Heimweh im Paradies - Martin Mittelmeier - E-Book

Heimweh im Paradies E-Book

Martin Mittelmeier

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Beschreibung

Los Angeles in den 1940er-Jahren: Die Westküste ist ein Traumort, die Exilanten aus Europa trauen ihren Sinnen nicht, das Farbenspiel, das Licht, das Meer. Hier sind sie alle gestrandet, die im Deutschland der Nationalsozialisten keine Heimat mehr haben oder haben wollen: Arnold Schönberg, Vicki Baum, Theodor W. Adorno, Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger, Helene Weigel, Max Horkheimer, Hanns Eisler, Franz und Alma Werfel – und allen voran: Thomas Mann. Sie feiern, reden sich die Köpfe heiß, langweilen sich, streiten darum, wie ein demokratisches Deutschland nach Hitler aussehen könnte. Thomas Mann ist der König der Emigranten, bewundert, beneidet, angefeindet. In seinem Haus in Pacific Palisades will er im ›Doktor Faustus‹ die genuin deutschen Wurzeln des Nationalsozialismus ans Licht bringen. Und fügt sich in die Rolle einer Galionsfigur des guten Deutschlands. Atmosphärisch dicht und lebensnah erzählt Martin Mittelmeier von den Hoffnungen, Begegnungen, Anfeindungen und Triumphen des Nobelpreisträgers, der sich unter Palmen fragt, was das ist und wie das gehen könnte: deutsch zu sein, Kunst zu machen und die Menschen zu lieben. »Die Sonne von Südkalifornien gibt für Martin Mittelmeier die ideale Beleuchtung ab, um mit großer Leichtigkeit die schweren Fragen von Kunst und Politik zu stellen.« PHILIPP FELSCH

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Seitenzahl: 209

Veröffentlichungsjahr: 2025

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»Wie kann man über Thomas Mann heute schreiben? So: geistreich, komisch, mit zarter Ironie und lässigem Ernst.«

Saša Stanišić

Thomas Mann ist der König der Emigranten, bewundert, beneidet, angefeindet. Er bringt in seinem Haus in Pacific Palisades Luther, Dürer und den Teufel zum Sprechen. Und spricht mit seinen kämpferischen Vorträgen das aktuelle Amerika an wie sonst keiner der deutschen Intellektuellen. Er fügt sich in die Rolle einer Galionsfigur des guten Deutschlands, aber will im ›Doktor Faustus‹ die genuin deutschen Wurzeln des Nationalsozialismus ans Licht bringen. Er amüsiert die anderen, weil er so weltfremd, steif und altmodisch ist, aber kann sich im Kino begeistern wie ein Kind.

Die USA sind ihm eine Zeit lang hoffnungsvolles Gesellschaftsmodell, bevor er sie erschreckt vor den Auswüchsen der Nachkriegsära verlässt.

Foto des Autors: © Niklas Berg

Martin Mittelmeier, Jahrgang 1971, war Lektor und Programmleiter bei renommierten Publikumsverlagen. Seit 2014 arbeitet er als freier Lektor und Autor. Im Jahr 2019 war er Visiting Scholar an der Rutgers University in New Jersey. Zudem ist er Honorarprofessor am Institut für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt erschien von ihm ›Freiheit und Finsternis – Wie die Dialektik der Aufklärung zum Jahrhundertbuch wurde‹ (2021).

Martin Mittelmeier

Heimweh im Paradies

Thomas Mann in Kalifornien

E-Book 2025

© 2025 DuMont Buchverlag GmbH&Co.KG, Amsterdamer Straße 192, 50735 Köln, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Die Nutzung dieses Werks für Text- und Data-Mining im Sinne von §44bUrhG behalten wir uns explizit vor.

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: Stefanie Naumann

Satz: Angelika Kudella, Köln

E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN

1938

Goethe in Hollywood

Endlich ist wieder etwas Ruhe. Den ganzen März ist er durch die USA getourt, von Ost nach West, von New York, Washington, Philadelphia über Chicago und Stationen in Missouri, Oklahoma und Utah nach Los Angeles. Überall brachte er seinen Vortrag zum »zukünftigen Sieg der Demokratie« zu Gehör.

In Los Angeles hat Thomas Mann den Vortrag im »kolossalen Amphitheater« des Shrine Auditorium gehalten, das Platz für 6000 Leute hat. Jetzt macht er hier mit seiner Frau Katia und seiner ältesten Tochter Erika einen knappen Monat Pause. Sie haben sich in einem Bungalow des prächtigen Beverly Hills Hotel am Sunset Boulevard eingemietet, ungefähr auf der Mitte zwischen Downtown Los Angeles und dem Pazifik – jenes Hotel, das mit seiner palmenumstandenen Auffahrt und den drei runden Türmchen eines der vielen ikonischen Bilder von Los Angeles liefert. Die Eagles werden es auf dem Cover ihrer Schallplatte »Hotel California« abbilden. Das Frühstück ist zu Ende, Mann zieht sich in den Nebenraum zurück und die Schiebetür zu. »Es ist gut, wieder zu schreiben«, schreibt er. Mann weiß das Spektakuläre seines Rückzugsorts durchaus zu schätzen. In der Sonne sind »alle wilden Farben van Goghs; die Luft so rein, man hätte sie nicht nur atmen, man hätte sie trinken mögen«, staunt Vicki Baum, die Autorin von »Menschen im Hotel«, über die Atmosphäre der Küste von Los Angeles. Doch nun ist das Licht für Thomas Mann zu wild und zu hell; um schreiben zu können, zieht er die Jalousien zu, die Palmenfächer sind trotzdem noch zu sehen, und der Duft der Orangenbäume, die in Blüte und Frucht zugleich stehen, ist ohnehin omnipräsent. Aber das ist für Mann nicht von Bedeutung. Wichtig ist ihm der diskrete Luxus, das hergerichtete und umgehend wieder abgeräumte Frühstück, dass er keine Zeit und keine mentalen Kapazitäten für unerquickliche Verrichtungen verliert. Wenn das gewährleistet ist, dann ist es eigentlich wie überall: Tisch, Sessel, Lampe, Bücherreihe, Thomas Mann. Zuhause ist, wo er schreiben kann.

»Der zukünftige Sieg der Demokratie« ist ein optimistischer Titel für seinen Vortrag, denn just in diesem März 1938 hat Hitler mit dem Anschluss Österreichs der Demokratie eine weitere empfindliche Niederlage zugefügt. Aber genau das will er seinen Zuhörern deutlich machen: dass die Demokratie nur siegen kann, wenn sie auch siegen will. Laut Mann gelingt ihr das nicht mit den ihr gemäßen Mitteln des Abwägens, Entgegenkommens, Verhandelns. Der Faschismus will nicht abgewogen werden, will nicht, dass ihm irgendetwas entgegenkommt. Und schon gar nicht will er seinerseits abwägen oder entgegenkommen. Die Strahlkraft des Faschismus bestehe ja gerade darin, diese Momente rationaler Politik als vergangen und unzeitgemäß zu disqualifizieren. Und sich als das Prinzip von Vitalität und Dynamik gerieren kann, das nun an der Zeit sei.

Das geografische Zuhause ist für Mann mit dem Anschluss Österreichs ein Stück weiter in die Ferne gerückt. Er lebt seit 1933 in der Schweiz, aber ist sie nach diesem März nicht auch zu unsicher geworden? Gut, dass er für ein Zuhause nicht mehr als Tisch, Sessel, Bücherreihe und dienstbare Geister braucht. »Was verschlägt es, daß ich ›weit weg‹ bin? Weit weg wovon? Etwa von mir?«, schreibt er in seinem Apartment in Beverly Hills.

Trotz der Vortragspause sind die Manns in diesem Monat ständig unterwegs, wenn auch nur im Umkreis von Los Angeles. Der Literaturnobelpreisträger und auch in Amerika erfolgreiche Autor wird hofiert und eingeladen. Zahlreiche Freunde, Bekannte und Kollegen sind in Los Angeles schon heimisch geworden, haben Deutschland in den 1920ern wegen der aufregenden neuen Möglichkeiten des Filmgeschäfts verlassen oder sind bald nach Hitlers Machtantritt emigriert. Sein alter Freund aus Münchener Tagen, der Schriftsteller Bruno Frank, gibt mit seiner Frau Liesl den Manns zu Ehren eine Gartenparty in ihrem Zuhause am North Camden Drive, in dem vorher Charlie Chaplin gewohnt hat – die Manns könnten von ihrem Hotel aus einen zwanzigminütigen Spaziergang dorthin unternehmen, wenn man in Los Angeles spazieren gehen würde. Hundert Leute genießen »heavenly Kuchen und Kirschwasser« und die reizvolle Mischung aus Wiener Kaffeehaus und amerikanischem Get-together. Mann trifft den Regisseur Ernst Lubitsch, den Theaterzauberer Max Reinhardt und Carl Laemmle, den Studiochef von Universal, der mit siebzehn Jahren in die USA ausgewandert ist. Reinhardt lädt die Manns später in seine pompöse Villa in den Hollywood Hills ein: weit weg vom Pazifik, aber mit einem atemberaubenden Blick auf ein anderes Meer, das metaphorische Meer der Lichter von Los Angeles, das dort weit unter einem liegt. Reinhardt konnte sich das unter anderem von der hohen Gage für die Verfilmung seiner Inszenierung des »Sommernachtstraums« leisten, die in der Freilichtbühne Hollywood Bowl, nicht weit von dieser Villa entfernt, erfolgreich Premiere hatte. Im Hintergrund der Bowl ist der »Hollywoodland«-Schriftzug zu sehen, das »land« wird erst 1949 entfernt.

Laemmle lädt Mann in seine Studios, auch bei MGM kann Mann die Trickwelt der künstlichen Szenerien von Dschungel, südfranzösischem Hafen und deutscher Kleinstadt bewundern, bei Jack Warner, einem der Warner Brothers, nimmt Mann an einem Fundraising-Diner teil. Er trifft Walt Disney, mit dem er menschlich nicht warm wird, dessen Innovationen ihn aber beeindrucken. Man zeigt ihm den Rohschnitt des »Zauberlehrlings«, und er sieht sich »Schneewittchen« an. Was sich mit dieser Trickfilmtechnik für Möglichkeiten eröffnen, mühelos kann man Zeit und Raum überwinden und sich zugleich in die wunderbarsten, sonderlichsten Details verlieren! Das passt zu Manns Riesenprojekt, den Roman über Joseph, den Sohn des biblischen Jaakob: »Joseph und seine Brüder«. Mann hat es in den 1920er-Jahren begonnen, drei Bände sind bereits veröffentlicht, aber er ist noch immer nicht fertig. Die Welt der Filmstudios ist auch deswegen für Mann interessant, weil die Möglichkeit einer Verfilmung der Joseph-Romane im Raum steht. In den MGM-Studios kann Mann Robert Montgomery beobachten, einen der großen Stars dieser Jahre, den Mann sich gut als Besetzung für Joseph vorstellen kann.

Bei Vicki Baum sind die Manns zu einer Soiree geladen. Die Verfilmung von »Menschen im Hotel« unter dem Titel »Grand Hotel« mit einem Großaufgebot an Stars wie Greta Garbo und Joan Crawford war ein Riesenerfolg. Baum hat zudem einen lukrativen Vertrag mit MGM für Drehbucharbeiten, und so kann Thomas Mann bei der Soiree besichtigen, zu welchen Annehmlichkeiten Erfolg in Los Angeles führen kann. Baum hat sich in Pacific Palisades, in der Gegend, die findige Immobilienmakler Riviera getauft haben, am Amalfi Drive eine zweistöckige Villa im spanischen Stil mit fünf Schlafzimmern und sechs Bädern auf insgesamt 650Quadratmetern Wohnfläche bauen lassen. Eine breite Fensterfront im Arbeitszimmer eröffnet den Blick auf den Canyon und den 3000 Quadratmeter großen Garten, Swimmingpool inklusive. Auch dort treffen die Manns auf zahlreiche Gäste, die meisten aus Deutschland und Österreich. Arnold Schönberg ist da, der große Erneuerer der Musik, der mit der Zwölftontechnik eine ganz neue Methode des Komponierens entwickelt hat. 1933 sind die Schönbergs nach Amerika emigriert, 1936 sind sie in ein zweistöckiges Haus in Brentwood gezogen, das Viertel, das ein Stück westlich, also näher am Pazifik als Beverly Hills, liegt. Ebenfalls im spanischen Stil, ein bisschen folkloristischer mit den Fensterrundbögen und den rotbraunen Ziegeln. Mit Garten und Teich, aber ohne Swimmingpool und insgesamt deutlich kleiner und bescheidener als Baums Villa. Shirley Temple wohnt schräg gegenüber, mit Stallungen für ihre Ponys auf dem Grundstück. Die Manns begegnen auf der Soiree dem Architekten Richard Neutra, der schon in den 1920ern nach Kalifornien kam und mit seinem Baustil die Physiognomie Los Angeles’ mitprägte. Er zeigt in den nächsten Tagen Thomas Mann ein paar der von ihm entworfenen Häuser, man weiß ja nie, vielleicht will der Nobelpreisträger ja hier Wurzeln schlagen, wie all die anderen vor ihm. Allerdings baut Neutra Häuser in einem moderneren Stil, als es von den meisten Emigranten geschätzt wird. Die fühlen sich, wie Baum oder Schönberg, wohler, wenn sie von historisierenden und kulturellen Anleihen umgeben sind. Auch Mann muss bei der exklusiven Führung feststellen, dass er Neutras kubistischen Glaskasten-Stil, wie er ihn nennt, nicht besonders mag.

Alles anregend. Aber auch aufreibend. Deswegen ist es gut, wieder im Beverly-Hills-Zimmer zu sitzen und schreiben zu können.

Ob das Exil nicht beschwerlich sei, wurde er von den Journalisten gefragt, als er für die Vortragsreise in New York ankam. Beschwerlich schon. Aber man müsse sich nur die momentane Atmosphäre in Deutschland vergegenwärtigen, um sich sofort daran zu erinnern, dass es wahrlich kein Verlust sei, nicht dort zu sein. Und dann fällt im Interview der berühmt gewordene Satz, den er jetzt auch auf das Blatt vor sich in seinem Apartment schreibt: »Wo ich bin, ist Deutschland«.

Was für eine Anmaßung: Nur der nobilitierte Großdichter ist also legitimiert, darüber zu bestimmen, wer und was deutsch ist. Man kann es aber auch ganz pragmatisch verstehen: Wo anders als in einem selbst sollte aufbewahrt sein, was einem zu dem gemacht hat, was man ist. Egal, wohin es einen verschlagen hat oder wohin man verschlagen wurde. »In den Arbeiten, die ich mit mir führe, ist meine Heimat. Vertieft in sie, erfahre ich alle Traulichkeit des Zuhauseseins«, notiert Thomas Mann.

Er könnte jetzt also in diesem Sinne an seinem aktuellen Romanprojekt weiterarbeiten, dem Roman, den er vor der Wiederaufnahme des Joseph-Komplexes eingeschoben hat und der die Frage nach dem Deutschen in ihm und überhaupt an einer dafür idealen Figur verhandelt: an Goethe, dem deutschen Nationaldichter schlechthin, den in Manns Roman »Lotte in Weimar« die alte Jugendliebe wieder aufsucht. Das könnte ein durchaus angenehmes Zuhause sein: Palmen, überhelles Licht, Orangenduft und der Trost des Dichterfürsten als Abwehrzauber gegen den barbarischen Wahn, der sich gerade herausnimmt, Deutschland zu beherrschen.

Aber Thomas Mann will in seinem inneren Zuhause nicht vor der Realität fliehen. Nicht in diese seltsam irreale Welt, in der er sich gerade befindet, und auch nicht in eine vermeintlich ideale Vergangenheit. Der Goethe, dessen inneren Monolog Mann bald schreiben wird, trägt deutlich Züge von Thomas Mann. Insgesamt, aber auch und gerade, was seine momentane Situation und sein Verhältnis zu den Deutschen anlangt. »Sie mögen mich nicht – recht so, ich mag sie auch nicht, so sind wir quitt«, legt er seinem Goethe in den Kopf: »Sie meinen, sie sind Deutschland, aber ich bins, und gings zu Grunde mit Stumpf und Stiel, es dauerte in mir.«

Auch Aldous Huxley, der Autor von »Schöne neue Welt«, und seine Frau Maria haben sich in Los Angeles niedergelassen, die Manns kennen sie bereits von der gemeinsamen früheren südfranzösischen Exilstation Sanary-sur-Mer. Sie unternehmen einmal gemeinsam einen Ausflug an den Pazifik, ein bisschen südlicher als die überfüllten Strände von Santa Monica oder Venice, und tatsächlich, sie haben Glück, der Strand ist menschenleer. Es ist Vormittag, die Wärme baut sich schon unerbittlich auf, es ist Ebbe, das Meer leuchtet blau-weiß. Die Männer gehen vorneweg, vertieft in ein Gespräch über Weltliteratur. Maria weist sie irgendwann auf die länglichen weißlichen Dinger hin, die überall am Strand verstreut sind. Huxley hat von Jugend an ein schweres Augenleiden, er kann nicht genau erkennen, was es ist. Ist es eine Raupenplage? Ausgerupfte Anemonen? Gänseblümchen? Es sind Kondome. Aber es hat hier keine Orgie stattgefunden, kein Spring of Love. Die Kläranlage ist schlichtweg überfordert mit dem rasanten Bevölkerungsanstieg von Los Angeles und spült die in den Toiletten entsorgten Kondome ins Meer, von wo aus sie an den Strand geschwemmt werden. Der Name der Kläranlage würde Thomas Mann amüsieren, wenn er sich für solche Dinge interessieren würde, sie heißt Hyperion, wie der Titan, wie der Held in Hölderlins Roman, der vor dem unerträglichen Deutschland in die Einsamkeit flieht. Erst mit dem Ausbau in den 1950ern wird Hyperion der Abfallflut und damit auch den Kondomen standhalten, wie Huxley später in einem Essay schreiben wird.

»Sie meinen, sie sind Deutschland, aber ich bins, und gings zu Grunde mit Stumpf und Stiel, es dauerte in mir.« Das schreibt Thomas Mann erst später, jetzt will er sich in seinem Apartment in Beverly Hills ein gänzlich gegenwärtiges Zuhause erschreiben, ohne Palmen- und Dichterfürstenschutz, ohne Flucht. Egal, wo er ist, Deutschland ist immer in ihm mit dabei. Aber wenn das, was in Deutschland gerade geschieht, nicht eine von außen hereingebrochene Katastrophe ist, sondern die Konsequenz oder Zuspitzung von Wesenszügen dessen, was man unter »deutsch« versteht – dann muss Hitler ja auch irgendwie in Thomas Mann drin sein.

»Ein Künstler, ein Bruder«, schreibt Thomas Mann jetzt auf. Eine peinliche Verwandtschaft sei das, aber eben doch Verwandtschaft. Hitler: ein Möchtegernkünstler, wie jeder Künstler einmal einer ist, voll dumpfer Ahnung irgendeiner Bestimmung, voll Verachtung für jegliche vernünftige, ehrenwerte Tätigkeit. Und leider auch noch talentiert. Nicht in der Kunst, aber darin, die Gekränktheit der Deutschen zu bespielen. Thomas Mann hasst Hitler, der ihn dazu gebracht hat, das Tisch-Sessel-Bücherregal-Ensemble seiner Münchener Villa zu verlassen. Aber Hass ist nicht der Affekt, mit dem es sich Thomas Mann heimelig machen könnte. Er muss diesen Affekt herunterregulieren. Freiheit in Zeiten ihrer Bedrängnis besteht darin, sich auch den schlimmsten Phänomenen mit dem ausgekühltesten Affekt zu begegnen, den Thomas Mann kennt: Interesse. »Der Bursche ist eine Katastrophe; das ist kein Grund, ihn als Charakter und Schicksal nicht interessant zu finden«, schreibt er.

Ende April geht die Vortragstour weiter, sie führt Mann auch nach Kanada. Er nutzt diesen Aufenthalt dazu, für sich und seine Frau den Einwanderungsantrag zu stellen, was man von einem ausländischen Konsulat aus tun muss. Denn die Überlegung, das Schweizer Exil in Richtung USA zu verlassen, ist während der Reise und Hitlers Einmarsch in Österreich zum Entschluss gereift. Es hat sich sogar die Vorstellung »eingeschlichen«, in Kalifornien zu siedeln: das Klima, die Landschaft, das Leben ist nicht zu teuer, und für die Kinder der Manns, die sich an einer musikalischen Karriere versuchen, sind die Aussichten an der Westküste besser als anderswo. Und außerdem muss Thomas Mann die Gesellschaft von Bekannten, Freunden, Kollegen hier nicht suchen. Hier findet sie ihn.

1940

Zauberberg in Strandlage

Thomas Mann lauscht dem Grammofon. Das ist nichts Ungewöhnliches. Mann liebt die Musik, und die Szene, in der sich Hans Castorp im »Zauberberg« beim nächtlichen Lauschen am neu angeschafften und Sensation machenden Gerät ein wenig verliert, hat Bekanntheit über den Roman hinaus erlangt. Aber jetzt, im Herbst 1940 am Spoleto Drive, einen Katzensprung vom Strand von Santa Monica entfernt, hört Thomas Mann nicht wie Castorp einige seiner Lieblingsstücke, Aidas und Radames’ Duett aus Verdis Oper, Debussys »Vorspiel zum Nachmittag eines Faunes«, diese »Verneinung des abendländischen Aktivitätskommandos«, die tragische Wut Carmens und ihres armen Josés oder Schuberts »Lindenbaum«. Nein, Thomas Mann hört sich selbst. Er hört die Schallplatte, die die Verleihung des Nobelpreises im Jahre 1929 an ihn dokumentiert.

Es ist nicht so, dass Thomas Mann gänzlich frei von Eitelkeit wäre. Aber sich selbst auf das Grammofon gelegt hat er dann doch nicht. Die Manns sind mit ihrem ältesten Sohn Klaus zu Gast bei Rolf Nürnberg, einem Berliner Reporter der Weimarer Republik, wie er im Buche steht: intelligent, scharfzüngig, schnell, unbarmherzig, wenn es um die beste Schlagzeile geht. Nürnberg kannte die USA schon vor seiner Emigration, er begleitete den Boxer Max Schmeling auf dessen U.S.-Tourneen, schrieb Bücher über ihn, schrieb mit an der Kultur der neuen Zeit, zu der Sport so selbstverständlich dazugehörte wie all die anderen Alltagsgroßartigkeiten, Kino, Varieté, die nur die Ewiggestrigen nicht zur Kultur zählten. Aber Nürnberg war unverbesserlicher Zeitungsmann, also plauderte er auch Details aus Schmelings Liebesleben aus, womit es dann zu Ende war mit dem mitschreibenden Begleiten.

Nürnberg wird in Amerika bald aus dem Tritt kommen, die Berliner Schnauze verweigert das Erlernen eines akzeptablen Englisch, Nürnberg verarmt, nimmt Drogen, wird paranoid, stirbt 1949 mit 45Jahren an einem Herzanfall. Nicht alle, die die Nazis überlebt haben, überleben die Emigration.

Jetzt, im September 1940, ist vom baldigen Niedergang noch nichts zu spüren, Nürnberg ist selbstverständliches Mitglied der Community der deutschsprachigen Emigranten, empfängt in seiner Wohnung in Santa Monica alte und neue Freunde, hört sich mit ihnen Schallplatten an.

Die Manns sind im Herbst 1938, mit 63 und 55Jahren, in die USA übersiedelt und haben sich in Princeton an der Ostküste niedergelassen, wo Thomas Mann eine Gastprofessur erhielt. Aber Kalifornien hat Mann nicht losgelassen. Katia fühlt sich in Princeton durchaus wohl, sie hat mit Molly Shenstone, der Frau des Physikers Allen G.Shenstone, eine Freundin und Vertraute gefunden. Aber Thomas Mann ist das »Movie-Gesindel« lieber als das akademische Milieu, und da in dieser Familie alles auf sein Wohlbefinden ausgerichtet ist, probieren sie aus, ob Kalifornien auch einem längeren Aufenthalt standhält. Sie haben ein Haus in Brentwood gemietet, in derselben Straße und nur ein paar Hundert Meter von dem Haus der Schönbergs entfernt. Swimmingpool und Garten inklusive. Thomas Mann ist überaus angetan, die »umgebende Landschaft ist wahrhaft toscanisch, die Hügel von Fiesole sind nicht schöner«. Wie gut ihm das Haus gefällt, zeigt sich vor allem daran, dass er am ersten Tag darin wieder angefangen hat zu schreiben. »Lotte in Weimar« ist schon vollendet, aber er hat noch immer nicht mit dem letzten Band des Joseph-Projekts begonnen. Er hat noch einen »indischen Scherz«, wie er es nennt, dazwischengeschoben, die Erzählung »Die vertauschten Köpfe«, mit der er nun rasch fertig zu werden hofft. Großartige, eigentlich ideale Bedingungen. Wenn die Weltlage nicht so eine verzweifelte wäre.

Vor der Nobelpreisverleihung kam bei den Nürnbergs eine andere Dokumentation über einen anderen Nobelpreisträger, in diesem Fall für Frieden, zu Gehör: der Bericht über die Beerdigung Gustav Stresemanns im Jahr 1929. »Die deutsche Seele up to date«, heißt es im »Zauberberg« zu dem seltsamen Grammofon-Gerät: »Das treusinnig Musikalische in neuzeitlich-mechanischer Gestalt«. Stresemann, das ist im Jahre 1940 deutsche Seele schmerzhaft out of date. Der feierliche getragene Ton, in dem der Trauerzug für den Reichskanzler und Außenminister Stresemann beschrieben wird, weht herüber aus einer vergangenen Zeit, als noch Hoffnung bestand, dass Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg wieder in die internationale Gemeinschaft zurückfindet. Ab 1929 beginnt die Wirtschaftskrise, beginnt die politische Verrohung, wird der Weg geebnet für die Herrschaft der Nationalsozialisten, der Grund, warum sie jetzt alle hier auf einem anderen Kontinent sind.

Dann erklingt die Nobelpreisverleihung an Thomas Mann. Das ist für Mann kein ungetrübtes Vergnügen. Der Nobelpreis hatte immer den Beigeschmack, dass er explizit für die »Buddenbrooks« verliehen wurde, Thomas Manns Erstlingsroman. Zu einem Zeitpunkt, wo der »Zauberberg« ja schon in der Welt war. Hat das Nobelpreiskomitee möglicherweise recht? War das sein Wurf, und danach kam nichts mehr, kommt nichts mehr? In schwachen Momenten kann Thomas Mann seinem Werk nicht viel abgewinnen, dann findet er »Tonio Kröger« nichts als larmoyant, »Königliche Hoheit« eitel, den »Tod in Venedig« halb gebildet und falsch. Und eigentlich ist es doch noch viel schlimmer, auch über die »Buddenbrooks« ist doch die Zeit hinweg gegangen, ein Bürgerbuch, nichts mehr fürs 20.Jahrhundert. Der »Zauberberg« sei ein »in mehrfacher Hinsicht bemerkenswertes Werk mit bedeutendem Inhalt, aber unter ästhetischen Gesichtspunkten zu weitschweifig und zu schwerfällig, um zu Manns besten Schöpfungen gerechnet zu werden«, urteilte ein Mitglied des Komitees, aber das kann Thomas Mann nicht wissen, als er bei den Nürnbergs hört: »Thomas Mann steht vor dem schwedischen König. Händeschütteln. Thomas Mann verbeugt sich tief. Beifallsturm für Thomas Mann.«

Über Deutschland hat er damals auch gesprochen, ja, er hat seinen Preis dem deutschen Geist gewidmet. Seinen Lieblingsheiligen hat er als Ausdruck für diesen Geist angerufen: den heiligen Sebastian, der von Pfeilen und Schwertern durchbohrt ist und trotzdem lächelt. Dass man Form wahrt in der Qual, Anmut im Leiden, dafür hat Mann damals sein Heimatland gelobt. Verstörend, wie lange das her scheint. Aber das war damals schon eher hoffnungsvoll gesagt als realistisch. Ein paar Tage nach dem Festbankett wurde Katia Mann im Hotel von einer »stattlichen Dame mit Rubin-Hakenkreuz« für ihren patriotischen Blick während der patriotischen Rede ihres Mannes gelobt. Und ein Journalist riet ihm, das stattliche Preisgeld in Schweden zu lassen, anstatt nach Deutschland zu transferieren.

Die Schallplatte ist schon eine Weile zu Ende. Ist das Gespräch schon wieder aufgenommen worden, ist es weitergegangen, ohne ihn? Das passiert ihm immer mal wieder in Gesellschaft, dass er schon entschwindet, obwohl er körperlich noch anwesend ist. Aber nun gut, wenn man ihm ihn selbst vorsetzt, wie sollte er da nicht abdriften und ein bisschen leer sitzen bleiben?

Gut, dass Klaus dabei ist, das entlastet etwas von der Verpflichtung zum Small Talk. Klaus Mann hat, wie die Mehrzahl der zeitgenössischen Leser, eine dezidiert andere Meinung zum »Zauberberg« als damals das Nobelpreiskomitee. Klaus Mann, der wie seine Schwester Erika kosmopolitischer, beweglicher, weltneugieriger ist als die Väter- und Müttergeneration, hat aber auch eine deutliche Meinung zu ihrer Zusammenkunft gerade: Stellen sie gerade nicht zu sehr den »Zauberberg« nach?

Im April 1938 war die Atmosphäre unter den Emigranten noch eine andere gewesen. Thomas Mann hatte seinen Hass auf Hitler zu Interesse abschwächen können. Man hatte darauf hoffen dürfen, dass Frankreich und England diesen Politikhysteriker bald in seine Schranken weisen würden. Aber dann haben sie ihm im Herbst 1938 im Münchener Abkommen das Sudetenland gegeben. Mann war fassungslos angesichts dieser in seinen Augen fatalen Appeasement-Politik. Hitlers Einmarsch in Prag im März 1939 und der Beginn des Zweiten Weltkrieges durch den Einmarsch in Polen gaben Mann recht. Und als im Juni 1940 Frankreich kapitulierte, saßen alle, die dorthin emigriert waren, in der Falle. Die Hilferufe an die, die bereits in den USA waren, die Bitten um die für die Immigration notwendigen Bürgschaften nahmen zu. Und zugleich wurde die Hoffnung der in die USA Geflohenen auf eine Rückkehr nach Europa immer vager und schwächer. Weil der Blick nach vorne keine klaren Konturen mehr erhaschen kann, richtet er sich in die Vergangenheit.

Die Grammofon-Szene im »Zauberberg« bot Mann Gelegenheit, einige seiner Herzensmusikstücke zu inszenieren. Aber eben auch die Weltentrücktheit seiner Hauptfigur Stück für Stück voranzutreiben. Der immer kauziger werdende Hans Castorp nimmt eifer- und eigensüchtig das neuartige Gerät gleichsam in Besitz und hält sich immer öfter und immer wahnhafter in der musikalischen statt in der realen Welt auf. Ein Bild, das sechzehn Jahre später nicht schlecht auf eine Emigranten-Community passt, die sich in ihre eigene Vergangenheit vergräbt. Emigranten-Inzucht, denkt Thomas Mann, und wie sie alle in einer längst abgelaufenen Epoche leben und einen dauernd zur Erinnerung zwingen mit ihren Sentimentalitätsschatzkästchen.

*

Aber auch in der Gegenwart von Los Angeles verfließen die Konturen. Wenn man nicht aufpasst und seinen Blick nicht rechtzeitig von der herrlich trägen Morgenstimmung des Pazifikstrandes abwendet, dann können einem die Tage schnell zu Monaten und zu Jahren verwischen. Was die europäischen Gäste als Jahreszeiten kennen, verwandelt sich in Kalifornien zu den subtilen Veränderungen des ständig präsenten Sonnenlichts. Jahre können vergehen, bis man gelernt hat, diese Nuancen zu verstehen.

Der britische Autor Christopher Isherwood hat mit diesem Paradies durchaus zu kämpfen. Sein Paradies war das Berlin der frühen 1930er-Jahre, die schwule Subkultur, die brodelnde Urbanität. Mit seinen »Berlin Stories« ist er bekannt geworden, sie werden ihn als Autor der Vorlage des Musicals »Cabaret« berühmt machen. Wenn Isherwood bei den Huxleys zum Lunch eingeladen ist, dann hat er Gelegenheit, seine Augen vom blendenden Licht zu erholen und ein bisschen mit dem Dunklen zu spielen. Die Huxleys bewohnen in den 1940ern ein zurückgesetztes Haus, das von der Straße, vom Amalfi Drive aus, nicht zu sehen ist – erst wenn man näher kommt, entdeckt man einen Bungalow, der aussieht wie eine alte Blockhütte. Ein idealer Ort für fiktive oder reale Verbrechen, wie Isherwood findet. Unter den großen Fenstern liegt der Rustic Canyon. Im Inneren befinden sich noch die Bilder vom Vorbesitzer, »Kitsch-Monstrositäten«, wie Klaus Mann es nennt, seltsame Sektreklamen, Frauen entführende Schimpansen, Dominas. Huxley, laut Klaus Mann ironisch verliebt ins Hässliche, hat sie hängen lassen.