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In diesem Buch dreht sich alles um die besondere Zeit zwischen Sonnenuntergang und -aufgang, aber auch um die ganz besonderen Nächte, die uns im Jahreskreis und im Kirchenjahr begegnen: Raunächte und Halloween, Osternacht und Heilige Nacht, Fastnacht und Johannisnacht. Man findet hier Spannendes aus der Geschichte der Menschheit, für die die Nacht lange eine Zeit besonderer Gefährdung war, aber auch Texte aus Dichtung und Literatur, die nächtliche Gefühle und Erlebnisse poetisch in Worte fassen. Zudem gibt es praktische und neue Ideen, wie man heute die besonderen Nächte des Jahres feiern und begehen kann – mit kleinen Ritualen, Rezepten, Leseempfehlungen und Tipps für Körper und Seele. Marlene Fritsch hat für dieses Lesebuch zum Thema "Heilige Nächte" aus der Tradition und aus eigenem Erleben Texte gesammelt und zusammengestellt, die die Vielschichtigkeit der Nacht beleuchten. Nächte sind in allen Kulturen und Religionen besondere Zeiten und auch im Erleben jedes Einzelnen können sie den Weg in das Geheimnis weisen – und so den Blick sowohl für die Heilige Nacht, die wir an Weihnachten feiern, als auch die vielen Nächte unserer Zeit und unseres Lebens neu verstehen helfen.(Teresa Günther, Buch- und Kunst im Klosterhof)
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Seitenzahl: 135
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Printausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2022
ISBN 978-3-7365-0462-2
E-Book-Ausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2024
ISBN 978-3-7365-0612-1
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Erstellung: Sarah Östreicher
Lektorat: Marlene Fritsch
Covergestaltung: wunderlichundweigand
Covermotiv: bürosüd, München
www.vier-tuerme-verlag.de
Marlene Fritsch
Das Geheimnis besonderer Zeiten
Vier-Türme-Verlag
Die Sonne lehrt alle Lebewesen die Sehnsucht nach dem Licht.Doch es ist die Nacht, die uns alle zu den Sternen erhebt.Khalil Gibran
WARUM NÄCHTE HEILIG SIND
Im letzten Herbst war ich mit einem Freund wandern, und nachdem wir zum Abendessen eingekehrt waren, wollten wir statt über die befahrene Straße durch den Wald nach Hause laufen. Es war inzwischen dunkel geworden und eine mondlose und bedeckte Nacht. Wir dachten uns: Die Stadt ist nicht weit weg, die Lichter von dort strahlen so hell, wir werden auch ohne Taschenlampen so viel sehen können, dass wir den Weg finden, wenn sich unsere Augen erst einmal an die Dunkelheit gewöhnt haben. Also schritten wir mutig in den Wald – und drehten nach nicht einmal hundert Schritten wieder um, weil es uns beiden vorkam, als liefen wir vollkommen blind gegen eine dunkle Wand. Es war einfach gar nichts zu sehen, nicht mal der Weg vor unseren Füßen. Und ich muss ehrlich sagen: Wenn es dann so ganz still wird und so vollkommen dunkel, dann läuft einem doch eine Gänsehaut über den Rücken und man möchte sich sofort an den Händen fassen. Es fühlt sich an wie ein Verlorengehen – plötzlich fehlt nicht nur der Weg, sondern auch die Orientierung, die Sicherheit beim Laufen und sogar beim Hören. Die Dunkelheit macht nicht nur blind, sondern auch irgendwie taub. Und gleichzeitig erschreckt einen jedes Geräusch zu Tode. Ich war jedenfalls sehr froh, als wir uns dann doch für die befahrene Straße entschieden haben und ich wenigstens sehen konnte, wo ich meinen Fuß hinsetze.
Wie müssen sich die Menschen gefühlt haben, für die eine solche Dunkelheit zu ihrem Alltag gehörte! Stellt man sich jedoch das Leben der Menschen bis vor etwas mehr als einhundert Jahren vor, so war das tatsächlich die Regel. In vielen Gegenden war es stockfinster, sobald es dunkel geworden war. Keine Straßenlaternen, kein elektrisches Licht, mit dem man die Nacht zum Tag machen konnte. Lange Zeit waren auch Kerzen und Gaslaternen eher etwas für Betuchtere, und so blieb vielen als Lichtquelle in der Dunkelheit nur das Herdfeuer. Wie müssen sich die Menschen vor der Nacht gefürchtet haben, selbst wenn sie es eher gewohnt waren, damit zu leben!
Andererseits ist die Dunkelheit ja nicht nur zum Fürchten. Sie ist auch geheimnisvoll. Verheißungsvoll. Wunderbar. Gerade weil man nichts oder wenig sieht, ist es die Zeit der übrigen Sinne wie fühlen, schmecken und riechen. Eine Zeit für Heimlichkeiten und Zärtlichkeiten. Für Träume und Fantasien. Für Dinge, die im Hellen nicht möglich scheinen – für Wunderbares und Zauberhaftes. Im Zwielicht und bei Kerzenschein sind die Gespräche anders als in der Mittagssonne oder am hellen Morgen. Tiefer. Persönlicher. Intimer. Man ertappt sich dabei, Dinge zu sagen, die man sich im Hellen vielleicht nicht trauen würde– Komplimente, Wahrheiten, Einsichten, Beichten.
Dass wir als Menschen die Nacht in diesen beiden Extremen empfinden, daran hat sich auch durch das viele Licht und die Nüchternheit, mit der wir die Phänomene der Dunkelheit heute betrachten, nichts geändert. Noch immer haben Kinder Angst im Dunkeln, nicht nur draußen, sondern vor allem in ihrem Schlafzimmer oder im Keller. Und nicht nur die Kinder… Noch immer warten wir auf die Nacht und zünden wir Kerzen an, um einander näher zu kommen und nah, ganz nah zu sein. Noch immer ist eher die Nacht eine Zeit für den Sinnesrausch als der Tag und noch immer jagt uns der Albtraum abgrundtiefe Angst in die Knochen.
Das Spannende ist, dass Rudolf Otto, ein evangelischer Religionswissenschaftler und Theologe des letzten Jahrhunderts, in seinem Buch »Das Heilige« genau in dieser Weise das Göttliche, das Numinose und eben auch das Heilige beschreibt: als »mysterium tremendum et fascinans« – ein Geheimnis, das einen zittern lässt und gleichzeitig fasziniert. Wenn man so will, ist also die »heilige Nacht« ein Pleonasmus: zwei Wörter, die das Gleiche meinen. Die Definition von Rudolf Otto zum Heiligen oder Göttlichen hat seitdem weite Kreise in der Theologie, aber auch in der Philosophie gezogen und wird heute noch oft herangezogen, um das Unbeschreibliche zu beschreiben oder sich ihm zumindest zu nähern. Vielleicht haben die Menschen in den Jahrhunderten davor nicht die gleichen Wörter dafür gebraucht, aber gespürt haben sie ganz sicher dasselbe. Und daher ist die Nacht mit all ihren Gezeiten auch der Moment, in dem man Gott näher, vielleicht am nächsten kommen kann.
In allen Religionen spielt die Nacht eine große Rolle – manchmal als Zeit der Versuchung, aber immer wieder auch als der Moment, in dem der Himmel offen zu sein scheint, in dem es möglich ist, eins zu werden mit dem Göttlichen: im Gebet, in der Ekstase, im Wachen vor seinem Altar oder seiner spürbaren Gegenwart. Und deshalb sind die Nächte nicht nur in der christlichen, sondern auch in vielen anderen Traditionen »heilig«.
Im Folgenden soll es genau um diese »heiligen Zeiten« mit all ihren Facetten gehen. Also einmal um die Nacht an sich und ihre verschiedenen Phasen von der Dämmerung bis zum Sonnenaufgang. Zum anderen um die »heiligen Nächte« im Jahreslauf, die auch heute noch bei uns auf der Grundlage christlicher Traditionen und Bräuche gefeiert werden.
Ich selbst bin eine große Liebhaberin der Nacht, was man meinem Schreiben über diese Zeit sicher auch anmerkt. In unserem heutigen Alltag, der oft nur noch wenig mit den »natürlichen Gezeiten« des Tages zu tun hat, sind sie mir kleine Inseln der Ruhe und der Stille, aber auch der Durchlässigkeit für das »Mehr« in unserem Leben, für das es oft keine Worte gibt, das aber spürbar werden kann, wenn man sich die Zeit nimmt, den Abend und die Nacht ohne Ablenkung zu fühlen und aufmerksam zu betrachten. Deshalb gibt es in diesem Buch immer wieder kleinere und größere Ideen, wie man die Nacht und vor allem die besonderen Nächte im Jahreskreis neu und anders gestalten und erfahrbar machen kann, damit etwas von dem aufscheinen kann, was sich noch immer als Feier des »Geheimnis Leben« hinter den traditionellen Festen versteckt.
Dieses Buch versteht sich nicht als Lexikon und erhebt daher auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit, was die Fakten zu und die vielen Facetten der Nacht angeht. Es ist eher ein Spaziergang durch das Thema, bei dem ich meiner eigenen Neugier und Erinnerung gefolgt bin. Dabei habe ich einen Strauß aus den »Nachtblumen« am Weg gepflückt, und daraus ist ein Schmöker entstanden, ein Lesebuch für Dämmerstunden oder für den Nachttisch, wenn der Schlaf wieder einmal nicht kommen will. Man muss es nicht von vorne nach hinten lesen, sondern kann einfach bei der »Nachtblume« mit der Lektüre beginnen, die einem am interessantesten oder schönsten erscheint. Es versteht sich aber auch als Einladung, sich selbst auf die Suche nach der Nacht und all ihren Wundern zu machen, eigenen Stichworten oder eigener Neugier nachzugehen und das Buch damit sozusagen fortzuschreiben.
Über die Nacht
»Die Tage werden unterschieden, aber die Nacht hat einen einzigen Namen.«Elias Canetti
Macht man sich einmal auf die Suche nach der gemeinsamen Geschichte von Nacht und Mensch, stellt man fest, dass sie in vielen Bereichen und Facetten seines Lebens eine Rolle, manchmal sogar eine wesentliche Rolle spielt.
Ein Blick in die Geschichte
Für uns heute eigentlich unvorstellbar, aber seit es Menschen gibt – etwa 1,8 Millionen Jahre –, mussten sie die meiste Zeit davon ohne Feuer auskommen. Erst vor ungefähr 32 000 Jahren entdeckten sie den Feuerstein, sodass sie dann gezielt Brennbares entfachen konnten. Vorher konnten sie das Feuer nur nach einem Blitzeinschlag oder einem Waldbrand oder Vulkanausbruch »abzwacken« und für sich nutzen, aber wenn es dann erlosch, wurde es nachts wieder stockfinster und die Küche blieb kalt.
Kein Licht und keine Wärme in der Dunkelheit – kein Wunder, dass für die Menschen der Steinzeit die Nacht vor allem eines war: gefährlich. Sie waren sozusagen blind, auch weil es sonst nirgends Lichter gab, die irgendetwas mit ihrem Schein von Ferne erhellt hätten. Und sie konnten die Nachtjäger nicht kommen sehen, waren ihnen mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert. Selbst wenn bei unseren Vorfahren das Nachtsichtvermögen und das Hören sicher noch besser ausgebildet waren als bei uns heute, reichte es wohl nicht aus, um wirklich ruhig schlafen zu können, denn hungrige Tiere und rivalisierende Stämme oder Menschengruppen waren ihnen trotzdem schon zu nahe gekommen, wenn sie sie in der Nacht bemerkten. Erst durch das Feuer, das sie selbst entzünden und damit kontrollieren konnten, war es möglich, die Tiere fernzuhalten, weil sie Angst vor den Flammen hatten, und sich gegen Feinde zu wehren, weil die Wachen sie frühzeitig sahen.
Aber auch nach der Erfindung des Feuers war es nachts noch sehr lange sehr dunkel auf der Welt. Und das war weiterhin eine große Chance und die Zeit schlechthin für jene, die Böses im Schild führten. Im Englischen nannten Diebe die mondlosen oder sehr wolkigen Nächte daher auch »a good darky«. Auf dem Land löste man das Problem lange damit, dass die Menschen »mit den Hühnern« schlafen gingen, wenn es dunkel wurde, und mit ihnen wieder aufstanden, sobald es dämmerte. Selbst wenn das die Diebe nicht abhielt. In den Städten, die im Mittelalter entstanden, galt die Sperrstunde, sobald die Feuer in den Herden zu Hause gelöscht waren. Straßen, die besonders dunkel oder ungepflastert waren, wurden mit Eisenketten abgesperrt, und wer trotzdem draußen erwischt wurde, konnte mit Strafen rechnen. Bis Anfang des 17. Jahrhunderts gab es keine Straßenbeleuchtung, es wurde nur das erhellt, was durch das Licht aus den Fenstern der Häuser beschienen wurde. Reiche ließen sich von Laternenträgern »heimleuchten«, die Ärmeren blieben einfach nach Einbruch der Dunkelheit zu Hause. Im 18. Jahrhundert begann man damit, zumindest in den Winternächten in den Städten Öl- oder Waltranlaternen aufzustellen, später dann Gaslaternen. Heute gibt es in Deutschland rund neun Millionen Straßenlaternen.
Dennoch sind auch heute die Nächte oft gefährlich. Und das liegt nicht an fehlender oder vorhandener Straßenbeleuchtung, sondern daran, dass Menschen in dieser Zeit häufig anders »ticken« als am Tag. Die Dunkelheit lässt auch ihre Dunkelheiten aufsteigen. Manche, die tagsüber nüchtern oder gar langweilig wirken, lassen in der Nacht ihr wirkliches Wesen frei, werden zudringlich, aggressiv und gewalttätig, kriminell. Das hat häufig zumindest einen Grund darin, dass Drogen und Alkohol eher in der Dunkelheit konsumiert werden – irgendwie schmeckt ein Glas Wein bei Kerzenlicht anders als am hellen Mittag. Zudem ist es in unserer Gesellschaft eigentlich verpönt, vor dem Feierabend Alkohol zu trinken – ich bin mit dem Spruch groß geworden: »Kein Bier vor vier.« Dass »bewusstseinsverändernde Stoffe«, zu denen vielleicht auch einfach die Nachtluft gehört, tatsächlich aus einem Menschen eine Bestie machen können, ist in dem alten Mythos vom Werwolf noch sichtbar, wonach sich Menschen, die von einem solchen Wesen gebissen wurden, in Vollmondnächten ebenfalls in einen Wolf verwandeln und alles zerfleischen, was ihnen vor die Schnauze kommt, selbst davon am nächsten Tag aber nichts mehr wissen.
Weil die Nacht jedoch für die Menschen so viele Schrecken barg und in vieler Hinsicht mit Angst verbunden war, ist sie auch bis heute die Zeit der Geister und Gespenster, der Untoten und Monster. Heute macht eigentlich niemand mehr Kindern Angst mit irgendwelchen Ungeheuern – und doch gehen sie nur unter Protest und laut pfeifend in den dunklen Keller und nehmen sich abends Kekse mit aufs Zimmer, um damit die Monster unterm Bett zu besänftigen. Die Dunkelheit setzt in beinahe allen Menschen eine Urangst frei, die auch mit sehr vernünftigen Argumenten über die wissenschaftlich bewiesene Unmöglichkeit von Untoten oder Geistern nicht wegzuerklären ist. Mysterium tremendum – das unerklärliche Geheimnis, das uns erzittern lässt. Das ist, wie oben schon gesagt, nicht nur die eine wesentliche Seite des Göttlichen, sondern auch die eine wesentliche Seite der Nacht.
Wenn es dunkel ist, ist aber generell die Stimmung zwischen Menschen eine andere. Die Atmosphäre ist stärker emotional aufgeladen, es ist eine Zeit für körperliche Nähe, Sexualität, intensiveres Fühlen. Auch in dieser Hinsicht kann die Dunkelheit einen Menschen verändern und sein wahres Gesicht zum Vorschein bringen, denn manch einer, der am Tag kühl und distanziert wirkt, lässt bei Kerzenschein und im Halbdunkel nächtlicher Gespräche seinen Gefühlen freien Lauf, wird nahbar und berührbar. Andere, die am Tag in Schlips und Kragen eiskalt verhandeln oder Akten abstauben und Formulare stempeln, werden nachts zum Partybiest oder Dancefloorkönig, zur Dragqueen oder zum Kabarettstar.
Allerdings ist das erst möglich, seit es so etwas wie ein Nachtleben überhaupt gibt. Denn auch in dieser Hinsicht hing wiederum alles am Licht. Und daran, wie viel Geld man hatte, um es sich zu leisten. Bei der »arbeitenden Bevölkerung« in der Landwirtschaft und in den Fabriken und Branchen wie dem Bergbau dürfte der Gedanke an etwas wie eine Veranstaltung am Abend oder gar bis in die Nacht nur ein ungläubiges Kopfschütteln hervorgerufen haben. War die Arbeit endlich getan, sank man völlig fertig aufs Lager und war glücklich, die Augen schließen zu können. Wenn es Lampen oder Kerzen gab, dann nur, um im Winter in diesem Licht noch Socken zu stopfen oder Kleider zu nähen, etwas zu reparieren oder sonst etwas Sinnvolles und Nützliches zu tun. An den Höfen und bei den Reichen des Landes waren aber sowohl Kerzen und Laternen, Feuerholz und Fackeln sowie reichlich Zeit und Geld vorhanden, um die Abende mit »Divertissement« zu verbringen statt mit Arbeit und Schlafen. Also lud man zur Soirée: Musik und Tanz, reichlich gutes Essen und Getränke mit Prozenten sowie sanftes Licht, um miteinander ins Gespräch und andere Verwicklungen zu kommen. Und natürlich war auch bei diesen Veranstaltungen die Atmosphäre eine andere als bei Staatsangelegenheiten am Tag – es wurde gemunkelt und geschäkert, gelästert und intrigiert, heimlich geküsst und gelacht. Und wahrscheinlich hätte es viele politische Entwicklungen und Allianzen ohne solche Abendveranstaltungen nicht gegeben, bei denen man eben einmal nicht so offiziell sein musste, sondern die Dinge im direkten Gespräch regeln konnte, ohne dass tausend Ohren mithörten.
Erst als in den Fabriken und anderen Firmen und Behörden feste Arbeitszeiten eingeführt wurden und die Menschen irgendwann tatsächlich Schicht- und Dienstschluss hatten, entwickelte sich in den Städten ein Nachtleben, das für viele ein Ausgleich für die Maloche des Tages darstellte und bei dem man einmal die Arbeit und oft auch das eigene Elend vergessen konnte. Es ging ums Vergnügen, um ein bisschen Glück, einen Rausch, einen Gegenentwurf zum »taghellen« Leben. Während eine Soirée zumindest den Anspruch hatte, eine kulturelle und kultivierte Veranstaltung zu sein, war das Nachtleben in den Städten bewusst anders: anrüchig, rotlichtig, orgiastisch. All das, was im Hellen in der Gesellschaft als unschicklich und »wüst« galt, konnte man in der Nacht in Kneipen und Bars, Kabaretts und Theatern, Spielhallen und Casinos ausleben und ausprobieren. Mysterium fascinosum – das unerklärliche Geheimnis, das uns fasziniert: Mit dem Licht und dem Nachtleben in den Städten wurde auch die andere wesentliche Seite der Nacht und des Göttlichen erfahrbar. Und das hat sich bis heute nicht geändert.
Natürlich gibt es nicht nur diese beiden Pole der Nacht, dass man sie also als schrecklich oder geheimnisvoll-elektrisierend empfindet. Die allermeisten Nächte werden die allermeisten Menschen einfach in ihren Betten verbringen, so alltäglich wie sie den Tag mit ihrer Arbeit verbringen, und nicht weiter darüber nachdenken. Jedenfalls werden sie es versuchen – denn das mit dem Schlafen ist für viele gar nicht so einfach, wie es klingt.