Heiligenbilder und Heuschrecken - Layla Martínez - E-Book

Heiligenbilder und Heuschrecken E-Book

Layla Martínez

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Beschreibung

Ein abgelegenes Dorf in Südspanien: Eine Enkelin und ihre Großmutter leben in einfachsten Verhältnissen im alten Haus der Familie - mit Unbehagen beäugt von den restlichen Dorfbewohnern. Denn sie scheinen in einer unheimlichen Verbindung zu stehen mit dem Haus und den Seelen seiner Verstorbenen.

Dann verschwindet der Sohn der mächtigsten Familie des Ortes, unter Aufsicht der Enkelin. Nur ein Zufall? Bald schon fällt der Verdacht auf die beiden Frauen.

Eine feministische Rachegeschichte in der spanischen Provinz - rau im Ton, geschliffen in der Sprache und mit einem Schuss magischem Realismus.

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Seitenzahl: 187

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CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmung12345678910DANK

Ein abgelegenes Dorf in Südspanien: Eine Enkelin und ihre Großmutter leben in einfachsten Verhältnissen im alten Haus der Familie – mit Unbehagen beäugt von den restlichen Dorfbewohnern. Denn sie scheinen in einer unheimlichen Verbindung zu stehen mit dem Haus und den Seelen seiner Verstorbenen.

Dann verschwindet der Sohn der mächtigsten Familie des Ortes, unter Aufsicht der Enkelin. Nur ein Zufall? Bald schon fällt der Verdacht auf die beiden Frauen.

Layla Martínez, geboren 1987 in Madrid, ist Autorin zahlreicher Erzählungen und Artikel, die in diversen Anthologien erschienen sind. Sie arbeitet als Übersetzerin und schreibt über Musik in EL SALTO und über Serien und das Fernsehen in LA ÚLTIMA HORA. Seit 2014 ist sie Teil des Leitungsteams des Indie-Verlags Antipersona.

LAYLA MARTÍNEZ

HEILIGENBILDERUND HEUSCHRECKEN

ROMAN

Übersetzung aus dem Spanischen vonChristiane Quandt

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Eichborn Verlag

Titel der spanischen Originalausgabe:

»Carcoma«

Für die Originalausgabe:

Copyright © Layla Martínez 2021

Published in agreement with Casanovas & Lynch Literary Agency

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für dasText- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Dr. Ann-Catherine Geuder, Lübeck

Umschlaggestaltung: Barbara Thoben, Köln

Umschlagmotiv: © Alice Wellinger

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-5961-8

eichborn.de

Für José, möge der Teufel unsere Hochzeit segnen.

Sobald ich über die Schwelle war, hat sich das Haus auf mich gestürzt. Das passiert immer so mit diesem Haufen Ziegel und Dreck, er fällt alle an, die über die Schwelle kommen, und dreht ihnen den Magen um, bis die Luft wegbleibt. Meine Mutter hat immer gesagt, dieses Haus macht, dass dir die Zähne ausfallen und deine Eingeweide austrocknen, aber meine Mutter ist schon lange von hier weg und ich erinnere mich gar nicht mehr an sie. Ich weiß, dass sie das immer gesagt hat, weil meine Großmutter hat es mir erzählt, aber eigentlich war das total überflüssig, weil ich wusste es eh schon. Hier fallen dir die Zähne und die Haare aus und das Fleisch hängt in Fetzen, und wenn du nicht aufpasst, schleppst du dich nur noch von einer Ecke in die andere oder du rollst dich im Bett zusammen und stehst gar nicht mehr auf.

Ich hab dann den Rucksack auf der Truhe abgelegt und durch die Tür ins Esszimmer geguckt. Meine Großmutter war nicht da. Auch nicht unterm Küchentisch oder im Schrank in der Speisekammer. Also hab ich es im oberen Stock probiert. Ich hab die Schubladen an der Kommode und die Türen am Kleiderschrank aufgemacht, aber da war sie auch nicht. Die alte Vettel. Da hab ich zwei Schuhspitzen unter einem der Betten vorlugen sehen. In jeder anderen Situation hätte ich die Tagesdecke gar nicht hochgehoben, weil man die, die unterm Bett leben, besser nicht stört, aber die Schuhe von meiner Großmutter sind total unverwechselbar. Das Lackleder glänzt so krass, dass du dich vom anderen Ende des Zimmers drin spiegeln kannst. Wie ich die Decke dann zurückgeschlagen hab, da hat sie bloß auf die Latten am Rost gestiert. Eine Nachbarin, die sie eines Morgens aus der Truhe hat klettern sehen, die hat den Journalisten gesteckt, die Alte wäre dement, aber was wusste diese gottverdammte Lästerschwester schon, mit ihren Speckschwartenhaaren ekliger wie eine dreckige Autobahnraststättenfritteuse. Demenz war das definitiv nicht.

Ich hab dann die Alte rausgezerrt, sie aufs Bett gesetzt, sie bei den Schultern gepackt und ein paarmal kräftig geschüttelt. Manchmal funktioniert das, manchmal nicht. Diesmal klappte es nicht. Wenn es nicht klappt, ist es besser zu warten, bis sie sich wieder einkriegt. Ich hab sie bis zum Flur geschleift, hab sie in die Kammer reingeschoben und die Tür von außen abgeschlossen. In diesem Haus lassen sich alle Türen von außen abschließen. Das ist Familientradition, genau wie diese bescheuerten Sachen, die manche Leute zu Weihnachten veranstalten. Wir haben viele Traditionen, zum Beispiel uns gegenseitig einzuschließen, aber Lamm essen wir niemals, weil uns Lämmer nichts getan haben und wir es ziemlich unhöflich fänden.

Ich bin also nach unten, meinen Rucksack holen, und dann wieder die Treppe hoch. Außer der Treppe zur Kammer gibt es im oberen Stock nur noch ein Schlafzimmer, das ich mit der Alten teile. Ich hab den Rucksack auf mein Bett gelegt, das kleinere. Vorher hat es meiner Mutter gehört und davor meiner Großmutter. In diesem Haus erbt man kein Geld und keine goldenen Ringe oder Bettwäsche mit gesticktem Monogramm, hier vermachen uns die Toten bloß Betten und Groll. Böses Blut und einen Platz, wo du dich abends ausstrecken kannst. Was anderes erbst du in diesem Haus nicht. Nicht mal die Haare von meiner Großmutter hab ich geerbt. Obwohl sie schon so alt ist, sind sie bei ihr noch total kräftig, dick wie ein Strick. Es ist eine Freude, wenn sie die Haare aufmacht – und ich mit meinen drei schwindsüchtigen Schnittlauchborsten, die mir am Kopf pappen und zwei Stunden nach dem Waschen schon wieder fettig sind.

Das Bett gefällt mir, weil das Kopfteil voll mit Schutzengelbildchen ist, mit Tesa festgeklebt.

Manchmal fällt ein Streifen ab, weil er so alt und vergammelt ist, aber ich reiße mit den Zähnen sofort ein neues Stückchen ab und tausche es aus. Mein liebstes Bild ist das, wo der Engel zwei Kinder beschützt, die kurz davor sind, in einen Abgrund zu stürzen. Die Kinder spielen auf einem Felsen und lächeln dümmlich, wie wenn sie zu Hause auf dem Hof wären und nicht am Rand von einem Abgrund. Sie sind schon ziemlich groß, aber sie stehen da rum wie zwei Vollidioten und gucken, als wäre nichts. Ganz oft schaue ich morgens gleich nach dem Aufwachen auf dieses Bild, bloß um zu sehen, ob die beiden schon abgestürzt sind. Es gibt noch ein anderes Bildchen, darauf ist ein Baby kurz davor, das Haus anzuzünden, noch eins, auf dem Zwillinge versuchen die Finger in eine Steckdose zu stecken, und noch eins, auf dem ein Mädchen sich gleich mit einem Küchenmesser einen Finger amputiert. Alle grinsen wie die Psychos, mit ihren runden, rosaroten Pausbäckchen. Die Alte hat die Bildchen hier hingehängt wie meine Mutter geboren wurde weil die Engel sie beschützen sollten und jeden Abend vor dem Schlafen haben sich beide neben das Bett gekniet und die Hände gefaltet und gebetet: Vier Ecken hat mein Bettchen vier Engelchen beschützen mich. Aber dann hat die Alte die echten Engel zu sehen gekriegt und feststellen müssen die Leute, die diese Bildchen gezeichnet haben, die haben noch nie im Leben einen Engel gesehen weil kein Engel hat in echt solche blonden Locken und ein so hübsches Gesichtchen. Engel sind eigentlich eher wie riesige Insekten, wie riesige Gottesanbeterinnen. Und meine Großmutter hat dann aufgehört zu beten, weil wer will schon, dass vier Gottesanbeterinnen mit ihren Tausenden Augen und diesen Greifzangen am Maul ans Bett von der eigenen Tochter kommen. Jetzt beten wir zu ihnen weil wir Angst haben dass sie sich aufs Dach setzen und ihre Fühler und riesenlangen Beine durch den Schornstein stecken. Manchmal hören wir ein Geräusch in der Kammer und gehen oben nachschauen und dann sehen wir ihre Augen die uns durch die Ritzen zwischen den Ziegeln beobachten und dann beten wir ein Ave-Maria um sie zu verscheuchen.

Ich hab also die Kleider aus dem Rucksack genommen und sie aufs Bett gelegt. Vier Shirts, zwei Leggings, fünf Unterhosen, fünf Paar Socken und die Kleider für wenn ich vor den Richter musste: eine schwarze Hose und eine geblümte Bluse. Dieselbe Kombi hab ich auch bei Bewerbungsgesprächen angehabt, weil da wollte ich auch rüberbringen, dass ich unschuldig und brav bin und deswegen mehr als willig, mich aufs Krasseste ausbeuten zu lassen. Beim Richter hat das mit dem Unschuldigwirken gut geklappt, bei den Arbeitgebern nicht so. Ich glaube, man konnte mir die Wut an der Nasenspitze ansehen, ich hab nämlich die ganze Zeit die Zähne zusammengebissenen, auch wenn ich gelächelt hab. Die einzige Arbeit, die ich trotzdem gekriegt hab, war die als Kindermädchen für den Jüngsten von den Jarabos. Denen war meine Bluse und das böse Blut egal. Meine Familie hat schon immer für deren Familie gearbeitet und so würde es immer weitergehen, egal wie ich mich anzog und egal wie groß der Groll war, den ich gegen sie hatte.

Jetzt nützt mir die Bluse nichts mehr weil sie total ausgeblichen ist. Aber das ist auch schon egal weil ich sowieso kein Vorstellungsgespräch mehr kriege, es stellt mich ja eh keiner mehr ein. Nicht nach dem, was passiert ist. Ich muss auch nicht mehr die Zähne zusammenbeißen, damit mir die Galle nicht hochkommt aber die Alte sagt irgendwas muss ich lernen. Sie sagt das weil sie mich nicht den ganzen Tag hier im Haus haben will. Sie hat schon recht weil wenn ich so lange nichts tue, dann kommen die Nerven und der Moder. Mit Hunden Gassi gehen würde mir als Arbeit Spaß machen. Aber dafür wird mich hier niemand bezahlen hier sperrt man die Hunde in den Zwinger und die können schon dankbar sein wenn die Leute immer mal ein Stück altes Brot übers Tor werfen.

Ich erzähl mal weiter. Ich hab also die Kleider aus dem Rucksack genommen, mein Oberteil ausgezogen und mir ein frisches übergezogen. Ich würde euch gern sagen dass es ein hübsches Oberteil war aber das stimmt nicht und ich will alles so erzählen wie es passiert ist und in Wirklichkeit waren beide Shirts gleich hässlich und verzogen und abgenutzt vom vielen Tragen. Aber wenigstens stank das zweite nicht nach Eingesperrt in einen von diesen Scheißbussen von hier, wo der Geruch von stinkiger Fitnessstudio-Umkleidekabine für immer in den Sitzen klebt. Ich hab dann die Kleider in die oberste Schublade von der Kommode gelegt aber ich wusste das war bescheuert. Morgen würde ich sie im Küchenschrank oder auf den Regalen in der Kammer oder in der großen Truhe beim Eingang suchen müssen. Es ist immer dasselbe in diesem Haus man kann sich auf nichts verlassen vor allem kann man den Schränken und Wänden keinen Millimeter trauen. Den Kommoden ein kleines bisschen mehr aber eigentlich auch nicht.

Ich hörte ein dumpfes Rummsen und wusste, die Alte haut wieder mit der Stirn gegen die Tür. Sie war bestimmt kurz davor zurückzukommen und es war besser sie jetzt sofort aufzuwecken, bevor sie noch zu nah ans Kammerfenster geht. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass sie fällt oder sich runterstürzt, was in dem Fall das Gleiche ist, weil so oder so ist sie am Schluss behindert oder bescheuert, wenn sie nicht damit aufhört. Ich bin also zurück ins Zimmer und hab die Tür aufgesperrt. Diesmal hab ich sie richtig feste geschüttelt, bis sie wieder ganz da war und sie sagte: Hach, meine Kleine, ich hab dich gar nicht reinkommen hören. Ich hab ihr geantwortet, dass ich schon seit einer halben Stunde da bin aber sie war die ganze Zeit voll weggetreten. Wenn die Heiligen dich mitnehmen, dann nehmen sie dich mit, hat sie gesagt, und ich hab ihr nachgeschaut, wie sie aus dem Zimmer und die Treppe runter ist. Die Stufen knarzten, als würden sie gleich zersplittern, obwohl die Alte keine fünfzig Kilo auf die Waage bringt. Was ihr da seht, das ist alles Haut und Knochen, alles bloß Gelappe ohne Fleisch dazwischen. Wie ich runter bin, da war die Treppe leise. Auf die Treppenstufen kann man sich nämlich auch nicht verlassen.

Die Alte wuselte wie bescheuert durch die Küche, von einer Seite zur anderen. Es war fast zwei Uhr nachmittags, aber ich hatte keinen Hunger, weil ich damals nie Hunger hatte, das Einzige in meinem Bauch war eine Appetitlosigkeit wie bei einem kranken Hund. Sie hat dann die tiefen Teller auf den Tisch gestellt und kam mit dem Topf an. Ich brauchte nicht zu fragen, was es zu essen gab, in diesem Haus essen wir nämlich immer dasselbe. Ich hab mich damit abgefunden, weil so ist das seit ich denken kann, aber die Leute finden es jedes Mal seltsam wenn ich es erzähle. Die Alte stellt immer den Topf mit Wasser auf den Herd und wirft alles rein, was sie dahat, normalerweise die Sachen aus dem Gemüsegarten oder was sie in den Bergen findet, manchmal auch eine Handvoll Kichererbsen oder Bohnen. Die kauft sie den Gemüsehändlern ab, die mit ihren Lastwagen ins Dorf kommen. Der Topf kocht stundenlang und dann jeden Tag ein bisschen und die Alte wirft immer noch mehr Sachen rein wie sie Lust hat und wir essen jeden Tag davon und sie wirft wieder Sachen rein und schüttet Wasser nach und Sachen und Wasser und wenn es ranzig wird, dann spült sie den Topf ab und fängt wieder von vorne an. Meine Mutter hat dieses Essen gehasst aber das ist jetzt egal. Ich hab ja schon erzählt dass meine Mutter vor langer Zeit weggegangen ist. Ich mag das Essen auch nicht aber ich sag nichts weil ich hab eh keine Lust und keine Kraft was anderes zu kochen.

Ich hab dann ein paar Stücke Brot in den Eintopf geschmissen wie immer und hab alles einweichen lassen. Die Alte hat eine Flasche Wein rausgeholt und drei Gläser eingeschenkt, eins für mich, eins für sich und eins für die Santa. Die Heilige ist ein bisschen niedergeschlagen, meinte sie, und schob das Glas zur Figur der Santa Gema, die auf einem Altar neben der Spüle steht. Danach hat sie sich an den Tisch neben mich gesetzt und wollte wissen, ob viele Leute im Bus waren. Nur ich und der Fleischer, hab ich geantwortet, und sie wollte wissen, ob der Fleischer was zu mir gesagt hat mit seiner lahmen schleimigen Zunge, die ist so eklig, wenn er draufbeißt, dann vergiftet der sich. Ich hab nichts gesagt weil in diesem Dorf sind nicht nur alle lahm sondern auch feige. Hier sagt dir niemand irgendwas ins Gesicht außer sie sind zu viert oder zu fünft.

Meine Großmutter stand auf und goss mehr Wein in das Glas von der Heiligen, sodass es fast überlief. Danach hat sie sich bekreuzigt. Schauen wir mal, ob die heilige Gema dem Nichtsnutz heute schlechte Träume schickt, sagte sie, aber ich wusste dass es nicht so kommen würde, weil sich die Heilige nicht um so viele Idioten kümmern kann wie es hier im Dorf gibt. Da müssen wir uns schon selber drum kümmern. Als wir fertig waren, hab ich die Teller abgeräumt und in die Spüle gestellt. Meine Großmutter ist dann ins Esszimmer, hat sich hastig auf die Sitzbank gelegt und einen Rosenkranz gebetet. Ein Ave-Maria für die Toten, eins für unsere Heiligen und noch eins für die Jungfrau vom Berg, die das Dorf von oben aus den Bergen beschützt.

Ich bin dann vorne raus in den Hof und hab mich auf die Steinbank neben der Tür gesetzt. Das Dorf ist immer ausgestorben um diese Zeit, aber so oder so stehen die Leute nur bei uns vor der Tür, wenn sie die Alte um irgendwas bitten müssen. Wenn es nicht anders geht und sie bei uns vorbeigehen müssen, um zu irgendeinem Olivenhain oder Acker zu kommen, dann gehen sie plötzlich schneller, wie wenn ihnen gerade eingefallen wäre, dass sie vergessen haben, das Gas abzudrehen. Und trotzdem finden manche die Zeit uns ans Hoftor zu spucken. Der Rotz bleibt kleben und hinterlässt weiße Flecken, wenn die Sonne das Ganze trocknet. Irgendwann hat einmal jemand nachts Chlor über den Weinstock geschüttet. Die Blätter sind abgefallen, aber die Ranken halten sich noch immer an der Hauswand fest. Meine Großmutter hat sich geweigert ihn auszureißen. Alle sollen das sehen, hat sie gesagt. An einer der Ranken hat sie dann ein Bild von der heiligen Agatha aufgehängt. Der Heiligenschein und das Tablett, auf dem ihre im Martyrium abgeschnittenen Brüste lagen, waren golden. Eine Elster hat das Bildchen irgendwann abgerissen und mitgenommen. Wir haben der Elster auch noch andere glänzende Sachen hingehängt, aber sie kam sie nicht holen, hat sich nur für die Heilige interessiert. Ich konnte das total verstehen.

Ich hörte, wie jemand nach mir ruft, und da bin ich wieder rein. Die Atmosphäre war schwerer geworden, das Haus hielt den Atem an. Ich bin dann ins Esszimmer, aber die Alte lag noch auf der Bank und schlief mit offenem Mund und dem Rosenkranz in den Händen. Ich hab dieselbe Stimme nochmal rufen gehört, diesmal aus dem oberen Stock. Ich bin die Treppe hochgerannt, konnte aber nur noch sehen, wie die Schranktür zuging. Diesmal würde ich nicht in die Falle tappen. Ich hab einen Stuhl davorgestellt, den Schrank damit verrammelt. Ich hab direkt kehrtgemacht, aber bevor ich wieder im Flur war, fing das Klopfen an. Erst schwach, dann immer stärker. Es klopfte immer lauter aus dem Inneren vom Schrank. Danach ging es los mit der Kratzerei und dem Rütteln und die Schranktür wollte bald zersplittern. Mit jedem Schlag brach das Holz. Aus dem Schrank kam ein Weinen wie von einem Kind, das ich sofort erkannte, weil ich es schon Hunderte Male gehört hatte. Ich ging näher an die Tür. In dem Moment fiel der Stuhl auf den Boden und der Schrank sprang auf. Um das Zimmer herum zog sich das ganze Haus zusammen, voller Erwartung.

Es ist besser, wenn sie zu ist, meine Kleine, sagte die Alte hinter meinem Rücken. Ihre Stimme ließ mich zusammenzucken, ich hatte sie nicht die Treppe hoch- oder ins Zimmer kommen hören. Die Stimmen aus dem Schrank haben immer diese Wirkung, eine Art Betäubung, die verhindert, dass du dich auf irgendwas anderes konzentrieren kannst, wenn du sie hörst, wie wenn du plötzlich dumm bist oder taub oder beides. Die Alte ist dann zum Schrank, hat den Schlüssel rausgeholt, den sie immer bei sich trägt, und hat den Schrank abgeschlossen, nachdem sie den Stuhl weggerückt hat, den ich davorgestellt hatte. Das Haus streckte seine Mauern und Dächer über uns aus und warf sich auf uns. Wer weiß, ob es uns beschützen wollte oder ersticken, vielleicht beides. In diesen vier Wänden macht das nämlich keinen großen Unterschied.

Wir hörten den Motor von einem Auto, das auf dem Schotterweg vor dem Hoftor anhielt. Ich bin ans Fenster und hab die Gardine zur Seite gezogen. Ein Sonnenstrahl wurde vom Objektiv einer Kamera zurückgeworfen, das auf das Haus gerichtet war, und ich war für ein paar Sekunden geblendet. Jemand musste ihnen Bescheid gesagt haben, dass ich zurück bin. Als es frisch passiert war, war das Dorf voll von Journalisten, die alle möglichen Nachbarn befragt haben und denen alle möglichen Gerüchte brühwarm aufgetischt wurden weil vielleicht kommt man ja ins Fernsehen. Natürlich kamen sie ins Fernsehen, je mehr sie geredet haben und je mehr Unsinn sie erzählten, umso öfter kamen sie ins Fernsehen. Sie wurden in den Frühstückssendungen live interviewt und da haben sie behauptet, ich hätte gerade mal die Mittelschule abgeschlossen würde mit niemandem reden hätte nie einen Freund gehabt würde dafür aber den Mädchen hinterherschauen. Ach, ich will ja gar nichts sagen, aber wie sie meine Enkelin anschaut, so gierig irgendwie, ich weiß ja nicht, hier hat sie auch noch niemand mit einem Burschen gesehen, sagten die scheinheiligen Lästermäuler, und der Hass blieb ihnen zusammen mit ihren Essensresten zwischen den Zähnen stecken. Hinterfotzig und verdorben sind die Leute auf dem Dorf und was anderes gibt es nicht, das hab ich euch ja schon gesagt. Alle wollen zum Patrón zur Polizei oder zu den Journalisten rennen und petzen egal was Hauptsache sie bekommen dafür vielleicht ein bisschen auf die Schulter geklopft.

Über die Alte sind sie auch hergezogen. Es hieß sie würde Selbstgespräche führen in der Truhe schlafen sich nackt unter der Weinrebe waschen. Die Interviews wurden immer länger und die haben jedes Mal mehr Unsinn erzählt. Alle wollten ins Fernsehen und je mehr Zeug sie erfunden haben, umso mehr Sendezeit haben sie gekriegt. Die Gier ist ihnen die Kehle hochgekrochen und hat ihnen die Zunge verheddert und aus ihren Mäulern kam nur noch Galle und noch mehr Galle, die entweder seit Jahren vor sich hin gegoren hatte oder die ihnen gerade hochgekommen ist. Es war egal, weil das Ergebnis war dasselbe. Sie behaupteten, sie hätten die Alte gesehen, wie sie auf dem Friedhof nach Knochen gräbt, dass sie sich mit den Toten unterhält, wenn sonst niemand im Haus ist. Sie redeten und redeten und ihre Gerüchte und Lügen wurden in Fernsehsendungen diskutiert und gingen auf Social Media viral, und alle meinten, sie wüssten hundertprozentig über uns Bescheid. Die meisten bekamen einen Ekel vor uns. Auch Hass, ein dickflüssiger Hass, der sich ihnen an den Gaumen geklebt hat und aus den Mundwinkeln triefte, wie sie sich vor den Kameras über uns das Maul zerrissen haben. Ein paar hatten auch Mitleid und meinten, wir wären krank und man müsste das Sozialamt informieren damit sich endlich jemand um die Alte kümmert und vielleicht auch um mich ich wäre ja wohl auch ein bisschen neben der Spur oder zurückgeblieben oder insgesamt nicht ausreichend normal. Mir ist es egal, wenn mich die Leute für verrückt oder bescheuert halten, aber dass sie Mitleid haben nee das geht sowas von gar nicht ich hab das alles was ich getan hab nicht deswegen getan damit jetzt jeder dahergelaufenen Vollidiot Mitleid mit mir hat.

Die Alte zog mich dann vom Fenster weg, weil sie mitbekam, dass es mich innerlich zerfressen hat wie ich schon wieder die Journalisten sehen musste. Ich hab versucht, es mir alles aus dem Kopf zu schlagen damit es mir nicht an den Nerven zerrt und schabt aber ich wusste es würde nicht aufhören mit dem Schrapschrapschrap in meinem Hirn. Sogar wenn ich gar nicht daran dachte kam es spät am Abend raus wenn ich in meinem Bett lag das vorher meiner Mutter gehört hat und davor meiner Großmutter und davor weiß ich nicht. Ich hab den Jungen hier im Haus weinen hören, das hab ich der Alten erzählt, ein bisschen um das Thema zu wechseln und ein bisschen, weil ich Lust hatte zu reden, die Wochen in U-Haft hatten mich ganz blöd gemacht, weil da durfte ich fast gar nicht reden. Das Haus ist unruhig, seitdem du zurück bist, hat sie geantwortet, und damit war das Thema erledigt weil sie eh nie Lust hat zu reden außer wenn sie was loswerden will. Sie hat gemerkt dass ich damit nicht zufrieden war und hat sich nochmal umgedreht bevor sie aus dem Zimmer ist. Du weißt, es gibt zwei Möglichkeiten, wie es sich beruhigt, hat sie gesagt, entweder wir beten zu unseren Heiligen oder wir geben dem Haus, was es will.