Mord & Magie – Zwischen den Welten - Charlotte Peters - E-Book
SONDERANGEBOT

Mord & Magie – Zwischen den Welten E-Book

Charlotte Peters

0,0
5,99 €
2,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 5,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Christian hob das Gesicht, nass von Schweiß und Tränen, und starrte auf den Mann, der dabei war, die Frau, die er liebte, zu töten. Und er tat das Einzige, was ihm noch blieb.

MORD & MAGIE

Zwischen den Welten


Gemeinsam mit dem Magier Christian entkommt Jana der Gefangenschaft eines Mannes, für den Folter und Mord legitime Geschäftspraktiken sind.
Sie, die nie an Magie geglaubt hat, findet sich in einer Welt wieder, in der übersinnliche Kräfte über Leben und Tod bestimmen – und in einem Kreis von Freunden, die mehr verbindet als ihre gemeinsame Vergangenheit.
Während sie Seite an Seite daran arbeiten, die Organisation ihres Feindes zu zerstören, wächst die Liebe zwischen Jana und Christian.
Doch als diese Liebe von Eifersucht und Verrat bedroht wird, muss Christian entscheiden, wofür zu sterben er bereit ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Charlotte Peters

 

 

 

 

Mord & Magie

Zwischen den Welten

Hinweis:

Die handelnden Personen und alle Geschehnisse sind frei erfunden und haben kein Vorbild in der Realität. Orte sowie Unternehmen, Behörden, Organisationen und andere Gruppen sind ebenfalls frei erfunden oder werden fiktiv genutzt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright © 2023 Charlotte Peters

 

Charlotte Peters

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

Inhaltsverzeichnis

 

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

Weitere Romane von Charlotte Peters

 

Kapitel 1

 

Jana schloss die Augen, doch den Geräuschen konnte sie nicht entkommen. Die leisen Töne, die das aktuelle Opfer von sich gab, waren schlimmer als die Schreie der anderen. Es waren die erstickten Laute eines starken Mannes, dessen Schmerzen über die Grenzen des noch stumm Erträglichen hinausgingen, und sie wurden fast übertönt von dem Klatschen der Gerte auf seinem Fleisch.

Endlich herrschte Stille, und sie öffnete die Augen wieder. Der Gefangene hing reglos an seinem Haken. Frische Striemen kreuzten die älteren Wunden auf seiner Haut, und Blut drang aus seinen Handgelenken, in die sich die dünnen Kunststofffesseln tief eingegraben hatten. Es rann die mit verschlungenen Linien bedeckten Arme hinab und lief über seinen nackten Körper, bis es dort niedertropfte, wo seine Fußspitzen nur knapp den Boden streiften. Sein Kopf hing herab, und die langen dunklen Haare fielen ihm wirr ins Gesicht.

Neben ihr sah Valentin auf seine Armbanduhr, bevor er auf den Knopf für das Mikro drückte, das seine Stimme in den Nebenraum übertrug.

»Okay, Schluss für heute«, sagte er. »Ich habe gleich einen anderen Termin. Aber meinetwegen nehmt euch noch Zeit mit ihm, bevor ihr ihn zurück in die Zelle bringt.«

Gero und Marek drehten kurz die Köpfe zur Glasscheibe, grinsend wie zwei kleine Jungen, bevor sie einer Fliege die Beine ausreißen.

»Danke, Boss.« Geros Zungenspitze fuhr über seine Lippen, während er sich wieder seinem Opfer zuwandte. »Ich hatte schon lange kein Spielzeug mehr.«

Marek kicherte, und seine Hände schlossen und öffneten sich unruhig, doch wie immer überließ er seinem Kumpan den Vortritt.

Valentin wandte sich zum Gehen und ruckte auffordernd den Kopf Richtung Tür, während er beiläufig seine Krawatte richtete. Noch vor wenigen Augenblicken hätte Jana nichts lieber getan, als die Flucht zu ergreifen, doch jetzt zögerte sie. Wenn der Boss den Raum verließ, war der Gefangene seinen Peinigern vollkommen ausgeliefert.

Gero fuhr mit dem Ende der Gerte kosend über das Gesäß des Bewusstlosen, und Jana senkte den Blick und schluckte gegen die aufsteigende Galle an, als er sich in den Schritt griff, um den Stoff seiner Hose zu lockern.

Als sie wieder hochsah, wurde sie von einem Paar grüner Augen gebannt, dunkel und vernebelt von Schmerzen. Der Gefangene hatte den Kopf gehoben, und sekundenlang wirkte er benommen und desorientiert.

Dann verschärfte sich sein Blick, und sie sah fasziniert, wie ein Glimmen den Nebel darin vertrieb. Im nächsten Moment trat er aus und rammte Gero das Schienbein zwischen die Beine.

Jana kiekste erschrocken, aber ihre Reaktion war nichts gegen die von Gero, der sich mit einem Schrei zusammenkrümmte, die Finger um seinen Schritt geklammert.

Keuchend verharrte er so. Doch dann hob er das Gesicht wieder, und die pure Mordlust stand darin geschrieben.

Mit einem Fluch machte Valentin einen großen Schritt zurück zum Pult und hieb mit der flachen Hand auf den Mikrofonknopf. »Reiß dich am Riemen, Gero. Wenn er stirbt, bringe ich dich um.«

Angewidert wandte er sich ab, und seine nachdrückliche Geste ließ keinen Widerspruch zu.

Stumm ging Jana ihm voraus.

 

* * *

Christian wusste, dass sie ihren Gegner unterschätzt hatten. Nachdem er sich geweigert hatte, Valentins Fragen zu beantworten, ließ dieser ihn systematisch durch den Wolf drehen. Christian hatte den Überblick verloren, wie oft ihn Valentins Schergen aus seiner Zelle gezerrt und in das Verhörzimmer geschleift hatten.

Und nachdem auch das nicht den gewünschten Erfolg erzielt hatte, war Valentin dazu übergegangen, der Kreativität seiner Handlanger freien Lauf zu lassen. Heute war Christian nur deswegen Geros Missbrauch entgangen, weil der nach dem Tritt nicht mehr in der Stimmung gewesen war.

Er merkte, wie sich seine Gedankengänge verselbstständigten, und riss mit einem Fluch den Kopf hoch, um nicht einzuschlafen. Er war so müde, so gottverdammt müde …

Stöhnend rappelte er sich in die Höhe, bis er saß. Er zitterte am ganzen Körper, und seine auf den Rücken geschnürten Hände waren eiskalt und taub.

Wie lange würde es dauern, bis Owain merkte, dass Christian seinen Auftrag nicht erfüllen konnte? Und welche Möglichkeiten blieben ihm dann noch, Valentin zur Rechenschaft zu ziehen? Mit seinem eigenen Leben hatte Christian schon so gut wie abgeschlossen, aber er hätte gar zu gern den Teufel mit sich in die Hölle genommen.

Wieder schweiften seine Gedanken unkontrolliert ab, und als das leise Geräusch in sein Bewusstsein drang, glaubte er, es sei Teil seines halben Traums.

Dann hörte er es erneut, und er holte tief Luft und ließ den Kopf an die Wand in seinem Rücken sinken. Scheiße, er hatte doch gerade erst eine Session hinter sich.

Die Tür öffnete sich, und er presste die Lippen aufeinander, um ihr Beben zu verbergen.

 

* * *

Jana schlüpfte in die Zelle, und die Tür schloss sich hinter ihr. Eine grelle Deckenlampe tauchte den Raum in blaustichiges Licht und ließ ihn noch kälter erscheinen. Fast erwartete sie, ihren Atemhauch in der Luft zu sehen.

Der Gefangene lehnte im Sitzen an der Wand, die Hände auf den Rücken gefesselt. Seine Augen waren voll Argwohn auf sie gerichtet, doch sie hatte die Überraschung darin aufblitzen sehen, als er sie erblickte.

Noch immer war er nackt, und die Zelle war bis auf eine Toilette vollkommen kahl. Noch nicht einmal eine Decke hatten sie ihm gegeben.

Jana kniete neben ihm nieder und streckte die Hand aus, um ihm zu zeigen, was sie darin hielt. Seine Augen senkten sich kurz zu dem Glastiegel, dann huschten sie wieder hoch zu ihrem Gesicht.

»Für deine Verletzungen«, sagte sie leise.

Sie hatte mit Engelszungen auf die Männer eingeredet, bis ihr auf Valentins Anweisung hin endlich die Creme ausgehändigt worden war.

 

Christian beobachtete, wie das Gesicht der Fremden grimmig wurde, als sie ihn musterte. Doch zugleich stand Mitleid in ihren Augen, und seine Anspannung löste sich etwas. Er glaubte nicht, dass ihm von ihr Gefahr drohte.

Was hatte sie in diesem Schlangennest verloren? Was hatte Valentin gegen sie in der Hand?

Er sah zu, wie sie das Gefäß in ihrer Hand aufschraubte und etwas von dem weißen Inhalt auf ihre Fingerkuppen nahm. Sorgsam begann sie damit, das Zeug auf seiner Haut zu verteilen.

»Wie fühlt es sich an?«, fragte sie, ohne den Blick von seinem Oberkörper zu nehmen.

Er öffnete den Mund zu einer Antwort, doch dann kam nur ein Zischen hervor, als seine Wunden unvermittelt begannen, wie Feuer zu brennen.

 

Janas Augen weiteten sich, als der Gefangene sich krümmte und einen qualvollen Laut von sich gab.

»Wisch es ab«, brachte er durch zusammengebissene Zähne hervor.

Sie hatte keine Ahnung, was passiert war – aber ohne zu zögern, riss sie sich das Sweatshirt über den Kopf und wischte seinen Oberkörper damit ab, bis nichts von der Creme mehr auf seiner Haut verblieb.

Ihre Hände zitterten, und Tränen standen in ihren Augen. Fang jetzt nicht an zu heulen!

Sie ließ den zusammengeknüllten Stoff sinken und starrte den Mann an, der sich langsam, ganz langsam, wieder entspannte. Endlich lehnte er sich zurück gegen die Wand. Sein Atem ging keuchend, aber der unerträgliche Schmerz war aus seinem Gesicht verschwunden.

»Was war?«, fragte sie, und ihre Stimme klang so brüchig, dass sie sich räuspern musste.

Wortlos ließ ihr Gegenüber seinen Blick über sie wandern, dann nickte er zu ihrer linken Hand hin. Verwirrt betrachtete Jana ihre Finger, bis sie verstand, worauf er hinauswollte. Am Zeigefinger war ein leichter Ritz zu sehen, wo sie beim Brotschneiden unachtsam gewesen war.

Zögernd verteilte sie etwas von der Creme auf der kleinen Wunde.

Beide starrten auf ihre Hand, während die Sekunden verstrichen. Schließlich hob sie mit einem Stirnrunzeln ihren Blick wieder, doch in diesem Moment schoss ein scharfer Schmerz durch ihren Finger. Gott, es fühlte sich an, als hätte sie Säure drauf gegossen!

 

Christian sah, wie sich das Gesicht der Frau schmerzhaft verzerrte und sie in Panik ihren Finger mit dem Sweatshirt abwischte.

Und dann flog der Tiegel durch die Luft und zerbarst neben der Tür an der Wand.

»Ich fasse es doch verdammt noch mal nicht!«

Mit geballten Fäusten sprang sie auf, und ihre Miene war gequält, als sie zu ihm heruntersah. »Es tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung.«

Sie wirbelte auf dem Absatz herum und trommelte gegen die Tür.

»Lass mich raus!«, forderte sie, und als die Tür aufschwang, machte sie eine abrupte Bewegung mit dem Fuß.

Die Tür öffnete sich nur einen Spalt, und die Reaktion des Wärters zeigte, dass er das Geschehen beobachtet hatte. »Scherben aufsammeln.«

Mit einem zornigen Geräusch zog die Fremde ein Tempotuch aus der Tasche und bückte sich, um die Bruchstücke des Tiegels aufzulesen.

Nach einem letzten prüfenden Blick ließ der Mann sie durch die Tür treten; dann war sie verschwunden.

Und während die Schritte auf dem Gang verklangen, schlossen sich Christians Finger um die größte Scherbe, die seine Besucherin ihm mit dem Fuß über den Zellenboden hinweg zugeschubst hatte.

* * *

Christian ließ so viel Zeit verstreichen, wie er es ertragen konnte, in ständiger Angst, erneut aus seiner Zelle geholt zu werden.

Sobald der Wärter mit der Fremden verschwunden war, hatte Christian damit begonnen, seine Fesseln zu durchtrennen, was ihn schweißtreibende Minuten und eine Reihe von Schnitten in seiner Haut gekostet hatte. Endlich hatte das Material nachgegeben und es ihm erlaubt, seine Arme vor den Körper zu bringen. Nach so langer erzwungener verdrehter Haltung war jede Bewegung qualvoll, und die wundgescheuerten Handgelenke brannten.

Mühsam kam er jetzt auf die Beine und ging zur Tür. Der innere Türgriff war abmontiert worden, sodass nur das Ende des Vierkantstifts zu sehen war.

Christian legte die Fingerspitzen beider Hände auf das Schloss und sammelte sich.

Es dauerte lange, viel zu lange, doch endlich ertönte ein Knacken, und die Tür schwang auf.

Erleichtert trat er hindurch und schloss sie hinter sich. Von den zahlreichen Trips zwischen seiner Zelle und dem Verhörzimmer war er mit der groben Aufteilung des Kellergeschosses vertraut und wusste, dass hier unten neben ein paar Vorratsräumen auch die Waschküche lag.

Und wenn ihm sein Glück zur Abwechslung einmal für fünf Minuten gnädig war, würde er es bis dorthin schaffen, ohne dass jemand mitbekam, dass hier unten ein nackter Mann rumrannte.

Er schaffte es. Knapp. Stimmen kamen hinter der nächsten Ecke den Gang entlang, als er die Waschküche erreichte und den Schlüssel aus dem Schloss riss, bevor er in den Raum schlüpfte und hinter sich abschloss.

Ein Haufen von Schmutzwäsche lag auf dem Boden, und unvermittelt tränten Christians Augen vor Müdigkeit, als er sich vorstellte, wie er sich auf dem weichen Stoff ausstreckte. Mit einem Fluch riss er sich von dem Anblick los und öffnete die Wäschetrockner auf der Suche nach sauberen Sachen.

Minuten später war er in die beige Hose und schwarze Jacke gekleidet, die Valentins Leuten als Uniform dienten, und wandte sich dem Kellerfenster zu. Er öffnete den Flügel und hob die Arme, doch bevor seine Finger das Gitter und die Drähte der Alarmanlage berührt hatten, hielt er inne.

Schwer stützte er sich auf eine der Waschmaschinen und schüttelte den Kopf. Dann machte er kehrt, bevor er es sich anders überlegen konnte.

Da er keine Socken gefunden hatte, war er barfuß, als auf den Gang zurückkehrte und sich auf die Suche nach der Treppe machte. An der Tür zum Erdgeschoss hielt er inne und konzentrierte sich, wobei er versuchte, den stechenden Schmerz hinter seinen Schläfen zu ignorieren. Er war fast am Ende seiner Kräfte.

Sein Geist breitete sich aus, und er erfasste die Personen, die sich im Gebäude befanden. Da er keine Möglichkeit hatte, Valentins Leute von den Gefangenen zu unterscheiden, konzentrierte er sich darauf, die Fremde aufzuspüren.

Noch immer in Trance öffnete er die Tür und schlüpfte hindurch. Auf seinem Weg in den zweiten Stock ließ er sich von seinem geistigen Frühwarnsystem leiten, und es gelang ihm, jeder drohenden Begegnung rechtzeitig auszuweichen. Schwieriger waren die zahlreichen Kameras, die er umgehen oder vorübergehend einfrieren musste, sodass einem eventuellen Überwacher keine Manipulation auffiel.

Als er endlich vor der richtigen Wohneinheit stand und klopfte, war er schweißgebadet und lehnte sich schwer gegen das Türblatt.

Sekunden verstrichen, und er klopfte erneut, fester.

Endlich hörte er, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte, und er raffte sich auf und trat einen halben Schritt zurück.

Die Tür öffnete sich nur einen Spalt. Blaue Augen unter zusammengezogenen Brauen blickten misstrauisch, dann weiteten sie sich überrascht, als sie ihn erkannte.

»Was machst du denn hier?«

Er holte tief Luft und stellte sich aufrechter hin. Dann streckte er die Hand aus. »Komm mit mir.«

Kapitel 2

 

Jana glaubte, ihren Augen nicht trauen zu können. Dem Gefangenen war es ganz offensichtlich gelungen, aus seiner Zelle zu fliehen. Und statt das Weite zu suchen, war er zu ihr gekommen?

Sie spähte ängstlich den Gang entlang; dann griff sie nach seinem Ärmel und zog ihn in die Wohnung. »Komm rein, bevor dich jemand sieht.«

Er folgte ihrer Aufforderung, doch er blieb unmittelbar hinter der Tür stehen, und Ungeduld sprach aus seiner Haltung. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wenn du mitkommen willst, müssen wir jetzt sofort gehen.«

Aufgewühlt fuhr sie sich mit beiden Händen durch die Haare. »Das kann ich nicht.«

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Kühl blickte er sie an, als er fragte: »Du willst bei Valentin bleiben?«

Jana ballte frustriert die Fäuste. »Wenn es nach mir ginge, würde der Scheißkerl schon lange in der Hölle schmoren.«

 

Christians Missbilligung machte Verwirrung Platz. »Dann verstehe ich nicht …«

Sie warf ihm einen angespannten Blick zu, dann machte sie untermittelt einen Schritt zur Seite und öffnete eine der Türen in dem winzigen Flur.

Als sie in dem Durchgang stehenblieb, ohne die Hand von der Klinke zu nehmen, folgte er ihrer unausgesprochenen Aufforderung und trat zu ihr.

Das Licht aus Wohnzimmer und Flur fiel in den dunklen Raum und beleuchtete schwach ein Bett in einer Ecke.

Ein Bett, in dem ein kleiner Junge schlief.

Christians Augen suchten die der Fremden. »Dein Sohn?«, fragte er leise.

»Tim.« Sie sprach mit normaler Lautstärke, doch das Kind rührte sich nicht. »Er ist acht.«

Christian wusste nicht, was er denken sollte. Weshalb lebte sie hier mit einem Kind? Es sei denn –

»Ist Valentin der Vater?«

»Was?« Ihre Augen waren weit aufgerissen, und das Wort war fast ein Schrei.

Unwillkürlich schaute er erneut zu dem schlafenden Jungen, doch noch immer kam keine Reaktion von ihm.

»Warum sonst …?«

»Weil er sich Tims Fähigkeiten zunutze machen will. Tim hat«, sie zögerte, dann zuckte sie die Schultern, »Visionen.«

Ah. Dann war ihm Valentins Interesse klar. »Er kann hellsehen?«

»Mehr oder weniger. Verstehst du jetzt, warum ich nicht mit dir kommen kann?«

Christian lehnte sich gegen den Türrahmen und runzelte die Stirn. »Nein. Dann müsstest du doch erst recht von hier verschwinden wollen.«

Sie sah ihn an, als zweifele sie an seinem Verstand. »Meinst du, ich lasse meinen Sohn hier?«

Jetzt war es an ihm, sie anzustarren. »Was? Bist du verrückt?«

»Du meinst …?«

Ungeduldig stieß er sich von dem Türrahmen ab. »Ja was zur Hölle denn sonst?«

 

Jana spürte, wie ihr das Herz mit einem Mal bis zum Hals schlug und ihre Hände zu zittern begannen. Sekundenlang stand sie starr, unsicher, was sie als Erstes machen sollte.

Dann streckte sie die Hand aus und kippte den Lichtschalter neben der Tür. Als die Deckenlampe anging, bewegte sich Tim und drehte sich unter seiner Decke um, bis seine schläfrigen Augen sie fanden.

Seine Augenbrauen hoben sich, und der gestreckte Zeigefinger strich zweimal leicht über seine Wange. Mama?

Bevor sie antworten konnte, bewegten sich seine Augen von ihr zu dem Fremden in der offenen Tür, und sie sah Furcht in sein Gesicht treten, als er die für Valentins Männer typische Kleidung bemerkte.

Sie schwenkte den Arm und wartete, bis Tim ihr seine Aufmerksamkeit wieder zugewandt hatte.

Er ist ein Freund und will uns helfen. Wir gehen mit ihm weg von hier. Jetzt.

Wohin?

Das weiß ich noch nicht. Weg von hier, wiederholte sie, und Tim nickte, setzte sich auf, schlug die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett.

Hallo, ich bin Tim, gebärdete er, und Jana übersetzte.

Der Fremde hob die Hand zu einem kurzen Winken, dann sah er von Tim zu Jana. »Christian«, sagte er.

Jana gab den Namen an Tim weiter, indem sie ihn mit den Fingern buchstabierte.

Als sie Christian wieder ansah, bemerkte sie seine fragende Miene.

»Jana«, beantwortete sie die unausgesprochene Frage, und ein winziges Lächeln trat auf seinen Mund.

»Freut mich.«

Sie schüttelte den Kopf über die absurde Situation und wandte sich wieder an Tim. Zieh dich an. Schuhe, Jacke. Pack deinen Rucksack mit allem, was du mitnehmen willst. Schnell.

Sie wartete sein Nicken ab, dann sagte sie zu Christian: »Gib uns fünf Minuten.«

 

Christian beobachtete, wie Mutter und Sohn in fliegender Eile zusammensuchten, was ihnen wichtig war. Viel war es nicht, was da zusammenkam. Er fragte sich, wie sie Valentin in die Fänge geraten sein mochten und was für ein Leben sie hatten zurücklassen müssen.

Schneller als erwartet standen beide neben ihm an der Wohnungstür, gestiefelt und gespornt.

»Ich hatte vor, im Keller durch ein Fenster zu klettern, aber du kennst dich hier besser aus. Hast du einen anderen Vorschlag?«, fragte er Jana.

Sie überlegte einen Moment. »In der Küche gibt es eine Tür nach draußen.«

»Wo ist die Küche?«

»Im Erdgeschoss, erste Tür rechts, wenn man die Treppe runterkommt.«

»Weißt du, ob wir um die Zeit damit rechnen müssen, dass da jemand ist?«

Sie sah auf ihre Armbanduhr, dann zuckte sie die Schultern. »So spät war ich noch nie unten.«

»Okay. Ich versuche, uns nach draußen bringen, ohne dass uns jemand sieht. Falls doch was passiert, haltet euch hinter mir; ich werde schon damit fertig. Klar?« Er wartete, bis Jana für ihren Sohn übersetzt hatte, bevor er gedanklich seine Fühler ausstreckte.

 

Jana wartete angespannt, während Christian vor der Tür verharrte, die Augen geschlossen und einen Ausdruck höchster Konzentration auf seinem Gesicht. Lauschte er? Sie selbst hörte nichts außer ihrem eigenen schnellen Atmen.

Endlich öffnete er die Tür, und Janas Hand schloss sich fest um die von Tim, während sie Christian folgten. Er führte sie die Gänge entlang und die Treppen hinunter ins Erdgeschoss.

Bei jedem Schritt rechnete Jana damit, dass sie von Valentins Leuten aufgehalten würden. Sie wusste, dass überall im Gebäude Kameras installiert waren. Warum war ihre Flucht noch niemandem aufgefallen? Und wie würde es ihnen ergehen, wenn man sie entdeckte? Hätte sie mit Tim in ihrer Wohnung bleiben sollen? War es besser, in Gefangenschaft zu leben, als alles für die Hoffnung auf Freiheit aufs Spiel zu setzen?

Doch zum ersten Mal seit dem Tag, an dem sie den größten Fehler ihres Lebens gemacht hatte, hatte sie eine freie Entscheidung getroffen. Sie betete zu Gott, dass sich diese nicht als ebenso katastrophal erweisen würde wie die vorherige.

Sie hatten gerade die letzten Stufen hinter sich, als von oben Schritte zu hören waren.

Christian drehte den Kopf in Richtung der Geräusche, dann huschte sein Blick an den Türen entlang. Die Schritte kamen näher.

 

Innerlich fluchend eilte Christian zu der Tür, hinter der laut Jana die Küche liegen musste. Ohne prüfen zu können, ob jemand im Raum war, drückte er die Klinke nieder und zog Jana und Tim mit sich.

Die Küche war leer.

»Versuch einen Stuhl unter die Klinke zu stellen«, sagte er zu Jana.

Er fand die Tür nach draußen auf der Fensterseite des Raums – und zu seiner größten Erleichterung steckte der Schlüssel.

Dankbar, seine schwindenden Energiereserven schonen zu können, schaltete er die Alarmanlage aus und drehte den Schlüssel im Schloss. Die Tür schwang auf.

»Die Stuhllehne ist nicht hoch genug!«, hörte er Janas gehetzte Stimme und sah sich um.

»Egal, kommt!« Er machte eine nachdrückliche Handbewegung, um die beiden zur Eile anzutreiben.

Er wollte ihnen gerade nach draußen folgen, als sich hinter ihm die Tür öffnete und Gero in die Küche kam.

Scheiße.

Sekundenlang starrten sich die Männer an, während Christian fieberhaft überlegte, ob er sich dem anderen stellen oder die Flucht ergreifen sollte. Schnell wurde ihm klar, dass er keine wirkliche Wahl hatte. Wenn Gero Alarm schlug, würden sie nicht weit kommen.

»Was zur Hölle?« Gero erwachte aus seiner Überraschung und machte einen Satz zur Arbeitsplatte, wo er ein Messer aus einem Block riss. Lauernd näherte er sich Christian, die Klinge drohend erhoben.

Christian wich zurück, und er und Gero umkreisten einander.

»Hast gedacht, du könntest dich aus dem Staub machen, was? Lebend kommst du hier nicht raus.«

Gero machte eine plötzliche Ausfallbewegung, und Christian riss seinen Kopf zurück. Dennoch streifte ihn das Messer, und er fühlte, wie Blut über seine Wange und seinen Hals hinablief.

Ein breites Grinsen stand auf Geros Gesicht, und er leckte sich über die Lippen. »Mehr?«, fragte er.

Christian spürte, wie Hass in ihm aufstieg, als sich die Schmerzen und Demütigungen der vergangenen Wochen Bahn brachen.

Langsam hob er den rechten Arm und streckte die Hand nach Gero aus, Zeige- und Mittelfinger gespreizt. »Bei Schmerzen geht dir einer ab?«

Unvermittelt brachte er beide Finger zusammen. Im selben Moment breitete sich vorn an Geros Hose ein leuchtend roter Fleck aus, und zum zweiten Mal an diesem Tag ging er kreischend in die Knie. Ein gezielter Fußtritt Christians sorgte für Stille.

Schwer atmend stand er neben seinem bewusstlosen Gegner und kämpfte gegen den Schwindel in seinem Kopf an.

Er machte ein paar unsichere Schritte in Richtung der Ausgangstür, ehe er sein Gleichgewicht wiederfand. Er fragte sich, ob Jana und Tim auf ihn warteten oder die Chance zur Flucht genutzt hatten, doch als er nach draußen kam und sich suchend umsah, hörte er Jana flüstern: »Hier sind wir.«

Er folgte ihrer Stimme und fand die beiden hinter ein paar Büschen am Rand des Parkplatzes kauernd.

 

Jana atmete erleichtert auf, als sie Christian sah. Nachdem er ihnen nicht sofort gefolgt war, hatte sie mit sich gerungen, ob sie warten oder mit Tim fliehen sollte. Und als sie dann die Schreie gehört hatte, hatte sie geglaubt, Christian wäre verletzt worden; und wäre sie allein gewesen, wäre sie ihm zu Hilfe geeilt.

Glücklicherweise hatte sie gewartet, denn als er die Tür hinter sich schloss und zu ihnen herüberkam, folgte ihm niemand.

»Lasst uns von hier verschwinden«, sagte er.

Jana sah sich auf dem Parkplatz um, der zu Valentins Anwesen gehörte. »Kannst du ein Auto knacken?«, fragte sie.

Christian zögerte. Dann ging er langsam zu einem der Wagen und legte die Hände auf die Autotür. Sekunden verstrichen, während Jana unruhig von einem Bein auf das andere trat und sich fragte, was genau er da eigentlich machte. Auch Tim sah fragend zwischen ihr und Christian hin und her.

Unvermittelt ließ Christian die Hände sinken und lehnte sich schwer gegen das Auto. Bestürzt hörte Jana, wie er würgte.

Er hob den Kopf, und im Schein der Außenbeleuchtung war sein Gesicht kreideweiß und schimmerte von Schweiß.

»Ich kann nicht mehr«, sagte er tonlos. »Es tut mir leid, aber ich bin fertig.«

Jana biss sich auf die Lippe; dann nickte sie energisch.

Du bleibst hier bei Christian, befahl sie Tim.

Nach einem kurzen Blick in die Runde ging sie mit schnellen Schritten zu dem ältesten Wagen, der auf dem Parkplatz stand. Kurzerhand brach sie die Teleskop-Antenne ab und zog sie auseinander.

»Dann lass uns hoffen, dass wir in der Karre irgendwo Werkzeug finden«, murmelte sie und begann damit, die Antenne zwischen Fensterscheibe und Gummidichtung hindurchzuschieben.

 

Kurze Zeit später hatten sie Valentins Gelände hinter sich gelassen und waren auf dem Weg in die Innenstadt. Christian hatte sich etwas erholt, doch seine Hände zitterten noch immer.

»Wo hast du gelernt, wie man Autos knackt?«, fragte er.

»Ein Freund hat es mir gezeigt, als ich sechzehn war.«

Seine Augenbrauen hoben sich. »Du hattest offensichtlich interessante Freunde.«

Sie warf ihm einen ärgerlichen Seitenblick zu. »Sei froh, sonst hätten wir uns zu Fuß auf den Weg machen können.«

Er hob die Hände. »Das war keine Kritik.«

Ganz im Gegenteil. Er war voller Bewunderung für Janas ungeahnte Fähigkeiten.

Sie gab ein skeptisches Geräusch von sich. »Guck mal im Handschuhfach, ob du was Nützliches findest.«

Er folgte ihrer Aufforderung und wühlte sich durch einen Haufen Kram. »Jede Menge Zettel, Fahrzeugschein, Taschenlampe, Taschentücher. Und fünfzig Euro.«

»Damit werden wir nicht weit kommen.«

»Brauchen wir auch nicht. Wenn du irgendwo McDonald’s oder so was siehst, halt an. Ich muss was essen.«

»Du willst unser einziges Geld für Fastfood rausschmeißen.«

Er lächelte schwach. »Erst essen, dann fahren wir zu mir nach Hause.«

Jana schwieg. »Zu dir nach Hause?«, fragte sie dann.

»Hmhm.«

 

Jana sah zu ihm hinüber. Er hatte die Beine angezogen, und seine großen Hände bedeckten die nackten Füße. Sein Kopf ruhte auf den Knien, und sein Gesicht war ihr zugewandt. Und er sah entsetzlich müde aus.

»Warum schläfst du nicht ein bisschen? Ich wecke dich, wenn wir da sind.«

Er schüttelte langsam den Kopf, und der Hauch eines Lächelns verzog seinen Mund. »Wenn ich jetzt einschlafe, dann war’s das für die nächsten zwölf bis sechzehn Stunden. Red mit mir, das hält mich wach.«

Sie stellte die erste Frage, die ihr in den Sinn kam: »Wer war das, der vorhin geschrien hat?«

»Gero.«

»Was hast du mit ihm gemacht?«

»Was er verdient hat«, antwortete er knapp.

Sie lächelte mit schmalen Lippen. »Gut.«

Seine Knöchel wurden weiß, als sich seine Finger zu Fäusten ballten. »Hat er jemals …?«

»Nicht bei mir, nein. Gegen mich hatten sie anderes in der Hand.« Sie warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel zu Tim. »Aber sonst hat Valentin seinen Leuten freie Hand gelassen, wenn es darum ging, seine Opfer unter Druck zu setzen. Bei Gero ist es der Sex. Mann oder Frau, das ist ihm gleich, solange sie ihm ausgeliefert sind.«

 

Christian nickte grimmig. So viel hatte er dem Gespräch der beiden Männer entnehmen können, als sie ihn in der Mangel gehabt hatten. »Das Thema hat sich für ihn erledigt.«

Er hörte sie langsam und tief Atem holen.

»Gut«, sagte sie erneut.

Nach einem Moment fügte sie wie zu sich selbst hinzu: »Ich fühle mich wie ein Feigling, dass ich so oft weggesehen habe.«

Christian schüttelte den Kopf. Was hätte sie tun sollen?

Jana bog auf den Parkplatz eines Schnellrestaurants ein, nahm den Fuß vom Gas und ließ die Kupplung kommen, sodass der Motor abgewürgt wurde und ausging.

Christian wartete, bis sie die Handbremse angezogen hatte, ehe er erneut sprach. »Brauchte es Mut, um mit einem kleinen Kind in dieser Umgebung zu leben?«

»Oh Gott, ja.«

Er sagte nichts, sondern sah sie nur mit hochgezogener Augenbraue an, bis sie schließlich nickte.

»Ich verstehe, was du meinst.«

 

Jana rieb sich mit den flachen Händen über die Oberschenkel. Dann holte sie tief Luft, setzte ein Lächeln auf und drehte sich so im Sitz, dass Tim ihren Mund sehen konnte.

»Ich gehe eben rein und hole uns was. Was wollt ihr haben?«

Ich will drinnen essen, Mama!, kam die nachdrückliche Antwort.

Sie schüttelte den Kopf. Ein anderes Mal.

Aber ich war schon ewig nicht mehr bei McDonald’s!

Christian hat keine Schuhe und sieht aus wie ein Räuber.

Tim betrachtete Christian, und seine Unterlippe schob sich schmollend vor.

»Was?«, wollte Christian wissen.

»Tim will drinnen essen. Wir waren eine Weile … aus dem Verkehr gezogen, was solche Dinge betrifft.«

»Wie lange?«, fragte er leise.

»Fast zwei Jahre«, antwortete sie ebenso leise, und er schloss kurz die Augen.

Dann öffnete er sie wieder und strich sich mit beiden Händen die langen Haare aus dem Gesicht. »Hast du einen Kamm und ein Haargummi?«

Er wühlte einen Moment im Handschuhfach, dann hatte er eine Packung Taschentücher in der Hand. Er durchnässte ein paar Tücher mit Wasser aus der Flasche, die er in der Mittelkonsole gefunden hatte.

»Weg?«, fragte er und hielt ihr sein Gesicht hin. Rote Schlieren zogen sich über Wange und Hals, und Taschentuchfussel hingen in seinem kurzen Bart.

»Gib mal her.« Jana tauschte Tücher und Wasser gegen Kamm und Haarband und knöpfte sich sein Gesicht vor, während er seine Haare zurückkämmte und am Hinterkopf zu einem lockeren Dutt zusammennahm.

Als sie fertig waren, sah er immer noch wie ein Räuber aus – aber wie ein sehr hipper.

»Was ist mit deinen Füßen?«

»Wird schon niemand was sagen.«

Sie betraten das Restaurant, wo Tim schnurstracks auf die Theke zusteuerte und mit großen Augen die Menütafel studierte.

Jana klopfte ihm auf die Schulter, und er drehte den Kopf.

Denk dran, dass du schon zu Abend gegessen hast.

Er rollte grinsend die Augen und nickte.

Sie gaben ihre Bestellung auf und warteten, bis alles fertig war, ehe sie sich mit ihren Tabletts eine abgelegene Ecke suchten.

 

Christian aß mechanisch, so erschöpft, dass ihm beim Kauen fast die Augen zufielen.

Tim stieß seine Mutter an und gebärdete.

Sie sah Christian an. »Er will wissen, wie lange du nichts gegessen hast.«

Christian überlegte einen Moment, während er weiterkaute. Dann hob er drei Finger und drehte anschließend leicht die offene Hand hin und her. Mehr oder weniger.

Tim zuckte die Schultern, unbeeindruckt, und Jana lächelte schwach.

»Tage, nicht Stunden«, sagte sie in Gebärden- und Lautsprache zu ihrem Sohn, und seine Augen wurden groß.

Er schob die Tüte mit seinen eigenen Pommes über den Tisch. Gerührt nahm sich Christian ein paar und strich Tim über die Wange, bevor er ihm die Tüte wieder zurückschob.

»Wo wohnst du?«, fragte Jana, ehe sie sich den letzten Bissen ihres eigenen Cheeseburgers in den Mund steckte.

»Halbe Stunde von hier, ungefähr. Eine kleine Wohnung, die ich gemietet habe, bevor ich Kontakt mit Valentin aufgenommen habe.«

Ihre Augen weiteten sich. »Du hast Kontakt zu ihm aufgenommen? Warum?«

Misstrauen sprach aus ihrer unvermittelt angespannten Körperhaltung, und sie lehnte sich leicht zu ihrem Sohn hinüber.

Christian konnte es ihr nicht verdenken. Es gab zwei Gruppen von Menschen in Valentins Komplex: die, die unfreiwillig dort waren – und die anderen. Willige Kollaborateure oder Handlanger wie Gero und Marek, die sich an ihrem bisschen Macht aufgeilten.

»Ich hatte gehofft, genug über seine Organisation rauszufinden, dass wir sie knacken können.«

»Wir?«

Er musterte sie, während er seine letzten kalten Pommes in den Mund stopfte und mit dem Rest seiner Cola runterspülte.

»Nicht der richtige Zeitpunkt oder Ort.«

Widerstrebend nickte sie. »Was ist schiefgelaufen?«

»Valentin hat spitzbekommen, dass ich nicht wirklich der hoffnungsvolle neue Kandidat für seinen Verein war, als der ich mich ausgegeben hatte.«

»Wie lange warst du in seiner Gewalt?«

Er sog langsam und tief die Luft ein, knüllte seine Serviette zusammen und schob sein leeres Tablett zur Seite. »Knapp zwei Wochen.«

Über dreihundert gottverdammte Stunden in Isolation und Kälte, mit wenig Schlaf und noch weniger Nahrung.

Immer in der Angst davor, dass sie ihn zum nächsten Verhör abholen würden. Oder dass sie es irgendwann aufgeben würden, ihn brechen zu wollen, und sie ihn kaltmachen oder ihn einfach in seiner Zelle verrotten lassen würden.

Jana sagte nichts, doch ihre Hand legte sich für einen Moment auf seine, und die Berührung war so tröstlich nach seinem Martyrium, dass seine Augen brannten.

Er stand auf. »Sollen wir?«

 

Jana ließ sich von Christian durch die fast leeren Straßen lotsen, bis sie das Haus erreicht hatten, in dem seine Wohnung war. Mit einem Seufzer ließ sie den Motor ausgehen, froh, dass der kurzgeschlossene Wagen so lange durchgehalten hatte.

»Wie kommen wir rein?«

»Wir können bei einem Nachbarn klingeln, der hat einen Schlüssel.«

Christian öffnete die Beifahrertür, und sie sah ihn zusammenzucken, als sein nackter Fuß den Boden berührte. Es hatte leicht zu regnen begonnen, und die Temperaturen waren im einstelligen Bereich.

Jana und Tim folgten ihm zur Haustür, wo er einen der vielen Klingelknöpfe drückte.

»Meinst du, der ist um die Zeit noch wach?«, fragte sie.

Christian zuckte die Schultern. »Wird schon. Er ist Student.«

»Ja?«, kam eine Stimme aus dem kleinen Lautsprecher über der Klingelanlage.

Christian beugte sich vor. »Christian hier. Lässt du uns rein? Ich brauche meinen Schlüssel.«

Der Summer ertönte, und er drückte die Tür auf und trat in den Hausflur.

»Er wohnt im dritten Stock. Lasst uns zu Fuß gehen; der Aufzug braucht ewig, bis er kommt.«

Christians Freund wartete an der offenen Wohnungstür auf sie. Er trug Jeans, Pulli und Socken und sah trotz der späten Stunde hellwach aus.

»Mensch, Alter, wo bist du denn gewesen?« Er begrüßte Christian mit einer halben Umarmung, während sein neugieriger Blick Jana und ihren Sohn streifte.

»Gibt es da was, das du mir nicht erzählt hast?«

Christian schüttelte den Kopf und lehnte sich gegen die Wand des Korridors. Extreme Müdigkeit sprach aus seiner Körperhaltung; er sah aus, als könne er sich nur noch mit Mühe aufrecht halten.

»Gibst du mir den Schlüssel? Vielleicht erzähle ich dir die Story mal bei einem Bier.«

»Tu das.« Der Fremde verschwand in seiner Wohnung und kam kurz drauf mit einem Schlüssel in der Hand zurück.

»Hier. Und sieh zu, dass du etwas Schlaf kriegst.«

Christian gab ein kurzes Geräusch von sich, das ein Lachen sein mochte, und nahm den Schlüssel entgegen. »Danke.«

Sie folgten ihm eine weitere Treppe hinauf, und Jana hatte das Gefühl, dass er mit jeder Stufe langsamer wurde. Endlich hatten sie seine Wohnung erreicht, und er ließ sie eintreten, bevor er wieder abschloss.

»Fühlt euch wie zu Hause.« Er deutete, während er weitersprach. »Küche, Wohnzimmer, Badezimmer.«

Er trat durch eine offene Tür. »Schlafzimmer. Tut mir leid, es gibt nur das eine Bett. Aber wir passen locker zu dritt rein, wenn es euch nichts ausmacht.«

Er sah sich über die Schulter nach Jana um. »Und wenn euch mein Geruch nicht stört. Bei aller Liebe, duschen werde ich heute nicht mehr.«

Er zog die Decke zur Seite und warf eins der beiden Kopfkissen zu dem anderen. »Aber macht, was ihr wollt, mich weckt nichts, bis mein Akku wieder voll ist.«

Jana verfolgte, wie er sich auf die Bettkante setzte und zurückfallen ließ. Ein Bein zog er noch ins Bett, dann bewegte er sich nicht mehr.

Sie beobachtete ihn einen Moment. War er wirklich schon eingeschlafen? Seine Augen waren geschlossen, und sein Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig.

Offensichtlich.

Sie schüttelte den Kopf und ging zu ihm, um sein zweites Bein ins Bett zu heben. Seine nackten Füße waren dreckig und wahrscheinlich halbe Eisklumpen.

Sie zog die Decke über ihn und wickelte das Ende um seine Füße.

Als sie sich abwandte, sah sie gerade noch ihren Sohn gähnen.

Ab ins Bett.

Aber Christian liegt doch schon drin.

Wie breit bist du denn? Sie hielt ihre Hände ein Stück entfernt neben ihrer Taille. So breit? Sie vergrößerte den Abstand. Oder so breit?

Er lachte und hielt seine eigenen Hände hoch, kaum zwanzig Zentimeter nebeneinander. So breit.

Sie grinste. Na, dann passt du ja gut noch mit rein. Und ich auch.

Sie durchsuchte die Tasche, die sie für sie beide gepackt hatte, und zog ihre Schlafanzüge heraus.

Umziehen und ab in die Kiste. Zähneputzen fällt ausnahmsweise aus.

Habe ich mir doch geputzt, bevor ich das erste Mal ins Bett gegangen bin, sagte er und gähnte erneut.

Sie schüttelte den Kopf und ließ es durchgehen.

Minuten später lagen sie nebeneinander in dem Doppelbett, Tim auf der einen Seite und Christian auf der anderen, Jana in der Mitte.

Und schneller, als Jana es für möglich gehalten hätte, schliefen alle drei.

Kapitel 3

 

Jana wurde erst wieder wach, als Tageslicht durch die gekippten Lamellen der Jalousie vor dem Fenster drang. Noch benommen vom Schlaf sah sie hoch zur Decke und fragte sich, wo sie war.

Im nächsten Moment fielen ihr die Ereignisse der Nacht wieder ein, und sie drehte eilig den Kopf. Tim lag fest schlafend neben ihr, die Wangen leicht gerötet und beide Hände unter dem Kinn.

Jana sah zur anderen Seite. Der Fremde – Christian – sah aus, als hätte er sich seit dem Zubettgehen nicht bewegt. Aber wenigstens atmete er.

Mit einem Gähnen setzte Jana sich auf. Durch die Bewegung geweckt, öffnete Tim die Augen und räkelte sich.

Morgen, Mama.

Morgen. Gut geschlafen?

Er nickte und kroch unter der Decke hervor und aus dem Bett.

Was gibt es zum Frühstück?

Ich habe keine Ahnung. Mach dich schon mal fertig, und ich gucke, was ich in der Küche finde, ja?

Tim zog ab ins Bad, und Jana schloss die Schlafzimmertür hinter sich und stand mit ein paar Schritten in der winzigen Küche. Nachdem sie eine Packung Müsli und ein halbes tiefgefrorenes Toastbrot aufgestöbert hatte, öffnete sie auf alles gefasst den Kühlschrank – immerhin war Christian fast zwei Wochen nicht zu Hause gewesen.

Angenehm überrascht nahm sie Margarine, Marmelade und eine ungeöffnete Packung H-Milch heraus und stellte alles auf den kleinen Ecktisch, bevor sie den angebrochenen Käseaufschnitt in den Abfall beförderte. Nichts gegen Schimmelkäse, aber nicht, wenn ›Gouda‹ auf der Packung stand.

Sie suchte Geschirr und Besteck zusammen und holte den Toaster aus dem Schrank.

Müsli oder Toast?, fragte sie, als Tim in die Küche kam.

Müsli. Er füllte ein Schüsselchen und setzte sich.

Kann ich gleich Fernsehen gucken?, gebärdete er mit einer Hand, den Löffel in der anderen.

Klar, wenn wir was für Kinder finden. Jana nahm die beiden Scheiben aus dem Toaster und setzte sich zu ihrem Sohn.

Wie lange bleiben wir hier?

Jana zuckte die Schultern. Wir müssen mit Christian sprechen, sobald er wach ist.

Ohne großen Appetit begann sie, an ihrem Toast zu nagen. Die ungewisse Zukunft schlug ihr auf den Magen. So schlimm die Zeit in Valentins Hauptquartier auch gewesen war, wenigstens hatte sie gewusst, woran sie mit ihm war. Christian machte einen vertrauenswürdigen Eindruck, doch Menschen konnten einen täuschen. Valentin war ein wahrer Charmeur gewesen, als sie ihn kennengelernt hatte.

Christian hatte ihnen geholfen zu fliehen, aber wie sehr war er dabei von Eigennutz getrieben gewesen?

Er hätte nicht zu ihr kommen müssen – aber wenn sie nicht das Auto geknackt hätte, wäre er zu Fuß gewesen.

 

* * *

Noch immer unfähig, das Gedankenkarussell in ihrem Kopf zu stoppen, stand Jana später am Wohnzimmerfenster und blickte hinaus in den trüben Herbsttag, während Tim sich eine Zeichentrickserie ansah.

Jana fuhr zusammen, als unvermittelt die Stille von einem dumpfen Hämmern unterbrochen wurde, als schlüge jemand mit schweren Fäusten gegen die Wohnungstür.

Janas erster Gedanke war, dass Valentins Leute sie aufgespürt hatten.

Das Geräusch war so laut, dass selbst Tim aufsah, durch die Vibrationen aufmerksam geworden.

Bleib hier!, bedeutete Jana ihm mit Nachdruck, bevor sie sich leise der Tür näherte.

Was sollte sie tun? Den Eindruck vermitteln, es wäre niemand in der Wohnung, oder etwas sagen, damit der Unbekannte nicht glaubte, freie Bahn zu haben?

Und wie konnte Christian bloß bei diesem Krach weiterschlafen?

Jana hob das Kinn und gab sich Mühe, ihre Stimme energisch klingen zu lassen. »Wer ist da?«

»Ich spreche kein Deutsch. Öffnen Sie die verdammte Tür!«, befahl der Fremde auf Englisch.

»Wer sind Sie?«, fragte sie in derselben Sprache zurück.

»Ein Freund von Christian. Wo ist er?«

Jana entspannte sich etwas, aber sagte der andere wirklich die Wahrheit? Erneut sah sie Richtung Schlafzimmer. Wenn Christian jetzt noch nicht aufgetaucht war, würde ihn wohl wirklich nichts wecken.

»Er kann grad nicht.«

»Sagen Sie ihm, er soll seinen Hintern zur Tür bewegen, sonst trete ich sie ein!«

Erneutes Fausttrommeln ließ das Türblatt erzittern.

Jana wich zurück. »Gehen Sie weg, sonst rufe ich die Polizei!«

Sie sah sich nach einer Waffe um und griff nach einer Stehlampe mit einem schweren Messingfuß. Rasch bückte sie sich und zog den Stecker aus der Wand, ehe sie die Lampe in den Händen wog, um ein Gefühl für den Schwerpunkt zu bekommen.

Als sie sich wieder der Tür zuwandte, sah sie, wie sich etwas Wolkenförmiges durch das Material schob. Vor ihren fassungslosen Augen verdichtete sich das Gebilde auf der Innenseite zu einem stämmigen Mann mit rötlich-blonden Haaren.

Die Lampe entglitt ihren kraftlosen Fingern und schlug krachend auf dem Boden auf.

Der Mann zuckte zusammen. »Ich würde sagen, die ist hin.«

Er sah von dem zerbrochenen Lampenschirm zu Jana. »Keine Sorge, ich bin wirklich mit Christian befreundet. Mein Name ist Brodie.

---ENDE DER LESEPROBE---