jubeln – "für das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten" – noch mehr Jubel – "und wir werden dieses Land wieder grossartig machen!"

"Was erwartest du?", fragt Lara und starrt auf das Fernsehgerät. "Hat Trump eine Chance?"

"Nicht die Bohne." Onkel Max schaut nicht auf. "Zuerst muss er sich bei den Republikanern durchsetzen – unmöglich. Die haben ganz andere Kaliber am Start. Und dann wartet Hillary. Die Clinton ist bissig. Die will es wissen. Sie ist so gut wie gewählt. Ist sie erst mal Präsidentin, soll sich der Bill aber schön zurückhalten. Dann kommt das gut."

"Ich interessiere mich nicht für Politik", sagt Lara, fährt sich mit der Hand durch das offene Haar und wellt die blonden Strähnen zurück über ihre Schulter. "Aber diesen orangegefärbten Aufschneider, der Amerika ganz alleine gross machen will, würde ich nie wählen. Der gefällt mir nicht."

"Ein Politiker muss dir nicht gefallen." Onkel Max lächelt Lara an. "Ein Politiker ist für seine Bürger und sein Land da. Na ja, er sollte es sein."

"Schau dir Trump am Fernsehen an. Der weiss nicht mal, dass da draussen reale Menschen existieren."

"Mag sein", beginnt Onkel Max und überlegt lange. Lara fährt an seiner Stelle fort.

"Ich sehe das als Teenager, als Frau", sagt sie. "Amerika ist gespalten. Schwarz und weiss, arm und reich."

"Obama einte sein Volk nicht", stimmt Onkel Max Lara zu. "Die Menschen sind unzufrieden, wollen protestieren, sind aber müde und träge. Nichts einfacher als der Nation an der Urne einen Denkzettel zu verpassen. Trump kommt wie gerufen. Sein Wahlsieg wäre ein Weckruf, ein Katalysator für Veränderungen auf beiden Seiten des Atlantiks."

"So machten wir es mal im Schülerrat. Wir wählten einen Kandidaten, der keine Strategie hatte und seine Meinung von Minute zu Minute änderte, je nach dem, was er gerade online gelesen hatte", erzählt Lara. "Wenn ich Trump aber an der Glotze sehe und höre, mit seinen orangegefärbten Haaren, seiner Pfirsichhaut und seinem spitzen Mund, aus dem nur Hass herauskommt, dann hoffe ich, dass ich falsch liege."

"Eine Frau würde Amerika guttun."

"Die Frauen machen die Hälfte der Bevölkerung aus", nickt Lara. "Die Zeit ist reif für eine Frau. Das Volk entscheidet."

"Ich hoffe, die Zeit ist reif. Doch Frauen wählen oft Männer, weil sie anderen Frauen nicht trauen. Auch steht Clinton für das Establishment, für die alten, machtbesessenen Demokraten. Diese Platzhirsche müssen weg, um neuen, jungen Kräften Platz zu machen." Onkel Max wiegt den Kopf hin und her. "Will das Volk einen Verrückten, kommt es nicht auf die Quote an."

"Die Zukunft wird es zeigen."

16 Monate später bekommt die Welt den Verrückten frei Haus ins Weisse Haus geliefert. Denn sie wissen nicht, was sie tun.

Jahre später - Donnerstag, 9. Januar 2020

Onkel Max öffnet die Türe. Lara strahlt ihn an.

"Unten beim Eingang, da hängt dein Namensschild."

"Zuerst mal guten Tag, meine Lara."

"Guten Tag, Onkel Max. Dein Namensschild hängt."

"Aber klar doch, meine Kleine. Natürlich hängt mein Namensschild. Ich wohne hier."

"Du verstehst mich nicht, es hängt nicht, es hängt." Lara schaut Onkel Max in die Augen, bemerkt seinen fragenden Blick und lacht. "Vermutlich ist eine Schraube locker."

"In diesem Gebäude hat noch so mancher eine Schraube locker."

"Man sollte das Schild reparieren."

"Wer ist 'man'?"

"Jemand."

"Weisst du, du tönst wie meine Frau, Gott hab sie selig. Sie suchte ein Leben lang nach diesem Jemand, der all ihre Probleme löst. Ist es nicht einfacher, einen Schraubenzieher zu nehmen und das Problem zu beheben, als ein Leben lang darüber zu lamentieren?"

"Ich habe keinen Schraubenzieher für deine lockere Schraube."

"Meine lockere Schraube", lacht Onkel Max und tritt zur Seite. "Komm rein, wir sind nicht im Ständerat – noch nicht."

Grossonkel Max ist gefühlte 100 Jahre alt. Er hat das Gesicht voller Furchen und Runzeln, wilde, buschige Augenbrauen, einen langen, weissen Bart und sieht aus wie Gott. Jedenfalls so, wie sich Lara den lieben Gott in jungen Jahren vorgestellt hat. Dabei darf ihn niemand mit Grossonkel ansprechen. Er ist gross und Lara klein und das sei eine Tatsache, hat er neulich gemeint. Man muss seine wahre Grösse deshalb nicht noch zusätzlich hervorstreichen.

"Wahre Grösse zeigt sich in Grösse und nicht in der Grösse."

Ja, er ist gross, optisch gross, das leuchtet jedem Kind ein. Und er ist alt, was man aber noch weniger sagen darf, fühlt er sich doch jung und knackig wie Gemüse direkt aus dem Garten. Selbst jetzt, da Tante Rosa nicht mehr auf dieser Welt weilt.

"Es regnet", murmelt Onkel Max und drückt die Klinke. "Es ist zu warm für den Januar. Wo bleibt der Schnee?"

Er zieht die Balkontüre hinter sich zu und saugt die frische Luft in sich hinein. Es riecht nach Frühlingsregen, nach frischer Wäsche und Leben. Doch seine Hand zittert, als er das Streichholz an der Schachtel reibt. Es knistert, die im Mundwinkel hängende Zigarette glüht auf und Onkel Max atmet tief ein.

"Ist gut, rauchst du nicht", brummt er. "Fang nie damit an."

"Das sagst du bei jeder Zigarette", lacht Lara und streicht sich mit der Hand durch ihre Mähne. "Warum hörst du nicht auf?"

"Früher gehörte das zum guten Ton. Sie hat auch geraucht."

"Wie eine Bürstenbinderin, hast du neulich gesagt. Auch getrunken hat sie."

"Getrunken?" Onkel Max lacht. "Sie hat gesoffen." Seine Kugelaugen verschwinden zwischen den tiefen Furchen. "Trinkst du?"

"Jeden Tag", Lara macht ein ernstes Gesicht, "viel Wasser."

Onkel Max schmunzelt, tippt mit dem Zeigefinger auf die Zigarette, bis die Asche zu Boden fällt, saugt erneut am Filter, dass der Stummel noch einmal so richtig aufglüht, und tschippt die Kippe über das Balkongeländer.

"Onkel Max, du solltest keine Zigarettenstummel wegschmeissen. Der Filter kompostiert nicht."

"So? Bist du dir da sicher?"

Lara nickt.

"Schlechte Angewohnheit." Er seufzt. "Merke ich mir fürs nächste Mal."

"Woran denkst du? An sie?"

"Du gleichst ihr."

"Wie ist das? Kann man nie vergessen?"

Er schüttelt den Kopf.

"Der richtige Partner ist nicht der, mit dem alles toll ist, sondern der, ohne den alles leer ist."

"Wie ist das, wenn du heute an sie denkst? An die Zeit, die ihr zusammen verbracht habt?"

Onkel Max zuckt mit den Schultern, schliesst seine Augen und schmunzelt.

"Denke ich an sie, habe ich ein Lächeln auf den Lippen. Weisst du, Lara, du hast ein gutes Leben geführt, wenn man dir nachtrauert. Irgendwann verflüchtigt sich aber die Trauer, und dann hast du ein gutes Leben geführt, wenn man dir nachlächelt."

Er schmunzelt erneut und streicht sich mit dem Zeigefinger über das Kinn.

"War sie deine erste Frau?"

"Rosa?" Onkel Max starrt Lara an. Seine Augenbrauen wölben sich zu nie geahntem Volumen. "Du bist aber neugierig!"

"Ich habe euch nur zusammen gekannt. Wenigstens soweit ich mich erinnere."

"Wir waren fast das ganze Leben zusammen. Ein langes Leben."

"Stören dich meine Fragen?"

"Meine liebe Lara, seit du sprechen kannst, löcherst du mich mit deinen Fragen. Die gehören zu dir wie..." Onkel Max überlegt kurz. "Die gehören zu dir wie die Schmeissfliege zum Kuhfladen."

Beide lachen. Er hält sich die flache Hand auf den Bauchansatz und senkt seinen Blick so lange nicht, bis Lara zur Seite schaut.

"Bin ich der Kuhfladen oder die Schmeissfliege?", fragt sie in die Stille.

"Ach, Lara, du bist grossartig", murmelt er. "Aber... Nein, sie war es nicht."

"Was... was war sie nicht?"

"Rosa war nicht meine erste Frau."

"Ah?"

Mehr vermag Lara nicht zu sagen. Und so ist es an ihm, das Gespräch fortzusetzen.

"Ja, ja, meine Rosa war eine wilde Mutter. Sie hat ein ruchloses Leben geführt, täglich ihr Päckchen geraucht und gläserweise Wein gesoffen. Und vor unserer gemeinsamen Zeit soll sie noch zügelloser gelebt haben."

"Im Altersheim trank sie Klosterfrau-Melissengeist, als sie mal nichts anderes fand. Ich erinnere mich."

"So ist sie gewesen, genau so", lacht Onkel Max. "Ach, was habe ich sie vergöttert."

"Wie habt ihr euch kennengelernt?"

"Das habe ich dir schon so oft erzählt."

"Bitte, Onkel Max, erzähl mir die Geschichte nochmals."

"Nun ja, wie du meinst", schmunzelt der alte Mann. "Das war damals am 3. Juli, am ersten St. Galler Kinderfest nach dem Krieg. Blauer Himmel, die Schweisstropfen trieben mir auf die Stirn, die Mädchen hatten Blumengebinde in den Haaren und in der Ferne sah man den Säntis."

"Ich weiss, am Kinderfest scheint immer die Sonne", drängt Lara. "Sonst wird es verschoben. Komm zur Sache."

"Ungeduldig wie eh und je, meine Kleine", schmunzelt der Onkel und schliesst seine Augen. "Am Abend, ich kam vom Festplatz durch die Multergasse, da stand sie plötzlich vor mir. Ganz in Weiss, mit einem Cocktailkleid aus Chintz und Tüll, verziert mit Rüschen und Spitzen. Ich sehe sie noch vor mir. Wir starrten uns in die Augen – unser erster Kontakt. Beide senkten wir den Blick nicht. Sie zwinkerte mir zu und zog ihre Mundwinkel so weit nach oben, dass sich zwei kleine Grübchen auf ihren Wangen bildeten."

Er hält kurz inne. Lara seufzt.

"Und dann?"

"Ich strich mir mit der Hand durch mein volles Haar, öffnete meine Lippen und sagte: 'Verehrtes Fräulein, ich bin der Max. Wir werden in genau 1000 Tagen heiraten'."

"Nenn mich ja nie Fräulein", murmelt Lara, "das tönt schrecklich unemanzipiert."

"In jenen Jahren war 'Fräulein' ganz normal."

"Und der Mann gemäss Bundesverfassung das Oberhaupt der Familie. Wer sollte noch mal in 1000 Tagen heiraten?"

"Rosa und ich natürlich." Onkel Max schaut auf. "Hörst du mir überhaupt zu?"

"Aber du hast sie gar nicht gekannt."

"Wir kannten uns vom ersten Augenblick an. Diesen einen Augenblick für mein ganzes Leben!"

Lara schmunzelt, entgegnet aber nichts. Sie liebt diese Geschichte. Sie liebt alle Geschichten von Onkel Max.

"Glaubst du mir nicht?", fragt er in die Stille.

"Was ist das, 'Liebe auf den ersten Blick'? Wie fühlt sie sich an?"

"Was willst du wissen?"

"Passiert das öfters?"

"Liebe auf den ersten Blick? Na ja, das fühlt sich halt einfach so an. Das merkt man... irgendwie..."

"Wie genau?"

"Du stellst Fragen. Und immer wieder Fragen über Fragen." Onkel Max überlegt lange. "Du spürst ein Kribbeln in der Bauchgegend und bekommst weiche Knie, wenn..."

"Onkel Max, keine Klischees. Wie war es bei dir?"

"Nicht dein Ernst!", stöhnt er und fährt sich mit den flachen Händen über das Gesicht. "Kennst du den Geruch in der Luft, an einem heissen Sommertag, viel wärmer als heute, wenn der Gewitterregen kommt und der heisse Asphalt dampft?"

"Liebe auf den ersten Blick ist heisse Luft?"

"Zuneigung ist heisse Luft. Liebe ist mehr. Liebe ist Petrichor."

"Petri... was?"

"Petrichor leitet sich aus dem Griechischen ab und bezeichnet den Geruch einer Flüssigkeit auf trockenem Stein. Pflanzen sondern Öle ab, die vom Boden aufgesaugt werden und in Trockenzeiten die Keimung von Samen und das zu frühe Pflanzenwachstum verzögern. Kommt der Regen, wird das Öl in die Luft freigesetzt und die Pflanzen spriessen. Genauso überraschend wie dieser markante Geruch ist die nur schwer mit Worten zu beschreibende Sensation der Liebe auf den ersten Blick."

"Weiter?"

"Was, weiter?"

"Du hast Tante Rosa gesehen, die Luft duftete nach Regen und Asphalt, und dann wolltest du sie in 1000 Tagen heiraten?"

"Lara, du bist mir eine. Wobei, na gut, ganz falsch liegst du nicht." Onkel Max hebt die Schultern kurz in die Höhe. "Es waren nicht 1000 Tage, sondern nur 999. Genau 999 Tage später haben wir geheiratet."

"Dein Ernst?"

"Sie hatte ihren Willen, meine Rosa, und setzte diesen durch. Kompromisse waren ihr fremd. Sie wollte, dass ich mit meiner Vorhersage falsch liege. Mein Wort, nicht 1000, sondern exakt 999 Tage später haben wir geheiratet. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht hat sie mich jahrelang auf die 999 Tage hingewiesen. So war es und nicht anders, glaubte wenigstens sie. Ich liess sie in ihrem Glauben, und das war gut so." Er seufzt. "Rosa musste immer das letzte Wort haben. Nahm ich ihr dieses, kam sie mit einem neuen. Nur heute, heute spricht sie nicht mehr. Heute habe ich das letzte Wort."

"Hoffentlich auch noch morgen."

"Weisst du, Lara, nur einer weiss, was noch kommt. Und zu diesem habe ich keinen so engen Draht. Ich weiss aber, es dauert nicht mehr ewig, und das ist gut so. Die ganze Verantwortung, das ganze neuzeitliche Leben, diese Explosion der Technik, all die neuen Gadgets, Smartphones, Computer, das immer höhere Tempo, das überfordert mich mehr und mehr."

"Das ist der Wandel der Zeit."

"In unserer Firma hatten wir damals Leute, die arbeiteten wie Roboter. Heute haben sie Roboter, die wie Menschen arbeiten. Der Wandel deiner Zeit kann mir gestohlen bleiben." Onkel Max schüttelt den Kopf. "Sieh nur, was die Zeit mit mir macht. Ich verlege meine Brille, meine Schlüssel, Namen entfallen mir, Gesichter sind mir fremd, ja ich verfehle sogar das Pissoir und muss mich setzen. Ich solidarisiere mich mit jedem, der herummotzt, sich über die mangelnde Aufmerksamkeit beklagt, über die heutige Jugend flucht, sein Ventil öffnet und einfach nur noch Dampf ablässt. Ich weiss, irgendwann bin ich senil, kleckere mir die Suppe über meine Hose, stosse meinen Rollator und lasse dabei mein Pipi laufen, greife der Krankenschwester an den Arsch und wähle Roger Köppel. Nein, soweit darf es nicht kommen. Irgendwann vorher muss Schluss sein. Morgen will ich nicht mehr das letzte Wort haben."

"Deine Worte machen Angst, Onkel Max. Neulich hast du bereits gesagt, auf die Krankheit folge der Tod, und dieser sei nicht mehr heilbar."

"Ist doch so. Das Leben ist nichts weiter als eine Krankheit, die mit Sex übertragen wird und mit dem Tod endet. Sex liegt hinter mir, bald auch das Leben."

"Du hast noch viele Jahre vor dir."

"Ein Leben lang wartest du auf den Tod, auf deinen letzten Tag, aber er kommt nicht. Du fragst dich, wie sieht er aus? Wie fühlt er sich an? Wohin zwingt er dich? Was kommt danach? Ist das Leben endlich oder unendlich? Du stellst dir immer wieder die gleichen Fragen, auf die du keine Antworten hast. Tag für Tag, und selbst in der Nacht findest du keinen Schlaf. Du beschäftigst dich mit all deinen Fragen. Du willst dich vorbereiten. Kommt dann aber der Tag, bist du noch immer nicht bereit zu gehen."

"Deine Worte irritieren."

"Niemand gibt dir das Gestern zurück, meine Lara. Darum geh mit Vollgas durch das Heute. Genau wie Tante Rosa. Für den Morgen ist morgen noch Zeit genug – so er denn kommt. Wer weiss, vielleicht gibt es sogar für mich einen Himmel."

"'Gute Mädchen kommen in den Himmel', sagt Catherine, 'böse überall hin'."

"Catherine?"

"Meine beste Freundin."

"Überall hört sich irgendwie spannend an", bestätigt Onkel Max.

"Der Himmel steht auf der Liste der Länder, die ich mal gesehen haben will", lacht Lara. "Aber bis dahin gibt es noch viel zu tun."

"Es gibt noch sehr viel zu tun, das wünsche ich dir. Das Leben ist keine Reise mit dem Ziel, attraktiv und mit gut erhaltenem Körper am Grab anzukommen. Eines Tages rutsche ich ins Grab, mit Rückenschmerzen, komplett verbrauchten Knochen, Hornbrille, Herzschrittmacher und Hörgerät. In der einen Hand werde ich ein Schützengartenbier haben und in der anderen eine heisse OLMA-Bratwurst. Und dazu schreie ich dann: 'Hey, ich komme, was für eine tolle Fahrt'!"

"Aber bitte nicht zu früh." Lara starrt auf das Fernsehgerät. "Was schaust du?"

"Ist so eine Horrorsendung. Reine Schwarzmalerei. Da haben mir die Bilder meiner Rosa noch besser gefallen."

"Eine Horrorsendung?"

"Der Reporter berichtet von einer mysteriösen Lungenerkrankung in China. 59 infizierte Patienten, vielleicht auch mehr. Man vermutet die Quelle des Virus auf einem Fischmarkt. Aber das hatten wir doch alles schon. Von Vögeln, von Rindern, von Schweinen, von welchem Getier auch immer. Jetzt von Fischen? Was machen die auch an Land?" Der Alte lacht. "Ich hätte in die Politik gehen sollen, schon seit langem. Dann könnte ich diesen Verschwörungstheoretikern einen Riegel vorschieben."

"Träumst du noch vom Ständerat?"

"Wo Onkel Max draufsteht, da ist auch Onkel Max drin. Doch, doch, eines Tages geh ich in den Ständerat."

Sonntag, 12. Januar 2020

"Wie geht es dir, Onkel Max?", fragt Lara und steht auch schon in der Wohnung. "What's up?"

"Nichts up, nur noch down. Rentnerleben, immer der gleiche Einheitsbrei. Morgenspaziergang im Stadtpark, Einkauf im Neumarkt, Kaffee in der Bäckerei, Fernsehen am Nachmittag, Abendjournal. Einzig du schenkst mir ein paar Sonnenstrahlen."

Lara deutet auf die aufgeschlagene Zeitung: "Was liest du?"

"Hypothesen über das Coronavirus", erklärt der Alte. "Es greift die Lunge an. Eine tödliche Lungenentzündung droht."

"Wovon sprichst du?"

"Noch so ein Verschwörungstheoretiker schreibt über diese mysteriöse Seuche. Soll ganz übel sein in China. Die Ärzte sind ratlos. Ein 61-jähriger Patient ist gestorben. Sieben weitere in kritischem Zustand." Er tippt sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. "Unglaublich, diese Presseleute langweilen uns mit einer Handvoll Infizierten, und das bei einem Milliardenvolk. Haben die nichts Spannenderes zu berichten?"

"Schon wieder China?"

"Kein Wunder, die essen Spinnen und Schlangen."

"Macht es mehr Sinn, Kaninchen und Hühner zu essen?"

"Keine Ahnung", murmelt Onkel Max und starrt weiter auf die Zeitung, "was die in Wuhan noch so alles essen."

"Wuhan liegt in China?"

"Schaust du keine Abendnachrichten?" Onkel Max deutet auf seine Flimmerkiste. "Fernsehen bildet."

"Dann bleibe ich ungebildet." Lara lacht. "Ich schaue nicht fern. Ich habe ein Smartphone."

"Der Wandel der Zeit, das hatten wir neulich schon."

"Ein Glück, leben wir in Europa. Hier gibt es keine Seuchen."

'Ja, ein Glück', denkt Onkel Max und schliesst seine Augen. Ein Lächeln umspielt seine Mundwinkel.

Mittwoch, 15. Januar 2020

"Ein erster Corona-Infizierter in den USA", liest Onkel Max. "Der Mann ist von Wuhan nach Seattle zurückgekehrt. Es besteht kein Risiko, dass er weitere Menschen ansteckt, werden offizielle Quellen zitiert." Der Alte legt die Zeitung zur Seite. "Das ist beruhigend."

"Er kann keine weiteren Menschen anstecken?", wundert sich Lara. "Auch nicht den Präsidenten?"

"Trump wird uns noch weitere 4 Jahre quälen. Der ist so gut wie wiedergewählt."

"Das hast du damals bei der Clinton auch gesagt."

"Trump disqualifiziert sich mit jedem Wort, doch seine Popularität steigt. Kommenden November haben wir Gewissheit." Onkel Max schmunzelt. "Hast du schon Pläne für deine Zukunft?"

"Ich bin Bloggerin und Influencerin, mache beides."

"Immer diese Anglizismen."

"Ich schreibe im Internet und baue eine Leserschaft auf. Follower auf Instagram und Abonnenten auf YouTube."

"Ist das vergleichbar mit dem Verlagswesen? Vermittelst du deine Texte an Zeitschriften?"

"Zeitschriften sind Vergangenheit. Ich mache lustige Videos und lade diese hoch. Oder auch Fotos. Auf diesen zeige ich irgendwelche Produkte, die man kaufen kann. Meine Abonnenten sehen das und ich werde für die Werbung bezahlt."

"Du machst Fotos von dir und wirst bezahlt?"

"Ein Produkt in die Kamera halten, dann das Foto hochladen und Geld einstreichen – so geht Werbung heute. Früher haben uns Magazine inspiriert, heute Blogs, Foren oder Instagram."

"Du machst dich aber nicht nackig wie im Playboy?"

"Der Sex-Faktor ist wichtig, aber das Ganze ist sauber."

"Warum wollen dich die Leute sehen, wenn nicht nackig? Und erst deine Produkte?"

"Schaust du nur Frauen an, die nackig sind?"

"Na ja." Onkel Max schmunzelt. "Es gab eine Zeit, da habe ich nicht weggeschaut. Heute bin ich zu alt."

"Ich zeige mich nicht nackt, höchstens aufreizend. Bei einem sexy Bild schnellt der Traffic rasch in die Höhe."

"Traffic heisst doch Verkehr. Und das im Zusammenhang mit aufreizenden Fotos? Und da soll einer nicht auf falsche Gedanken kommen?" Onkel Max schmunzelt erneut. "Wir rekapitulieren. Du machst Fotos, bekommst dafür schnelles Geld und kannst vermutlich auch die Produkte behalten."

"Genau."

"Das funktioniert nicht, ist eine oberflächliche Traumwelt-Blase. Willst du nicht was Richtiges arbeiten? In einer Bank oder Versicherung?"

"Networken und Influencen sind harte Arbeit. Du besprichst die Kampagne und planst den Post für die Marke."

"Du verlierst mich schon wieder. Was ist ein Post? Mit Marke? Versand-, Paket- oder Briefpost?"

"Ein Post ist so was wie eine Veröffentlichung im Internet. Keine Ahnung, von wo das Wort kommt. Das nennen wir so."

"Wir? Du meinst, ihr Jungen?" Onkel Max lacht. "Ich bin zu alt. Was arbeitest du nun konkret?"

"Hinter der coolen Instagram-Fassade steckt viel Aufwand. Das ist strenge Arbeit nach straffem Zeitplan. Wir Influencer verbringen viel Zeit am Laptop, beantworten Mails, besprechen uns mit den Kunden, schreiben Offerten oder machen die Buchhaltung. Das braucht Durchhaltevermögen. Der Kunde entscheidet über die Verlinkung oder das Hashtag."

"Je länger du erklärst, umso mehr hängst du mich ab. Hashtag sagt mir was. Nur zu gut erinnere ich mich an die wilden 68er. Da konnten wir davon nicht genug kriegen. Grünen Afghan mochte ich am liebsten. Aber du? Wie alt bist du noch?"

"Ach, mein lieber Onkel Max, es ist zwecklos", lacht Lara und umarmt den alten Mann, der sie um einen Kopf überragt. "Am 23. Juni werde ich 20. Ich bin kein Kind mehr."

"20, das war ich auch mal. Damals wurden wir aber erst mit 20 erwachsen. Du bist es seit 18." Er schaut am Mädchen auf und ab. "Vermutlich bekommt ihr heute mehr Dünger und reift schneller. Verrückt, wie die Zeit verrinnt. Früher war ich 'jung und schön'. Heute bin ich nur noch 'und'. Was kommt erst, wenn auch das 'und' verschwunden ist?"

"Onkel Max, warum sprichst du so oft vom Ende? Vom Tod? Bereitet dir die Ungewissheit Angst?"

"Wie soll ich meine Gedanken beschreiben?" Onkel Max seufzt. "Ich habe Glauben und Verstand. Das eine gibt mir Hoffnung auf noch mehr, auf ungeahntes, auf eine Art von Paradies, wie immer dieses auch aussehen mag. Das andere raubt mir die Hoffnung, die Zuversicht, lässt die Unsicherheit über das wachsen, was da noch kommen mag oder – schlimmer – gar nicht mehr kommen wird. Ich habe Angst vor diesem Nichts, dieser Leere, dieser Endgültigkeit. Manchmal hätte ich lieber keinen Verstand."

"Bei so manchem Politiker habe ich genau diesen Eindruck."

"Der Verstand ist ein spannendes Thema. Wir verstehen, wir denken, ich denke. Was ist mit dir?"

"Onkel Max, zweifelst du an meinem Verstand?"

"Es geht mir um was anderes. Mein Kopf denkt, ich denke, ich! Das weiss ich und das spüre ich – jeden Tag. Ich gehe raus in die Welt, raus unter die Leute, und ich sehe all diese Gestalten, die an mir vorbeistressen. Dann stelle ich mir vor, ich sei der einzige, der denkt und fühlt und spürt und hört und sieht. Alles um mich herum sind Roboter."

"Also auch ich?"

"Nein, Lara... oder ja, oder... Ach, ich weiss gar nicht mehr, was ich überhaupt sagen möchte. Nicht falsch verstehen. Ich versuche dir aufzuzeigen, was in so einer Situation in mir vorgeht. Ich bin ich, ich empfinde, was in mir abgeht, überlege, suche Antworten auf Fragen, die mir niemand gestellt hat, schon gar nicht ich, und sinniere mich so durch meine Welt. Ich frage mich dann, ob die Leute um mich herum vergleichbar wirre Gedankengänge haben. Ich würde gerne mal in deinen Körper hineinschlüpfen und genau so denken, fühlen und empfinden wie du."

"Interessant", überlegt Lara, "du machst eine Geistreise durch einen fremden Körper und willst empfinden wie ich. Mama sagte vor Jahren mal, sie könne in meinen Augen lesen. Seither schliesse ich meine Augen, wenn ich lüge."

"Ich log meine Rosa jedes Mal an, wenn wir im Kleiderladen waren. Wenn ich sagte, 'Das sieht super aus, kauf das!', dann waren wir schneller fertig."

"Ein richtiger Manipulator!" Lara schmunzelt. "Wenn du geistig in meinen Körper hineinschlüpfst, bin ich in deiner Vorstellung angezogen oder nackt?"

"Aber hör mal, ich bin ein alter Mann."

"Nimm es mir nicht übel, Onkel Max, das hatten wir alles schon. Zum Glück habe ich dich nicht als jungen Wilden gekannt", sagt Lara. "Erinnerst du dich an unsere Diskussion über Streaming-Dienste? Man muss nicht immer alles nachmachen."

"Ach, meine Lara, wenn du schon von den alten Zeiten sprichst: Ich habe gestreamt, da war deine Mutter noch nicht mal auf der Welt." Onkel Max lacht. "Jedes Wochenende hockten wir Jungs im Wohnzimmer neben dem grossen Radio, das Kassettengerät vor uns. Kassetten waren so was wie CDs, nur konnten sie mehrmals bespielt werden. Lief dann in der Hitparade ein gutes Lied, drückten wir den Aufnahmeknopf und fertigten unsere Longplayer an. Und wehe, der Moderator plauderte los, bevor das Lied fertig war. Dann hatten wir seine Stimme auf der Kassette, ein Ärgernis." Onkel Max lacht erneut. "Und nun behaupte nie mehr, ich habe keine Ahnung vom Streamen. Ich habe es fast erfunden."

"Manchmal habe ich das Gefühl, du hast sie nicht mehr alle."

"Einen Dachschaden, meinst du?" Der alte Mann wiegt seinen Kopf nach links und nach rechts. "Je grösser der Dachschaden, umso besser der Blick in die Sterne."

Drei Tage später informiert US-Gesundheitsminister Alex Azar seinen Präsidenten über die mögliche Gefahr des neuen Virus. Donald Trump ist in seinem Golf-Resort Mar-a-Lago in Florida. Ob er die Golfrunde unterbricht, ist nicht bekannt.

Mittwoch, 22. Januar 2020

"Onkel Max, was machst du da vor der Türe?"

Der Alte hält ein Werkzeug in der Hand. Er wendet sich Lara zu.

"Jetzt hängt es nicht mehr."

"Ah, dein Namensschild?" Lara schmunzelt und klemmt das Buch mit dem orangefarbenen Einband zwischen Oberarm und Brustkorb ein. "Ist doch gut, hast du den 'Jemand' gefunden."

"Wie immer bin ich der 'Jemand', der für Ordnung sorgt. Zeigt niemand Zivilcourage, geht die Welt unter."

"Onkel Max, der Hausmeister?" Lara lacht. "Auf dich ist Verlass."

"Wer als Werkzeug einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel. Deshalb benutze ich einen Schraubenzieher."

"Klar doch."

"In China sind weitere Personen an der Lungenkrankheit gestorben", wechselt er das Thema. "Eigenartige Sache."

"Nochmals – zum Glück ist China weit weg."

"Das Virus sei auf dem Huanan-Wildtiermarkt von einer Schlange oder Fledermaus auf den Patienten Zero übergesprungen."

"Schlange oder Fledermaus, das wird ja immer besser."

"Eine Verkäuferin zeigte am 10. Dezember erste Symptome", erklärt Onkel Max. "Eine Woche später wurde sie positiv getestet. Ende Dezember haben die chinesischen Behörden der Weltgesundheitsorganisation WHO den unbekannten Erreger gemeldet. Heute ist ein Krisentreffen der WHO in Genf."

"Das Coronavirus breitet sich rascher aus als angenommen", stellt Lara fest. "Traust du den Chinesischen Behörden?"

"Jeder Politiker sagt die Wahrheit, ausser er lügt", schmunzelt Onkel Max. "Viele Regierungen sind innenpolitisch unter Druck. Jede Mücke kommt gelegen, kann man aus ihr einen Elefanten machen."

"Wir sprechen von Viren und nicht von Mücken."

"Wer weiss, vielleicht will China mit dem Virus von anderen Problemen ablenken? Oder es ist eine wirkliche Gefahr? Wie die Spanische Grippe, die sich in Wellen über die Welt hergemacht hat?"

"Du traust niemandem, wie immer", murmelt Lara und öffnet ihr Buch. "Sprechen die von dieser Seuche in China, verstehe ich nur Bahnhof. Was sollen die Ausdrücke Coronavirus, Covid-19, Sars-Cov-2?"

"Corona ist die Virenfamilie. Sars-Cov-2 ist das neue Coronavirus. Sars steht für Severe Acute Respiratory Syndrome. Da es zur gleichen Art gehört wie das Coronavirus der Sars-Epidemie von 2002, erhielt es die Nummer 2. Erkrankt man an diesem neuen Virus, nennen wir es Covid-19. Coronavirus disease, erstmals aufgetreten im Jahr 2019."

"Weiter?"

"Übertragen durch Niesen oder Husten", erklärt Onkel Max. "Die Symptome sind ähnlich wie bei der Grippe – Unwohlsein, Müdigkeit und Fieber. Es folgen meist Atemwegprobleme. Typisch ist ein trockener Husten."

"Stimmt es, dass meist alte Menschen betroffen sind?"

"Ich bin alt und männlich. Ich bin Risikogruppe."

"Um uns sorge ich mich nicht", sagt Lara. "Dieses Getier aus China wird ebenso schnell verschwinden, wie es aufgetaucht ist."