Heimat hinter Grenzen - Lise Gast - E-Book

Heimat hinter Grenzen E-Book

Lise Gast

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Beschreibung

"Und damit war die Reise beschlossen." Nach fast dreißig Jahren beschließt Lise Gast und ihre Familie eine Fahrt in ihre alte Heimat Schlesien. Und so packen sie ihr Zeltzubehör in drei Autos und fahren Richtung Caménz. Damals, 1945, kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges, hatten sie ihre Heimat verlassen müssen und waren nach Westdeutschland geflüchtet. Hier hatten sie sich zwar ein neues Zuhause aufgebaut, doch die Erinnerung an die alte Heimat, die sie damals nur schweren Herzens verließen, blieb groß. Und so ist die Rückkehr an die alten Stätten auch eine überwältigende Erfahrung – verbunden mit Schmerz und Freude. Doch die Freude überwiegt bei allen Beteiligten, als sie ihre vertrauten Orte aufsuchen. Das Wiedersehen mit der Vergangenheit verläuft versöhnlich und so ist das Glück aller auch groß, als sie freundlich und gastfrei von den Menschen, die nun hier leben, empfangen werden. HEIMAT HINTER GRENZEN ist ein bewegendes Buch über die Erkenntnis, dass man Heimat nicht verlieren kann, denn man trägt sie in seinem Herzen! -

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Lise Gast

Heimat hinter Grenzen

Eine Fahrt ins alte Schlesien

Mit Zeichnungenvon Lilo Rasch-Nägele

Saga

Heimat hinter Grenzen

© 1975 Lise Gast

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711509517

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Und damit war die Reise beschlossen.

»Am fünften August also«, sagte Ernst, mein Ältester, und steckte abschließend seinen Terminkalender in die Brusttasche. Am fünften August würden wir nach Schlesien fahren, nach Caménz, in die alte Heimat, aus der wir vor neunundzwanzig Jahren fortmußten. Eine Reise in die Vergangenheit.

»Wenn das die Mummi wüßte«, setzte Ernst noch hinzu und lachte hinterhältig. Und da mußten wir alle lachen.

›Die Mummi‹ ist meine Mutter, zur Zeit einundneunzig, aber quicklebendig und ganz ›da‹. »Wenn das die Mummi wüßte« – das wurde bei uns schon immer zitiert, bei allen unvernünftigen, aber schönen Entschlüssen. Etwa wenn wir in eine Baracke zogen, statt gut bürgerlich eine Etagenwohnung in der Stadt zu mieten, wenn wir wieder ein Pferd kauften, statt endlich ordentliche Matratzen anzuschaffen – jedenfalls immer, wenn wir etwas ›Ungezogenes‹ taten. In den Augen der Mummi kommen wir aus dem Alter der Ungezogenheit nie heraus. Was aber sagte sie, als sie dies erfuhr?

»Nach Caménz? Kinder, da fahr ich mit!«

Damit hatten wir natürlich nicht gerechnet. Meine Schwester bekam die ehrenvolle Aufgabe, es ihr auszureden. Sie ist die Jüngste und hat entsprechend Stand bei ihr. Es gelang ihr auch schließlich mit allerlei Diplomatie. Die Mummi hat im ganzen Leben noch nie gezeltet – wir mußten mit Zelten fahren –, sie war nie ›auf Fahrt‹ gewesen, sondern höchstens ›verreist‹. Jetzt aber warf sie alle festgemauerten Grundsätze über Bord und wollte unbedingt mit. Als sie dann endlich die Unmöglichkeit einsah, stellte sie ihren Rückzug so dar, als verzichte sie unsertwegen. Wir ›Kinder‹ sollten mal sehen, wie es wäre, wenn kein Erwachsener dabei ist ...

Im Vertrauen gesagt: wir fühlten uns alle ein wenig beklommen angesichts dieser Unternehmung, einer wie der andere. Bedenken, wie man mit Paß und Visum klar kommt, ohne polnisch lesen zu können, Sorge, was bei Autoschäden zu unternehmen sei, und Angst vor der Erschütterung. Diese war für mich die größte. Man sehnt sich nicht neunundzwanzig Jahre, ohne eine entzündete Stelle an der Seele zu bekommen; wie weh würde die tun, wenn ...

Aber ich mußte mit gutem Beispiel vorangehen, ich, nunmehr die Älteste. Daß ich das war, hatte auch wieder Vorteile. Ein paar Jahrzehnte lang war immer ich es gewesen, die bei allen gefährlichen Vorstößen voran ging, Hemmnisse beseitigte und Zuversicht ausstrahlte. Jetzt durfte ich sagen: »Geht ihr voran.« Ein wunderbares Gefühl, neu, aber schön.

Elf Mann in drei Wagen: meine drei ältesten Kinder, die sich noch gut an zu Hause erinnerten – sie waren damals elf, zehn und neun Jahre alt gewesen –; meine viel jüngere Schwester mit Sohn und Schwiegertochter; einer meiner Schwiegersöhne mit Schwester, und schließlich die zwei »Ziegen«, älteste Enkelin mit Base. Herrlich, sich einem solch jungen Abenteuer anschließen zu dürfen! Ich trainierte schon seit Wochen darauf, Fotos von früher anzusehen, ohne mir sofort die Nase putzen zu müssen, Namen auszusprechen, die man jahrelang nicht nannte, Autokarten zu studieren. Wir hatten eine aufgetrieben, auf der der neue polnische Name der Ortschaft groß gedruckt stand und der alte, ›eigentliche‹, klein darunter. Allein der Anblick dieser Karte ließ das Herz zucken. Dabei haben wir alle gesunde Herzen, Gott sei’s gedankt. Nur vielleicht nicht ganz vernünftige ... Noch eine Angst verfolgte uns, nämlich die, daß im letzten Augenblick noch etwas dazwischen kommen könnte. Eine schreckliche, wenn auch, wie die Kinder sagten, etwas alberne Angst. ›Welt, geh nicht unter, Himmel, fall nicht ein, eh ich mag bei der Liebsten sein‹, heißt es bei Ludwig Uhland. Bei der Liebsten? ›Eh ich mag in der Heimat sein.‹ Keine Liebste der Welt kann so ersehnt, so erträumt sein wie eine verlorene Heimat.

Viele warnten uns. »Ihr erlebt doch nur eine Enttäuschung«, hörten wir immer wieder, »ich möchte das nicht, ich würde nur weinen –«

Wir gelobten uns gegenseitig, nicht zu weinen. Oder erst später. Oder alle zusammen. Und so lebten wir auf diese Reise zu, auf keine Warnung hörend, vor Spannung vibrierend, den Tag wild heransehnend und gleichzeitig vor uns herschiebend: wer weiß, ob es überhaupt je kommt ...

Es kam. Am Sonntag vor dem Tag aller Tage sammelte sich die Schar der Teilnehmer bei mir. Am Montag in aller Frühe wollten wir starten, vor Eintreffen der Post, ganz, ganz früh, damit nichts mehr dazwischen kommen konnte. Keiner brachte es fertig, die letzte Nacht zu schlafen. Um Mitternacht erreichte uns der Anruf einer vierköpfigen Familie, die sich im Osten abgesetzt hatte und nun Unterkunft suchte. Wunderbar, sie konnten in mein Haus!

»Wir holen euch morgen früh«, versprach Ernst. »Hier ist alles leer für acht Tage!«

Zwei Stunden später bekam meine Schwester derartige Zahnschmerzen, daß wir ohnehin nicht so früh aufbrechen konnten, wie wir geplant hatten. Sie mußte noch einen Sachkundigen aufsuchen, der ihr Luft schaffte, was bekanntlich nicht vor acht Uhr morgens möglich ist. Gottlob war er dann wenigstens da und nicht auf Urlaub, wie gefürchtet, und half. Mittags starteten wir, nachdem die Neuangekommenen eingewiesen worden waren: tut, was ihr wollt, hier ist der Schlüssel, da der Kühlschrank, dort das Bad. Wie gut, daß jemand meine Blumen gießen wird!

Nacheinander rollten wir ab, erster Treffpunkt: Ansbach. Die Wagen waren vollgestopft mit Zelten und Zeltzubehör, Schlafsäcken, Luftmatratzen, Kochgeschirr. Dazu kam das Gepäck mit Dingen persönlichen Bedarfs – das war das wenigste –, und dem, was wir auf den Rat von Sachkundigen mitnahmen, um die jetzige sehr arme Bevölkerung zu erfreuen: Gewürze, Puddingpulver, Strümpfe, Zigaretten. Kaugummi hatten wir im letzten Augenblick vergessen, ich selbst finde ihn widerlich, aber es wäre doch schön gewesen, viel davon austeilen zu können. Denn überall bettelten uns Kinder darum an, sobald wir hielten; so sollten wir es erleben.

Einiges über das Technische einer solchen Reise wußten wir von einer Bekannten, eigentlich Unbekannten, die mit ihrem Mann voriges Jahr in Schlesien war. Sie kennt meine Bücher und schrieb mir eines Tages einen Brief, wie das manche Leser so tun, und dann telefonierten wir öfters miteinander. Von ihr bekamen wir die Adressen von zwei Leuten, die deutsch sprechen; einer Frau bei Neiße und einem pensionierten Lehrer in Krummhübel. Sie sollten dann eine große Hilfe für uns sein.

Diese freundliche Schlesierin hatte uns, ehe wir starteten, einen Kuchen geschickt, einen Bergsteigerkuchen für unseren Riesengebirgstag. Der enthält Unmengen von Rosinen, Mandeln, Nüssen, Schokolade, Feigen und Pflaumen, stellt also eine Kraftnahrung dar, die uns den Aufstieg auf die Koppe erleichtern sollte. Sie fügte eine Art Gebrauchsanweisung bei: dicke Scheiben schneiden, diese wieder in Quadrate aufteilen, die etwa so groß sind wie Pralinen, und dann beim Essen lange, lange daran kauen. Auch Kaffee hatte die gute Seele beigepackt. Und beides für die Bekannte in Ottmachau noch einmal, mit einem Brief dazu. Wir waren gerührt und verstauten alles sorgfältig. Was zog man an? Mit einer Vernunft, die, wie die Kinder sagten, meine Jahre überstieg, verzichtete ich auf die uralte Windjacke, die dreißig Jahre mit mir durchhielt, und kleidete mich zivil. Denn auch dieses geliebte Kleidungsstück von früher würde mir ja nicht die Jugend zurückgeben, was ich mir übrigens gar nicht wünschte; ich bin gern alt. Pullover also und Anorak; auch der Rübezahl wird sich sicher inzwischen zeitgemäß kleiden.

In Ansbach trafen wir uns wieder, bummelten durch die Stadt und futterten heiße Wurst auf dem Trödelmarkt. Gudrun, die Schwiegertochter meiner Schwester, jungverheiratet und lachlustig, fing an, billig einzukaufen – Töpfe und andere Haushaltungsgegenstände. Wir verhinderten mit viel Wortaufwand, daß sie die vollbeladenen Wagen noch voller lud. Wir mußten ja weiter.

In Waidhaus, kurz vor der Grenze zur Tschechoslowakei, versammelten wir uns wieder, diesmal in einem alten, gemütlichen Lokal, das ein ausgezeichnetes Bier ausschenkt. Wir fingen vergnügt an zu trinken und hörten nicht oder nur mit halbem Ohr auf die mahnende Stimme des Reiseführers, der an das Suchen eines Zeltplatzes erinnerte. Meine Schwester samt Angehörigen wollten noch einmal in einem Bett schlafen, sie waren also aller Sorgen ledig. Wir aber –

Die freundliche Wirtin, die uns beobachtete und nicht recht wußte, sind wir ein Verein, eine Expedition oder eine Großfamilie, bot uns schließlich an, in ihrem Hof zu zelten. Das war ein Wink des Himmels. Vergnügt bauten wir unsere luftigen Häuschen auf ... Die jungen Leute, geschickt und erfahren, schoben mich freundlich beiseite: »Davon verstehst du nichts!« Dabei habe ich schon gezeltet, als noch keins von ihnen das Licht der Welt erblickt hatte! Ich sagte aber nichts und ließ mir alles gern gefallen. Diese Reise war für mich, wie ich schon erwähnte, ein neues Kapitel in meinem Leben. Endlich durfte ich mit gutem Gewissen sagen: schlagt ihr vor, ich ziehe nach. Wir saßen später noch lange am bundesdeutschen Wirtshaustisch, aßen, tranken, rauchten und waren in Hochstimmung. Der Anfang war gemacht.

Wir waren bisher noch nicht vollzählig beisammen. Meine älteste Tochter hatte ihren Urlaub, wie eigentlich jedes Jahr, in den USA verbracht, war mit dem Schlauchboot den Colorado hinabgefahren und dann zehn Tage im Gebirge geritten. An diesem Tag wollte sie bis Frankfurt fliegen und von dort direkt nach Prag, um zu uns zu stoßen. Die Zeit war knapp bemessen, es konnte sein, daß wir sie verpaßten. Das machte das Ganze noch spannender.

Am nächsten Tag starteten wir zeitig, denn wir hatten noch einen Umweg vor. Mein Mann, der Vater unserer acht Kinder, starb vor neunundzwanzig Jahren in einem russischen Gefangenenlager in der heutigen Tschechoslowakei. Sein Grab wollten wir suchen oder wenigstens den Friedhof. Margot, meine älteste, eben jene, die wir in Prag zu treffen hofften, hatte ihn schon einmal besucht; sie hätte uns führen können, wäre sie schon jetzt bei uns gewesen. Den Ort wußten wir: Pacov. Wir rollten los, passierten die erste Grenze. Papiere in Ordnung. Weiter. Gen Osten, gen Osten!

Von jetzt an fuhren wir immer so, daß wir einander in Sichtweite behielten, also im Convoi. Landschaftlich ist es hier schön, vor allem durch die vielen Seen, die wir passierten. Die Straßen sind gut, nur reichlich schmal. Wir wuschen uns an einem See, lachten viel, futterten auch, wie wir die ganze Reise lang futtern würden, dauernd hungrig, dauernd kaffeedurstig. Ernst, mein Ältester, fing an zu filmen, machte auch Dias und Schwarzweiß-Bilder, diese fürs Familienarchiv. Überhaupt klickten alle Apparate, kein Verbot hinderte, nur ich ›sah es mir dort an‹, ich habe kein Geschick zum Fotografieren.

Prag kannte ich noch nicht, hatte nur früher einmal in dem Film ›Die goldene Stadt‹ einen Hauch davon verspürt, wie einmalig schön es sein muß. Mein Mann hatte sich immer gewünscht, es zu sehen, daher durfte ich, gleichsam in seiner Vertretung, darauf bestehen, daß wir es kennenlernten. Vorher aber ging es nach Pacov. Wir erreichten die kleine Stadt programmgemäß und standen auf dem schiefen Marktplatz mit der großen Kirche an der oberen Seite. Hier hat unser Vater die Wochen und Tage vor seinem Tode verbracht; diese Landschaft war also die letzte, die er in sich aufnahm: das Land zwischen Sachsen und Schlesien.

Ernst meinte, wir sollten beim Bürgermeister nach dem Friedhof fragen. Der aber war nicht da; es war inzwischen drei Uhr nachmittags geworden. Wir suchten den Pfarrer auf – auch der nicht da. Wir fragten bei der Miliz, die überall herumstand in erdfarbenen Uniformen. Doch auch das führte nicht weiter. Sie verstand uns nicht. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, in einem Land zu sein, in dem man sich nicht, wie sonst eigentlich überall, mit englisch helfen kann.

Schließlich sprach ich einen grauhaarigen Taxifahrer an. Alte Leute verstehen vielleicht noch deutsch, dachte ich. Und wirklich, er verstand. Er wußte auch den Friedhof, reagierte mit großer, herzerwärmender Freundlichkeit. Er hatte auch die zwei Lager gekannt. Ich reichte ihm Stift und Papier. Er entwarf eine Skizze von der Lage des Friedhofs – so nahe war der, mein Gott!