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Charlotte Peters

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Beschreibung

Zögernd näherte sie sich noch ein paar Schritte, und dann sah sie ihn. Es war ein Mann, der dort unter den Zweigen kauerte. Und in seinem Gesicht stand mehr Furcht, als sie je bei einem Menschen gesehen hatte.

KALT WIE DIE ANGST

Als die Streetworkerin Julia im winterlichen Eifelwald einem orientierungslosen und halb erfrorenen Mann zu Hilfe kommt, ahnt sie nicht, welche Folgen ihr Mitgefühl haben wird. Der Fremde ist verletzt und begegnet ihr mit unsäglicher Angst. Wer er ist und wie er in diese Lage kam, bleibt zunächst ein Rätsel.
In Köln sehen sich die privaten Ermittler Jonas und Felix mit vermeintlich unzusammenhängenden Fällen konfrontiert: einer vermissten Studentin aus bestem Hause und einem toten Straßenkind. Mit Julias Unterstützung stoßen die beiden schließlich auf das fehlende Bindeglied.
In den folgenden Wochen kommen sich Jonas und Julia auch privat sehr nahe. Als jedoch ihre gemeinsamen Ermittlungen einen perfiden Plan enthüllen, müssen sie feststellen, dass die Gegenseite gut über ihre Aktivitäten informiert ist. Zu gut.

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Charlotte Peters

 

 

 

 

KALT WIE DIE ANGST

Hinweis:

Die handelnden Personen und alle Geschehnisse sind frei erfunden und haben kein Vorbild in der Realität. Orte sowie Unternehmen, Behörden, Organisationen und andere Gruppen sind ebenfalls frei erfunden oder werden fiktiv genutzt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright © 2019 Charlotte Peters

 

Charlotte Peters

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

Inhaltsverzeichnis

 

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Epilog

 

Leseprobe

Kapitel 1

 

Die einzigen Geräusche waren das Knarzen ihrer Stiefel im frisch gefallenen Schnee und ihr gleichmäßiges Luftholen. In der schneidenden Kälte kondensierte ihr Atem und umgab ihren Kopf in einer dichten Wolke. Ein paar Meter vor ihr rannte Tai lautlos wie ein schwarzer Geist durch die weiße Landschaft.

Ihr Gesicht, der einzige Teil von ihr, der nicht durch mindestens eine dicke Lage gegen die eisigen Temperaturen isoliert war, prickelte, und sie blinzelte gegen die Tränen an, die ihr der Wind in die Augen trieb. Sie fühlte sich wunderbar.

Sie hielt inne, hob den Kopf und sah zwischen den starren, schwarzen Ästen hindurch in den blassgrauen Himmel. In wenigen Minuten würde die Dämmerung einsetzen. Zeit, zur Hütte zurückzukehren.

Doch vorher stand sie noch einen Augenblick da und genoss die nun absolute Stille. Bis diese Stille jäh von lautem, stakkatohaftem Bellen zerrissen wurde.

»Tai? Tai!« Ihr erster Impuls war es, den Hund zu sich zu rufen – aber wenn er so anschlug, musste er etwas entdeckt haben. Unsicher, ob Tai in Gefahr war, beschleunigte sie ihre Schritte. Ein Luchs oder gar ein Wildschwein konnten selbst einem ausgewachsenen Labrador richtig Ärger machen.

Als sie näherkam, sah sie Tai vor einem schneebedeckten Busch stehen, die Rute steil aufgerichtet. Er verstummte und sah sich kurz nach ihr um, bevor sich seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn richtete.

Noch immer konnte sie nicht genau erkennen, was sich dort versteckte, doch es schien etwas Großes zu sein – zu groß für ein Tier, oder? Zögernd näherte sie sich noch ein paar Schritte, und dann sah sie ihn.

Es war ein Mann, der dort unter den Zweigen kauerte. Und in seinem Gesicht stand mehr Furcht, als sie je bei einem Menschen gesehen hatte.

»Tai, back«, befahl sie, und als der Labrador neben ihr stand, griff sie demonstrativ in sein Halsband, um ihr Gegenüber zu beruhigen. Es war nicht jedermanns Sache, sich unvermittelt Auge in Auge mit einem massigen schwarzen Hund zu sehen. Doch als sie ihren Blick wieder dem Fremden zuwandte, stockte ihr der Atem: Die nackte Angst, die sich in seinem Gesicht zeigte, galt nicht dem Hund. Sie galt ihr.

Sie stand regungslos, unsicher, was sie tun oder sagen sollte. Schließlich ging sie ein Stück von ihm entfernt in die Hocke und begann, mit sanfter Stimme zu sprechen.

»Es ist alles in Ordnung. Ich werde Ihnen nichts tun. Ich möchte Ihnen helfen.«

Er antwortete nicht. Konnte er sie überhaupt verstehen? War er geistig verwirrt? War er ein Flüchtling, der Streit mit seinen Schleppern bekommen hatte?

Sie musterte ihn genauer. Er war etwa in ihrem Alter, Mitte dreißig, und trug Winterkleidung, aber nichts, was bei den aktuellen Temperaturen für einen längeren Aufenthalt im Freien ausreichend gewesen wäre. Sein Gesicht war blass, fast bläulich im Schatten der Zweige über ihm, und er sah aus, als hätte er sich einige Tage nicht rasiert.

Ohne viel Hoffnung zog sie ihr Handy aus der Tasche, aber natürlich hatte sie keinen Empfang.

»Sie können nicht hierbleiben«, wandte sie sich wieder an ihn. »Sie müssen ins Warme.«

Ohne sich zu erheben, bewegte sie sich langsam auf ihn zu. Er verharrte regungslos, nur sein Kopf neigte sich minimal nach hinten und zur Seite. Als sie bei ihm war, zog sie den Handschuh aus und berührte ihn an der Wange. Seine Haut war eiskalt.

»Wie lange hocken Sie schon hier draußen?«

Noch immer sagte er nichts, aber unvermittelt lehnte er die Wange in ihre Handfläche, als hätte das Verlangen nach Wärme für einen Moment über die Angst gesiegt. Die stumme Geste schnitt ihr ins Herz.

»Kommen Sie.« Entschlossen, aber mit vorsichtigen Bewegungen stand sie auf und hielt ihm ihre Hand entgegen. Er rührte sich nicht.

»Nehmen Sie meine Hand!« Dem befehlenden Ton folgend streckte er langsam seinen eigenen Arm aus und griff zu. Taumelnd kam er mit ihrer Unterstützung auf die Füße.

»Gut so. Kommen Sie.« Sie hakte sich bei ihm ein und stützte ihn auf den ersten Metern, bis sich die Starre seiner Beine gelöst hatte. Auch danach behielt sie den Körperkontakt bei, halb damit rechnend, dass er die Flucht ergreifen würde.

»Ich habe eine Hütte in der Nähe. Dort wärmen wir Sie auf. Leider bin ich im Moment von der Außenwelt abgeschnitten, wegen des Schneefalls in den letzten Tagen. Das passiert hier in der Eifel schon mal. Wissen Sie, dass wir hier in der Eifel sind?«

Ohne eine Antwort zu erwarten, redete sie mit ruhiger Stimme weiter, erzählte ihm von sich und Tai, von der Hütte und den Problemen, die der ungewöhnlich harte Winter in diesem Jahr verursachte. Sie atmete auf, als sie endlich ihr Ziel erreicht hatten.

»Da sind wir. Gleich wird es wärmer.«

Sie öffnete die Tür und schob ihn vor sich her ins Innere. Sie wartete, bis Tai sich den Schnee aus dem Fell geschüttelt hatte und ihnen gefolgt war. Dann schloss sie die Tür wieder und drehte sich zu dem Fremden um.

Sie streckte die Hände nach ihm aus, um den Reißverschluss seiner Jacke zu öffnen, und er zuckte zurück, als hätte sie ihn geschlagen. Sie erstarrte.

»Ich will Ihnen nur die Jacke ausziehen. Sehen Sie?« Mit langsamen Bewegungen streifte sie ihre eigene Jacke ab und legte sie auf den Boden, bevor sie erneut nach seiner griff. Sein Kopf sank herab, und die Anspannung in seinem Körper löste sich. Doch sein Gesicht zeigte nicht Entspannung, sondern die Akzeptanz des Unausweichlichen.

Mitleid erfüllte sie und klang in ihrer Stimme mit. »Sehr gut. So, jetzt noch die Schuhe.« Sie kniete sich nieder und löste seine Schnürsenkel, sodass sie ihm die Stiefel von den Füßen ziehen konnte.

»Jetzt gehen wir ins Badezimmer. Kommen Sie.«

In dem kleinen Bad stellte sie ihn auf den Duschvorleger und begann, ihn auszuziehen.

»Sie brauchen eine warme Dusche, um aufzutauen. Aber nicht zu warm, das ist nicht gut bei Erfrierungen.«

Sie knöpfte seine Hose auf, und sein Körper spannte sich an. Sein Atem kam schnell und flach, und einen Augenblick lang dachte sie, er reagiere auf ihre Nähe und die intime Situation.

Dann sah sie hoch. Sein Gesicht war eine starre Maske und die Augen fest geschlossen. Er hatte Angst. Lähmende, grauenvolle Angst.

Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück. Aber was sollte sie machen? Sie konnte ihn nicht so hier stehen lassen. Wenn sie ihm helfen wollte, musste sie ihn berühren. Entschlossen kam sie wieder näher und zog ihm vorsichtig seinen Pullover und das langärmelige T-Shirt darunter über den Kopf.

»Oh Gott. Was ist denn mit Ihnen passiert?«

Dunkelrote bis blaue Blutergüsse und Schwellungen bedeckten seinen Oberkörper. Entsetzt glitten ihre Augen von einem Mal zum anderen. Dann sah sie die Einstichstellen an seinen Armen und holte scharf Luft. Das war ein Anblick, mit dem sie leider nur zu vertraut war. War er ein Junkie? Aber für einen Drogenabhängigen waren es kaum genug Einstiche, und sie sahen alle etwa gleich alt aus.

Sie streifte seine Hose nach unten und fand auch seine Beine mit blauen Flecken bedeckt. Jemand musste ihn systematisch durch die Mangel gedreht haben. Einer Eingebung folgend richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf seine Unterarme. Breite, wunde Streifen zogen sich um beide Handgelenke. Er war gefesselt gewesen, und er hatte sich gegen diese Fesseln gewehrt.

Als er nackt bis auf die Unterhose vor ihr stand, beugte sie sich in die Dusche und stellte das Wasser an. Ohne Rücksicht darauf, dass der Ärmel ihres Pullis nass wurde, bis sich die Wolle bis zur Schulter vollgesaugt hatte, regelte sie die Temperatur so, dass das Wasser lauwarm war.

Dann drehte sie sich zu dem Fremden um und streckte die Hand aus, um ihm zu zeigen, dass er unter den Strahl treten solle. Er gehorchte mit deutlichem Zögern. Doch als das Wasser auf ihn herabprasselte, gab er einen leisen Laut von sich, und sie sah, wie ein Schauer über seinen Körper lief. Lange Zeit stand er vollkommen reglos, den Kopf gesenkt.

Dann sah er langsam wieder auf, und sein Blick hing an ihr, während das Wasser über sein Gesicht lief. Sie wusste nicht, wie viel Zeit verging, während sie einander in die Augen sahen.

Endlich unterbrach er den Kontakt, als er sich umschaute und nach dem Duschgel griff. Er wusch seine kurzen Haare, dann begann er, sich mit schnellen, energischen Bewegungen einzuseifen. Seine Hände fuhren ohne Rücksichtnahme über die Blutergüsse und Schrammen auf seinem Oberkörper. Dann stießen sie an seine Unterhose, und er hielt inne.

Zeit für einen strategischen Rückzug. Sie nahm Philips Bademantel vom Haken und legte ihn zusammen mit einem der großen Duschhandtücher über den Hocker neben der Dusche.

»Ich lasse Ihnen die Sachen hier. Zahnpasta und eine neue Zahnbürste finden Sie da im Schrank. Ich bin nebenan, falls was ist.«

Sie floh aus dem Bad und zog die Tür hinter sich zu. Im Schlafzimmer zog sie sich um und holte einen von Philips Schlafanzügen und ein paar dicke Socken aus der Kommode, die sie mal für ihn gestrickt und mit ABS-Tupfen versehen hatte. Er hatte sie albern gefunden und nicht ein einziges Mal getragen.

Sie bezog das Bett frisch, dann ging sie in die Küche, zog den Topf mit dem aufgetauten Eintopf aus dem Kühlschrank und stellte ihn auf den Herd. Sie war gerade dabei, Brot aufzuschneiden, als sie hörte, wie der Fremde aus dem Bad kam.

Sie drehte sich um und musterte ihn kritisch. Sein Gesicht hatte die unnatürliche Blässe verloren, und seine Lippen zeigten wieder eine normale Farbe. Seine Haare waren noch feucht und fielen ihm wirr in die Stirn.

Sie nahm Schlafanzug und Socken vom Tisch und gab sie ihm. »Hier, ziehen Sie das an.«

Er nahm die Sachen entgegen, aber sein Blick hing an dem Topf, aus dem der Duft von Hühnerfleisch und Suppengemüse aufstieg. Sein Magen knurrte.

»Sobald Sie sich umgezogen haben, können wir essen.« Sie holte zwei tiefe Teller und Löffel aus dem Schrank, und als sie sich umdrehte, war er verschwunden.

Sie deckte den Tisch, stellte die Suppe auf einen Untersetzer und einen Korb mit den Brotscheiben daneben und goss Mineralwasser in zwei Gläser.

»Setzen Sie sich«, forderte sie ihn auf, als er im Schlafanzug zurück in die Küche kam, den Bademantel weniger eng geschlossen als zuvor. Er gehorchte und wartete, bis sie selbst den Löffel ergriffen hatte, bevor er zu essen begann. Es war nicht zu übersehen, dass er ausgehungert war, aber er schlang nicht, sondern aß schnell und konzentriert.

Tai erhob sich von seinem Kissen in der Zimmerecke und kam näher, um den Unbekannten zu beschnüffeln; dann legte er seinen Kopf auf dessen Oberschenkel. Ohne den Blick von seinem Teller zu wenden, wechselte der Fremde beiläufig den Löffel von der rechten in die linke Hand und aß weiter, während er den Hund streichelte.

Als der Teller leer war, legte er den Löffel hin und leerte das Wasserglas in einem durstigen Zug.

»Mehr?«, fragte sie, und er nickte. Froh über die erste direkte Antwort, die sie von ihm bekommen hatte, lächelte sie ihn an. Seine Augen weiteten sich leicht, aber das war seine einzige Reaktion.

Als er dieses Mal seinen Teller geleert hatte, schüttelte er den Kopf, als sie ihm mehr anbot.

Sie schob ihren eigenen Teller beiseite und verschränkte ihre Hände auf der Tischplatte. »Die Wunden an Ihren Handgelenken sollten verbunden werden. Lassen Sie mich das machen?«

Seine Augen glitten über ihr Gesicht, als suche er nach möglichen Hintergedanken für ihr Angebot. Endlich nickte er und hob die Arme auf den Tisch. Die weiten Ärmel des Bademantels verhüllten seine Handgelenke, und er streifte sie bis zu den Ellbogen zurück.

»Ich bin sofort wieder da.« Sie erhob sich und ging ins Badezimmer, um das Erste-Hilfe-Material zu holen. Wieder am Küchentisch schnitt sie zwei Streifen von der Mullbinden-Rolle ab und bestrich sie mit Wundsalbe.

»Die kommen jetzt direkt auf die Haut«, erklärte sie ihm. »Dann wickle ich noch ein paar Bahnen Mullbinde drum herum, damit es hält.«

Sie tat, wie sie gesagt hatte, und befestigte die Enden der Mullbinde mit je zwei Streifen Fixierpflaster. »Schon fertig.«

Er öffnete den Mund, und seine Zungenspitze fuhr über seine Lippen, aber er schwieg. Einen Moment saßen sie stumm da, dann fragte sie: »Sind Sie müde? Möchten Sie schlafen?«

Er zögerte, dann nickte er und folgte ihr ins Schlafzimmer.

»Wenn Sie wollen, können Sie die Tür einen Spalt offenlassen. Ich schlafe nebenan auf der Couch«, sagte sie. Er stand neben dem Bett, und sie fühlte seine Augen auf sich, als sie aus dem Zimmer ging. Er ließ die Tür offen.

Sie räumte das benutzte Geschirr mit ein paar Handgriffen in die schmale Spülmaschine, bevor sie im Wohnzimmerkamin Holz nachlegte und sich mit einem langgezogenen Seufzer auf die Couch sinken ließ und die weiche Wolldecke über sich zog. Die seelische Anspannung der vergangenen Stunde hatte sie völlig erschöpft.

Tai sprang auf das kurze Ende der Eckcouch, und sie legte die Hand auf seinen Rücken und streichelte ihn. Ihre Augen waren auf das flackernde Feuer gerichtet, aber es war der Fremde, den sie sah – vor allem die Blessuren an seinem Körper. Wer war er, und woher war er gekommen? Wer hatte ihn so zugerichtet? Und was sollte sie mit ihm machen?

Innerlich zuckte sie die Achseln. Solange Telefon und Internet ausgefallen waren, konnte sie keine Hilfe anfordern, und bis die Straßen so weit geräumt waren, dass sie mit ihrem Auto sicher in den nächsten Ort kam, konnte es dauern.

Sie kuschelte sich tiefer in die Decke und rutschte auf der Couch nach unten, sodass ihr Kopf auf dem Kissen ruhte. Es dauerte keine fünf Minuten, bis sie eingeschlafen war.

Irgendwann schreckte sie hoch. Das Feuer war heruntergebrannt und gab nur noch ein letztes Glimmen von sich, und das einzige Licht im Raum kam von der Lampe über der Arbeitsplatte in der Küche. Stille herrschte. Was hatte sie geweckt?

Sie hatte ihre Antwort, als ein Geräusch an ihr Ohr drang. Sie erhob sich, die Decke um ihre Schultern, und ging leise zur Schlafzimmertür hinüber. Der Fremde hatte die Nachttischlampe brennen lassen, sodass sie ihn deutlich sehen konnte. Er schien fest zu schlafen, aber als sie sich gerade wieder zurückziehen wollte, bewegte er sich unruhig und gab erneut einen gequälten Laut von sich.

Es überraschte sie nicht, dass er von Alpträumen geplagt wurde. Unentschlossen stand sie in der Tür, doch schließlich siegte ihr Mitgefühl. In ihre Decke gehüllt legte sie sich neben ihm auf die andere Seite des Doppelbetts und griff nach seiner Hand.

Seine Finger schlossen sich um ihre, und er hielt sie fest, als wäre sie sein Anker in einer kalten, wütenden See. Als sie endlich selbst wieder zur Ruhe kam, war es ihr eigener Schlaf, der unruhig und von wirren Träumen heimgesucht war.

Er endete, als sie ihre Augen öffnete und in ein fremdes Gesicht blickte, wenige Zentimeter von ihrem entfernt.

»Wer bist du?«, fragte der Mann.

Kapitel 2

 

Er war in einem fremden Bett erwacht, am ganzen Körper steif und schmerzend, neben sich eine Frau, deren lange rotblonde Haare im schwachen Licht der Lampe auf dem Nachttisch schimmerten.

Und er konnte sich an nichts erinnern.

Lange Minuten lag er da und versuchte vergeblich, einen Gedanken zu erhaschen, der zur Aufklärung der Situation beigetragen hätte. Forschend betrachtete er das Gesicht der Schlafenden. Schmal, mit hohen Wangenknochen, geschwungenen Augenbrauen und einem kleinen Mund. Mehrere Silberringe in Läppchen und Muschel des Ohrs, das er sehen konnte.

Hatten sie miteinander geschlafen? Aber warum war sie dann in eine Decke gewickelt wie in einen wollenen Keuschheitsgürtel?

Unvermittelt schlug sie die Augen auf und sah ihn an. Große blaue Augen waren es, und sie starrten ihn verständnislos an.

Er stellte die erste Frage, die ihm in den Sinn kam: »Wer bist du?«

Ihre Reaktion war nicht ganz das, was er erwartet hatte. Mit Ärger hatte er gerechnet, vielleicht mit Gekränktheit – aber nicht damit, dass sie vor Schreck auffuhr wie ein Kastenteufel.

Sie räusperte sich, bevor sie antwortete. »Mein Name ist Julia.«

Julia. Immer noch kein Schimmer.

»Wo bin ich hier?«

»In meiner Hütte.«

Er runzelte die Stirn, während er grübelte. Dann bemerkte er das leichte Lächeln auf ihren Lippen.

»Was?«

Sie deutete ein Schulterzucken an. »Ich hatte mich schon gefragt, ob du überhaupt sprechen kannst.«

Was zum Teufel? »Was soll das heißen?«

»Nur, weil du gestern kein Wort gesagt hast.«

»Gehst du immer mit Männern ins Bett, ohne dass ein Wort gesprochen wurde?«

Ihre hellen Augenbrauen zogen sich zusammen, und ihre Stimme gewann deutlich an Schärfe. »Erstens sind wir nicht miteinander ins Bett gegangen. Und zweitens war das ja wohl eine besondere Situation.«

Als er nicht antwortete, stieß sie einen unwilligen Laut aus. »Da du dich offensichtlich besser fühlst, könntest du mir zumindest ein paar Erklärungen liefern. Fangen wir mal mit deinem Namen an.«

Sekundenlang suchte er nach einer Ausrede, doch dann entschied er sich für die schlichte Wahrheit: »Ich habe keine Ahnung.«

 

Oh verdammt. Julia wusste nicht, was sie sagen sollte. Sagte er die Wahrheit? Aber warum sollte er lügen? Offensichtlich hatte er keine Angst mehr vor ihr; dafür wirkte er distanziert und misstrauisch. Nicht, dass sie ihm das verübeln konnte, falls er sich wirklich an nichts erinnerte.

»Wie bin ich hierhergekommen?«

»Ich habe dich gestern im Wald gefunden«, antwortete sie und wünschte sich, es klänge etwas weniger absurd.

Sein Schweigen ließ vermuten, dass er ihre Einschätzung teilte.

»Du hast unter einem Busch gehockt, in unangemessener Kleidung und unterkühlt. Es gab keinen Handyempfang, und mein Telefon und mein Internet sind wegen des Wetters seit Tagen tot. Also habe ich dich mit hierher genommen, unter die Dusche gestellt und dir was zu essen gegeben.«

»Und dich zu mir ins Bett gelegt?«

Sie sah zur Seite. »Du hattest einen Alptraum.«

»Einen Alptraum.«

Enorme Skepsis sprach aus seinem Tonfall, und unvermittelt reichte es ihr. »Du warst in Panik, okay? Du hattest eine so entsetzliche Angst, dass es mich jetzt noch schüttelt, daran zu denken.«

 

Er richtete sich im Bett auf und lehnte sich zurück gegen das Kopfteil, als könne er so Distanz zu ihrer ungeheuerlichen Behauptung gewinnen. Ihr offensichtliches Mitgefühl – war es echt? Der Gedanke, dass sie ihm nur etwas vorspielte, versetzte ihm einen unerwarteten Stich.

»Was ist mit meinen Handgelenken?«

»Sie waren aufgescheuert und gar.«

»Du hast sie verbunden?«

Sie nickte nur, offensichtlich angepisst.

»Danke.«

Wieder nickte sie.

Er schlug die Decke zurück, schwang die Beine aus dem Bett und konnte bei der Bewegung nur mit Mühe ein Stöhnen unterdrücken.

»Offensichtlich sind nicht nur meine Handgelenke wund.« Kurz entschlossen zog er sich das Schlafanzugoberteil über den Kopf und fluchte, als er seinen Oberkörper sah.

»Ach, du Scheiße.«

»Dann guck dir erst mal die Einstichstellen an deinen Armen an.«

Er tat, was sie sagte, und runzelte die Stirn.

»Nimmst du schon länger Drogen?«

Er starrte sie an. »Drogen?«

»Wovon sollen die Dinger sonst kommen? Glaub mir, ich kenne mich aus.«

Er presste die Lippen zusammen. »Du bist abhängig?«

»Herrgott nochmal!« Sie sprang aus dem Bett und baute sich vor ihm auf. »Nein, ich bin nicht abhängig! Ich bin Streetworkerin.«

»Oh. Wo sind die Sachen, die ich anhatte?«

»Im Badezimmer.« Sie marschierte aus dem Zimmer, und er folgte ihr. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass du die nochmal anziehen willst.«

Sie drückte ihm die Kleidungsstücke in die Hand. »Jacke und Stiefel liegen noch an der Garderobe.«

Er ließ Hose und Pulli fallen und hielt das T-Shirt in die Höhe. Vom Ausziehen war es auf links gekehrt, und die Innenseite war fleckig.

»Blut.« Er roch an dem Stoff. »Und Schweiß.«

Zum ersten Mal hörte er sie lachen. »Ja, ganz frisch gerochen hast du selbst auch nicht mehr.«

»Riecht, als hätte ich das Hemd ein paar Tage lang angehabt.«

»Und du kannst dich an nichts erinnern?«

»An gar nichts.« Seine Hände ballten den Stoff zusammen. Er fühlte sich hilflos, und das machte ihn wütend.

»Ich habe die Sachen von meinem Ex noch hier, die kannst du haben.« Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück und öffnete den Kleiderschrank. Verblüfft betrachtete er die Auswahl an Hosen, Pullovern und Hemden, die mehr Raum einnahmen als die weiblichen Pendants auf der anderen Schrankseite.

»Und warum hast du die noch im Schrank?«

»Es ist noch keine zwei Wochen her, dass wir Schluss gemacht haben; ich bin einfach noch nicht dazu gekommen.«

Ihre Worte klangen locker, aber ihre Körpersprache sagte etwas anderes. Er fragte sich, ob sie in die Hütte geflohen war, um die Trennung zu verarbeiten.

Er nahm sich ein paar Sachen. »Danke. Willst du erst ins Bad?«

»Worauf du dich verlassen kannst. Falls du dich erinnerst, wie es geht, könntest du schon mal Kaffee machen.«

Er grinste über den Seitenhieb, warf die Klamotten aufs Bett und schnappte sich das Schlafanzugoberteil wieder. Er zog es über den Kopf, während er Richtung Küche ging, und wäre beinahe über den großen schwarzen Hund gestolpert, der plötzlich vor ihm stand.

»Hey, Vorsicht. Wer bist du denn?« Er kraulte den Labrador hinter den Ohren und sah sich in der kleinen Küche um. Es dauert nicht lange, bis er die Kaffeemaschine und die Filtertüten entdeckt hatte. Etwas länger brauchte er, um die Dose mit dem Kaffeepulver im Kühlschrank zu finden.

Als Julia aus dem Bad kam, zog bereits ein aromatischer Duft durch die Hütte, und sie schnüffelte genießerisch. »Du bist dran.«

»Okay.« Er wartete, bis der Kaffee durchgelaufen war, und nahm sich einen Becher mit ins Bad. Nach einer schnellen Dusche entschied er sich, dass eine Rasur noch warten konnte. Stattdessen begann er, die Schränke zu durchsuchen. Als er nichts fand, was ihm Auskunft über Julia gegeben hätte, öffnete er behutsam die Tür und ging auf leisen Sohlen ins Schlafzimmer.

Er nahm den Telefonhörer aus der Ladeschale auf dem Nachttisch und horchte. Kein Wählton. Auch das danebenliegende Handy zeigte weder Empfangsbalken noch WLAN-Symbol. Offensichtlich hatte sie die Wahrheit gesagt, was ihre Abgeschnittenheit von der Welt betraf.

Er trat an die Kommode, zog die oberste Schublade auf und durchwühlte den Inhalt. Socken. Keine Waffen, keine Unterlagen.

Als die zweite Schublade ihm Julias Wäsche offenbarte, hielt er unentschlossen inne. Der Drang nach Informationen kämpfte gegen den instinktiven Widerwillen, ihre Intimsphäre zu verletzen.

»Was machst du da?«

Er drehte den Kopf ein Stück, ohne sich umzudrehen. »Ich suche nach Socken.«

»In meiner Unterwäsche.«

»In der Kommode.«

Es entstand eine Pause, dann sagte sie: »Meine Sachen sind auf der linken Seite, Philips auf der rechten. Die Socken sind in der obersten Schublade.«

Er schob die Schublade zu und lauschte, bis sich Julias Schritte entfernt hatten, bevor er seine Suche fortsetzte. Es nagte an ihm, nicht zu wissen, was mit ihm geschehen war. Die Vorstellung, dass man ihn mit unbekannten Drogen vollgepumpt hatte, bis er die Kontrolle verlor, war … inakzeptabel.

Frustriert und erleichtert zugleich musste er am Ende seiner Suche eingestehen, dass es keinerlei Hinweise dafür gab, dass Julia ihm schaden wollte. Blieb ihm nur, seinen Instinkten zu vertrauen – und die sagten ihm, dass sie es ehrlich meinte.

»Alles gefunden?«, fragte sie, als er wieder in die Küche kam.

»Hmm. Danke.« Er fühlte sich nicht besonders wohl in den Sachen eines anderen Mannes, aber immerhin passten sie einigermaßen, obwohl ihr Ex offensichtlich ein paar Zentimeter kleiner war.

Sie füllte zwei Teller mit Rührei und Toast und stellte sie auf den Tisch. »Wenn wir zu zweit essen, müssen wir gucken, wie lange die frischen Vorräte reichen, aber Konserven und Tiefkühlsachen haben wir noch reichlich.«

Hieß das, sie war darauf eingestellt, dass sie ein paar Tage lang zu zweit dortbleiben würden? Er horchte in sich hinein und stellte fest, dass er nichts dagegen hatte. War ja nicht so, als hätte er etwas Besseres vor. Oder wenn, wusste er es nicht.

Mit einem Fluch rüttelte er an der Besteckschublade.

»Was ist los?«

»Das Ding klemmt genauso wie die in meinem Kopf.«

Er gewann den Kampf, nahm Messer und Gabeln heraus und warf sie auf den Tisch. Dann ließ er den Kopf in den Nacken sinken und atmete tief durch. »Es tut mir leid. Das Ganze macht mich fertig.«

»Ich muss zugeben, gestern warst du pflegeleichter.«

Er warf ihr einen scharfen Blick zu, sah die Belustigung in ihrem Gesicht, und seine Mundwinkel zuckten. »Kann mich nicht erinnern«, sagte er trocken.

 

* * *

Der Rest des Vormittags verlief erstaunlich entspannt. Julia stellte fest, dass ihr unbekannter Gast zwar immer noch nicht gesprächig war, dass aber das, was er sagte, Hand und Fuß hatte. Es war offensichtlich, dass er eine beträchtliche Allgemeinbildung hatte – und Humor.

»Hör auf zu grübeln und komm mit uns raus.«

Er sah auf, ohne den Kopf von der Rückenlehne der Couch zu nehmen. »Muss er schon wieder?«

»Wie oft gehst du denn am Tag pinkeln?«

Er stand auf und streckte sich. »Wenigstens schnüffele ich mich nicht durch ein Dutzend Bäume, bevor ich mich für einen davon entscheide.«

Seite an Seite gingen sie durch den Wald. Mit Absicht hatte Julia den Weg gewählt, der sie an der Stelle vorbeiführte, wo sie ihn gestern gefunden hatte. Vor dem Busch blieb sie stehen. »Hier hat Tai dich entdeckt.«

Ein Schauer lief ihr über den Rücken bei der Vorstellung, dass sie ebenso gut heute eine Leiche hier hätte finden können.

»Offensichtlich verdanke ich ihm mein Leben«, sagte er leise, als hätten seine Gedanken dieselbe Richtung genommen.

Schweigend kehrten sie um.

»Solange du dich an nichts erinnern kannst, sollten wir dir vielleicht einfach einen Namen geben«, schlug sie vor, als sie wieder in der Hütte waren. »Ich könnte dich Max nennen. Wie in Max Mustermann.«

Er starrte ins Leere, dann zuckte er mit den Schultern. »Egal.«

»Soll ich uns Pfannkuchen mit Käse zu Mittag machen?«

»Du brauchst mich nicht zu bedienen.«

»Ob ich einen mehr oder weniger mache ist gehopst wie gesprungen.« Sie wusch sich die Hände in der Spüle und nahm Eier und Milch aus dem Kühlschrank.

»Dann lass mich wenigstens helfen.«

Sie zuckte die Achseln und drückte ihm ein Stück Käse und eine Reibe in die Hände. »Nur zu.«

Nach dem Essen saßen sie vor dem Kamin. Julia hatte die Füße gegen den Couchtisch gestützt und las in ihrem Reader, einen Ellbogen auf Tais breiten Rücken gelehnt. Als das leise Schnarchen des Hundes ein plötzliches Echo fand, sah sie hoch und stellte amüsiert fest, dass der Mann ebenfalls eingeschlafen war. Sein Gesicht war entspannt, und sein Mund stand leicht offen.

Sie widmete sich wieder ihrem Buch und wünschte ihm, er hätte noch eine Zeitlang Ruhe vor dem Kopfzerbrechen, das ihm seine fehlenden Erinnerungen bereiteten.

 

* * *

Er schlug die Augen auf und erfasste seine Umgebung in einem schnellen Blick. Peinlich berührt setzte er sich dann auf.

»Ich bin eingeschlafen? Als wäre ich ein Rentner, der nach dem Essen ein Nickerchen macht?«

Julia grinste. »Es ist ganz normal, dass extremer körperlicher und geistiger Stress noch über Tage Nachwirkungen hat.«

Er brummte. »Bist du Ärztin?«

»Psychologin.« Sie schaltete den Reader aus und legte ihn zur Seite.

»Wollen wir eine Runde Scrabble spielen, oder schläft dein Gehirn noch?«

Er hob eine Augenbraue. »Eine Suggestivfrage. Das fällt dann wohl unter psychologische Kriegsführung.«

Mit einem Lachen sprang sie auf und trat an die Regalwand. Sie zog eine Spieleschachtel aus einem Stapel und legte sie zusammen mit einem Duden auf den Tisch.

»Hat dein Ex so oft diskutiert, dass du das Wörterbuch direkt bereithältst?«

Sie zuckte die Achseln, aber er vermutete, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.

Es wurde eine spannende Partie zweier gleich starker Gegner. Bis kurz vor Ende lagen sie Kopf an Kopf; dann brachte Julia voller Triumph ihr ›Y‹ unter.

Er runzelte die Stirn. »Was zum Teufel ist ›katathym‹?«

»Ein Fachwort aus der Psychologie. Und mit dem doppelten Buchstabenwert für das A und dem dreifachen Wert für das Wort bekomme ich dafür …«, sie zählte und rechnete, »… zweiundsiebzig Punkte! Du bist dran.«

Er betrachtete mit geringer Begeisterung seine Steine. »Was soll ich schon aus vier ›Es‹ bilden?«

Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch, das Kinn auf den verschränkten Fingern, und sah ihn schadenfroh an. »›See-Elefant?‹«

Er knurrte und fuhr fort, den Spielplan zu mustern. Dann trat ein befriedigtes Grinsen auf sein Gesicht. Einen Stein nach dem anderen nahm er von seinem Ablagebänkchen hoch und legte ihn aus. Als er fertig war, hatte er ›Tier‹ und ›Wehr‹ zu einem einzelnen Wort verbunden und genüsslich das letzte ›E‹ für den Plural drangehängt.

»›Repetiergewehre‹?« Sie schüttelte den Kopf. »Wer kommt denn auf sowas?«

»Ich offensichtlich. Und zusammen mit den fünfzig Bonuspunkten für das Ablegen aller sieben Steine in einem Zug, meine liebe Erika, habe ich damit gewonnen.«

»Erika?« Sie starrte ihn verständnislos an. Dann lachte sie. »Mustermann?«

Er lächelte nur. Es freute ihn, dass sie die Anspielung so schnell begriffen hatte.

 

* * *

Nach dem Abendessen wühlte sich Julia in der winzigen Abstellkammer durch einen Karton mit alten DVDs, auf der Suche nach einem ganz bestimmten Film. Als sie die Hülle in der Hand hielt, rief sie über die Schulter: »Hast du Lust, eine DVD zu gucken, Max?«

Es kam keine Antwort.

»Max?«, rief sie noch einmal.

Immer noch keine Reaktion.

Sie ging ins Wohnzimmer, wo er auf der Couch saß und in einer Fernsehzeitschrift las.

»Okay, wir können davon ausgehen, dass Max nicht dein richtiger Name ist.«

Er sah mit gerunzelter Stirn auf. »Habe ich auch nie behauptet.«

»Hm.« Weil sie ihm seinen Frust nachempfinden konnte, ließ sie ihm die grantige Antwort durchgehen. »Meinst du, du erkennst ihn, wenn du ihn hörst? Vielleicht kann ich ihn erraten.«

Er machte ein unwilliges Geräusch und blätterte laut die Seite um. »Das hat schon bei Rumpelstilzchen nicht funktioniert.«

Sie lehnte sich an die Couchlehne und verschränkte die Arme. »Matthäus? Markus? Lukas? Johannes?«

»Weder noch. Auch nicht Bartholomäus, Matthias oder Nikodemus.«

»Wer?«

»Apokryphe Evangelisten. Scheiße.« Er pfefferte die Zeitschrift auf den Couchtisch. »Kannst du mir sagen, wieso ich so einen Mist behalte, aber mich nicht an meinen eigenen Namen erinnern kann?«

»Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass dir alles wieder einfällt – entweder plötzlich oder nach und nach.«

Er sah sie an, und für einen kurzen Moment las sie Angst in seinen Augen. »Es macht mich wahnsinnig.«

Bevor sie antworten konnte, schüttelte er heftig den Kopf, als könne er so die quälende Ungewissheit loswerden. »Themawechsel. Du wolltest was von mir?«

Zögernd hielt sie die DVD in ihrer Hand hoch. »Ich dachte, wir könnten uns zusammen einen Film angucken.«

Er sah das Cover an und hob die Augenbrauen. »Du willst mit mir einen Film gucken, in dem es um einen Mann mit Gedächtnisverlust geht?«

Sie zuckte nur die Schultern.

Er machte ein Gesicht, als wisse er nicht, ob er fluchen oder lachen sollte, aber alles, was er sagte, war: »Warum nicht.«

»Super.« Sie drückte ihm die DVD in die Hand und ging in die Küche, um Popcorn zu machen. Nach wenigen Minuten zog der typische köstliche Duft durch die Luft, und Tai stand parat, um die erste Kostprobe entgegenzunehmen.

Sie füllte eine kleine Portion in ein Schälchen, bevor sie den Rest mit Puderzucker bestäubte und die Schüssel rüber zur Couch trug.

»Kann losgehen.«

Er zog eine Braue in die Höhe. »Welche davon ist für dich und welche für mich?«

Mit einem Lachen ließ sie sich neben ihn fallen und stellte die Schüssel zwischen sie. »Die große ist für uns, aus der kleinen bekommt Tai hin und wieder ein Stück.«

Durch die Überlänge des Films war es bereits nach elf, als der Nachspann über den Bildschirm lief und Julia sich gähnend reckte. »Ich gehe mit Tai noch mal kurz ein paar Meter vor die Tür.«

»Das mache ich«, sagte er und stand auf, ohne einen Widerspruch abzuwarten.

---ENDE DER LESEPROBE---