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Charlotte Peters

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Beschreibung

Es wäre so leicht, aufzugeben. Einfach aufzuhören. Nicht mehr um den nächsten Atemzug zu ringen. Nicht mehr gegen die in ihm aufsteigende Dunkelheit anzukämpfen. ... Verdammt wollte er sein, wenn er sich unterkriegen ließ!

HEISS WIE DER ZORN

Nach dem gewaltsamen Tod eines alten Freunds befindet sich der Privatermittler Felix auf einem persönlichen Rachefeldzug. Ziel seines Zorns ist ein Dortmunder Gangsterboss, dessen Hunger nach Macht nur von seiner Kaltblütigkeit übertroffen wird.
Eingeschleust in die Bande, spielt Felix um einen hohen Einsatz – und als Gerüchte aufkommen, dass es einen Spitzel gibt, bezahlt er um ein Haar mit dem Leben. Hilfe kommt von unerwarteter Seite: Tessa, die Tochter des Bandenchefs, rettet Felix vor einem qualvollen Tod.
Wie Felix ist Tessa mit den Schattenseiten des Lebens vertraut und hatte lange die Hoffnung aufgegeben, die Dunkelheit endgültig hinter sich lassen zu können. Bis jetzt. Während einiger sonniger Sommerwochen entsteht zwischen beiden ein Band, das stärker ist als alles, was sie bisher erlebt haben.
Doch als Felix’ Ermittlungen Fortschritte machen, zeigt sich, dass Tessas Vater noch skrupelloser ist als gedacht.

Dies ist Teil 2 der Reihe, aber er kann auch unabhängig vom ersten Band gelesen werden.

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Charlotte Peters

 

 

 

 

HEISS WIE DER ZORN

Hinweis:

Die handelnden Personen und alle Geschehnisse sind frei erfunden und haben kein Vorbild in der Realität. Orte sowie Unternehmen, Behörden, Organisationen und andere Gruppen sind ebenfalls frei erfunden oder werden fiktiv genutzt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright © 2020 Charlotte Peters

 

Charlotte Peters

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

Inhaltsverzeichnis

 

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

 

Leseprobe

 

Kapitel 1

 

Wie viele Stunden waren verstrichen?

Er wusste es nicht. Längst hatte er jedes Zeitgefühl verloren. Das einzige Maß, das ihm blieb, war der Abstand bis zum nächsten mühsamen Atemzug.

Seine Haut war heiß und spannte, und der Schweiß, der anfangs seine Kleidung durchtränkt hatte, war schon lange getrocknet.

Die Sonne prallte in unverminderter Stärke auf die Kiste, und durch das winzige Loch im Deckel fiel ein heller Lichtstrahl in seine Augen.

Er glaubte, mehrfach das Bewusstsein verloren zu haben, aber er war sich nicht sicher. Einmal war er durch das Gefühl von Wasser auf seinem Gesicht aus seinem Dämmerzustand gerissen worden und meinte, den Verstand verloren zu haben. Dann spürte er die Tropfen, die über seine Schläfen rannen, und hob die Hand in dem instinktiven Drang, die Feuchtigkeit aufzufangen. Doch als er die Finger an seine rissigen Lippen führte, waren sie bereits wieder getrocknet.

Von draußen drang Gelächter zu ihm. Im nächsten Moment prasselte Wasser auf das Metall über ihm, und der Klang machte ihn fast wahnsinnig. Hektisch bewegte er sich, soweit es die klaustrophobische Enge zuließ, und tastete nach eindringender Feuchtigkeit. Vergeblich.

Als das Geräusch verstummte, biss er sich heftig in die Hand, um nicht zu schreien. Nicht darum zu betteln, dass sie ihn herausließen.

Die Bewegungen hatten ihn Kraft gekostet, und ihm war übel. Keuchend sog er die stickige Luft ein.

War es Mittag? Nachmittag? Oder vielleicht bald schon Abend? Würden sie ihn dann herausholen? Oder würden sie ihn über Nacht hier drin lassen? Würden sie ihn warten lassen in dem Wissen, dass das gnadenlose Spiel mit dem Sonnenaufgang seine Fortsetzung finden würde?

Er wusste, einen zweiten Tag würde er nicht überleben. Schon jetzt waren seine Atemzüge immer flacher, wurden die Abstände dazwischen immer größer. Es wäre so leicht, aufzugeben. Einfach aufzuhören. Nicht mehr um den nächsten Atemzug zu ringen. Nicht mehr gegen die in ihm aufsteigende Dunkelheit anzukämpfen.

Verdammt wollte er sein, wenn er sich unterkriegen ließ!

Mit voller Absicht drückte er seine Hand gegen das sengende Metall und stöhnte auf, als ihn der Schmerz durchfuhr und ihm das Adrenalin durch den Körper jagte.

Er würde durchhalten. Noch fünf Minuten, noch eine halbe Stunde. Noch bis Sonnenuntergang.

 

* * *

Ein Geräusch drang in sein Bewusstsein. Er schlug die Augen auf, doch unverminderte Dunkelheit umgab ihn. Endlich war die Nacht angebrochen, und mit Sonnenuntergang waren die Temperaturen gesunken.

Er lebte noch.

Wieder hörte er etwas, ein Scharren dicht über ihm. Sein Körper spannte sich an. Kamen sie, um ihn zu holen?

Der Deckel der Kiste hob sich, und unvermittelt füllte frische, kühle Luft seine Lungen und traf ihn wie ein Schlag. Taumelnd richtete er sich auf. Sein Kopf drehte sich, und jeder Pulsschlag hämmerte schmerzhaft in seinen Schläfen.

»Komm«, sagte eine helle Stimme, und er sah, wie sich ihm ein blasser Schemen entgegenstreckte. Eine Hand?

»Komm!«, sagte die Stimme erneut, drängender, und er streckte den Arm aus und griff zu. Weiche, zierliche Finger schlossen sich um seine. Eine Frau.

Sie zog, bis er schwankend auf die Beine kam, und stützte ihn, während er über die Seiten der Kiste kletterte.

»Schnell«, sagte die Frau und zerrte ihn mit sich. Er stolperte, stürzte, rappelte sich wieder auf und folgte ihr, so rasch er konnte.

»Steig ein«, sagte sie, und er sah im schwachen Mondschein, wie sie die Beifahrertür eines Autos öffnete.

Er gehorchte und zog die Tür ins Schloss, als sie auch schon hinter dem Steuer saß und den Motor anließ. Ohne Licht lenkte sie den Wagen aus der Einfahrt. Erst, als sie die Straße erreicht hatten, schaltete sie die Scheinwerfer ein und gab Gas.

Ohne den Blick von der Fahrbahn zu nehmen, reichte sie ihm eine halbvolle kleine Wasserflasche.

Mit zitternden Fingern öffnete er den Verschluss und trank in gierigen Schlucken. Er konnte sich nicht erinnern, dass schon einmal etwas so gutgetan hatte.

»Mehr?«, brachte er heraus.

»Im Handschuhfach müsste noch ein Rest sein.«

Auch diese Flasche leerte er auf einen Zug; dann musste er husten, weil er sich in seiner Hast verschluckt hatte.

»Besser?«, fragte sie, als er erschöpft innehielt.

Seine Stimme krächzte. »Ja. Danke.«

Tatsächlich hatte das wenige Wasser kaum ausgereicht, um den schlimmsten Durst zu besänftigen, und er musste sich zusammenreißen, um nicht die leeren Flaschen auf der Suche nach dem letzten Tropfen noch einmal an den Mund zu setzen.

In regelmäßigen Abständen leuchteten die vorbeihuschenden Leitpfosten im Licht der Scheinwerfer auf, und das monotone Fahrgeräusch erfüllte das Innere des Wagens. Seine Lider wurden schwer, und er spürte, wie sich seine Gedanken in unzusammenhängende Bruchstücke auflösten.

* * *

Als er erwachte, war es still. Der Wagen stand auf dem Seitenstreifen einer Landstraße, und durch die weit geöffneten Türen drang die klare Nachtluft herein. Er löste seinen Sicherheitsgurt und schwang die Beine aus dem Auto. Langsam richtete er sich zu seiner vollen Größe auf und stellte mit Genugtuung fest, dass sein Kreislauf stabil war. Doch sein Mund war wieder trocken, und seine Kehle brannte vor Durst.

Vom Heck des Wagens waren leise Geräusche zu hören, und Licht fiel auf die Erde des Seitenstreifens.

Er umrundete den Wagen und sah, dass der Kofferraum offen stand. Die Frau war dabei, Wasser aus einer großen Flasche in mehrere kleine umzufüllen.

Er machte einen abrupten Schritt auf sie zu, und sie schrak so heftig zusammen, dass sie um ein Haar die Flasche fallen gelassen hätte.

Mit einem Fluch riss er sie ihr aus der Hand und trank und trank.

Erst, als sie leer war, setzte er sie ab und rang nach Luft. »Warum zum Teufel hast du –«

Übergangslos beugte er sich vor und brach die komplette Flüssigkeit wieder aus.

»Bordel de merde!«, fluchte er mit Inbrunst und stützte sich am Autodach ab.

»Und genau deswegen habe ich dir nicht mehr gegeben.« Mit in die Hüften gestemmten Armen baute sie sich vor ihm auf.

Er streckte eine Hand aus, und sie starrte ihn einen Moment mit gerunzelter Stirn an. Schließlich zuckte sie die Schultern und reichte ihm eine volle Flasche.

Er drehte den Schraubverschluss ab und nahm ein paar vorsichtige Schlucke. »Danke.«

Überraschung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, eine Reaktion, die er nicht deuten konnte.

»Ich bin Tessa«, sagte sie dann.

Er wusste, wer sie war. Jeder in der Mördergrube, in die er geraten war, kannte die Tochter vom Chef.

Er trank noch einen Schluck, bevor er ihr seinen eigenen Namen sagte.

»Felix.«

Kapitel 2

 

Tessa vergewisserte sich, dass sie sich noch immer auf dem richtigen Weg befand. Ihr Handy in der Halterung am Armaturenbrett zeigte eine Dauer von fünfundzwanzig Minuten bis zum Ziel.

Der Mann auf dem Beifahrersitz schlief fest. Sie konnte seine gleichmäßigen Atemzüge gerade eben über dem Motorengeräusch hören.

Felix.

Der Mann, auf dem ihre ganze Hoffnung ruhte.

Und ein Verbrecher.

Er war einen guten Kopf größer als sie selbst – und vermutlich dreißig, vierzig Kilo schwerer, ein Großteil davon Muskeln. Als er abrupt auf sie zugesprungen war, war ihr der Schreck tief in die Glieder gefahren. Es war ihr nicht leichtgefallen, ihre mutige Fassade aufrechtzuerhalten.

Und dann hatte er ihr für das Wasser gedankt, und in seinem Tonfall hatte eine unausgesprochene Entschuldigung mitgeschwungen.

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. Unregelmäßige Narben durchzogen die ihr zugewandte Hälfte seines Gesichts und gaben ihm ein kriegerisches Aussehen. Seine blonden Haare waren von getrocknetem Schweiß verklebt, und dunklere Stoppeln bedeckten Wangen und Kinn.

Über Stunden hinweg hatte sie seine Qualen mitverfolgt und gebetet, dass er lange genug am Leben blieb.

Würde er ihr für die Rettung dankbar sein – so dankbar, dass er tat, was sie von ihm wollte?

 

* * *

Von der plötzlichen Ruhe geweckt, richtete Felix sich auf, als Tessa den Motor abstellte.

»Wo sind wir?«

Seine Stimme klang heiser, und er räusperte sich, ehe er nach der Wasserflasche zu seinen Füßen griff und sie leerte.

»In Arnsberg.« Tessa zog den Schlüssel ab und stieg aus. »Ich habe uns ein Hotelzimmer gebucht.«

Sie öffnete die hintere Tür und nahm die kleine Tasche mit ihren Sachen vom Rücksitz.

Felix fädelte sich ebenfalls aus ihrem alten Agila und sah sich um. Strahler an der Hausfassade und das beleuchtete Vordach mit dem Namen des Hotels erhellten den Bürgersteig und das dreistöckige Gebäude. Er folgte ihr ins Innere und blieb hinter ihr an der Rezeption stehen.

»Guten Abend«, sagte Tessa. »Ich habe online gebucht. Tessa Zimmermann.«

Die Mitarbeiterin sah auf ihren Monitor. »Ein Doppelzimmer für eine Nacht, richtig?«

»Ja, das ist richtig«, antwortete Tessa ihr und nahm das Anmeldeformular und einen Kugelschreiber entgegen.

»Hier ist Ihr Schlüssel. Ihr Zimmer ist im ersten Stock. Das Frühstück wird in unserem Restaurant serviert. Falls Sie Fragen haben, stehen ich oder meine Kollegen gern zu Ihrer Verfügung.«

»Danke.« Tessa griff nach dem Schlüssel und wandte sich zur Treppe.

»Ein Doppelzimmer?«, fragte Felix, während sie die Tür aufschloss.

»War billiger«, antwortete sie mit gespielter Beiläufigkeit. Es war nicht gelogen – aber der Preis war nicht der Grund dafür, dass sie das Zimmer mit ihm teilen wollte.

»Hast du Hunger? Ich habe Müsliriegel und ein paar Bananen in der Tasche.«

Er schüttelte wortlos den Kopf. »Ich will nur schlafen.«

»Wenn du willst, wasche ich dein T-Shirt; bei der Wärme ist es bis morgen früh wieder trocken.«

Er griff sich mit beiden Händen in den Nacken, packte den Stoff und zog sich das Hemd über den Kopf.

Tessa holte scharf Luft. Die Male in seinem Gesicht waren nichts gegen die Narben, die sich kreuz und quer über die linke Hälfte seines Oberkörpers zogen. Breite, rötliche Streifen, die sich deutlich von der glatten Haut abhoben.

Sie hob ihren erschrockenen Blick zu seinem Gesicht und merkte, dass er sie mit eisiger Miene ansah.

»Guck woanders hin, wenn es dich stört«, war alles, was er sagte, bevor er ihr das T-Shirt in die Hand drückte und sich abwandte. Mit ungeduldigen Bewegungen trat er sich die Schuhe von den Füßen, dann ließ er sich der Länge nach aufs Bett fallen. Er vergrub den Kopf im Kissen, und sie sah, wie er tief durchatmete. Danach rührte er sich nicht mehr.

Leise holte sie Schlafanzug und Kulturbeutel aus ihrer Tasche, nahm einen Bügel aus dem Schrank und ging in das winzige Bad. Sie ließ Wasser ins Waschbecken laufen, trat an die Dusche und pumpte etwas von dem Shampoo aus dem Wandspender in ihre hohle Hand.

Nach dem Waschen hängte sie das T-Shirt an dem Bügel in die Dusche, ehe sie sich für die Nacht fertig machte.

Angespannt kehrte sie ins Zimmer zurück. Felix schien sich nicht gerührt zu haben. Langsam setzte sie sich auf die ihm abgewandte Bettkante, legte sich hin und schwang ihre Beine auf die Matratze.

Stille Tränen quollen aus ihren Augenwinkeln und rannen ihr in die Haare, während sie starr auf den Schlaf wartete.

 

* * *

Mitten in der Nacht schreckte sie aus ihren unruhigen Träumen hoch und sah sich orientierungslos um. Sie hatten die Vorhänge nicht zugezogen, und von der Straße her fiel Licht herein. Genug, dass sie erkennen konnte, dass das Bett neben ihr leer war.

Erschrocken setzte sie sich auf. Wenn er weg war …

Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr. Felix saß mit angezogenen Knien auf dem Tisch am weit geöffneten Fenster, eine Schulter gegen die Laibung gelehnt. Er hielt eine Wasserflasche in der Hand.

Langsam stand Tessa auf und ging zu ihm. »Was ist mit dir?«

Als er schwieg, stand sie einen Moment lang unschlüssig da, bevor sie ihren Mut zusammennahm. »Komm wieder ins Bett.«

Er drehte den Kopf, und sie streckte ihm ihre Hand entgegen. »Wir lassen das Fenster offen.«

Kapitel 3

 

Als Felix das nächste Mal erwachte, schien bereits die Morgensonne ins Zimmer. Seine unerwartete Retterin saß in dem einzigen Stuhl, die Arme fest um die angezogenen Beine geschlungen, und schaute aus dem Fenster. Sie hatte eine wadenlange, pink und weiß geringelte Hose und ein kurzes pinkfarbenes T-Shirt an und sah ungewohnt mädchenhaft aus. Wann immer er sie im Hauptquartier zu Gesicht bekam, trug sie weit geschnittene Jeans und Shirts oder Pullis in unauffälligen Farben.

Er bewegte sich, und ihr Kopf ruckte zu ihm herum. Sie sah blass und müde aus, mit Schatten unter ihren dunklen Augen.

»Guten Morgen«, sagte sie leise.

Er nickte nur und betrachtete ihre angespannte Haltung. »Du hast Angst vor mir.«

Sie gab ihre Beine frei und richtete sich auf. »So ein Quatsch.«

Er hob eine Augenbraue. Er war sicher, bei einer plötzlichen Bewegung von ihm würde sie einen Satz machen. Er rührte sich nicht.

Eine angespannte Stille entstand, die schließlich von Tessa gebrochen wurde. »Wäre es dir recht, wenn ich zuerst dusche?«

Er machte ein zustimmendes Geräusch, und sie verschwand mit ein paar Klamotten in der Hand im Bad. Er hörte das Knacken des Drehknopfs, als sie abschloss.

Wenige Minuten später kam sie wieder ins Zimmer. Ihre kurzen braunen Haare waren noch feucht und fielen ihr wirr in die Stirn, und sie trug kein Makeup.

»Du kannst.«

»Kann ich deine Zahnbürste benutzen? Wir können dir nachher eine neue kaufen«, fügte er hinzu, als sie zögerte.

»Ja. Klar. Hier.« Sie hielt ihm die Bürste und die Zahnpastatube hin.

In dem Moment, wo sich die Tür des winzigen Badezimmers hinter ihm schloss, spürte er Unbehagen in sich aufsteigen. Er versuchte, das plötzliche Hämmern seines Herzens zu ignorieren und sich völlig auf jede Bewegung zu konzentrieren, während er sich auszog und Jeans und Unterhose auf dem Klodeckel ablegte.

Beim Zähneputzen musste er sich am Waschbecken abstützen, weil ihm schwindelte, aber er schaffte es.

Doch als er die Duschkabine betrat und die Tür zuzog, war es mit dem Rest seiner Kontrolle vorbei. Das Zittern in seinem Inneren griff auf seinen Körper über, und er würgte, von Angst geschüttelt.

Wasser und Shampoo liefen ihm übers Gesicht, und er glaubte zu ersticken. Nur die Atemtechnik, die sie ihn in der Legion gelehrt hatten, machte es ihm möglich, die Dusche zu Ende zu bringen.

Alles in ihm drängte nach Flucht, doch der Gedanke an Tessas Reaktion hielt ihn davon ab, nackt durch die Tür zu stürmen. Mit zusammengebissenen Zähnen trocknete er sich notdürftig ab und zog sich an, ehe er sich endlich gestattete, die Tür zu öffnen.

Tessa sprang von der Bettkante auf, als er ins Zimmer kam. »Sollen wir zum Frühstücken gehen?«

Wortlos trat er auf den Gang hinaus und steckte die Hände in die Hosentaschen, um ihr Zittern vor Tessa zu verbergen. Er wartete, bis sie abgeschlossen hatte, und sie gingen Seite an Seite die Treppe hinunter.

Er atmete auf, als sie das Restaurant betraten. Der große Raum war von Sonnenlicht erhellt, und eins der Fenster stand auf Kipp und ließ einen schwachen Luftzug herein.

Seine Panikattacke klang so schnell ab, wie sie gekommen war, und sein Magen knurrte. Ohne Zeit zu verlieren, griff er nach einem Teller und belud ihn am Büfett mit zwei Brötchen, reichlich Rührei, gebratenem Frühstücksspeck und etwas Butter. Er goss sich ein Glas Orangensaft ein und setzte sich an einen Tisch, der ein Stück entfernt von anderen Gästen stand. Nicht, dass das kleine Hotel viele Besucher gehabt hätte.

Einen Augenblick später kam Tessa mit einem Schüsselchen Müsli in den Händen näher. Er sah sie zögern, als sei sie unsicher, ob sie sich zu ihm setzen dürfe.

Was zum Teufel? Ohne beim Schmieren seines Brötchens innezuhalten, schob er den gegenüberliegenden Stuhl mit dem Fuß zurück, dass die Beine über die Bodenfliesen scharrten.

Kaum hatte Tessa die stumme Einladung angenommen und sich niedergelassen, kam eine Mitarbeiterin des Hotels mit einer Kaffeekanne in der Hand an den Tisch.

»Möchten Sie Kaffee?«

»Bitte«, sagte Tessa, und Felix nickte.

Sie goss ihnen ein, ehe sie zum nächsten Tisch weiterging.

Tessa griff nach der Zuckerdose. »Möchtest du?«

Er sah sie einen Moment schweigend an. Erst rettete sie ihm das Leben, und jetzt bediente sie ihn auch noch?

»Zwei Löffel«, sagte er und beobachtete, wie sie den Zucker in seinen Kaffee gab und für ihn umrührte.

Kopfschüttelnd belud er eine Brötchenhälfte mit Rührei und Speck und biss hungrig hinein. Während er kaute, machte er die restlichen Hälften fertig, dann nahm er einen Schluck aus seiner Tasse.

»Ich habe mich noch nicht bei dir bedankt«, sagte er.

Tessa stocherte in ihrem Müsli und sortierte die Rosinen auf die eine Seite der Schüssel und die Nüsse auf die andere. »Wofür?«

Er legte das Brötchen hin und beugte sich vor. »Wofür?«, wiederholte er ungläubig. Er vergewisserte sich mit schnellem Blick in die Runde, dass niemand in ihrer unmittelbaren Nähe war. »Dafür, dass du mich befreit hast.«

»Ach so.«

War das alles, was sie dazu zu sagen hatte? Er lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück. Er wurde aus ihr nicht schlau – und das machte ihn misstrauisch.

»Fährst du gleich nach dem Frühstück zurück?«, fragte er.

Tessas Hand zuckte, und Kaffee schwappte über den Rand ihrer Tasse. »Zurück?«

Er starrte sie an. »Nach Hause? Je länger du hierbleibst, desto größer die Gefahr, dass sie rausfinden, dass du es warst, die mir geholfen hat.«

Sie griff nach ihrer Serviette und begann, die verschüttete Flüssigkeit aufzuwischen. »Woran sollten sie das merken?«, fragte sie, ohne ihn anzusehen.

»Vielleicht daran, dass du verschwunden bist?«

Sie zuckte die Schultern. »Ist ja nicht so, als würden wir uns jeden Tag sehen. Woher sollen sie wissen, dass ich nicht in meiner Wohnung bin?«

Sie legte die feuchte Serviette auf ihren unbenutzten Teller und stellte die Müslischüssel darauf. »Ich habe uns für die nächste Nacht wieder ein Zimmer reserviert. Ich dachte, es ist besser, wenn wir nicht am selben Ort bleiben. Aber vorher sollten wir hier in Arnsberg einkaufen gehen, wo es mehr Geschäfte gibt.«

Schweigend aß Felix seine Brötchen zu Ende, während er Tessa musterte. Warum hatte sie ihn gerettet? Warum war sie für einen völlig Fremden das Risiko eingegangen, sich mit ihrer Familie zu überwerfen? Und warum war sie so unwillig, sich von ihm zu trennen?

Etwas war faul an der Sache. Und solange er nicht wusste, was es war, konnte es nicht schaden, sie im Auge zu behalten. Wobei er sich nicht vorstellen konnte, warum sie ihn retten sollte, nur um ihn danach wieder ans Messer zu liefern. Aber bis er sie besser einzuschätzen wusste, würde er wachsam bleiben und während der Fahrt auf eventuelle Verfolger achten.

»Willst du das nicht essen?«, fragte er mit einem Kopfnicken zu ihrem Müsli.

»Ich hab keinen Hunger.«

Er griff nach der Schüssel und ihrem Löffel. »Wo hast du uns das Zimmer reserviert?«

»In einer Jugendherberge in Bilstein.«

»Wo ist Bilstein?«, fragte er mit vollem Mund.

»Etwa eine Stunde südlich von hier. In der Nähe von Lennestadt.«

»Warum gerade da?«

Sie wich seinem Blick aus. »Ich habe mal was von der Jugendherberge gelesen; sie ist mir einfach eingefallen.«

Felix ließ den Löffel in die leere Schüssel fallen und wischte sich den Mund ab. »Okay. Lass uns gehen.«

Sie kehrten in ihr Zimmer zurück, um vor dem Auschecken Tessas Sachen zu holen.

»Wann hast du dein Handy das letzte Mal benutzt?«

»Gestern. Als Navi.«

»Schalt es komplett aus. Man kann zurückverfolgen, wenn ein Handy genutzt wird. Das Gleiche gilt für deine EC-Karte. Hast du Bargeld dabei?«

Tessa nickte.

»Gib mir dein Portemonnaie.«

Sie zögerte. Schließlich wühlte sie in ihrer Handtasche und zog ein abgewetztes Lederportemonnaie heraus.

Er klappte es auf und blätterte die Geldscheine durch. Sie hatte fast fünfhundert Euro dabei. Er nahm die Hälfte heraus und verteilte die Scheine auf seine diversen Hosentaschen, ehe er ihr das Portemonnaie zurückgab. »Kriegst du wieder.«

Sie gingen zur Rezeption, und Tessa gab den Schlüssel zurück und zahlte für die Übernachtung.

»Tu deine Tasche ins Auto; wir lassen es hier stehen, während wir einkaufen«, sagte Felix.

Sie tat, was er sagte, und sie gingen die Straße entlang Richtung Fußgängerzone. Im ersten großen Bekleidungsgeschäft kaufte Felix Shorts, zwei T-Shirts, Unterhosen und einen kurzen Schlafanzug. Der nächste Weg führte sie in die Drogerie, wo er Rasierzeug, Duschgel, Shampoo, Deo, einen Kamm, zwei Zahnbürsten und eine billige Armbanduhr zusammentrug.

»Du willst nichts kaufen?«

Tessa schüttelte den Kopf. »Ich habe alles dabei, was ich brauche.«

»Lass uns noch was für heute Mittag mitnehmen.«

Sie traten in eine Bäckerei, und er sah Tessa fragend an. Ihr Blick glitt über die Auslage. »Ein Käsebrötchen.«

»Zweimal Käse, zweimal Schinken«, sagte er zu der Verkäuferin. Er zahlte und klemmte sich die Tüte mit den Brötchen unter den Arm.

Ihr letzter Stopp führte sie in eine kleine Buchhandlung, wo er eine Straßenkarte von Nordrhein-Westfalen kaufte, bevor sie schweigend zum Auto zurückkehrten.

 

* * *

Tessa bog auf die nächste Landstraße ab und beobachtete Felix aus den Augenwinkeln. Sein ganzer Körper war verkrampft, und er holte tiefer Luft als normal, als würde er sich auf jeden Atemzug konzentrieren.

Sie streckte die Hand aus und fuhr beide Vorderfenster herunter, sodass der Fahrtwind ins Auto strömte.

Felix sagte nichts, aber sie sah, wie er sich etwas entspannte. Sein Atem ging ruhiger, und die harten Fäuste auf seinen Oberschenkeln lockerten sich leicht.

Unvermittelt drehte er ihr den Kopf zu. »Warum hast du mir gestern geholfen?«

Seine Frage kam überraschend, doch sie traf sie nicht unvorbereitet. Sie hatte sich ihre Antwort lange parat gelegt.

»Weil ich nicht mit ansehen wollte, wie sie dich umbringen.« Die Wahrheit, wenn auch nicht die ganze.

»Obwohl du weißt, dass ich ein Krimineller bin?«

Jetzt war sie selbst es, die sich verspannte. Sie hatte furchtbare Dinge über ihn gehört. Und die Tatsache, dass er sich ihr gegenüber distanziert, wenn nicht gar höflich, zeigte, war nur eine geringe Beruhigung. Vielleicht war er nur deswegen nicht in der Nacht über sie hergefallen, weil er zu erschöpft von seiner Tortur gewesen war.

»Ist das, was du getan hast, so schlimm, dass du den Tod dafür verdienst?«

Er lachte kurz auf. »Kommt drauf an, wen du fragst.«

Sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte.

Er schwieg eine Weile, bevor er sagte: »Keine Sorge. Man beißt nicht die Hand, die einen füttert.«

Ein schwacher Trost, aber sie nahm, was sie kriegen konnte.

Er warf einen erneuten Blick auf die Straßenkarte. »Wir sind gleich da.«

»Morgen bestimme ich, wo wir hinfahren«, sagte er, nachdem er Tessa durch einen Kreisverkehr gelotst hatte. »Es ist besser, wenn wir flexibel bleiben, statt im Voraus zu buchen.«

Minuten später beugte er sich in seinem Sitz vor und starrte durch die Windschutzscheibe. Über ihnen erhob sich ein Burggemäuer mit zwei dicken Rundtürmen, die von spitzen Dächern gekrönt wurden. Ein Torbogen verband beide Türme miteinander.

»Willst du mich verarschen?«

Tessa lachte, noch während ihr die Tränen in die Augen stiegen. Was hätte Mia für einen Spaß daran gehabt, auf einer echten Burg zu übernachten!

»Das ist Burg Bilstein«, antwortete sie Felix. »Die Jugendherberge.«

Sie parkte den Wagen, und sie nahmen beide ihre wenigen Sachen heraus, bevor sie über den Innenhof auf die Treppe zugingen, die zum Eingang hinaufführte.

Vor dem Hauptbau stand ein Brunnen, über dessen Rand ein Frosch mit Krone spähte. Felix schüttelte den Kopf.

Sie stiegen die Stufen hoch und traten durch die offen stehenden Flügel der schweren Holztür in die Halle. Eine blonde Frau stand an der Rezeption und lächelte ihnen entgegen.

»Guten Tag.«

»Hallo.« Tessa blieb vor dem Tresen stehen. Felix trat neben sie, und Tessa sah, wie die Augen der Frau kurz an seinem Gesicht hängenblieben, ehe sie weiterglitten.

Wie mochte es sein, durch die Reaktionen der Leute ständig an seine Narben erinnert zu werden?

»Mein Name ist Zimmermann«, sagte sie. »Ich habe online ein Doppelzimmer gebucht.«

Die Frau sah in ihre Unterlagen und nickte. »Haben Sie Ihre Mitgliedskarte da?«

Tessa zögerte. »Nein. Brauchen wir die?«

»Ja, Sie müssen Mitglied im Jugendherbergswerk sein, um in einer Jugendherberge zu übernachten. Aber keine Sorge; Sie können sich die Karte direkt hier ausstellen lassen. Sind Sie verheiratet?«

Tessa wechselte einen Blick mit Felix. »Nein. Ist das ein Problem?«

Die Frau lachte. »Nein. Ich frage bloß, weil Sie dann zwei Einzelkarten brauchen statt eine Familienkarte. Kinder sind nicht dabei?«

Stumm schüttelte Tessa den Kopf.

»Okay. Dann füllen Sie bitte die beiden Formulare hier aus.«

Die Frau stellte die Ausweise für sie aus und nannte den Gesamtbetrag für Zimmer und Ausweise.

»Kann ich bar bezahlen?«, fragte Tessa.

»Gern.« Sie nahm die Geldscheine entgegen und reichte Tessa das Wechselgeld. »Sie haben Glück«, sagte sie dann, »Ihr Zimmer ist schon fertig. Ich gebe Ihnen gleich eine kurze Führung.«

»Das ist nicht nötig«, schaltete sich Felix ein.

Sie sah ihn verwundert an, zuckte aber nur die Schultern. »Wenn Sie meinen. Dann kurz das Wichtigste: Ihre Bettwäsche holen Sie im Keller ab.« Sie zeigte auf eine Treppe. »Dort gibt es auch Automaten für Getränke und Süßigkeiten. Das Frühstück wird von acht bis neun im Rittersaal serviert. Die Betten müssen Sie selbst beziehen und vor der Abreise wieder abziehen. Und Nachtruhe ist ab zehn. Alles klar? Wenn Sie Fragen haben, finden Sie hier immer jemanden.«

»Danke.«

 

* * *

Mit der Bettwäsche unter dem Arm suchten sie nach ihrem Zimmer.

»Hier ist es.« Tessa schloss auf und öffnete die Tür. Es war ein freundlicher Raum mit cremefarbenen Wänden und dunklen Holzmöbeln.

Und zwei Einzelbetten.

Tessa wusste nicht, ob sie erleichtert oder entmutigt sein sollte. Es machte ihre Pläne für heute Abend nicht gerade einfacher.

Felix warf die Plastiktüte mit seinen Sachen auf eins der Betten, und Tessa legte ihre eigene Tasche auf das andere.

»Soll ich die Betten beziehen?«, fragte sie.

Wortlos schüttelte er seine Bezüge aus, kehrte sie auf links und begann damit, die Decke zu beziehen.

»Offensichtlich nicht«, murmelte Tessa und machte sich an ihr eigenes Bett. »Wenn es dir recht ist, würde ich mich gern etwas hinlegen«, sagte sie. »Ich habe schlecht geschlafen letzte Nacht.«

Sie richtete sich auf und sah ihn an. »Nicht, dass ich dich rauswerfen will …« Nicht, dass sie es gekonnt hätte.

»Kein Thema.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Sechs Uhr? Im Ort wird es wohl eine Pizzeria oder so was geben. Ich warte im Burghof auf dich.«

Ein Grinsen huschte über sein Gesicht, und er schüttelte den Kopf. »Hätte ich auch nicht gedacht, dass ich das mal sage.«

Er nahm die Tüte vom Bäcker, zog die beiden Käsebrötchen heraus und legte sie auf Tessas Nachttisch. Ehe sie ihn daran erinnern konnte, dass sie nur ein Brötchen gewollt hatte, war er auch schon verschwunden.

Sie wartete ein paar Augenblicke, damit er außer Hörweite war, und schloss die Zimmertür ab.

Kapitel 4

 

Felix verschaffte sich einen Überblick über Räumlichkeiten und Fluchtwege, bevor er zum Empfang zurückkehrte. Im Nachhinein wünschte er sich, er wäre bei ihrer Ankunft weniger abrupt gewesen, was seine Chancen verbessert hätte, dass die Rezeptionistin ihm jetzt seinen Wunsch erfüllen würde.

In dem Bemühen, den ersten Eindruck wettzumachen, lächelte er die junge Frau an. »Hallo.«

Sie lächelte zurück. »Hallo. Herr Meyer, richtig?«

Für den Augenblick ja.

Er nickte. »Ich habe eine kleine Bitte. Der Akku von meinem Handy ist leer, und meine Freundin hat sich ein bisschen hingelegt, deswegen möchte ich sie nicht stören. Könnte ich hier wohl kurz telefonieren?«

Sie zögerte nur einen Moment, ehe sie nickte und ihm das Mobilteil ihres Telefons reichte. »Ausnahmsweise.«

»Danke schön.« Er nahm das Gerät entgegen und wählte, während er sich ein Stück entfernte und mit dem Rücken gegen den Rand der Theke lehnte.

»Hi Jonas«, sagte er, als sein Freund sich meldete.

»Felix. Von wo rufst du denn an?«

»Aus einer Jugendherberge in Bilstein«, antwortete ihm Felix, sich bewusst, dass die Herbergs-Mitarbeiterin seinen Teil des Gesprächs mithören konnte. »Tessa hat mich zu einem spontanen Ausflug eingeladen.«

Es entstand eine lange Pause. »Tessa Zimmermann?«

»Genau.«

»Wissen ihr Vater und ihr Bruder, wo ihr seid?«

»Gute Frage. Ich denke, nein.«

»Scheiße, spielen wir hier zwanzig Fragen, oder was?«, fluchte Jonas. »Seid ihr in Gefahr?«

»Glaube ich nicht. Aber es wäre gut, wenn du mir ein paar Sachen vorbeibringen könntest.«

»Eine Waffe?«

»Auch.«

»Geld, Papiere? Ein neues Handy?«

»Super Idee. Wär auch gut, wenn sich jemand das Auto anguckt.«

»Ich bringe den Scanner mit.«

»Okay. Morgen früh um neun? Burg Bilstein.«

»Burg Bilstein?« Jonas lachte. »Geht klar. Ich gucke, ob ich bis dahin mehr über Tessa rausfinden kann, als wir schon wissen.«

»Tu das. Bis morgen.«

»Bis morgen. Pass auf dich auf.«

Felix gab der Mitarbeiterin das Telefon zurück und steckte einen Fünf-Euro-Schein in das Sparschwein auf der Theke. »Danke noch mal.«

Er kaufte noch eine Flasche Wasser, bevor er die Halle durchquerte und ins Freie trat. Er zog eins der Brötchen aus der Papiertüte und biss hinein, während er den Innenhof durch den Torbogen verließ. Er ging am Parkplatz vorbei und folgte einem Wegweiser zu einem der ausgeschilderten Wanderwege.

 

* * *

Ungewohnt ausgeglichen kehrte er Stunden später zur Burg zurück.

Als Kind hatte er viel Zeit im Wald verbracht. Alles war besser als zu Hause zu sein, und viel Auswahl gab es in dem Kaff nicht, in dem er groß geworden war.

Später in seinem Leben war ›Wald‹ dann Dschungel gewesen, nicht mitteleuropäischer Mischwald, in dem Sonnenschein durch die lichten Bäume fiel und die Luft frisch und kühl war.

Weil es noch ein paar Minuten bis sechs waren, hockte er sich auf den Rand des Brunnens im Burghof, um auf Tessa zu warten.

Ein kleines Mädchen schob einen Puppenwagen um den Innenhof herum. Als es Felix erreicht hatte, blieb es vor ihm stehen, nahm den Lutscher aus dem Mund und sah ihn an.

Dann streckte es die Hand nach seinem Gesicht aus, und als er instinktiv den Kopf neigte, berührte es seine vernarbte Wange.

»Hast du Aua?«

Er überlegte einen Moment, was er ihm antworten sollte. Er hatte keinerlei Erfahrung mit kleinen Kindern – scheiße, ihm war, als wäre er nie selbst eins gewesen.

»Ja«, sagte er endlich.

Als ihre Unterlippe zu zittern begann, beeilte er sich hinzuzufügen: »Aber ist schon lange her. Tut nicht mehr weh.«

Ihre Lippe hörte auf zu zittern, schob sich vor, und runde blaue Augen musterten ihn forschend, ob er auch die Wahrheit sagte. Dann hielt sie ihm ihren Lutscher hin. »Da.«

Mit einem plötzlichen Kloß im Hals nahm er ihr Trostpflaster entgegen. »Danke.«

Sie strahlte ihn an, wandte sich ab und schob weiter ihre Puppe spazieren.

Felix’ Blick folgte ihr, dann sah er hoch, als ein Mann auf ihn zutrat.

»Was wollten Sie von meiner Tochter?«

Felix hob die Augenbrauen. »Meinen Sie, ich hätte ihr den Lutscher geklaut?« Er überwand seine Irritation, als ihm klar wurde, wie die Szene auf den Vater gewirkt haben konnte.

»Sie hat mich gefragt, ob ich mir wehgetan hätte und wollte mich trösten.« Seine Fingerspitzen streiften sein Gesicht.

Er zögerte kurz, bevor er hinzufügte: »Sie sollten stolz auf sie sein.«

Die Miene des Mannes hellte sich auf, und er lächelte. »Das sind wir auch.«

 

Tessa wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und versuchte, nicht mehr an Mia zu denken. Sie holte tief und zittrig Luft und wappnete sich für die erneute Begegnung mit Felix.

Dem Mann, der ein kleines Mädchen ernst genug nahm, um sich von ihm trösten zu lassen. Der jetzt an dem geschenkten Lutscher leckte, als wäre er selbst erst drei.

---ENDE DER LESEPROBE---