Heimat - Niederrhein - Paul Eßer - E-Book

Heimat - Niederrhein E-Book

Paul Eßer

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Beschreibung

Paul Eßer möchte mit seinen fundierten Gedanken und hintergründigen Geschichten über Heimat und die Region Niederrhein den Leser anregen, sich meinungsstark und kritisch in die aktuelle Diskussion über Heimat, Migration, Überfremdung etc. einzubringen, und ihm bei der Beantwortung der Frage helfen: Gibt es eine niederrheinische Identität und kann sie meine Heimat sein?

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Paul Eßer, geb. 1939 in Mönchengladbach, Studium der Germanistik, Anglistik und Philosophie in Köln, Tätigkeit als Lehrer in NRW und im Ausland, Promotion mit einer sprachphilosophischen Arbeit an der Universität Düsseldorf, Veröffentlichung von Sachbüchern, Romanen, Lyrik, Träger des Rheinlandtalers (2009).

www.paul-esser.de

Inhalt

Vorwort

HEIMAT

Heimat, Topos und Utopie.

Eine Liebe in den Zeiten der Abstraktion

Heimat. Prinzip Hoffnung, Hakenkreuz und karierte Bettbezüge

Über den Abschied von der Heimat und ihrem Gegenteil

Heimat und Fremde

Kurzessays:

La Paloma

Gedanken zur Vielfalt

Verklärung

NIEDERRHEIN

Die Welt im Kopf des Niederrheiners und umgekehrt

Nomen est omen? Mythogene Nebelschwaden

So oder so: ein Land dazwischen

Landschaft oder Gelände?

Das Ewig-Ländliche, ein bittersüßer Amputationsschmerz

„Die Provinz zu verachten, ist provinziell“

Europaregion Niederrhein

Brain drain

im

global village

Hüsch: Psychograph und Vermarkter der Region

Farbverschiebungen

Wanderer, kommst du nach Gla...

Funkenmariechen und Sankt Marie - ein abgefahrenes Profil

Flachlaute

Landschaftssprache: ein Tonfall im Wegfall

Eine Flucht ins Banale: Die Katastrophe der Dialektdichtung am Niederrhein

Heimat Niederrhein

Nachruf und Aufruf

Endnoten

Bildnachweis

Vorwort

An der Heimat zu leiden, ist die Verpflichtung eines jeden Autors!

Über Heimat als Amputationsschmerz und Leideform, als Liebe ohne Bodenhaftung und ewiges Krähwinkel, als nostalgischer Reflex und lebensgefährliches ideologisches Konzept, aber auch als humanistische Zielvorstellung und utopische Glücksverheißung macht sich der Autor in den essayistischen Beiträgen und den Analysen der folgenden Sammlung Gedanken. Eine lange Zeit schien sie bewohnt von senilen Rauschebärten in altdeutscher Lodentracht, galt auch als Seelenasyl für die Konsumenten von Sehnsuchtsschnulzen oder Heftchenromanen mild-schwachsinnigen Inhalts. Die Zeitläufe schienen der Heimat den Rest zu geben: nachdenklichere Zeitgenossen assoziierten Marschschritt bei ihrer Beschwörung durch Vertriebenenfunktionäre, dachten an Wimpel und Wappen und Trommelklang. Heimat löste eher Schauder aus als Sehnen.

Aber dann war es plötzlich wieder virulent: das verdächtige und missachtete Gefühl, regte sich seit Mitte der 90er Jahre allerorten und quer durch. Und wenn man heute die AfD oder die Anhänger der „Identitären Bewegung“ betrachtet, so haben sie sich dieses Gefühl und seine Ablehnung durch weite Teile der intellektuellen Eliten erfolgreich zu Nutze gemacht, haben den fundamentalen Wandel der deutschen Gesellschaft im Zuge von „Globalisierung“ und „Digitalisierung“ - so schwammig diese Begriffe auch sind - zu ihrem Hauptfeind erklärt. „So gesehen ist der Aufstieg des Rechtspopulismus eine Revolte gegen einen Liberalismus, der als übersteigert und gefährlich für die Gemeinschaft wahrgenommen wird“, schreibt Sigmar Gabriel.1 Und die Mainstream-Politiker versuchen gegenzusteuern indem sie Heimatministerien installieren (in Bayern, NRW und auf Bundesebene): „Das Projekt der Globalisierung [...] ist zum überragenden politischen Problem der kleinen Leute geworden“, sagt Innen- und Heimatminister Horst Seehofer, und setzt auf die Rückkehr des Staates als Kontrollorgan: „Das neoliberale Denken muss durch ein ordoliberales Handeln ersetzt werden, und das beginnt mit der Würdigung eines sicht- und spürbaren Staates“, erklärt der CSU-Mann in der Sprache linker Politiker.2 Zu denken, dass sich das Thema nur so zurückgewinnen ließe, obwohl man Heimat nicht „über den zweiten Bildungsweg rekonstruieren“ kann, wie Richard David Precht richtig bemerkt, ist naiv.3

Aber was ist passiert? Die Entwicklung zu grenzenloser Kommunikation, die Normierung und Nivellierung unserer Kulturerfahrungen, die verstörend schnelle Digitalisierung des Alltags4, die wachsende Mobilität und die allgegenwärtige Flexibilisierung, die Anonymisierung der Sozialbeziehungen als Folge der Urbanisierung, die Atomisierung der Arbeitswelt: So lesen sich im dürren Deutsch der soziologischen Abstraktion die Gründe für den zunehmenden Verlust innerer und äußerer Heimaten, eine Verlusterfahrung, die mittlerweile zu jedermanns Alltag gehört. Die durchkapitalisierte Welt fordert dauernde „Kämpfe“.

„Wer vor fünfundzwanzig Jahren Kind war, hat schon Mühe, zu erklären, wie anders das Leben damals gewesen ist. Wer vor fünfzig Jahren Kind war, lebte tatsächlich in einem anderen Land, in einer anderen Welt. Es ist mehr fort als blieb. So groß sind die Unterschiede, dass es kaum möglich ist, sie den Jungen zu erklären, ohne komisch zu wirken. Unsere Kinder können unsere Kindheit nicht mehr verstehen. [...] Das Leben in offenen Gesellschaften ist für jeden mit riesigen Vorteilen, aber auch erheblichen Verlusten verbunden. Denn offene Gesellschaften schaffen sich sozusagen ständig ab. [...] Altern in einer solchen Gesellschaft bedeutet: lange gesund bleiben, lange leben. Aber es bedeutet auch, einer Welt, der man traute, beim Untergehen zuzusehen. [...] Es bedeutet: Man wird zum Fremden in der eigenen Heimat, und nicht etwa, weil Fremde zuwandern, sondern weil das ganze Land von einem weg wandert.“5

Mit dem Aufstieg des Individualismus zur Maxime der Lebensgestaltung und mit der Vergangenheitsverachtung der neoliberalen Silicon Valley-Propheten verschwanden in den letzten rund 30 Jahren u.a. nicht nur die Autoritären, sondern auch die Autoritäten: „Anything goes“ als Schlachtruf der Postmoderne verdrängte auch Orientierung und Sicherheit.6„Wir haben heute im Silicon Valley mächtige Menschen, die eine Vergangenheitsvergessenheit regelrecht predigen. [...] Gut ist nur, was in der Zukunft liegt. [...] Diese Ideologie widerspricht völlig dem Lebensgefühl der allermeisten Menschen“ [...], denn: „Die Menschen lieben die Vergangenheit, weil sie ein Teil ihrer eigenen Identität ist“.7 Der quasi-religiöse Glaube an Disruption, an die Zerstörung bestehender Ordnungen, beschränkt sich bei den Technologiefirmen, die vordergründig von Werten wie Gemeinschaft, Teilen oder Humanität sprechen, nicht mehr nur auf ihre Produkte, sondern zielt darauf ab, die Menschheit mit Inhalten zu füttern, sie mit einer - der eigenen - Weltsicht auszustatten.8 Ziel ist es, Politik so reibungslos wie eine App zu betreiben, statt mit Hilfe mühsamer - analoger - Methoden wie Debatte, Streit und Kritik.9

Diese Entwicklungen führen u.a. zu einer neuen Wertschätzung der Heimat.10 Dem „Global Player“ steht nun der Lokal- oder Regionalpatriot gegenüber, der die Zugehörigkeit zu seiner Region/ Stadt mit einem Retro-Kfz-Kennzeichen (z.B. KK oder JÜL) dokumentiert.11 Rührend ist es allerdings, wie zwischen Hochhausfassaden aus dunklem Glas und Beton eingeklemmte Patrizier- aber auch Arbeiterdomizile älteren Datums wieder aufgeputzt werden, Geranien an allen Fenstern, Efeu aus dem Trottoir, wie der zu dünnem Sozialgrün verkommene Stadtwald zum Erholungs- und Kommunikationszentrum hochstilisiert wird, zum neuzeitlichen Dorfanger, wie allerorten Fachwerk freigelegt und Schiefer verbaut wird, wie alte Volksbräuche wiederbelebt und die Eigentümlichkeiten, die lokalen und regionalen Besonderheiten überall akzentuiert werden; wie das rotweiß karierte Tüchlein auf dem Glas mit industriell gefertigter Marmelade das Heimelige des Hausgemachten nachtäuschen soll.

Was in den 90er Jahren wie eine Modewelle aussah, scheint aus tieferen Quellen zu fließen. Diejenigen, die in hässlichen Betonsilos aufwachsen mussten, in den Einfamilienhauswüsten an der Peripherie der großen Städte, oder in den anonymen Flachdach-Bauklotzhäuschen, die wie Giftpilze in den Zentren der Großstädte aus dem Boden schießen (und deren Architekten meistens auf dem teuer und liebevoll restaurierten Bauernhof auf dem Land leben), diejenigen, die in der Nähe von Geleisen, Hochspannungsmasten und Autobahnen ihr Spielfeld suchen mussten, wenn man sie nicht zur Ruhigstellung vor dem Fernseher oder dem PC geparkt hatte, und die sich von den Intellektuellen als „Massenmenschen“, oder schlimmer „Konsumidioten“ und „Plastikgeschöpfe“ beschimpfen lassen mussten12, die zeigen sich nun plötzlich sensibel für die neue Verlusterfahrung. Aber: „Man darf nicht Heimat als Trostpflaster für die Grenzdebilen betrachten“, so Ijoma Mangold. Heimat sei der Wunsch dazu zu gehören, einen Ort zu haben, an dem man sich nicht erklären muss. Wenn linksliberale Kosmopoliten Heimatliebe ohne Ausgrenzung predigen, laufen sie Gefahr, heuchlerisch zu sein: „Sie werfen den anderen etwas vor, was sie selber nicht tun, nämlich dass diese die Flüchtlinge etc. nicht integrieren wollen. Sie selber sind gar nicht erst in der Situation, dass sie mit Flüchtlingen oder Migranten konfrontiert sind, weil sie bereits in so gefilterten Lebensumständen leben, dass Migranten für sie keine Problematik darstellen“, so die Soziologin Cornelia Koppetsch.13

Und sie überlassen damit denjenigen die Deutungshoheit über Begriffe wie „Heimat“ oder „Nation“, die damit Ressentiments bedienen wollen, ein fataler Fehler. Das hoheitliche Ringen um den Heimatbegriff sei eine „Reaktion auf die Enteignung der Lebenswelten“, so Oskar Negt. Dabei beklagen nicht nur die vermeintlich schlichteren Gemüter den Verlust von Heimat, denn, „der Untergang der westlichen Mittelschicht ist das große schmutzige Geheimnis der Globalisierung.“14 Sie wird ersehnt auch unter anderem Wortgewand. Manch einer, vor allem von denen mit höherer Bildung, sagt „Identität“ und meint das gleiche. Bei vielen wächst das Misstrauen gegen das allzu stromlinienförmig verfügbar Gemachte, das Geleckte und Gelackte. So sind es nicht nur die zahlreichen Opfer der gewaltsam erzwungenen Heimatlosigkeit, die aufgrund von im homo sapiens immer noch wirksamen Steinzeitmechanismen aus ihren Ländern und Wohngebieten Vertriebenen, für die Heimat zum Leidwesen eskaliert. Auch manch einer, der mit leerem Blick und leerem Herzen durch elegante Fußgängerzonen und überfüllte Supermärkte streift, sich müde irgendeinem Bildschirm entgegenwirft oder zu anderen Fluchtgiften greift, ist Opfer einer Vertreibung, ist womöglich ärmer dran als der zerlumpte Typ, der auf den Luftschächten der U-Bahn die Nacht verbringt. „Kein Dach über der Seele“ kann tiefer schmerzen als äußerlich im Regen stehen! Dem Vagabunden blieb vielleicht sogar, so zynisch es dem angepassten Ohr klingen mag und so paradox, ein Mehr an Heimat: der sinnlich erfahrbare Raum, in dem sich sein Überlebenskampf vollzieht, klare, gesellschaftlich vorgegebene Orientierungspunkte und die im praktischen Lebensvollzug gewonnene Erfahrung von Feindschaft und Solidarität.

Auch der Niederrhein, und darum geht es im zweiten Teil des Buches, wird seit einigen Jahren - nicht nur aus touristischen Vermarktungsgründen - zu einer Region stilisiert, die „Heimat“ sein soll. Ein gemeinsamer territorialer Lebensraum zur Schaffung eines kollektiven Selbstbildes anhand von Kollektiveigenschaften der Bewohner, die trotz aller offensichtlichen Unterschiede, geglaubt und öffentlich bekundet werden.15 Das führt sofort zu der Frage: Gibt es den Niederrhein überhaupt, oder haben wir es mit einer schon jahrhundertealten Landschaftssimulation zu tun? Und: existiert „der Niederrheiner“, und wenn Ja, was zeichnet ihn aus? Die Sprache? Der Humor? Das Essen?

Wer eignete sich besser dazu, diese Fragen zu beantworten und zum Thema Niederrhein, zu seiner Sprache, Kultur und Geschichte etwas zu sagen, als jemand, der zugleich Eingeborener und Sprachkundiger ist, der sein Leben tatsächlich in der vielgeschmähten Region verbracht hat, und zwar als Sprachlehrer und -wissenschaftler sowie als Schriftsteller.16

Paul Eßer/ Torsten Eßer, Viersen, Dezember 2019

Heimat, Topos und Utopie. Eine Liebe in Zeiten der Abstraktion

„Dieses Wort ‚Heimat‘ muß man wieder neu aufwerten, die hybriden, die heuchlerischen Schichten, die gewisse Leute auf dieses Wort gelegt haben, muß man abtragen und versuchen, es von unten auf wieder mit Sinn zu füllen.“ 17

Wieder hat der Zeitgeist einen Schwenk gemacht. Vorne dran und hinterher wie immer die, die gern als seine Programmierer und Chronisten posieren: die Poeten. Diesmal geht es Richtung „landeinwärts“.18 Vorstöße in die gegenständliche Realität finden allgemeines Interesse, Sondierungen in Dörfern und Städten, Heimatkunde, die der Erkundung des Menschen dient, Annäherung an uns selbst über unsere Geschichte und Geschichten, und daher so ganz verschieden von früheren Trends in die Welt im Winkel.

Großer Beliebtheit erfreut sich eine heimatgeschichtlich orientierte Sozialforschung, die sich vor allem in der „Lebenslaufforschung“ spiegelt, der Beschäftigung mit Lebensgeschichten unterhalb der offiziellen Geschichtsschreibung, einer Art Offenlegung des subkutanen Geflechts der Alltagshistorie unter der glatten Haut verordneter Leseweisen mittels einfacher Interview- und Aufzeichnungstechniken, ein Verfahren, das in England als oral history bekannt geworden ist. Im deutschen Sprachraum betrieb zum Beispiel die Kulturzeitschrift „Der Alltag“ (CH) die erwähnte Diversifizierung der Blickrichtung, indem sie konsequent die Borniertheit des Blickes denunzierte, der im Vorhandenen nur sehen mag, was er schon weiß, indem sie also den Blick schärfte für die Wahrnehmung der inländischen Fremde.

Heute wie ehedem hat der Zug in die Heimat verschiedene Klassen, oft sind die Motive der drittklassig Reisenden gar nicht so verschieden von denen der erstklassig Untergebrachten, wie die akademische Kritik uns glauben machen will. Im Soziologendeutsch sind es die Entfremdungseffekte der modernen Massenzivilisation und die Enteignung unserer persönlichen Lebensumwelt durch sich rasant beschleunigende Veränderungsprozesse, die das Unbehagen provozieren, das uns die Heimat wieder mit anderen Augen sehen läßt, mit liebevollerem, aber auch kritischerem Blick als zuvor.

In unserem zu einer einzigen gigantischen gesichtslosen Stadt zusammenwachsenden Land fühlten sich Millionen angesprochen durch ein sechzehnstündiges Filmwerk, ein bäuerliches Familienepos aus einem imaginären Hunsrückdorf, das eine klare Wende zu einem neuen Heimatverständnis spiegelt. Nichts mehr von „Grün ist die Heide“ und Silberwald und Alpenglühen, den Flucht- und Kompensationsmythen der Nachkriegsaufbaugesellschaft. Im Focus: die miterlebbare Alltagsgeschichte alltäglicher Dörfler, ein Trend im Neuen Deutschen Film, der international Beachtung und Nachahmung gefunden hat.

Sogar die fortschrittlicheren Wissenschaftler und Intellektuellen des Kulturbetriebes, die dem Begriff nie einen emanzipatorischen Sinn abgewinnen konnten, haben ganz und gar ihre Abstinenz der Heimat gegenüber aufgegeben. „Auf der Suche nach Heimat“ ist beispielsweise eine Aufsatzsammlung der Kulturzeitschrift „Niemandsland. Zeitschrift zwischen den Kulturen“ überschrieben.19

Selbstverständlich spiegelt sich die neue Richtung auch in Buchtiteln, Feuilletons und Seminarveranstaltungen: Überall ist Heimat wieder da, allerdings eine andere Heimat als im traditionellen Heimatroman. Auch die wissenschaftliche Volkskunde beginnt mit dem Klischee einer pittoresken heilen Welt aufzuräumen, das Spinnstubengemütlichkeit, Sonntagstanz und Großfamilienidylle dem seelenlosen Grau der Großstädte entgegengesetzte und mit seiner verlogenen Schollenromantik auch politisch folgenschwer die Mehrheit der schlichten Gemüter hierzulande beeinflußt hat.20 Natürlich lebt die Beschränkung des Blickes auf Trachtenvereine und Bauernmöbel im modischen Interesse am Rustico-Stil fort, wird aber von der Volkskunde längst als „Folklorismus“ abgetan.21 Andere Autoren versuchen, die „wahre“ Provinz ins Zentrum zu rücken und sie als rettendes Mittel in heilloser Zeit anzupreisen: die Provinz als atmosphärischer und sozialer locus amoenus, in idealer Weise geeignet, Erholung von den Zumutungen des 20. Jahrhunderts zu bieten.

Zu dem solcherart nicht selten verklärten Kleinkosmos in Dorf oder Stadtviertel treten aber auch Darstellungen von Heimat voll ätzender Kritik und boshafter Detailgenauigkeit. Doch selbst in dieser Heimatdichtung bleibt ein Gefühl der Bindung spürbar: Was einen kalt läßt, damit beschäftigt man sich nicht mit solcher Versessenheit, oft schon Besessenheit. „Über den grünen Klee der Kindheit“, „Glückliches Österreich“ oder „Landessäure“ von Alois Brandstätter seien hier als stellvertretend angeführt oder Guntram Vespers Miniaturen über das Dorfleben,22 von Karl Krolow als „träge, deprimierende Stillleben“ charakterisiert, Skizzen, die in der Tat böse Nachrichten aus abgelegenen Landstrichen bringen. Was vertraut beginnt, idyllisch oft, endet hier finster mit Mord und Totschlag. Oft setzen sich die drastischen Genre-Szenen aus Zitaten zusammen, die aus alten Zeitungen, Werken der Volks- und Heimatkunde oder Bauernkalendern stammen. Bei allem Grotesken und Komischen, das sich aus Vespers Montage solcher Realitätsfragmente ergibt, spüren wir die geistige und seelische Not der häufig auch materiell Verelendeten, die Personal und Opfer des Landlebens liefern.

In dieser Art Heimatdichtung ist an die Stelle des Klischees die reale Heimat der Menschen getreten. Längst stellt sich Dorfleben nicht mehr als eine der Hektik und Leere des städtischen Getriebes entgegensetzbare Idylle dar, wie sie dem geheimen Sehnen der traditionellen Heimatdichter entsprach. Schon Hermann Broch hatte die populäre Gattung des Heimatromans benutzt, um gegen die agrarromantische, rückwärtsgewandte und verklärend-harmonisierende Darstellung des Landlebens anzuschreiben. „Die Verzauberung“ kann als Vorläufer einer Art von Heimatromanen gesehen werden, wie sie sich in den sechziger und siebziger Jahren mit Autoren wie Thomas Bernhard, Gerhard Fritsch, Franz Innerhofer und Norbert Gstrein in Österreich durchsetzte.23

Nicht nur für den städtischen Angestellten, den Prototyp dessen, der nichts mehr anstellt, des Voyeurs, der fremde Leben in sich aufsaugt, weil er kein eigenes hat, auch für die Bewohner der vermeintlichen Idylle selbst ist diese zum Blendwerk geworden, zum gigantischen Selbstbetrug, und die moderne Heimatdichtung kann nichts anderes tun als von dem Glück in geordneten Verhältnissen, der meist noch etwas erweiterten Kleinfamilie mit Gottesfurcht, Lebenszuversicht und Zweitwagen den längst brüchigen Lack zu kratzen und die übliche banale Hölle, bevölkert von den üblichen deformierten Gestalten, sichtbar werden zu lassen. Versucht heute ein Heimatdichter die Realität zwischen die Zähne zu bekommen, zeichnet sich auch für ihn die Negativutopie eines Systems von exakt angepaßten ferngesteuerten Sozialautomaten am Horizont des jeweiligen Kleinkosmos ab, und er beginnt zu verstehen, warum die poetische Kleingärtnerei der Naturlyriker, welche die Utopie aus dem Blumentopf züchten, soviel mehr Anklang beim Publikum findet. Andererseits weiß er, daß Dichtung sich nicht hält, wenn sie sich heraushält. Und da von einem gewissen Bewußtseinsniveau ein Zurück ins Triviale mit zuviel Schmerz verbunden ist, nimmt er kleine Auflagen in Kauf und die Heimat so ins Visier, wie sie ist.