Heillose Macht! -  - E-Book

Heillose Macht! E-Book

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Beschreibung

Die Frage von Macht und Machtmissbrauch in der katholischen Kirche ist seit der Veröffentlichung der großen Missbrauchsstudie und den Diskussionen des Synodalen Weges im Fokus der Öffentlichkeit. Sr. Philippa Rath hat das Wort von einer "Kultur der Angst" in der Kirche geprägt. Zuletzt hat die mutige Aktion "#OutInChurch – für eine Kirche ohne Angst" gezeigt: Wenn sich viele mit ähnlichen Erfahrungen zu Wort melden, kippt das kirchliche Verhältnis der Macht. In diesem Sinn versammelt das Buch ca. 50 Stimmen von Mitarbeiter*innen im kirchlichen Dienst, auch von Ehrenamtlichen, die ihre erschütternden Erfahrungen mit kirchenspezifischem Machtmissbrauch öffentlich machen, um so überkommene Machtstrukturen zu entlarven und in der Folge zu beseitigen. Auf diesen und auf ihren eigenen Erfahrungen als Coaches aufbauend entwerfen die Herausgeber*innen Wege zu einer erneuerten Führungskultur, um die Kirche zunehmend zu einem angstfreien Raum zu machen.

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© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © James / unsplash

E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISBN Print 978-3-451-39553-6

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-84553-6

ISBN E-Book (E-Pub) 978-3-451-83553-7

„Im Anfang war das Wort …“Allen Sprachlosen und Unsichtbaren gewidmet

Inhalt

Geleitwort

Heillose Macht! – Einleitung

„Im Anfang war das Wort …“ – Bestürzende Zeugnisse heilloser Macht

Ungeschriebene Beiträge: unerwartet kraftvolle Aussagen zum Machtmissbrauch

1 Reaktionen „einfacher“ Katholiken

2 Reaktionen kirchlicher Mitarbeiter*innen

I Missbrauch durch Unfähigkeit zur Gestaltung

3 Sie haben da so eine Art

4 Begegnungen mit der Macht – eine Erzählung über das „Ausgeliefertsein“ oder vielleicht auch über die Klügeren, die nachgeben

5 Die Summe macht’s

6 Der Macht und Ohnmacht geweiht

7 Machtmissbrauch ermöglicht durch Schweigen und Ja-Sagen

8 Unheilvolle Macht – zwischen Glücksspiel und Willkürherrschaft

9 Hauptsache, aufgewandelt wird!

10 Haben Sie Lepra?

11 Kommunikation auf katholisch

12 Persona non grata

13 Wer geweiht ist, bestimmt, wo’s lang geht

14 Geburt als Ende – und Ende als Anfang?

15 Gott in Haft

16 Verkünde und lebe das Evangelium Christi …?

17 Bis zur Bistumsgrenze qualifiziert!

18 Katholische Macht im Alltag

II Missbrauch durch fehlenden Gestaltungswillen

19 Wie die Angst weiter lähmt – zu Risiken und Nebenwirkungen kirchlicher Macht

20 Mobbing ohne Ende

21 Mitarbeiter der Freude

22 Normalität Machtmissbrauch

23 Mitarbeit ja, aber bitte nur in zweiter Reihe!

24 „Das brauchen wir nicht, wir haben den Heiligen Geist!“

25 Meine Vergangenheit lässt mich nicht los

26 Im Geiste christlicher Nächstenliebe

27 Individuum oder Figur auf dem Schachbrett eines Bistums? – Vom Idealismus zur Bauchlandung in der (kirchlicher) Realität

28 „Wir wollen Ihnen keine goldenen Ketten anlegen …“

29 Darf man das so sagen? – Selbstbefragung eines Diakons

30 Kultur des Schweigens

31 Im Mantel der Freundlichkeit

III Missbrauch durch Veränderung der Aufgabe

32 Der Hl. Narzissus – oder das Drama einer Vorabendmesse

33 Ich hoffe, dass Sie nicht vom Kirchlichen Sicherheitsdienst sind

34 Machtmissbrauch im Recht (und mit rechts)

35 Wenn gesellschaftlich Akzeptiertes zum Problem wird

36 Lieber nicht taufen als evangelisch?

37 Der Wille Gottes damals und heute

38 Ohnmacht in der Pastoral

IV Missbrauch durch Fokussierung auf andere Ziele

39 Die kirchliche Lehre kennen!

40 Heil los, Macht los, Mann los – Wie ich meinen Mann verlor

41 Wendepunkt

42 Vorsätzlich übergriffig

43 „Mademoiselle, kommen Sie mal her!“

44 Gottesgeschenk und Kirchenmoral

45 Vom Missbrauch eines Gebetes und seinen Folgen

46 Durch ihn und mit ihm und in ihm …

47 Fügen Sie sich!

48 Wachsende Entfremdung – Zunahme an Freiheit

49 Mein Leben am Limit

50 Sehnsucht nach einer anderen Kirche

Analyse des Textteils – wiederkehrende Muster in den Berichten

Kirchliches „Leader“-Ship? – Oder: Lasst die Hirten im Stall!

Keine Einzelfälle – Schlusswort der Herausgeber*in

Literatur

Die Autor*innen

Die Herausgeber*in

Über das Buch

Geleitwort

Seit nunmehr zwölf Jahren setzen wir uns innerhalb der katholischen Kirche mit dem großen Problem der sexualisierten Gewalt auseinander. Wir tun dies, weil eine solche Auseinandersetzung einfach nicht mehr vermeidbar war. Mit jeder Veröffentlichung eines auf eine Diözese bezogenen Gutachtens tun sich neue Abgründe auf – Abgründe der Monstrosität begangener Taten, aber auch Abgründe von Vertuschung und Verantwortungslosigkeit in den zuständigen Kirchenleitungen.

Zweifellos ist sexualisierte Gewalt die verwerflichste Form der Ausübung von Macht. Bis jetzt ist innerkirchliche Machtausübung als solche nicht in hinreichendem Maß einer professionellen kritischen Betrachtung unterzogen worden.

Besonders betroffen – das zeigen die in diesem Band versammelten Berichte – sind in der Kirche und in kirchlichen Einrichtungen abhängig Beschäftigte, die der Willkür von Vorgesetzten ausgeliefert sind. Demütigungen, widersinnige Anweisungen und bewusste Schikanen treffen insbesondere Mitarbeitende in kirchlichen Diensten, die sich oft vergeblich um Unterstützung bemühen. Längst erfolgt dieser Missbrauch nicht mehr nur von Geweihten in ihrem Verständnis der ontologischen Veränderung durch die Weihe, sondern zunehmend übernehmen auch Nicht-Kleriker klerikales Gehabe zur Durchsetzung ihrer Ziele.

Aber selbst „einfache“ Gläubige werden von Amtsträgern – sowohl Priestern als auch Haupt- und Ehrenamtlichen wie bspw. Pastoralreferenten, Pfarrgemeinderäten oder Oberministranten – im Namen Gottes niedergemacht; warum diese sich solches Verhalten gefallen lassen, ist mir völlig unverständlich. Die Angst vor menschlichen und göttlichen Sanktionen wird immer wieder als Machtmittel zur Durchsetzung zweifelhafter Ziele von vermeintlich wohlmeinenden Menschen massiv eingesetzt. Ist tatsächlich der Mensch im kirchlichen Amt immer noch sakrosankt?

All dies geschah und geschieht in der Verantwortung, aber viel zu oft unter bewusst abgewandten Blicken von kirchlichen Verwaltungen mit dem jeweiligen Bischof an der Spitze.

Solange strukturelle Gewalt und nicht Führungskultur im hierarchischen System der katholischen Kirche herrscht, handelt es sich tatsächlich um heillose Macht. Diese einzudämmen oder im besten Fall zu beseitigen, ist die Aufgabe aller Bischöfe und aller Menschen im Haupt- und im Ehrenamt, die nicht mehr ohnmächtig zusehen wollen, sondern das Wort ergreifen. So wie die 50 mutigen Frauen und Männer im vorliegenden Band. Darüber hinaus sind alle Verantwortlichen in der Politik gefordert. Ein Zuschauen und das Vertrauen, dass es die Kirche intern regeln wird, darf es nicht mehr geben. Das ist in den letzten Jahren gründlich schiefgegangen. Hierauf setze ich.

Dr. Barbara Hendricks

Bundesministerin a. D.

Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und Mitglied der Sachverständigengruppe „Weltwirtschaft und Sozialethik“ der Deutschen Bischofskonferenz

Heillose Macht! – Einleitung

Um es vorwegzunehmen: Nicht Macht als solche – verstanden als Gestaltungswille verbunden mit Gestaltungsfähigkeit in einer definierten Aufgabe mit festgelegten Zielen –, sondern deren heilloser Missbrauch zur brachialen Durchsetzung von Interessen, Regeln und Glaubenssätzen ist das Thema dieses Sammelbandes. Die Frage von Macht und Machtmissbrauch in der katholischen Kirche ist seit mehreren Jahren im Fokus der Öffentlichkeit. Die Bewegung „Wir sind Kirche“ richtete bereits vor Jahrzehnten das Augenmerk auf Klerikalismus und Macht. Seit 2019 wendet sich die Initiative Maria 2.0 gegen lebensfeindliche Machtstrukturen. Vor zwei Jahren sprach Sr. Philippa Rath erstmalig öffentlich von einer „Kultur der Angst“ in der Kirche. Die mutige Aktion #OutInChurch – für eine Kirche ohne Angst hat gezeigt: Wenn sich viele mit ähnlichen Erfahrungen zu Wort melden, kippt das kirchenamtlich zementierteMachtgefüge.

Unabhängig von den Fragen der Geschlechtsidentität und möglicher Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung berichten kirchliche Mitarbeitende und Ehrenamtliche im Coaching, in der Beratung und seelsorglichen Begleitung immer wieder von speziellen, kirchenspezifischen „Macht-Spielen“. Die Mehrzahl schweigt bis heute – aus demselben Motiv, das #OutInChurch entlarvt hat: aus Angst. Bezeichnend, geradezu entlarvend muss vor diesem Hintergrund die Aussage des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Georg Bätzing, zum Abschluss der dritten Synodalversammlung gewertet werden, welcher die Atmosphäre als „vertrauensvoll, angstfrei, konstruktiv“ bewertete; als ob dies im Jahr 2022 noch immer etwas Besonderes, ja geradezu Außergewöhnliches sei.

Mit diesem Sammelband soll denen eine Stimme gegeben werden, die aus dem geschützten Bereich von Coaching und Beratung heraustreten wollen und aktuell können. Denn auch hier gilt: Erst wenn viele in Erscheinung treten, sich zu Wort melden und überregionale Netzwerke bilden, werden überkommene Machtstrukturen entlarvt und können im besten Falle in der Folge beseitigt werden. Die hier versammelten 50 Stimmen stehen stellvertretend und solidarisch für all jene, die den Schritt des Aussprechens und Ausschreibens noch nicht gehen können – aus welchen Gründen auch immer. „Heillose Macht!“ bündelt persönliche Zeugnisse aus verschiedenen kirchlichen Feldern, um Ähnlichkeiten in der kirchenspezifischen Erfahrung von Macht und Ohnmacht an ganz verschiedenen Wirkungsorten aufzuzeigen. Durch Vernetzung und die Erfahrung, dass die Geschichten Einzelner bedeutsam und weiß Gott keine Einzelfälle sind, kann dieses Buch einen Beitrag dazu leisten, kirchenspezifische Muster heilloser Macht zu entlarven.

Nach den 50 Beiträgen der Autor*innen werden deren Erfahrungen mit missbräuchlicher Machtausübung analysiert, d. h. Ähnlichkeiten und Unterschiede von wiederkehrenden Machtstrukturen, kirchenspezifischen Machtmechanismen, kirchlich sozialisierten Verhaltensdispositionen u. v. a. m. systematisch aufgezeigt. Ursachen für missbräuchliche Machtausübung, die in den Bereichen institutionelle Rahmenbedingungen, Ämterstruktur, Hierarchie, Glaubens- und Sittenlehre, theologische Legitimation von Macht, spirituelle Überhöhung der geistlichen Führungskräfte, fehlende Verwaltungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung oder auch Legitimationskonstruktionen für die eigene Rolle in Machtspielen etc. zu suchen sind, werden analysiert und benannt.

Die Motive der Autor*innen, am Sammelband mitzuschreiben, werden im auswertenden Teil (Kap. Analyse) zur Sprache kommen. Ebenso erhellend sind etliche Absagen, die zum Teil nach erfolgten verbindlichen Zusagen bei uns eingegangen sind, oft mit Begründungen, die uns trotz vieler Coachings, seelsorglicher Gespräche und Outplacements mit kirchlichen Mitarbeitenden in den letzten Jahren erneut bestürzt gemacht haben. Was einmal mehr gezeigt hat: Die Angst vor Sanktionen sitzt im kirchlichen Dienst auch heute noch unfassbar tief. Die O-Töne in diesem Abschnitt des Buches werden dabei für sich sprechen. Wir werten diese Entscheidungen nur insofern, als dass sie einen Rückschluss geben auf die Spielregeln der realexistierenden Kirche: Wer um jederzeit mögliche Willkür weiß, wer einige Kolleg*innen kennt, die unter Vorwand versetzt wurden oder denen eine bereits zugesagte Maßnahme nach der Beteiligung an der Aktion einer Reformbewegung … – diese Beispiele ließen sich beliebig ergänzen – verwehrt wurde, der richtet sein Verhalten danach aus. Denn Macht „macht etwas“ mit Menschen, nicht nur unmittelbar. Sondern eine willkürlich eingesetzte und nicht transparent gemachte Form von Machtmissbrauch torpediert das Wertesystem. Sie stellt all das in Frage, was bisher gut, verlässlich und bewältigbar war, befördert Inkongruenzen und macht im Letzten krank, und zwar an Leib und Seele.

Ebenso aufschlussreich war das Verhältnis der Mitwirkenden aus dem Hauptberuf und dem Ehrenamt. Während sich die Teilnehmenden aus dem kirchlichen Dienst anfänglich aus dem Kreis unserer Klient*innen, unserer eigenen sowie Netzwerke der Autor*innen rekrutierten, lag das Verhältnis der Haupt- gegenüber den Ehrenamtlichen schließlich bei 2/3 zu 1/3. Um damit ein Ergebnis bereits vorwegzunehmen, da es den Zuschnitt des Sammelbandes deutlich bestimmt hat: Ein entscheidender Unterschied zwischen allen Befragten besteht in der – bis auf Ausnahmen – differenten Wahrnehmung des Themas „Kirche als Raum der Angst“. Ehrenamtliche können sich offensichtlich in den meisten Fällen ihr positives Bild von der Kirche erhalten, das sich in den Kindheits- und Jugendjahren stark ausgeprägt hat (vgl. Beiträge 1 und 2). Bei wiederholten Enttäuschungen ziehen sie sich schlichtweg zurück. Demgegenüber haben alle beteiligten Autor*innen, gleichgültig ob haupt- oder ehrenamtlich tätig, die Kirche auch als einen Raum der Willkür und Demütigung erfahren. Das Frappierende daran ist, dass es unter ihnen die Hauptamtlichen sind, die den Ehrenamtlichen gegenüber ein positives Bild aufrechterhalten sollen. Diese Erwartung wird von den eigenen Erfahrungen mit Macht und Ohnmacht oft konterkariert – was im Letzten bedeutet: Die, die dazu beauftragt sind, die „Frohe Botschaft“ auch froh und überzeugt zu verkünden, haben eine einfühlsame Seelsorge oft nötiger als die, für die sie den Dienst tun. Dieser Befund mag dazu beitragen, als ehrenamtlich Tätige dafür sensibel zu werden, wo kirchliche Mitarbeitende missbräuchliche Machtausübung erfahren haben, diese in aller Regel mit sich selbst ausmachen, aufgrund dieser aber vielleicht so handeln, wie sie es gerade tun. Der Anbruch des „Reiches Gottes“ wird dann darin erfahrbar, dass sie sich mit den Opfern von Machtmissbrauch gegen die Täter in Amt und Würden solidarisieren und für sie einstehen – deutlich und, wenn es sein muss, lautstark wie Jesus bei der Vertreibung der Händler aus dem Tempel.

Die Leser*innen werden einige Beiträge namentlich gekennzeichnet vorfinden, die meisten anonymisiert. Darin sehen wir eine starke Symbolik. Die Botschaft in Richtung der Kirche und ihrer Verantwortlichen lautet: Obwohl wir uns trauen, trauen wir euch (noch immer) nicht (bzw. fast alles zu)! Lediglich 1/5 aller Autor*innen schreibt unter ihrem Klarnamen!

Die meisten Beiträge waren von mehreren Gesprächen mit den Autor*innen flankiert. Dabei schockierte uns das Dramatische, Toxische, Ver- und Zerstörende, Menschen- und Lebensverachtende des inmitten der Kirche Erlebten immer wieder aufs Neue. In den Beschreibungen hielten wir uns an einen Grundsatz aus der Arbeit im Kontext sexualisierter Gewalt:Was berichtet wird oder nach traumatisierenden Erlebnissen überhaupt berichtet werden kann, hat zunächst den Anspruch, geglaubt zu werden. Die im Folgenden versammelten Beiträge verstehen sich insofern als subjektive Zeugnisse missbräuchlicher und willkürlicher Macht im kirchlichen Dienst. Sie beanspruchen keine detailgetreue, faktische Wiedergabe der geschilderten Situationen, sondern sind von einem persönlichen, narrativen Stil geprägt. Die Autor*innen verbindet die Haltung, dass unheilvolle und unhaltbare Zustände, die im Widerspruch zum biblischen Zeugnis und christlichen Menschenbild stehen, endlich angesprochen werden müssen. Im besten Fall sind sie und ihre systemischen Ursachen noch veränderbar. Zum Wohl aller, die in der Kirche ihren Dienst tun, und derer, für den sie ihn verrichten.

Wir danken allen Beteiligten für ihre Courage, an diesem Sammelband mitzuschreiben. Die O-Töne, die das Kapitel Analyse exemplarisch rahmen, sprechen dabei für sich. Und deuten an, dass so mancher Weg bis zum fertigen Beitrag ein innerer Prozess war, eine erneute Auseinandersetzung mit einem jahre-, oft jahrzehntelangen Verwundetsein. Nicht selten waren diese neuerlichen Annäherungen schmerzhaft, doch ebenso befreit und dankbar waren die Autor*innen dann auch für diese Möglichkeit der schreibenden Bearbeitung in diesem Verbund aus 50 Anderen. Denn im Gegensatz zu vertraulichen Einzelcoachings zeichnet sich diese Bündelung von Zeugnissen dadurch aus, dass bereits durch den Ansatz des Sammelbandes eine Strategie des kirchlichen Machtmissbrauchs konterkariert wird: die Isolierung Einzelner und das ihnen – oft subtil, zuweilen auch ausgesprochen – vermittelte Gefühl, dass man so etwas wie mit ihnen wirklich noch nie erlebt habe. Kirchliche Mitarbeitende wurden in solchen Beispielen wiederholt als „schwierig“ beurteilt. Sie haben auch erlebt, dass sich ein Chef über das Wesen und die Persönlichkeit eines Menschen ein solches Urteil erlaubt, weil er selbst nicht befähigt ist, in schwierigen Situationen angemessen und mit Anstand zu führen. Und sie mussten erfahren, dass sie sich mit diesem Gefühl des Kleingemachtwerdens nicht gegenüber anderen Kolleg*innen im kirchlichen Dienst anvertrauen konnten. Damit stehen sie freilich auch in der Gefahr, diese ihnen insinuierte vermeintliche Charaktereigenschaft unbewusst zu verinnerlichen. Worauf am Beispiel dieser Strategie bereits im Vorfeld aufmerksam gemacht werden soll: Die entsprechenden Verursacher sitzen in aller Regel heute noch in Amt und Würden. Dort entziehen sie sich ihrer Letztverantwortung. Dasselbe Muster ist seit Jahren in der Aufarbeitung von Strukturen im Kontext sexualisierter Gewalt bekannt. Bei aller Unterschiedlichkeit in den Dimensionen lässt sich jedoch eine gemeinsame „Werte“-basis im kirchlichen Leadership ausmachen, die einen wie auch immer gearteten Machtmissbrauch zulässt, billigt, schützt und in etlichen Fällen gar gutheißt. Deshalb soll im Abspann (Kap. „Leadership“, S. 211 ff.) die Reflexion zu einer dienenden Führungs- und Unternehmenskultur im Geiste Jesu den Band beschließen. Wir hoffen, dass dieser Band dazu beitragen kann, dem systemischen Problem von „Ohnmacht, Macht und Missbrauch“ (Sautermeister/Odenthal, 2021) ein Stück weiter auf die Spur zu kommen und es auch wissenschaftlich weiter zu untersuchen.

Die Autor*innen dieses Sammelbandes stammen aus dem deutschen Sprachgebiet, wobei diese Zusammenstellung durch den Kontext Coaching und Beratung sowie weitere Netzwerke zustande kam und folglich keine empirische Aussage über die topografische Verbreitung von missbräuchlichen Machterfahrungen treffen will bzw. kann. Zwar waren in etlichen Fällen keine Verbindungen zwischen den Kirchenbezirken erkennbar. Dennoch war das in den Berichten unabhängig voneinander Geschilderte so ähnlich, dass wir uns schon fragten, ob und wo diese Führungskräfte denn ihre gemeinsamen Führungsseminare absolviert haben. Das Phänomen, dass dieselben Muster eben ohne solche Schulungen angewandt und (aus-)gelebt werden, lässt nur den Schluss zu, dass ihre Ermöglichungsbedingungen in der Struktur, im Amt und eben auch im fehlenden Korrektiv des klerikalen Amtes zu suchen – und zu finden – sind. Alles weitere, wie persönliche Neigungen zum Missbrauch etc., tritt erst noch als persönliche Ergänzung hinzu.

Insofern verstehen sich die mutigen Zeugnisse der beteiligten Autorinnen und Autoren auch nicht als Angriffe oder Versuche der Abrechnung mit einzelnen Vorgesetzten. Es ist vielmehr auch hier die systemische Ebene, die sie im Blick haben – und die dringend zu reformieren ist, will sich die Kirche auch weiterhin als das vermarkten, was sie vom Selbstverständnis her ist: „Zeichen und Werkzeug für die innigste Verbindung mit Gott“ (Lumen Gentium 1). In den hier zu Wort kommenden Fallbeispielen haben die Vertreter der Kirche, die allerdings vom System auch nicht gebremst wurden, dies nicht erfüllt. Denn eines ist deutlich geworden: Von Angstfreiheit im kirchlichen Dienst und in der Kirche kann bis dato nicht die Rede sein!

Pfingsten 2022, die Herausgeber*in

„Im Anfang war das Wort …“ – Bestürzende Zeugnisse heilloser Macht

Im Folgenden soll zunächst allen Beiträgen dieses Bandes ein breiter Raum gegeben werden. Unter den Viten werden sich mehr Namen finden als hier unter den Texten selbst. Dieser Umstand ist auf die Ambivalenz zwischen dem starken Motiv, sich zu Wort melden zu wollen, und dem Wissen um die potenzielle Willkür des Systems und seiner Verantwortlichen zurückzuführen.

Die Gliederung der Autor*innen-Beiträge in die vier Kategorien (Gestaltungsfähigkeit, -wille, Aufgaben und Ziele) dient nicht nur der besseren Lesbarkeit, sondern unterstützt eine erste Annäherung an die aufzuspürenden Muster von Machtmissbrauch. Im anschließenden Kapitel soll diese Struktur näher erklärt werden.

Ungeschriebene Beiträge: unerwartet kraftvolle Aussagen zum Machtmissbrauch

Mit Jahresbeginn 2022 wurden ca. 500 Katholik*innen – Kleriker, Ordensleute, haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter*innen sowie „normale“ Kirchgänger und „Christmetten-Katholik*innen“ – aus dem Umfeld der Herausgeber*in mit der Anfrage kontaktiert, einen Bericht über eigene Erfahrungen mit Machtmissbrauch in der katholischen Kirche zu verfassen. Das Projekt war vom Engagement getragen, Menschen zusammenzubringen, die ihre Negativerfahrungen mit der Kirche nicht länger für sich behalten wollen. Denn die Frage von Macht und Machtmissbrauch in der katholischen Kirche ist seit über zwei Jahrzehnten im Fokus der Öffentlichkeit und wird immer wieder von verschiedenen Gruppen thematisiert. Unabhängig davon häuften sich in Coachings und in seelsorglichen Begleitungen die Berichte kirchlicher Mitarbeitender über Spiele der Macht und Spiele mit der Angst. Diesem Phänomen soll hier ein breiter Raum gegeben werden, indem die Autor*innen dazu eingeladen wurden, in einer kurzen Erzählung ihr eindrücklichstes persönliches Erlebnis mit Macht und Ohnmacht, Angst und Isoliertheit in der katholischen Kirche niederzuschreiben. Als Ziel wurde formuliert, kirchliches Führungsverhalten kritisch zu hinterfragen, vergleichbare Muster an ganz verschiedenen Orten der Kirche aufzuzeigen und durch das couragierte Zeugnis vieler die Kirche zunehmend zu einem angstfreien Raum zu entwickeln.

Wie viele Menschen von der Initiative der Herausgeber*in über gemeinsame Kontakte informiert wurden, lässt sich nicht genau feststellen. Überrascht wurden die Initiatoren aber von zahlreichen Kontaktaufnahmen von ihnen bis dahin Unbekannten. Das verdeutlicht, wie aktuell das Thema ist: Angst und Willkür auf der einen Seite geht mit dem stark gestiegenen Drang nach Selbstbestimmung und Selbstermächtigung in einem nicht demokratisch strukturierten System einher. Es wird deutlich, wie wenig diese Dynamiken noch aufzuhalten sind. Und gleichzeitig, wie gelähmt, ja sklerotisch der Apparat der Macht darauf reagiert. Zwischen diesen beiden Polen befindet sich eine breite Masse, die bis heute (noch) schweigt – aus demselben Motiv, das #OutInChurch entlarvt hat: aus Angst.

Von den angesprochenen Katholik*innen haben sich letztlich zehn Prozent am Projekt „Heillose Macht“ beteiligt. Neben diesen im Folgenden abgedruckten Beiträgen gingen ca. 100 schriftliche Reaktionen und deutlich mehr mündliche ein. Deshalb soll diese exemplarische Zusammenstellung den Textteil eröffnen: Stellvertretend und symbolisch für alle Erfahrungen, die (noch) nicht mit in der Sammlung dabei sein konnten oder für die die Betroffenen noch keine Worte fanden. Damit sollen die 50 Beiträge mit Zitaten aus den schriftlichen Absagen eröffnet werden. In diesen zeigt sich schon deutlich ein Empfinden vom Problem im Umgang mit Macht in der katholischen Kirche.

1 Reaktionen „einfacher“ Katholiken

Positive Erfahrungen in der Kirche (ausschließlich „einfache“ Katholiken und Ehrenamtliche)

„… Sie wissen doch, dass ich keine schlechten Erfahrungen mit der Kirche gemacht habe. Im Gegenteil! …“

„… ich persönlich habe in der Kirche viele positive Bekanntschaften gemacht …“

„… leider kann ich Ihnen jedoch nicht mit eigenen Erfahrungen bzw. Erlebnissen dienen, so dass ich leider keinen Bericht beitragen kann …“

„… danke, dass Sie an mich gedacht haben. Leider fällt mir aber kein Erlebnis oder eine Situation ein, die ich unter diesem Thema beisteuern kann …“

„… vielen Dank für die Information. Ich begrüße Ihr Engagement und Ihr Projekt und unterstütze es gerne. Allerdings habe ich – Gott sei Dank – keine eigenen Erfahrungen einzubringen …“

„… Das klingt nach einer guten und wichtigen Initiative. Geschichten, die erzählt und gehört werden sollten. Ich habe mich mit Ihrem Vorhaben auseinandergesetzt, fürchte allerdings, dass ich nichts Substantielles dazu beitragen kann …“

Weitere Reaktionen

„… Allgemeine Klagen über klerikale Betonköpfigkeit und pfarramtliche Bürokratie – in der übrigens auch die hauptamtlichen Laien brillieren – sind zwar in der Sache gerechtfertigt und durch viele Beispiele belegbar, dienen aber nicht Ihrem Projekt …“

„… Ich habe mich noch nie als Freund oder Kunde der Amtskirche erfahren, sondern sehe Kirche als einen mir gelegentlich tauglichen spirituell-visuellen Raum. Was sich in ihm abspielt, wer darin mitspielt, interessiert mich sehr im Einzelnen, aber nicht im Ganzen …“

„… Die katholische Kirche hat nur so viel Macht über mich, wie ich ihr einräume, und das ist immer weniger …“

„… Pfarrer waren eher unnahbare, seltsame Typen und für mich als Kind und Jugendlichem Respektpersonen. Aber getan haben sie mir nichts, außer der einen oder anderen Ohrfeige wegen ungebührlichem Verhalten in der Kirche oder beim Religionsunterricht! …“

„… Natürlich ist es als geschiedene und wiederverheiratete Person nicht einfach mit und in der Kirche, gleichwohl belastet es mich nicht …“

„… Grundsätzlich bin ich gerne bereit, mitzumachen. Und grundsätzlich möchte ich das mit meinem Namen tun. ‚Aber‘ – jetzt kommen meine Feigheiten …“

„… In meiner aktuellen privaten wie beruflichen Situation nehme ich so eine schwerwiegende Inhaltsebene nicht auf. Ich gehe derzeit für mich auf eine gesunde Distanz, ohne die Liebe zum guten Kern der Menschen unserer katholischen Kirche und zu Gott aufzugeben – sondern behutsam zu pflegen …“

„… Ich habe einige Zeit überlegt. Dabei bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass ich mich nicht an Ihrer guten Aktion beteiligen möchte. Mein wichtigster Grund ist, dass ich durch die Befassung mit diesem Thema viel zu aufgewühlt werde. Das will ich mir nicht antun, da ich täglich tief mit der Amtskirche hadere. Wenn man, wie ich, in dieser Organisation beheimatet war und jetzt ‚exkommuniziert‘ (ausgeschlossen) ist, hilft nur noch der eigene Glaube. Mit der Amtskirche bin ich fertig. Sie wird sich meiner Meinung nach auch nicht ändern. Auch wenn viele Menschen dieses so sehr wünschen …“

„… Ich finde Ihre Initiative sehr gut – für mich jedoch zu spät, da ich persönlich die Institution katholische Kirche bereits verlassen habe. Meine christliche Gesinnung und Haltung konnte ich mit den Machenschaften des Bodenpersonals nicht mehr vereinbaren …“

2 Reaktionen kirchlicher Mitarbeiter*innen

„… Bin dabei! Bis wann sollte ich liefern? …“

„… Machtmissbrauch ist ein großes Thema in den seelsorglichen Arbeitsbeziehungen von hauptamtlichen pastoralen Mitarbeitern. Ich denke darüber nach …“

„… Gerne denke ich darüber nach. Spontan sehe ich einen Konflikt zwischen der begrenzten Zeichenzahl und der Komplexität der möglicherweise zu schildernden Erfahrung …“

„… Bin dazu zu ängstlich. Tut mir sehr leid …“

„… In dieser Kirche habe ich gelernt, eher über Bande zu spielen. Direkt kann ich da nicht mitschreiben. Und anonym ist ja witzlos. Dann würden wir es ja nicht anders intransparent machen wie die Bischöfe …“

„… Ich bin völlig desillusioniert und habe einfach keine Kraft mehr, mittlerweile auch zu alt …“

„… Ich bin jetzt über 80, kann aber nicht mitschreiben, bin sehr emotional aufgeladen zurzeit aufgrund mehrerer Baustellen mit dieser Kirche, die ich gerne noch regeln will …“

„… Es tut mir leid, ich schaffe es nicht. Familie. Ich hätte es sehr, sehr gerne gemacht, aber mir fehlen gerade die Kräfte …“

„… Dass ich selbst etwas schreibe, ist ja leider aufgrund meiner Tätigkeit im Ordinariat und der damit verbundenen Schweigepflicht nicht möglich …“

„… Ich fürchte, meine frühere Tätigkeit am Ordinariat wäre einerseits gewiss eine Hilfe, ist aber umso nachhaltiger ein Hindernis zur Förderung Ihres Buchprojektes …“

Zwei herausstechende Beobachtungen sollen dem Analyseteil hiermit vorweggenommen werden [vgl. alle weiteren im Kap. „Analyse“, S. 185 ff.]:

• Eine der häufigsten Reaktionen aus dem Kreis kirchlicher Mitarbeiter*innen sind Aussagen wie die hier eingangs zitierte: Einem grundsätzlichen „Ja, ist wichtig“, verbunden mit dem Hinweis, es sich noch genauer überlegen zu müssen, folgte ein späteres „Aber …“ bzw. dann ein „Nein, leider“. Die regelmäßig wiederkehrende Begründung war die Angst vor Repressionen.

• Weniger häufig war ein Muster, das im Folgenden als Reaktion eines hauptberuflichen Seelsorgers zitiert und noch einige weitere Male mündlich als Begründung vorgebracht wurde: sich darüber im Klaren zu sein, als „Teil des Systems“ auch Anteil am „Tätersystem“ zu besitzen.

Doppelt betroffen! – eine schmerzliche Erfahrung

„Liebe Herausgeber,

was das Buch angeht, kommt von mir kein Beitrag. Die Fälle, die ich im Auge hatte, zeugen alle, dass es Widerstand und Unterstützung zugleich gab im selben System. Da ich selbst Teil des Systems bin, habe ich mir sicher auch Dinge zu eigen gemacht oder vertreten, die mir als Machtmissbrauch noch nicht bewusst sind. Vielleicht sitze ich, viel mehr als mir lieb ist, auf der Seite der Beklagten.

Viel Erfolg mit Ihrem Buch und einen guten Abschluss Ihrer Arbeit!“

I

Missbrauch durch Unfähigkeit zur Gestaltung

3 Sie haben da so eine Art

Wie stolz ich damals war, als ich an diese Schule kam. Seit Generationen hatte sie einen unschlagbaren Ruf. Man hatte es immer wieder geschafft, Tradition mit Innovation zu verbinden. Ohne dabei elitär zu wirken. Während in den letzten Jahren an anderen Einrichtungen immer wieder üble Geschichten zu hören waren, kam auf uns nichts Größeres zu. Ich weiß nicht, wie ich es mir erklären soll, aber vielleicht lag es wirklich am Charisma des damaligen Gründers. Dieser Geist von A., ein ausgesprochen caritativer Priester, weht irgendwie bis heute durch die Flure dieses altehrwürdigen Klosterbaus und in den Köpfen aller hier Tätigen, der Eltern, Alumni und all derer, die sich in der Gemeinde und Politik für unsere Schule einsetzen.

Und so hatte ich mich damals auch wahnsinnig gefreut, als von Seiten der Elternschaft die Anfrage an mich herangetragen wurde, die Internatsleitung nach dem altersbedingten Ausscheiden von Pater B. zu übernehmen. Mit Feuer und Flamme begab ich mich in diese neue Aufgabe, was sollte auch schiefgehen? Doch nach kurzer Zeit folgte eine Störung auf die nächste. Ich kann heute nicht mehr sagen, was das Vertrauensverhältnis mehr verletzte. Im Rückblick hätte ich mir einfach nur gewünscht, dass er etwas gesagt hätte, also Jahre zuvor. Das lief so: Als ich mich auf die Anfrage des Elternbeirates und des Freundeskreises hin auf eine neue Stelle bewarb, merkte ich, dass irgendwas nicht stimmte. Mein Chef wollte irgendwas nicht rauslassen. Schaute nur so seltsam. Ich fragte, ob er mir die Position nicht zutraue. Er sah mich an. Dann meinte er: „Ganz ehrlich, ich weiß nicht, sie haben da so eine persönliche Art, insbesondere im Umgang mit Jugendlichen und jungen Frauen …“ Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Wo doch jede pädagogische Assistentin wusste, wie sehr er unter dem Zölibat litt und Frauen schnitt. Was sollte das jetzt? Und dann kam das: Er holte doch tatsächlich ein – so nannte er es – ‚Protokoll‘ heraus, meinte, sich „damals ja ein bisschen was aufgeschrieben“ zu haben. Und schilderte eine Geschichte, die (ich war jetzt acht Jahre als Heimerzieher im Haus) mindestens sechs Jahre zurücklag. Frau C. habe damals vor ihm geweint, weil ich so „unsensibel“ zu ihr gewesen sei und er habe damals „schon wirklich sehr vermittelnd auf sie einwirken müssen“, damit sie damit nicht weitergehe und mich beim Träger anschwärze. Ich kann wirklich nicht sagen, was schlimmer war: an etwas erinnert zu werden, was in meinen ersten Jahren lag und was längst (direkt mit der Kollegin) geklärt war, oder eine Person aus einem Schmierzettel heranzuziehen und (mit Namensnennung und ohne, dass diejenige davon wusste) zu instrumentalisieren. Zusätzlich war die Geschichte reichlich ausgeschmückt, auch falsch. Es ekelte mich, er ekelte mich. Ich war erst sprachlos, dann raffte ich mich zusammen und sagte, dass ich das jetzt schon ein wenig eigenartig fände. Und warum er damals nichts … Er unterbrach mich schroff und meinte: „Ich habe damals alles getan und Sie geschützt und Sie wissen es nicht zu schätzen …“ Worum ging es hier eigentlich? Es ging damals um ein Gespräch und zwei verschiedene Meinungen, mehr war nicht mit der Kollegin. Ich müsse doch verstehen, dass er nichts sagen konnte. Schließlich sei er nicht nur der Chef hier, sondern immer noch Priester – und als solcher unterliege er der Schweigepflicht. Er verbiete sich, dass ich sein Verhalten infrage stelle, man sei hier „schon immer auf diese Weise mit delikaten Situationen und übrigens auch schwierigen Personen“ umgegangen, das sei „völlig normal“. Wenn ich das nicht einsehen wolle, sei ich an dieser Stelle wirklich fehl am Platz. Er allein schließlich trage die Gesamtverantwortung für dieses traditionsreiche Haus.

Ich war wie vor den Kopf gestoßen, konnte auch nicht mehr sprechen in diesem Moment. Und als ich es versuchte, bekam ich nichts mehr heraus, meine Kehle war wie zugeschnürt, ich begann zu stottern. Er hatte seinen Triumpf, ich saß da wie ein kleines dummes Kind vor dem übermächtigen Vater. In dieser Situation war ich nur froh, irgendwann gehen zu können. Erlöst war ich aber nicht, vorbei war es nicht. Doch man gab mir keine Möglichkeit der weiteren Klärung mehr. Auf mehrere E-Mails mit meiner Bitte um einen klärenden Termin antwortete mein Chef erst gar nicht. Und als ich ihn nach Wochen einmal auf dem Flur darauf ansprach, meinte er bestimmt: „Ich kann Ihnen in der nächsten Zeit leider keine Gesprächstermine anbieten.“ Damit blieb alles in der Schwebe. Ich konnte weder seinen Vorwurf abwehren noch seine Übergriffigkeit thematisieren. Und mein Chef schien zur Normalität übergegangen zu sein. In mir aber brodelte es: Was hat er damit bezwecken wollen? Will er mich wieder aus der Stelle rausdrängen? Welche Konsequenzen sollte das Gespräch für mich haben? Es blieb alles offen. Und diese Offenheit setzte mir zu, ließ mich sehr angespannt und fahriger werden, so dass ich bald auf der neuen Stelle selber nicht mehr zufrieden war. Nach einem längeren Coaching kündigte ich.

Was mich am Ende dann wirklich schockierte, war das Abschlussgespräch mit meinem Chef. Ich musste neben der Planung meines Abschieds auf die damalige Situation zu sprechen kommen, denn es war mir eine innere Not-Wendigkeit. Um hier einen guten Absprung zu bekommen. Doch ich hätte nicht fragen sollen. Wie es mir dabei ging, das wäre das eigentliche Thema gewesen. Doch ich wollte ihn ja auch verstehen. Und so fragte ich. Was ich zu hören bekam, war dies: „Nun, Sie wollten mich damals einfach nicht verstehen … sodass ich da ein wenig persönlicher werden musste … Ich habe die Zügel ein wenig angezogen, das weiß ich. Und das hat mir – wissen Sie, vor allem natürlich auch als Priester – weiß Gott Bauchweh verursacht. Nein, es ging auch mir nicht gut damit. Aber ich denke, es war wichtig … auch, dass Sie einen guten Weg für sich finden.“ Ich fand keine Worte mehr. Auch hinsichtlich meines Abschieds (der sehr bescheiden ausfiel und zu dem ich keinerlei eigene Vorstellungen einbringen durfte) zeigte er sich als Meister der Verdrehung: „Hier …, habe ich gedacht, könnte Ihr Dank stehen, an den Träger, die Eltern, ja auch mich?!“ Und er schaffte es, mich vollkommen ohne Dank zu verabschieden. Hätte ich diesen nicht reichlich von Eltern bekommen, ich wäre wohl an Ort und Stelle noch zusammengebrochen (das kam dann später).

Anonym

4 Begegnungen mit der Macht – eine Erzählung über das „Ausgeliefertsein“ oder vielleicht auch über die Klügeren, die nachgeben

Das sind wir, eine Gemeindereferentin mit jahrzehntelanger Berufserfahrung und ihr Ehemann, der sich von Kindesbeinen an in Kirche engagiert hat und sehr mit der Kirche verbunden ist.

Nach vielen Jahren fühlten wir uns in unserer Lebenslage nicht mehr so richtig wohl und so wuchs für uns beide die Sehnsucht nach Veränderung. Eine neue Stelle für die Ehefrau und Gemeindereferentin, ein neuer Arbeitsplatz für den Ehemann und ein Wohnort mit Perspektive für die gemeinsame Zukunft sollten es werden. Das alles möglichst in einer lebendigen Gemeinde – politisch wie kirchlich –, denn Mitmachen war unser Ziel.

Bei der Suche nach einer geeigneten Stelle rückte eine Ausschreibung in den Blick, die die Erinnerung an eine frühere Begegnung mit dem dortigen leitenden Pfarrer in den Sinn kommen ließ. Das hat damals super gepasst. Die Gemeindereferentin hat bei diesem Pfarrer herausragende Praktikumserfahrungen gesammelt – das könnte eine Perspektive sein.

Gedacht – gesagt – getan. Die Gemeindereferentin nahm Kontakt auf und es war für sie gleich wieder wie damals: Es fanden gute Telefonate und parallel dazu ein ausführlicher Briefwechsel statt. Auch beim ersten persönlichen Interessentengespräch zwischen uns als Ehepaar und dem Pfarrer hat er uns quasi das Blaue vom Himmel herunter versprochen: ideale Arbeitsbedingungen, „lebbares Arbeitspensum“, lebendige Gemeinden und auch seine tatkräftige Unterstützung für den arbeitssuchenden Ehemann. Alles schien so leicht und entsprach voll unserer Sehnsucht.