Heilsame Gespräche - Reinhold Ruthe - E-Book

Heilsame Gespräche E-Book

Reinhold Ruthe

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Beschreibung

Ein attraktiver Mann betrachtet Frauen als Blutsauger. Doch gleichzeitig sehnt er sich nach einer Frau. Ein Mann ist krankhaft eifersüchtig und misstrauisch. Doch er hat keinen Grund dazu. Eine Frau kämpft gegen Zwänge und Lästergedanken. Doch das verstärkt diese noch. Der bekannte Therapeut Reinhold Ruthe hat authentische Gespräche mit Klienten lebendig und anschaulich aufgeschrieben.

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Seitenzahl: 206

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Reinhold Ruthe

Heilsame Gespräche

Bestell-Nr. 394.893

ISBN 978-3-7751-4893-1 (Print)

ISBN 978-3-7751-4116-0 (E-Book)

© Copyright der deutschen Ausgabe 2008 by SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de

E-Mail: [email protected]

Umschlaggestaltung: Jens Vogelsang, Aachen

Titelbild: Getty Images

Satz: typoscript GmbH, Kirchentellinsfurt

Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in Germany

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:

Neues Leben. Die Bibel, © Copyright der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 by SCM Hänssler, D-71087 Holzgerlingen.

Weiter wurden verwendet:

Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Inhalt

Vorwort

Der Wolpertinger

Entweder – oder …

Eifersuchtswahn

Machtkampf zu zweit

Zwänge machen mich verrückt

Vorwort

Heilsame Gespräche

Heil werden an Leib, Geist und Seele

Seit der Vertreibung aus dem Paradies leben wir im »Unheil«. Und aus dem Zustand des Unheils erwachsen die unterschiedlichsten

psychischen Fehlverhaltensweisen,

Krisen,

Störungen und Krankheiten.

Junge und ältere Menschen, Verheiratete und Unverheiratete suchen Hilfe, wie sie

Lebensprobleme,

Eheschwierigkeiten,

Erziehungskonflikte,

psychische Störungen,

unterschiedliche Ängste,

Arbeitssucht und Burnout lindern und lösen können.

Psychisches Fehlverhalten beruht bei Vielen auf gestörten Beziehungen zu den Eltern,

entsteht aus frühkindlichen Lebenskrisen,

aus Vertrauenskrisen,

aus Verstehenskrisen,

aus Lebenskrisen.

»Heilsame Gespräche« machen deutlich, dass fehlende Zwiegespräche, der mangelnde Austausch von Problemen und Konflikten, Menschen krank werden lassen. Viele Beziehungen leiden, weil keine Heilung in Gesprächen stattfindet. Sprache ist selbstverständlich nicht alles, aber ohne Sprache ist alles nichts. Das Miteinandersprechen macht uns zu Menschen.

Mir liegt daran, Menschen als Therapeut und als Seelsorger zu begegnen. Viele Lebenskonflikte sind auch Glaubenskonflikte. Viele Glaubenskonflikte sind Lebenskonflikte.

Immer geht es um den ganzen Menschen, der bei allen Problemen und psychischen Störungen Lebenshilfe und Glaubenshilfe erfahren soll.

Beratung und Seelsorge verfolgen das Ziel, dass der Ratsuchende mit sich und seinem Gewordensein in Berührung kommt, mit sich und den Mitmenschen seine Schwierigkeiten klärt, und mit sich und dem lebendigen Gott Frieden findet.

Alle Beispiele, Lebensprobleme, Personen und die entsprechenden Einzelheiten und Umstände wurden geändert, sodass sich kein Ratsuchender wiedererkennen wird.

Du, Herr, machst mich stark

für die Schwachen;

Du schenkst mir Spannkraft

für die Verspannten;

Du bietest mir Lösungen

für die Gefesselten;

Du gewährst mir Halt

für die Haltlosen;

Du spendest mir Mut

für die Mutlosen;

Du zeigst mir den Weg

für die Ausweglosen.

Reinhold Ruthe

Der Wolpertinger

Mein Kalender zeigt den 7. Dezember.

Um 14 Uhr hat sich Herr Wolpinger angemeldet.

Ich zucke bei dem Namen zusammen. Irgendeine Assoziation schießt mir durch den Kopf, aber ich kann sie nicht unterbringen.

Pünktlich um 14 Uhr geht die Haustürklingel. Meine Frau bringt mir den Klienten ins Beratungszimmer.

Ich schaue noch einmal im Kalender nach, um den Herrn mit dem richtigen Namen anzusprechen. Vor der Tür auf der Treppe höre ich Schritte, und schon steht er vor mir.

Ich begrüße ihn wohlwollend, und da rutscht mir ein hässlicher Versprecher heraus. »Sie sind Herr Wolpertinger!«

Es ist das einzige Mal, dass der Herr erschrocken lacht und sofort wieder ein ernstes und pessimistisches Gesicht zieht. »Sie haben mich also sofort durchschaut«, sagt er und blickt mir mit gerunzelter Stirn in die Augen. »Ja, ich bin ein verunglücktes bayrisches Fabeltier und ein verunglückter Mensch. Da wissen Sie sofort, was mit mir los ist.«

Plötzlich wird mir klar: Das war die Assoziation, die ich nicht unterbringen konnte. Der Mann heißt Wolpinger und nicht Wolpertinger.

Meine Güte, ist mir dieser Versprecher peinlich! Wolpertinger sind in der Tat bayrische Fabeltiere, die es in Wirklichkeit nicht gibt, die aber in vielen bayrischen Restaurants ausgestellt sind. Künstlich zusammengesetzte Tiere. Vorn ein Eichhörnchen und der Hinterleib sieht aus wie der einer Ratte oder andere wild zusammengesetzte Kreationen.

»Entschuldigen Sie den dummen Versprecher, aber ich muss diese Gedankenverknüpfung im Hinterkopf gehabt haben.« Ich bitte ihn, rechts neben meinem Tisch Platz zu nehmen.

Er schaut sich prüfend den Platz genau an, lässt sich im Sessel nieder und schiebt sich dann mit dem Sessel einen halben Meter weiter von mir weg.

Ich lasse es kommentarlos geschehen. Der Mann braucht offenbar die Distanz.

»Was führt Sie zu mir?«, frage ich und eröffne damit das Gespräch.

Er muss nicht lange überlegen und er spricht sein Problem an. »Wissen Sie, ich habe irgendwie Schwierigkeiten mit Menschen, besonders mit Frauen. Sie haben das bei mir sofort erkannt, jawohl, ich bin eine Art Wolpertinger, irgendwie passt das alles nicht zusammen. Ich bin ein Mann und doch kein Mann, ich bin ein Arbeitstier, das wird geliebt, das wird gebraucht. Aber ich will Liebe von einer Frau, und die bekomme ich nicht. Ob Sie mir das glauben oder nicht, Frauen sehen mich gar nicht. Ich habe offenbar nichts Männliches. Verstehen Sie, ich bin ein verunglückter Mensch. Und der Wolpertinger ist ein verunglücktes Tier. Können Sie sich einfühlen, wie es in mir aussieht?«

»Noch nicht, aber ich werde mir Mühe geben. Erlauben Sie mir zunächst, dass ich eins richtigstelle: Sie sind überzeugt, ich hätte auf Anhieb etwas Widersprüchliches in Ihnen erkannt, eine Art innere Zerrissenheit. Nein, den verunglückten Menschen habe ich Ihnen nicht angesehen. Es ist richtig, Ihr Name erinnerte mich offensichtlich an das Fabeltier, und schon rutschte mir der Versprecher heraus.«

Der Klient schüttelt den Kopf. »Nehmen Sie’s mir bitte nicht übel, wir müssen darüber auch in keinen Streit geraten. Aber das Bild trifft genau meine innere Verfassung. Ich bin kein Fisch und kein Fleisch. Ich bin ein Roboter, aber kein Mann. Ich kann arbeiten, aber kein weibliches Wesen interessiert sich für mich.«

»Sie wollen mir also klarmachen, dass sich noch niemals ein Mädchen oder eine Frau für Sie interessiert hat.«

»Vielleicht interessieren sie sich für meine Muskeln, aber nicht für mich.«

Ich lasse meine Blicke über seinen Körper gleiten. Für meine Begriffe sitzt ein ausgesprochen athletischer Mann vor mir. Er hat breite Schultern, einen kräftigen Oberkörper und starke Arme.

Vor allem sein hervorstechendes energiegeladenes Kinn ragt aus seinem Gesicht heraus. Ich nehme meinen Schreibblock vom Tisch und den Kugelschreiber und sage: »Ich unterbreche ungern, ich möchte eben ein paar Daten aufschreiben, dann machen wir genau an der Stelle weiter, wo wir eben stehen geblieben sind. Sind Sie einverstanden?«

Herr Wolpinger nickt und zieht dabei seine Jacke aus, die er über den Sessel hängt.

Dem Klienten ist es warm geworden. Ich habe mich nicht geirrt. Er sitzt da mit starken Armen, die von den Ärmeln eines weißen Oberhemdes bedeckt werden. Seine Hände allerdings sind eher schlank und verraten keinen Mann, der täglich schwer arbeiten muss.

»Sie kommen aus D., das haben Sie mir schon am Telefon gesagt, und sind von Beruf?«

»Studienrat« Er spricht es relativ leise aus und schaut mich dabei lauernd an.

Ich habe eine Frage auf der Zunge, aber ich verkneife sie mir. »Und wie alt sind Sie?«

Er holt tief Luft, als sei ihm die Frage peinlich. »Leider schon 34 und ohne Frau.« Er seufzt ein zweites Mal und breitet sein inneres Elend vor mir aus.

»Wohnen Sie allein oder noch bei Ihren Eltern?«

»Gott sei Dank wohne ich seit Jahren allein, aber ich pflege noch einen intensiven Kontakt zu meinem Vater. Meine Mutter ist schon acht Jahre tot. Sie war lange krank. Sie ist an Krebs gestorben.«

Ich überprüfe noch einmal Telefon und Anschrift und erwähne, dass wir insgesamt 90 Minuten Zeit zum Gespräch haben.

Ich greife den Faden unseres Gesprächs wieder auf. »Wenn Sie Ihr Problem auf den Punkt bringen, wie würden Sie es formulieren?«

Wahrscheinlich hat mein Gegenüber es schon hundertmal gedacht: »Schlicht und einfach zusammengefasst: Wie kommt es, dass sich Frauen für mich nicht interessieren?«

»Woher wissen Sie das?«

»Gute Frage.« Er schüttelt seinen Kopf hin und her und überlegt. »Keine zeigt es mir. Keine bemüht sich um mich. Keine kommt auf mich zu.«

»Das heißt: Sie erwarten, dass Frauen auf Sie zukommen, dass sie den ersten Schritt wagen?«

Er prüft das Gehörte. »Offensichtlich sieht es so aus.«

»Finden Sie das richtig?«

»Wie will ich sonst wissen, dass es die Richtige ist?«

Über die Logik bin ich ein bisschen verblüfft. »Stellen Sie sich bitte vor, eine Frau würde so ähnlich denken wie Sie. Männer und Frauen würden ein Leben lang aneinander vorbeilaufen. Oder?«

»Ehrlich gesagt, darüber habe ich noch nie nachgedacht.«

»Wer hat Ihnen denn vermittelt, dass es besser ist, wenn Frauen den ersten Schritt wagen und Männer passiv bleiben?«

Er holt tief Luft und blickt gen Himmel. Laut denkt er vor sich hin. »Ja, wer hat mir das vermittelt?«

Er reißt seinen Kopf herunter und sagt mit Bestimmtheit: »Ganz klar, mein Vater.«

»Und was hat er Ihnen gesagt?«

»Junge, hat er oft zu mir gesagt, Frauen sind eine Sorte für sich. Nimm dich in Acht. Sie wollen nur dein Geld. Wenn sie dich geangelt haben, sitzt du in der Falle. Du arbeitest, und sie lassen es sich gut gehen. Männer sind die Arbeitstiere. Sie schenken dir ab und zu ein bisschen Lust und du arbeitest dich für sie kaputt.« Er verschränkt die Arme vor der Brust und kapselt sich ein.

»Und Sie sind von dieser Wahrheit überzeugt?«

»Genau das ist meine Frage. Ja, ich muss wohl davon überzeugt sein. Denn ich verhalte mich ja so.« Er räkelt sich unzufrieden im Sessel und macht ein unglückliches Gesicht.

»Darf ich Sie bitten, es noch einmal zu formulieren, wie Sie sich verhalten?«

»Ich bin bei Frauen absolut passiv. Ich denke ja gar nicht daran, eine anzusprechen. Mein Bild ist, ich sitze sofort wie ein armes Kaninchen in der Falle.«

Die letzten Sätze habe ich wörtlich auf dem Schreibblock festgehalten. Ich lege ihn beiseite und schaue ihn fragend an.

»Wie fühlen Sie sich dabei, wenn Sie das so formulieren?«

»Elend, hundeelend!«, seufzt er. Dabei schüttelt er seinen Kopf hin und her, so, als stimme er selbst nicht mit sich überein. »Diese Erkenntnis schmerzt unheimlich. Wenn Sie einverstanden sind, muss ich hier heute abbrechen. Es ist doch nicht vorstellbar, dass ein erwachsener Mensch Jahrzehnte seines Lebens falschen Überzeugungen nachgelaufen ist!« Er erhebt sich, reißt seine Jacke vom Sessel und wirft sie sich über die Schultern. Seine Stimme ist weicher und seine Augen sind feuchter geworden. Im Gehen dreht er sich noch einmal um: »Aber ich brauche einen neuen Termin.«

Automatisch greife ich nach dem Kalender.

»Kann ich ihn bald haben? Möglichst noch vor Weihnachten.«

Ich schlage den Dezember auf. »In einer Woche um die gleiche Zeit?«, frage ich.

Er holt ein Notizbuch aus der Tasche, überfliegt einige Seiten und bestätigt mir den vorgeschlagenen Termin. Dann zieht er aus der Hosentasche sein Portemonnaie und blättert mir das Honorar auf den Tisch. An der Tür dreht er sich abrupt um. »Ich glaube, Sie haben mich durchschaut.«

Ich drücke ihm die Hand und wünsche ihm für die Advents- und Weihnachtszeit Gottes reichen Segen.

Erstaunt hält er noch mal inne.

»Den wünsche ich Ihnen auch. Ich kann ihn mehr als gut gebrauchen.«

Pünktlich erscheint eine Woche später Herr Wolpinger zum nächsten vereinbarten Gesprächstermin.

Ich öffne selbst die Haustür und ein ausgesprochen stattlicher Mann kommt mir entgegen. Ich kann mir nicht helfen, es ist ein wirklich gut aussehender junger Herr, der auf viele Frauen Eindruck machen muss. Jedenfalls ist das meine Meinung als männliches Wesen. Er trägt einen flott geschnittenen Kurzmantel in Schwarz. Einen hellgrauen Schal hat er sich raffiniert um den Hals gelegt. Ein Auftreten wie ein männliches Model. Groß, schlank, männlich.

Ich stehe vor einem Rätsel. Für ein solches Exemplar von Mann soll sich keine Frau interessieren?

An der Garderobe hat mein Klient seinen Mantel abgelegt. Er trägt ein rotes Jackett, darunter ein schneeweißes Hemd. Die Kragenecken schließen sich wie angepasst um den Hals. Ein Werbefoto für männliche Kleidung in einem Magazin hätte nicht besser ausfallen können.

Ich begrüße ihn, und wir gehen hintereinander ins Beratungszimmer. Seine Gesichtszüge sind ernst. Rechts und links von der Nase ziehen sich zwei tiefe Falten bis in die Mundwinkel.

Ich habe wieder den Schreibblock in der Hand und eröffne das Gespräch. Mir liegt nichts daran, mit ein paar hingeworfenen Sätzen die Atmosphäre aufzulockern. Ich packe den berühmten Stier bei den Hörnern und knüpfe da an, wo wir das letzte Mal stehen geblieben sind. »Offenbar ist Ihnen beim letzten Gespräch etwas aufgestoßen.«

Er nickt. »Sauer aufgestoßen. Das trifft es genau.«

»Und wie charakterisieren Sie das?«

Er öffnet einen Kragenknopf, um freier sprechen zu können. »Mein Eindruck ist, mein Vater übt einen unglaublichen Einfluss auf mein Leben aus. Er hat offenbar mein Denken und meine Überzeugungen mehr geprägt, als ich wahrhaben will.«

»Und womit ist ihm das gelungen?«

»Ja, dabei sollten wir bleiben. Das ist eine Geschichte für sich.«

Ich ermutige ihn, die Erfahrungen mit seinem Vater zu erzählen.

»Mein Vater ist ein ganz schlichter Mann, im Grunde ein Hilfsarbeiter. Er hat nie einen anständigen Beruf zu Ende gelernt. Aber er kann reden wie ein Buch, sagen wir mal, wie ein verführerischer Politiker. Man ist fasziniert, man hängt an seinen Lippen. Und was er sagt, glaubt er selbst. Ja, das ist mein Eindruck.«

Ich bohre nach.

»Und was glaubt er selbst?«

»Als Erstes«, Herr Wolpinger wird richtig leidenschaftlich, »Frauen sind teuflische Wesen, die wollen nur einen Mann erobern, versorgt werden und sich bedienen lassen. In seinen Augen sind Frauen Schmarotzer, Parasiten und raffinierte Ausbeuterinnen. Ich glaube, meine Mutter hat er ähnlich beurteilt.«

»Sie glauben das. Woran wird das Ihrer Meinung nach deutlich?«

»Im Grunde habe ich meine Mutter nur krank und schwach erlebt. Sie hat gestöhnt, sie hatte überall Rheuma und litt jahrelang an Krebs. Alles wurde ihr zu viel. Mein Vater und ich mussten alle Arbeiten im Haus und den Einkauf erledigen.« Er schaut zum Fenster hinaus und ist mit sich beschäftigt.

Ich lasse einen Augenblick die Zeit verstreichen.

»Geschwister hatten Sie nicht?«

Herr Wolpinger stöhnt laut auf. »Wissen Sie, das ist erst recht ein tragisches Kapitel.« Er macht eine Pause und überlegt, ob er darüber berichten soll.

Ich will ihn nicht drängen. »Wenn Ihnen die Sache mit den Geschwistern unangenehm ist, lassen wir sie zunächst beiseite.«

Man sieht, wie es in seinem Kopf und in seinem Gesicht arbeitet. »Meine Schwester kommt mir im Moment völlig in die Quere. Sie ist ein amoralisches Luder, ein Nichtsnutz. Ich könnte sie auf den Mond schießen, am liebsten ohne Rückfahrkarte.«

So erregt habe ich den Klienten noch nicht erlebt. Er ruft sich dann selbst zur Ordnung: »Als Christ schäme ich mich, dass ich so respektlos über meine Schwester gesprochen habe. Aber sie hat alle Anstandsgrenzen überschritten und nur Schande über unsere Familie gebracht. Ich komme darauf zurück, aber nicht jetzt.«

»Sie sprachen eben von Ihrer kranken Mutter, und dass Ihr Vater und Sie alle anfallenden Arbeiten übernehmen mussten.«

»Mein Vater war stolz auf mich und sagte mir bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, dass ein gesunder Körper und eine gut bezahlte Arbeit das Glück auf dieser Erde beinhalte. Er vergaß dann nie, eine herablassende Bemerkung über meine Mutter zu machen. Sie war ihm offensichtlich ein Klotz am Bein.« »Manchmal tat sie mir leid, und manchmal hatte ich auch den Eindruck, sie mogelt sich auf unsere Kosten durchs Leben.« Er ergänzt: »Sie ist schon etliche Jahre tot und meine Erinnerungen an Mutter sind nicht berauschend. Mein Frauenbild hat sie auch keineswegs positiv beeinflusst.«

»Aber Ihr Vater scheint es verstanden zu haben, Sie gegen Mädchen und Frauen zu immunisieren. Für ihn waren ein gesunder Körper und eine gut bezahlte Arbeit das A und O im Leben.«

Herr Wolpinger beugt sich vor und ist wieder in seinem Element. »So ist es. Als eines Tages der Schulleiter auf der Elternkonferenz meinen Vater bat, mich unbedingt auf eine höhere Schule zu schicken, da glänzten seine Augen. Er hatte aus vielerlei Gründen keine höhere Schule besuchen können, und in mir lebte er das, was er selbst nicht werden konnte.«

Diesen Faden greife ich auf. »Wie machte er das?«

»Er konnte unglaublich ermutigen. Abends kontrollierte er meine Schularbeiten. Nein, er kontrollierte nicht, er berauschte sich daran, er lernte immer mit. Er konnte die Vokabeln auswendig und schwärmte dann davon, was aus ihm wohl geworden wäre, wenn er die gleichen Chancen wie ich gehabt hätte.«

»Und wie hat das auf Sie gewirkt?«

»Er hatte mich in der Hand. Ich war ihm hörig. Wir waren ein Herz und eine Seele. Mit mir blühte er auf. Wenn ich in der Schule Erfolg hatte, war er glücklicher als ich. Wenn ich gute Noten nach Hause brachte, sprang er herum, als wären es seine Zensuren. Meine Mutter schüttelte damals nur den Kopf, und meine Schwester war nachmittags aus dem Haus verschwunden, weil sie dieses Affentheater – wie sie sagte – nicht aushalten konnte. Was tat sie? Jetzt sage ich es zu meiner Schande: Sie ging auf den Strich und verdiente sich als Achtzehnjährige dickes Geld. Sie hurte mit reichen Männern herum und kaufte sich einen eleganten Sportwagen.« Er hält sich die Hände vors Gesicht und stöhnt leise vor sich hin. Dreimal wiederholt er die Worte: »Eine Schande, eine Schande, eine Schande.«

Ein, zwei Minuten vergehen wortlos. Ich möchte, dass der innere Prozess formuliert wird. »Mögen Sie Ihre Gefühle in Worte fassen? Können Sie sagen, wie Ihr Vater und Sie damit umgegangen sind?«

»Meine Schwester hat unter Vater gelitten. In seinen Augen war sie eine Schlampe. Wie oft hat er sie als ›stinkend faul‹ tituliert. Die Schule stand ihr bis zum Hals. Sie sah im Lernen keinen Sinn und musste sich anhören, dann eben eines Tages mit Prostitution ihr Geld verdienen zu müssen.«

Ich bin entsetzt und frage vorsichtig: »Ist es vorstellbar, dass Ihr Vater Ihre Schwester in die Prostitution hineingetrieben hat?«

»Meine Güte, darüber habe ich noch nie nachgedacht! Aber ich erinnere mich, dass meine Schwester ihm eines Tages entgegengeschleudert hat: ›Was bist du nur für ein Mensch! Dir geht es ja nur ums Geld. Deine Frau und deine Tochter sind dir ja völlig gleichgültig. Wenn nur Geld dein Gott ist, kann ich es ja auch mit Hurerei verdienen!‹« Er denkt einen Augenblick nach. »Ja, das hat sie gesagt.«

»Und wie hat Ihr Vater darauf reagiert?«

Herr Wolpinger legt wieder seine Stirn in Falten. In Kopf und Hirn arbeitet es. »Merkwürdigerweise hat er nicht zurückgeschrien. Ich glaube, er fühlte sich getroffen. Er drehte sich um, ich konnte nicht sehen, ob er Tränen in den Augen hatte.«

»Glauben Sie, Ihre Schwester hatte mit ihren Vorwürfen recht?«

»Es fällt mir sehr schwer, ihr zuzustimmen. Schließlich ist sie in die Prostitution abgerutscht. Aber für meinen Vater sind Arbeit und Geld eins. Vielleicht redet er nur von Arbeit und meint Geld. Ich habe eine gute Arbeit und verdiene in seinen Augen gutes Geld. Für ihn ist beides wichtig. Wahrscheinlich bin ich ihm auch nur wichtig, weil ich sogar studiert habe.«

Ich hake noch einmal nach. »Und die Frauen sind ihm gleichgültig?«

»Frauen sind Weiber, sie haben eine hinterhältige Seele. Er hat nur abfällig von ihnen geredet. Ich kann mich nicht erinnern, dass er sie jemals positiv herausgestellt hätte.«

»Offensichtlich haben seine Vorstellungen auch Ihre Seele stark beeinflusst.«

Herr Wolpinger windet sich im Sessel. »Wir haben uns geliebt. Ich war mit ihm identisch.«

»Sie waren, sagten Sie eben.«

Wieder kommt aus dem Sessel ein fast animalisches Stöhnen. »Ja, ich komme nicht umsonst zu Ihnen. Ich stecke in einem fürchterlichen Zwiespalt. Noch haben seine Frauenbilder mein Innenleben zerfressen. Noch sind Frauen Fratzen für mich. Können Sie das nachempfinden?«

Ich sitze gespannt da und lasse die Worte auf mich wirken.

Plötzlich springt mein Gegenüber aus seinem Sessel hoch. Er schaut verstört auf seine Armbanduhr. »Ich muss sofort gehen. Nervlich komme ich an meine Grenze. Das halte ich nicht aus. Morgen stehe ich übernächtigt vor der Klasse. Das kann ich mir nicht leisten.«

Wieder das Spiel wie beim letzten Mal. Er zieht aus seiner Brieftasche Geldscheine, legt sie auf den Tisch und fragt nach einem neuen Termin. Dann entschuldigt er sich: »Ich bin nicht Ihretwegen so durcheinander.«

Er weist mit der Hand auf seine Brust. »Hier passiert eine kleine Revolution! Ich muss da durch, aber nicht mit einem Paukenschlag.«

Ich blättere in meinem Kalender und gehe hinter ihm her. »Eine Woche später, der gleiche Tag, die gleiche Uhrzeit?«

Er hat die Tür zum Flur schon geöffnet. »Kann kommen, was will, ich bin da.« Vor mir läuft er die Treppenstufen hinauf.

Auf dem Flur hat er schon seinen Mantel vom Bügel gerissen. »Ich muss an die frische Luft, sonst platze ich!«

In den zweiten Ärmel darf ich ihm noch hineinhelfen.

»Von Herzen wünsche ich Ihnen Gottes Segen.«

»Nichts brauche ich mehr als den. Und Ihnen wünsche ich das Gleiche.«

Der Schlüssel dreht sich einige Mal im Schloss, ich öffne die Tür und mein Klient steht draußen.

Kurz vor dem Weihnachtsfest kommt Herr Wolpinger wieder. Draußen regnet es.

Kein Schnee, kein richtiges Weihnachten, keine Festtagsstimmung.

Nach der Begrüßung schüttelt er noch mal den Regen ab. Er ist ohne Schirm gekommen. »So ähnlich sieht es in mir auch aus. Meine Tränen können mit dem Regen mithalten. Wäre ich nicht vor ein paar Jahren Christ geworden, ich hätte jetzt jeden Halt verloren.«

Er legt seinen nassen Mantel ab, und ich gehe vor ins Beratungszimmer.

»Sie haben meine Seele in ein Irrenhaus verwandelt. Alles fliegt durcheinander. Nichts ist mehr, wie es war.«

Den Schreibblock habe ich mir auf den Schoß gezogen. »Wir war’s, und wie sieht es jetzt aus?«

»Im Grunde ist es richtig, Sie zwingen mich, allem ins Auge zu schauen. Bisher habe ich artig alles geschluckt. Ich habe mich als wertvolle Arbeitskraft gesehen, ich gehe sonntags zur Kirche. Gott liebt mich, weil ich meine Energien für die Gemeinschaft zur Verfügung stelle, nur mit dem anderen Geschlecht, da gibt es Probleme.«

»Und wie sehen die Schwierigkeiten konkret aus?«

»Sehen Sie, die Theologen in der Gemeinde sagen, dass Gott die Frau als Gehilfin für den Mann geschaffen habe oder als Gegenüber. Ich weiß nicht, was richtiger ist. Außerdem kann ich mit beidem nichts anfangen.« Er macht eine schnippische Handbewegung, so, als wolle er beide Aussagen in den Abfall kippen.

»Was stört Sie daran?«

»Für mich ist die Frau keine Gehilfin, sondern eine Nutznießerin, den Ausdruck ›Blutsaugerin‹ habe ich mir ja schon abgeschminkt. Sie will den Mann einfangen, und dann beutet sie ihn aus. Dass sich das Millionen oder sogar Milliarden Männer gefallen lassen, das ist in meinen Augen pervers. Da muss Gott doch auf einem Auge blind gewesen sein!« Er presst seine Lippen aufeinander und schaut mich eindringlich an.

Ich denke einen Augenblick nach, denn ich will ihn auf keinen Fall noch tiefer in sein verbohrtes Denken hineintreiben. Dann provoziere ich ihn aber doch. »Sie haben recht, entweder ist Gott auf einem Auge blind oder Sie sind mit einem falschen Bild der Frau infiziert. Verstehen Sie, Millionen Männer sind mit einer wunderbaren Gehilfin und mit einem liebevollen Gegenüber gesegnet. Vorsichtig formuliert glaube ich, dass Millionen Männer sich nicht geirrt haben können.«

Mit einem Ruck richtet er sich wieder im Sessel auf. »Sie wollen mir also klarmachen, dass ich von allen guten Geistern verlassen bin, oder?«

»Nein, da gehen Sie entschieden zu weit. Lediglich Ihr Frauenbild stelle ich infrage.« Ich spüre, er kämpft um seine Position.

»Warum sind denn so viele Partnerschaften und Ehen unglücklich? Außerdem geht in zwei Drittel aller Fälle die Scheidung von der Frau aus. Und viele Männer sind anschließend die Dummen, weil sie zahlen müssen. Wie Schafe gehen sie naiv und vertrottelt in die Falle, und dann wird ihnen das Fell auch noch geschoren.«

So können wir nicht weitermachen. Das läuft auf einen primitiven Machtkampf hinaus. Ich lasse seinen letzten Schuss verhallen und bin nicht gewillt, erneut ein Gegenargument zu verfeuern.

Eine Stille entsteht.

Herr Wolpinger hampelt unruhig im Sessel hin und her.

Ganz zaghaft frage ich ihn: »Was hindert Sie, bei dieser klaren Überzeugung zu bleiben?«

Er antwortet auch ganz leise: »Die Sehnsucht.«

»Doch wohl nicht die Sehnsucht nach einer Frau?«

»Doch.«

»Aber bitte, denken Sie an die Fallen, die diese Weibsbilder überall aufgestellt haben. Das bisschen Sehnsucht wird von den Blutsaugern gestillt und schon geht´s an Ihr Fell.«

»Aber das scheint doch eine völlig falsche Einschätzung zu sein.«

»Das scheint? Vor einigen Minuten waren Sie noch so überzeugt, dass Sie für diese Überzeugung auf den Scheiterhaufen gegangen wären.«

»Aus Angst wahrscheinlich.«

»Aus Angst wovor?«

»Dass mein Vater mit seinen Prophezeiungen recht haben könnte. Aber er ist alt. Er wird demnächst 70 Jahre. Er hat keine Sehnsucht, er braucht keine Liebe und er will keine Liebe. Er kann das alles leicht sagen. Aber ich …« Aus dem Sessel schreit es nach Liebe.

»Und was wünschen Sie sich?«

»Ich liege im Bett und werde verrückt. Manchmal ist mein Kopfkissen total verdrückt. Ich stelle mir vor, ich habe eine Frau an mich gepresst.«

»Sie stellen es sich vor!«

»Ich lasse es nicht richtig zu, das ist mein Problem. Meine antrainierten Ängste sind größer als meine Liebesgefühle.«