Heiter oder Tödlich - Alles ist Möglich - Kurzgeschichten von lustigen Erlebnissen im Rheingau bis zu gemeiner Rache und tödlichen Entschlüssen - Imke Brunn - E-Book

Heiter oder Tödlich - Alles ist Möglich - Kurzgeschichten von lustigen Erlebnissen im Rheingau bis zu gemeiner Rache und tödlichen Entschlüssen E-Book

Imke Brunn

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Beschreibung

Ein Teil der Kurzgeschichten beschreibt die ersten Ermittlungen einer jungen Kriminalkommissarin. Sie reichen von der beinahe-Aufklärung eines 30 Jahre zurückliegenden Unfalls bis zu aktuellen Unfällen und Verbrechen. In anderen Geschichten geht es um amüsante Erlebnisse im Rheingau oder um böse Rache gequälter Menschen. Die Geschichten sind so unterschiedlich, wie die Stimmungen des Tages, so ist für jede und jeden etwas dabei.

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Seitenzahl: 273

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Imke Brunn

Heiter oder Tödlich –

Alles ist Möglich

Impressum:

© 2023 Imke Brunn

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

ISBN

ISBN Softcover:978-3-347-98512-4

ISBN E-Book:978-3-347-98513-1

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Der Chef und die Erfindung

Der Campingplatz

Die Abschlussarbeit

Wanderung

Wellness

Die Weinreise

Stürze

Das Treffen

An der Donau

Almauftrieb

Der Bürohund

Deutsches Sushi

Die beste Reisebegleiterin

Vatertag

Konferenz auf dem Rhein

Der neue Computer

Hausgemachtes Pesto

Spielupdate

Unter dem Nussbaum

Weihnachten

Kellerführung

Eine Nacht im Krankenhaus

Tassentalk – Nachts in der Küche

Der Chef und die Erfindung

Eigentlich war es ein Montagmorgen wie jeder andere in der kleinen Firma mitten in Deutschland, und doch war alles anders. Der sonst schwer in der Luft liegende Geruch nach Zigarrenrauch fehlte im Flur, ebenso der üblicherweise an der Garderobe hängende Hut und Mantel. Das Lächeln von Helga am Empfang war an diesem Tag entspannt, sie sah ausgesprochen gut gelaunt aus. Das »Guten Morgen« von Petra und Udo, die sich im Flur begegneten, klang fröhlich, und beide lächelten. Aus dem Büro von Ulla klang leise Musik. Michael hörte man in der Kaffeeküche leise vor sich hin pfeifen. Die Tür zum Chefbüro stand offen, aber es war leer. Niemand in den Räumen der kleinen Firma vermisste die sonst üblichen Wutausbrüche, für die der Firmeninhaber Philip Schwarz bekannt und gefürchtet war. Jeder der fünf Mitarbeiter freute sich, dass heute keine über den Flur gebrüllten Aufforderungen zur sofortigen Erstellung eines Berichts zu erwarten waren. Niemand würde plötzlich zum Chef zitiert werden, um für das Fehlen von etwas beschimpft zu werden, was Schwarz selbst hatte erledigen wollen. Wer zu ihm gerufen wurde, hatte keinen Grund zur Freude. Lob war bei diesen Terminen niemals zu erwarten, eher Tadel für Dinge, mit denen man nichts zu tun hatte. Heute allerdings lag eine gewisse freudige Anspannung in der Luft, wie sie in diesen Räumen noch niemals zuvor zu spüren gewesen war.

Am vorherigen Freitag hatte sich der Chef am Abend nach Arbeitsschluss von einem Limousinen-Service zum Flughafen bringen lassen, um eine einwöchige Geschäftsreise anzutreten. Sein geliebtes schnelles Auto hätte er niemals eine ganze Woche lang auf einem öffentlichen Parkplatz abgestellt. Außer diesem Auto, dessen Kennzeichen mit PS 580 nicht nur seine Initialen, sondern auch die Motorleistung enthielt, gab es nichts, was ihm wirklich etwas bedeutete. Darüber, dass die Abkürzung seines Namens gleichzeitig das Symbol für seine Leidenschaft, die Stärke von Autos, bildete, hatte er sich schon immer gefreut.

Für die Geschäftsreise war ihm wichtig gewesen, schon zwei Tage vor dem großen Termin in Übersee anzukommen. Er wollte dann, wenn es darauf ankam, nicht mehr unter der Zeitverschiebung leiden. Falls seine Rede die Wirkung hatte, die er sich erhoffte, würde er in Zukunft mehr als nur einen schnellen Wagen in der Garage stehen haben.

Wie alles in seinem Leben war auch diese Reise minutiös geplant. Für die Buchungen von Flug, Hotel und Transfers war, wie immer, Helga verantwortlich gewesen. Da sie wusste, worauf es Philip Schwarz besonders ankam, waren alle Transfers perfekt organisiert.

Im Hotel hatte sie eine bevorzugte Lage reserviert, ein Eckzimmer in der obersten Etage. Vom bequemen Ledersessel aus konnte er auf der einen Seite die Schiffe auf dem Lake Michigan beobachten und auf der anderen die imposante Skyline von Chicago bewundern. Das vom Hotel zur Begrüßung gereichte Glas Le Cigare Volant war exakt auf 16,5°C temperiert und machte den Genuss vollkommen. Auch im Flugzeug hatte er ein Glas seines kalifornischen Lieblingsweines erhalten, und die Menüauswahl war mit Wildgerichten nach seinem Geschmack gestaltet worden.

In kleinen Schlucken am Glas nippend und die Umgebung betrachtend, kamen ihm seine Mitarbeiter in den Sinn. Besonders gegenüber Helga erwähnte er gerne, dass er sich diesen Rotwein, eigens vom Bonny Doon Vineyard einfliegen ließ. Ihr Gesichtsausdruck dabei amüsierte ihn immer wieder. Auch von den anderen wusste keiner einen außerordentlichen Wein, einen wirklich guten Kaffee oder ein perfektes Auto zu schätzen, dachte er. Bald aber würde er mit Menschen auf einem anderen Niveau zusammenarbeiten können.

Nach dem letzten Schluck konzentrierte er sich auf die Vorbereitung seiner Rede, die ihn das ganze Wochenende beschäftigte.

Für diesen Montag um 14 Uhr war die Live-Übertragung der Rede des Chefs auf dem großen medizintechnischen Kongress in Amerika angekündigt, in der er der Welt die bahnbrechende Erfindung ihrer kleinen Firma vorstellen wollte. Eine geniale Idee des Ingenieurs Udo würde manche Operationen an schwer zugänglichen Stellen wie Gehirn und Herz in der Zukunft in vielen Fällen fast ohne Risiko ermöglichen. Durch die Bündelung von Schallwellen, ähnlich wie bei der Behandlung von Nierensteinen, war es mit ihrer Erfindung möglich, problematische Ablagerungen in Adern ohne einen operativen Eingriff zu entfernen. Auch in der Tumorbehandlung war ein Einsatz denkbar, wenn der bestehende Prototyp noch etwas modifiziert würde.

Alle Mitarbeiter in der Firma hatten an der Entwicklung dieses Prototyps mitgewirkt. Jeder von ihnen hatte einen Beitrag geleistet, ohne den das Ergebnis nicht zustande gekommen wäre. Nun, fast jeder. Die Mitarbeit von Philip Schwarz hatte sich auf gelegentliche Statusabfragen und Wutausbrüche bei Verzögerungen beschränkt. Nur die Patentschrift, die hatte er höchstpersönlich zum Patentamt gefahren. Warum er das selbst getan und nicht, wie sonst üblich, Helga für Botengänge beauftragt hatte, wusste sie nicht. Vermutlich war ihm dieses Patent so wichtig, dass er niemandem sonst zutraute, es ordnungsgemäß abzuliefern. Helga schüttelte den Kopf. Alle in der Firma hatten mindestens so viel Interesse wie er an einem Erfolg. Jeder empfand die Erfindung als die langfristige Zukunft der Firma. Alle im Team erhofften sich Bekanntheit, Anerkennung und einen guten Gewinn aus dem Patent. Helga hatte von der Erfindung ihres Cousins erzählt, der diese gemeinsam mit seinen Arbeitskollegen angemeldet und für die Nutzung in seiner Firma eine Prämie erhalten hatte. Seitdem träumten alle davon, es ebenso zu machen und auch stolze Inhaber eines Patents zu werden. Heute nun sollte der nächste Schritt auf dem Weg zur Erfüllung des Traumes gegangen werden.

Die blonde, schlanke Helga, die neben dem Empfang die ganze Buchhaltung machte und wahre Wunder bei der Beschaffung von Spezialteilen vollbracht hatte, hatte aus Anlass der Veröffentlichung ihre besonderen Pralinen mitgebracht.

Die rothaarige Petra, die mit ihren 1,52 Metern als Einzige im Team kleiner war als der Chef, hatte Plätzchen gebacken. Früher hatte Petra gerne High Heels im Büro getragen. Als sie merkte, dass die Laune des Chefs regelmäßig noch schlechter war als sonst, wenn er bei Begegnungen zu ihr aufsehen musste, war sie auf flache Schuhe umgestiegen. Heute, zur Feier des Tages, trug sie allerdings ihre Lieblingsschuhe, knallrot mit Plateausohlen und insgesamt 14 Zentimetern Absatz, damit war sie auf Augenhöhe mit ihren Kolleginnen.

Die dunkelhaarige, etwas übergewichtige Ulla hatte nach einem Rezept ihrer Urgroßmutter, einer geborenen Borghia, Käsestangen gebacken.

Michael, der mit seinen kurzen hellblonden Haaren und der schlaksigen Figur so jungenhaft wirkte, dass kaum jemand glauben wollte, dass er seinen Doktortitel zu Recht führte, hatte echten französischen Champagner und langstielige Kristallgläser mitgebracht.

Der immer freundliche Udo war mit seinem Vollbart, langen braunen Haaren und schlanken 1,98 Metern das völlige Gegenteil des kleinen dicken Chefs mit beginnender Glatze. Er hatte sein komplettes Heimkino dabei, damit alle zusammen die Übertragung optimal genießen konnten.

Dieses Ereignis sollte gemeinsam richtig gefeiert werden. Unter der strengen Herrschaft von Philip Schwarz gab es sonst nicht viel zu lachen, gefeiert wurde in seiner Anwesenheit ohnehin nicht. Ihr Chef war einfach nicht der Typ, in dessen Gegenwart Ausgelassenheit, Frohsinn oder auch nur Entspannung möglich waren. Jederzeit musste man mit einem seiner Wutausbrüche rechnen. Was diese auslöste, war nie vorherzusehen. Die Situation war noch schlimmer geworden, seit er seine beginnende Glatze mit einem extremen Kurzhaarschnitt zu verbergen suchte. Immer öfter kam es vor, dass eines der Büroutensilien durch den Raum flog. An Stifte hatte man sich längst gewöhnt, aber in der letzten Zeit waren es auch mal der Locher und das Heftgerät gewesen.

Schon eine Viertelstunde vor dem Beginn der Übertragung waren alle versammelt und überlegten, wie die Rede wohl ausfallen würde. Eigentlich wunderten sie sich ein wenig, dass keiner aus dem Team mit der Vorbereitung beauftragt worden war. Sehr intensiv diskutiert wurde die Frage, wen aus dem Team der Chef wohl besonders in seinem Vortrag erwähnen würde. Man war sich einig, Udo der Ingenieur, der die geniale Idee gehabt, und Petra, die Designerin, die die optimale ergonomische Form entwickelt hatte, hätten eine namentliche Nennung verdient, aber vielleicht auch die anderen, die im Hintergrund unverzichtbare Arbeit geleistet hatten. Ulla war als Einzige optimistisch, die Kollegen versuchten das etwas zu dämpfen und meinten, dazu müsse beim Charakter des Chefs schon ein Wunder geschehen.

Die Spannung war groß, als pünktlich um 14 Uhr Philip Schwarz an das Mikrofon trat und zu sprechen begann. In dem Moment, in dem er das Mikrofon anschaltete, stieß das Team voller Vorfreude miteinander an. Dann änderte sich die Stimmung schlagartig. Kurz nach Beginn der Rede war es im Konferenzraum totenstill, und aus den eben noch fröhlichen Gesichtern waren fünf starre, ungläubige Masken geworden. In der Ansprache war nicht von der Firma und den Mitarbeitern die Rede, nichts von der jahrelangen Zusammenarbeit wurde erwähnt. Der Vortragende stellte alles so dar, als habe nur er selbst in völliger Alleinarbeit diese Entdeckung gemacht. Er sagte, er habe den Prototyp in einsamer Wochenendarbeit erstellt und nun endlich zum Patent angemeldet. Allein auf diese, seine große Erfindung wolle er sich in Zukunft konzentrieren. Die sonstigen Produkte seiner Firma würde er ausgliedern und die Rechte daran verkaufen, da sie nicht mehr zum geplanten Kerngeschäft passten. Sogar eine Verlegung seiner Tätigkeit nach Amerika könne er sich vorstellen. Hier, mit den großen Eliteuniversitäten, ließen sich viel leichter wirkliche Top-Kräfte für seine Ideen und deren Weiterentwicklung finden als im altmodischen Europa, wo es kaum noch Innovationspotenzial gäbe. Umständlich holte er einen Briefumschlag aus seiner schwarzen Tasche und zog ein Dokument heraus, das er in die Kamera hielt. »Patent erteilt an Philip Schwarz« war in großen Buchstaben zu sehen.

An dieser Stelle sprang Helga auf und trat ungläubig an die Leinwand, um den Text besser lesen zu können. Tatsächlich, nicht wie von ihr selbst im Antrag als Gemeinschaftspatent formuliert und an Philip Schwarz zur Weiterleitung an das Patentamt übergeben, sondern einzig auf Philip Schwarz lautete die Urkunde. Als das Dokument zu sehen war, wichen das ungläubige Staunen und die Fassungslosigkeit einer gemeinsamen, unendlichen Wut auf den Chef. Sie empfanden es alle als Betrug, dass er die Erfolge der Arbeit des ganzen Teams für sich alleine ausnutzen wollte. Vorbei war der Traum von möglichem Reichtum und öffentlicher Anerkennung durch die Erfindung, vorbei auch der Gedanke an eine gesicherte Zukunft in einer Firma auf der Basis des gemeinsamen Patents.

Wer es zuerst gesagt hatte, keiner wusste es, aber unvermittelt stand er im Raum, der Satz: »Ich bringe ihn um!« Als wären sie keine zivilisierten Menschen, sondern instinktgetriebene, von Mordlust gepackte Wesen, nickten zum eigenen Erstaunen alle. Wie sie dahin gekommen waren, wussten sie nicht, aber plötzlich standen alle im Kreis, legten die Hände aufeinander und nickten noch einmal. Wie auf ein Kommando erklang ein einhelliges: »Sofort am nächsten Montag.« Aus der Wut war tödliche Entschlossenheit geworden.

Während der restlichen Stunde der Rede, die auf dem Kongress mit großem Applaus bedacht wurde, saßen alle Mitarbeiter stumm im Besprechungsraum. Jeder war mit seinen Gedanken beschäftigt. Helga betrachtete plötzlich die Kaffeemaschine mit seltsamem Blick. Udo fixierte mit starrem Ausdruck das Telefon. Petra konnte die Augen nicht von der Einzelgarage für den schnellen Sportwagen abwenden. Michael schien vom Terrarium im Zimmer des Chefs fasziniert. Ullas Blick wurde magisch von dem kleinen Pillendöschen angezogen, das auf dem imposanten Schreibtisch im Nachbarzimmer stand. Wie in Trance verbrachte das kleine Team den Rest des Tages mit Routinetätigkeiten und schmiedete in Gedanken finstere Pläne. Bei jeder Begegnung sahen sie sich in die Augen und nickten bestätigend.

Während der restlichen Woche, in der der Chef noch abwesend war, hatte jeder der Mitarbeiter Ungewöhnliches zu tun.

Udo holte sich noch am Montag das Headset des Telefons aus dem Chefzimmer und brachte es erst am Freitag wieder zurück. Ein wenig schwerer war das Gerät in dieser Zeit geworden, aber nicht so viel, dass man es beim Aufsetzen bemerkt hätte. Der Ingenieur erinnerte seine Kollegen ausdrücklich noch einmal daran, dass der Chef darauf bestand, der Einzige zu sein, der mit diesem Apparat telefonierte.

Das Luxus Headset, der Sportwagen, die speziell für ihn verarbeiteten Kaffeepads und das exotische Terrarium waren Statussymbole, die der Unternehmensleiter niemals mit anderen teilte. Notgedrungen akzeptierte er gelegentliche Blicke auf das Terrarium, aber niemand außer ihm selbst durfte in Ruhe davor sitzen und die Tiere beobachten. Niemals hätte ein anderer sein Auto fahren dürfen. Es war ihm anzusehen, dass es ihm schon unangenehm war, wenn er Geschäftsfreunde auf dem Beifahrersitz ertragen musste. Um keines von seinen besonderen Kaffeepads abgeben zu müssen, trank er bei Meetings mit Partnern sogar das Gebräu aus der normalen Kaffeeküche.

Petra hatte mittwochs eine mit einem Tuch verhängte Kiste sowie eine Dose Leberwurst im Auto. In der Mittagspause holte sie beides und verbrachte dann eine ganze Stunde in der Garage, in der das schnelle schwarze Auto des Chefs stand. Als sie wieder herauskam, war die Leberwurstdose zu einem Viertel leer. Sie hatte etwas Staub an Knien und Händen sowie einen kleinen Rest Fett von der Wurst an den Fingern. Die verhängte Kiste stellte sie wieder in ihr Auto, bei dem sie entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit das Fenster ein kleines Stück offen ließ. Sie hatte das Auto an diesem Tag im Schatten, ein wenig abseits des Büros geparkt. Die Leberwurstdose verstaute sie bei der Rückkehr wieder in der Kühltasche im Kofferraum. Als die Kühltasche fest verschlossen und nichts mehr von der Wurst zu riechen war, hörten auch die Geräusche aus der Kiste auf und es wurde still im Auto. Erleichtert, dass alles wie geplant abgelaufen war, kehrte die Designerin ins Büro zurück, wusch sich die Hände und entfernte den Staub von der Hose.

Helga beschäftigte sich donnerstags in der Mittagspause intensiv mit einem der nur für den persönlichen Gebrauch durch Philip Schwarz vorgesehenen Kaffeepads, die dieser sich als Sonderanfertigung einmal im Monat liefern ließ. Jeden Tag um die gleiche Zeit trank er genau eine Tasse dieses besonderen Kaffees. Helga fand die Vorstellung seltsam, etwas zu trinken, das vorher Katzen gefressen und wieder ausgeschieden hatten, aber bei dem Preis, der dafür bezahlt wurde, musste es etwas ganz besonders Gutes sein.

Ulla holte sich freitags die Pillendose mit dem Blutverdünnungsmittel, das Philip Schwarz zweimal täglich nahm. Nach schwieriger Bastelarbeit, zu der sie sogar eine Lupe gebraucht hatte, stellte sie eine Weile später die Dose zurück auf den imposanten Schreibtisch im Chefzimmer, auf dem jedes Ding seinen exakten Platz hatte. Jegliche Störung dieser Ordnung hatte unausweichlich einen der gefürchteten Wutanfälle zur Folge.

Auch Michael ging mehrfach in der Woche ins Chefzimmer und machte sich an der Fütterungsklappe des Terrariums zu schaffen, dabei war die nächste Fütterung der Tiere erst am kommenden Montag. Niemals war einer der Mitarbeiter dabei, wenn neue, extra aus Kolumbien importierte Futterameisen zu den Fröschen gesetzt wurden. Diese Tätigkeit behielt sich der Chef immer selbst vor, sogar im Urlaub kam er dazu alle zwei Wochen montagvormittags um 11 Uhr in sein Büro.

Es war wieder Montagmorgen, und alles schien wie früher zu sein. Als hätte es die vergangene Woche nicht gegeben, kam der Chef wie jeden Montag um 9:05 Uhr zur Tür herein. Wie immer drückte er Helga Hut und Mantel in die Hand, ohne zu grüßen. Der einzige Unterschied zu den vergangenen Wochen war, dass er vom Limousinen-Service gebracht wurde, da sein Sportwagen noch in der Firmengarage stand. Ohne ein Wort zu sagen, ging er in sein Zimmer und zündete seine Morgenzigarre an. Der Zigarrengeruch aus dem Chefzimmer verteilte sich über den Flur und legte sich wie ein Schleier über alles und jeden.

Helga am Empfang trug ihren üblichen unnahbaren Gesichtsausdruck, dem keinerlei Gefühlsregung anzusehen war. Die Begegnungen der Kollegen im Flur verliefen stumm. Aus ihren Zimmern hörte man kein Geräusch. Es war, als wolle jeder vermeiden, den zurückgekehrten Chef auf sich aufmerksam zu machen.

Um 9:15 Uhr war für Petra eine Besprechung angesetzt. Unmittelbar nach ihrem Eintreten war durch die Tür zum Chefzimmer zu hören, dass irgendetwas am Design der neuesten Entwicklung nicht den Vorstellungen von Philip Schwarz entsprach. Die dicke Türpolsterung verhinderte, dass Helga Einzelheiten verstand. Für sie klang es wie dumpfes Gewittergrollen, unterbrochen von einzelnen scharfen Donnerschlägen. Mitleidig sah sie auf die Tür. Als ihr Blick den Schrank mit dem Kaffeevorrat streifte, trat ein kurzes böses Funkeln in ihre Augen.

Vor dem Schreibtisch des Chefs stehend, musste Petra die Zähne zusammenbeißen, um nicht entweder zu schreien oder in Tränen auszubrechen. Gebrüllte Anschuldigungen wie »Ihr seid ein Haufen unfähiger Dilettanten!«, »Nur eine Woche war ich weg und dann so etwas!« sowie »Gibt es hier denn nur Vollidioten!« trafen sie schon tief, die anderen, noch schlimmeren Ausdrücke wollte sie am liebsten sofort wieder vergessen. Es war unerträglich. Wie so oft unterstrich Schwarz jeden Satz mit einem Schlag des Hefters auf die Schreibtischplatte. Mit einem ohrenbetäubenden »RAUS!« beendete der Chef nach wenigen Minuten seinen Ausbruch. Petra unterdrückte das Zittern und verließ blass das Zimmer.

In den Sekunden, in denen die Tür geöffnet war, konnte Helga das rote, wütende Gesicht des Chefs sehen und hörte die letzten hinterhergefauchten Worte »Heute Nachmittag 17 Uhr Meeting mit allen! Weitergeben!«

Leise und mit großer Selbstbeherrschung schloss Petra die Tür hinter sich und sah Helga einen Moment an, bevor sie mit energischem Nicken und einem vorher nie dagewesenen Ausdruck in den Augen wieder in ihr Büro ging. Dort sah sie auf die Zeitanzeige ihres Computers, es war 9:25 Uhr, aber der Vormittag fühlte sich an, als dauere er bereits endlos.

Als Ulla die tobende Stimme aus Schwarz‘ Büro hörte, dachte sie zufrieden an die Pillendose auf dem Schreibtisch. Äußerlich war den Pillen kein Unterschied zu vorher anzusehen. Die leeren Drageehüllen, die nach ihrer Bastelarbeit übrig geblieben waren, hatte sie schon in der vergangenen Woche abends in einem Restaurant in der Stadt in einer Toilette weggespült.

Wie jeden Tag bereitete sich Philip Schwarz genau um 9:30 Uhr einen Kaffee aus den Pads, die er für seinen persönlichen Gebrauch mit Kopi Luwak, dem Katzen-Kaffee, herstellen ließ. Genau um 10 Uhr nahm er eine der beiden Tabletten aus dem Pillendöschen auf seinem Schreibtisch und setzte das Headset seines Telefons auf, um die im 5-Minuten-Takt geplanten Anrufe der Außendienstmitarbeiter entgegenzunehmen. Keiner der Mitarbeiter würde es wagen, auch nur eine Sekunde zu früh oder zu spät anzurufen. Nach den Anrufen, exakt um 11 Uhr, fütterte er seine beiden kleinen goldgelben Lieblinge im Terrarium. Den leichten Stich an seiner Hand beim Öffnen der Futterklappe bemerkte er nicht.

Als er sich wieder an seinen Schreibtisch setzte, hatte er den Eindruck, als sei etwas anders als sonst. Seit den Telefonaten hatte er starkes Kopfweh, das von der Seite auszugehen schien, an der sich der Kopfhörer des Headsets befand. Er überlegte kurz, ob es an der Zeit sei, sich ein anderes Modell zuzulegen, verschob die Entscheidung dann aber auf später. Seine Hand kribbelte etwas, seine Kehle fühlte sich leicht zugeschwollen an. Ein wenig frische Luft auf der Fahrt in die Stadt, ein gutes Glas Wein zum Essen, dazu die Freude, wieder im Sportwagen zu sitzen und das sonore Dröhnen des Achtzylinders zu hören, würden diese Folgen des Jetlags sicher beseitigen. Die zweite Pille aus seiner Dose nahm er, bevor er um 12:05 Uhr wie jeden Tag aufstand und den Autoschlüssel nahm, im Flur den Hut aufsetzte und den Mantel anzog. Dann ging er zur Garage. Wie immer würde er sich zum Mittagessen in der Stadt mit einem seiner Kunden oder Lieferanten treffen.

Als er losfuhr, verstärkte sich das Kopfweh, aber das ignorierte er ebenso wie das plötzliche Taubheitsgefühl im rechten Arm. Wie sonst auch fuhr er auf die einzige scharfe Kurve dieser wenig befahrenen, abschüssigen Strecke in die Stadt sehr schnell zu. In dem Moment, als er bremsen wollte, passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Es kam keinerlei Bremswirkung. Entsetzt sah er, wie die Kurve viel zu schnell näher kam. Als er die Handbremse ziehen wollte, konnte er den Arm nicht bewegen, der Schmerz explodierte regelrecht in seinem Kopf, gleichzeitig schwoll der Hals plötzlich so zu, dass er keine Luft mehr bekam. Ihm wurde schwarz vor Augen. Davon, dass das Auto die Straßenabgrenzung durchbrach und sich den Berg hinunter überschlug, bekam Philip Schwarz nichts mehr mit. Der von einem Spaziergänger herbeigerufene Notarzt konnte nur noch den Tod feststellen.

An diesem Nachmittag hatten alle in der Firma viel zu tun. Es mussten unendlich viele Telefonate geführt werden, um alle Termine der nächsten Tage abzusagen, bis feststand, wie es mit der Firma nun weitergehen sollte.

Gleich nachdem Schwarz losgefahren war, kochte Helga sich im Chefzimmer einen der speziellen Kaffees. Nachdem sie ihre Tasse leer getrunken hatte, war ihr immer noch unklar, warum jemand bereit war, für diesen Kaffee so viel Geld auszugeben. So viel besser als bei ihrem Kaffee zu Hause fand sie den Geschmack nicht.

Das von Philip Schwarz verwendete Pad im Mülleimer tauschte sie gegen ihres aus. Seine benutzte Kaffeetasse stellte sie in die noch vom Freitag noch fast volle Spülmaschine und schaltete sie auf höchste Stufe mit maximaler Temperatur für angetrockneten Schmutz. Das Kaffeepad aus dem Müll steckte Helga in ihre Handtasche und warf es bei einem Spaziergang in eine zur Leerung bereitstehende Biotonne. Sie war sich sicher, ihr Hausarzt würde niemals bemerken, dass in der Flasche mit dem Haselnuss-Allergen, das in minimalen Dosen zur Durchführung von Allergietests verwendet wurde, ein wenig fehlte. Die kleine Spritze, mit der sie gearbeitet hatte, hatte sie schon in der vergangenen Woche verschwinden lassen. Sie hatte sie beim Krankenhausbesuch einer Tante im dortigen Schwesternzimmer in den Entsorgungsbehälter für Spritzen geworfen.

Petra hatte schon den vergangenen Samstag für einen weiteren Kurztrip in die 200 Kilometer südlich gelegene Großstadt genutzt. Dort hatte sie das Frettchen in die Zoohandlung zurückgebracht. Sie wolle doch lieber eine Katze halten, das Frettchen sei zu unruhig. Das Interesse des Tieres an Kabeln war ebenso wenig erwähnt worden wie die Tatsache, dass es mit großer Hingabe absolut alles zernagte, an dem sich auch nur das kleinste bisschen Leberwurst befand. Den letzten Rest der Leberwurst hatte sie sich noch am Morgen mit ihrem kurzzeitigen Mitbewohner zum Frühstück geteilt.

Michael ging, unmittelbar nachdem Helga es verlassen hatte, ins Chefzimmer und löste vorsichtig die mit dem konzentrierten Gift der Terrarienbewohner präparierte dünne Nadel von der Fütterungsklappe. Das Gift spülte er auf der Toilette ab. Solange es nicht über eine Verletzung in die Blutbahn geriet, war es relativ harmlos. Um ganz sicher zu gehen, steckte er die gesäuberte Nadel in ein kleines Glasröhrchen, das er beim Mittagsspaziergang in eine der Mülltonnen in der Umgebung warf. In Zukunft wollte Michael sich um die Tiere kümmern. Nach einer Umstellung der Fütterung von den besonderen kolumbianischen Ameisen auf einheimische Futtertiere würde sich deren Gift relativ schnell zurückbilden, sodass er schon bald auf Handschuhe und besondere Vorsicht im Umgang mit ihnen verzichten konnte. Das Gift des giftigsten aller Pfeilgiftfrösche im Blut würde auch bei einer detaillierten Auswertung von Laborergebnissen nicht auffallen, war er sich sicher.

Kurz nachdem Michael das Zimmer verlassen hatte, kam Udo herein und entfernte rasch eine kleine zusätzliche Einrichtung aus dem Headset des Telefons. Wieder in seinem Labor, schraubte er mit geübten Griffen die Einzelteile auseinander. Dann sortierte er sie in die richtigen Kästen und Schubladen mit den Ersatzteilen für die erst vor einer Woche vorgestellte Neuentwicklung der Firma. Die Zeichnungen und Blätter mit Berechnungen zu diesen Änderungen hatte er nur handschriftlich angefertigt und sie bereits unmittelbar nach dem Zusammenbau des kleinen Gerätes zu Hause im Ofen verbrannt. Die kleine Änderung an ihrer Erfindung, mit der die Frequenz des Telefonklingeltones so manipuliert werden konnte, dass Gewebe knapp neben dem Lautsprecher des Headsets lokal angegriffen wurde, würde nicht zum Patent angemeldet werden. Eine vollautomatische Operation während des Telefonierens barg doch gewisse Risiken, dachte er.

Die mit der Untersuchung des Unfalls beauftragte Kommissarin ordnete wie bei jedem tödlichen Autounfall sowohl ein Unfallgutachten als auch eine Autopsie an. Nur den ausgelösten Airbags war es zu verdanken, dass der Tote sofort zu identifizieren war. Das ausgetretene Talkum hatte sich als dünner Film im ganzen Auto und über den Leichnam verteilt und machte die Untersuchungen nicht einfacher. Die Ergebnisse lagen trotzdem schon zwei Tage später vor.

Die Obduktion ergab neben den sonstigen schweren inneren und äußeren Verletzungen als primäre Todesursache eine starke Gehirnblutung. Es war eine größere Ader wenige Zentimeter neben dem linken Ohr geplatzt, was innerhalb kürzester Zeit zum Tod geführt hatte. Die Stärke der Blutungen war zwar ungewöhnlich, aber da aus den vorliegenden Krankenakten bekannt war, dass Philip Schwarz nach einer Herzklappenoperation ständig Blutverdünnungsmittel nahm, wurde dies nicht weiter untersucht. Dadurch wurde die wirklich außergewöhnlich hohe Dosis des Blutverdünnungsmittels nicht erkannt.

Der allergische Schock, ausgelöst durch den Verzehr des Allergens, wurde bei der Obduktion ebenfalls nicht entdeckt. Von der Allergie des Toten gegen Haselnüsse wusste nur Helga, die ihm manchmal etwas zu essen besorgt hatte. Da er es als einen persönlichen Makel empfand, hatte er die sehr heftige Reaktion auf Nüsse immer verheimlicht.

Die winzige Verletzung durch eine Nadelspitze an der rechten Hand war durch die sonstigen Unfallfolgen nicht zu sehen. Bei den durchgeführten Standard-Labortests hatte es keine Auffälligkeiten gegeben, ein besonderer Verdacht, der gezielte weitere Untersuchungen ausgelöst hätte, lag nach den ersten Ergebnissen nicht vor.

Die Spuren am Auto ergaben für den amtlichen Gutachter ein eindeutiges Bild. Die Bremsleitung war von einem Marder zernagt worden, weitere Manipulationen oder technische Defekte konnten ausgeschlossen werden.

Im Rahmen der Ermittlungen wurden Wohnung, Büro und Garage des Toten untersucht. Er hatte alleine gelebt und kaum persönliche Kontakte außerhalb des beruflichen Umfeldes gehabt. Weder in seiner Wohnung noch im Büro gab es ungewöhnliche Entdeckungen. In der Garage auf dem Firmengelände fanden die Ermittler Fußspuren eines kleinen Marders im Staub. An der Stelle, an der das Auto gestanden hatte, war ein Fleck mit Bremsflüssigkeit auf dem Fußboden. Da das Auto so geparkt gewesen war, dass direkt vorwärts losgefahren werden konnte, hatte es für den Fahrer keine Möglichkeit gegeben, diesen zu sehen.

Es gab für die Polizei keinen Zweifel, der Autounfall war ein tragisches Unglück.

Der Campingplatz

Fröhlich vor sich hin summend saß die rothaarige Svenja Eder vor ihrem Zelt. Im Juni hatte sie ihr Abitur bestanden, im September würde sie ihre Ausbildung bei der Kriminalpolizei beginnen. Acht Wochen hatte sie sich Zeit genommen, um mit ihrem kleinen Budget auf verschiedenen Campingplätzen die Regionen Deutschlands kennenzulernen. Die letzten beiden Wochen wollte sie im Rheingau bleiben. Sie hatte im früheren Freistaat Flaschenhals einen wunderschön oberhalb des Rheins gelegenen Platz in den Hügeln des Taunus gefunden. Der Ausblick über den Rhein auf die Burg am gegenüberliegenden Ufer war grandios. Mit den Zeltnachbarn rechts und links von ihr hatte sie sich schon etwas unterhalten, sie fand die beiden junge Männer sympathisch, man würde bestimmt gut miteinander auskommen.

Am Morgen hatte sie vor dem kleinen Restaurant des Platzes ein buntes Plakat gesehen, das einen Grill-Wettbewerb im Rahmen eines Campingplatz-Festes ankündigte. Jeder Besucher konnte sich daran beteiligen, die Gerichte sollten nach der Bewertung durch eine Jury aus der Platzgastronomie gemeinsam verspeist werden. Sie fand die Idee toll und grübelte seitdem, ob ihr etwas einfiel mit einem Bezug zum Freistaat Flaschenhals. Als Preise winkten jeweils Gutscheine von lokalen Händlern. Ein Gewinn wäre toll, dachte Svenja, sie hatte ein schickes Sommerkleid in der kleinen Boutique im Ortskern des Rheinstädtchens gesehen, das ihre Urlaubskasse überforderte.

Mit dem Handy recherchierte sie etwas über die Geschichte des sonderbaren Gebietes, das durch die besondere Art der Aufteilung der Besatzungszonen nach dem Ersten Weltkrieg zu einem Niemandsland geworden war. Mehrere Jahre war es keiner der Einflusszonen der Amerikaner oder Franzosen zugeordnet gewesen. Das rebellische kleine Gebiet hatte durch regen Schmuggel des angebauten Weins und Handel entlang des Wispertals sein Überleben gesichert und sogar eigenes Geld gedruckt.

Als sie so weit gelesen hatte, wusste sie plötzlich, was sie grillen würde. Das Wispertal war heute bekannt für seine besonders schmackhaften Forellen. Die wollte sie zubereiten mit einer Würze aus Verjus, den sie aus den lokalen unreifen Weintrauben herstellen würde. Wildkräuter hatte sie auf den Wegen zwischen den Weinbergen auch gesehen.

Bestimmt beteiligten sich auch ihre beiden Nachbarn. Fred, der junge Mann auf dem Platz rechts von ihr, war vorhin mit mehreren Tüten vom Einkaufen gekommen. So richtig konnte sie sich nicht vorstellen, wie er mit seinem winzigen Holzkohlegrill eine Chance haben sollte, aber er hatte fröhlich und zuversichtlich gewirkt. Eher traute sie Rob, dem Nachbarn zur Linken mit seinem Kugelgrill tolle Gerichte zu. Sie selbst hatte einen kleinen Gasgrill mit Gemüsepfännchen, Fischkorb und einer Abdeckung für indirekte Hitze. Damit fühlte sie sich gut gerüstet für ihr Rezept.

Wenige Tage später saß Svenja unter ihrem Vorzelt und schnitt die Zutaten für die Kräutermarinade in kleine Stücke. Als aus Richtung des linken Nachbarn ein lauter Krach und danach ein herzhafter Fluch in bestem hessischem Dialekt ertönte, hätte sie sich vor Schreck beinahe in den Finger geschnitten. Hastig sprang sie auf, um nachzuschauen, was passiert war. Das verkürzte Bein des wackeligen Campingtischs war von dem Stein, der seine Stütze bildete, gerutscht und die ganze Konstruktion zusammengebrochen. Wild kugelten Robs Kochzutaten durch den Staub. Chili, Avocado und Kräuter würde er waschen müssen. Hackfleisch, Bacon und Käse waren noch in verschlossenen Beuteln geschützt. Einzig das Salzdöschen und zwei Eier waren nicht zu retten.

Mit hängenden Schultern sah Rob auf das Durcheinander. Svenja überblickte die Situation und sagte: »Außer dem Salz und den Eiern kannst du alles weiter verwenden. Du hast bestimmt keine Zeit, den weiten Weg nach unten ins Dorf zu machen, nur um einzukaufen. Komm mit einem Töpfchen zu mir und hol dir Beides. Ich habe genug und eine gute Nachbarschaft ist wichtiger, als ein unfairer Vorteil in einem Wettbewerb.« Erstaunt blickte Rob auf: »Du bist eine Wucht. Danke dir.« Nachdem Rob wieder zu seinem Zelt zurückgekehrt war, kehrte Svenja an ihren Tisch zurück und fuhr mit ihren Vorbereitungen fort.

Svenja war erstaunt, wie viele verschiedene Gerichte für den Wettbewerb aufgestellt worden waren. Für die Kategorie Salat / Vorspeise waren zwei Tische vollgestellt. Genauso viel Platz nahmen die Hauptgerichte ein, das Meiste davon schien vom Grill zu kommen. Bei den Nachtischen gab es weniger Auswahl. An jeder Schüssel und jedem Teller stand nichts als der Name des Gerichtes und die Teilnehmernummer. Niemand konnte so wissen, wer welches Gericht vorbereitet hatte.

Es dauerte nicht lange, bis die Jury das Ergebnis verkündete. Rob hatte gewonnen, Svenja den zweiten und Fred den dritten Platz erreicht. Alle drei freuten sich und verbrachten den Abend gemeinsam.

Rob verriet ihr sein Sieger-Rezept: Zuerst hatte er die Avocado halbiert und als halbe Früchte aus der Schale gelöst. Dann hatte er den Kern entfernt und durch Gouda ersetzt. Aus langen Bacon Streifen hatte er ein Gitter geflochten und darauf gewürztes Rinderhack verteilt. Die gefüllte Avocado wurde darauf gelegt und alles eingewickelt. Für die besondere Note wurde der Ball dann mit Honigmarinade bestrichen und danach auf dem Kugelgrill in etwa zehn Minuten knusprig gebraten. Auch Fred wollte nicht zurückstehen und erklärte, wie er mit einfachen Mitteln Hackbällchen mit Schafskäse gefüllt und die ChimiChurri Grillsauce zubereitet hatte.

Svenja freute sich auf die Tour mit Rob. Der Tag versprach schön zu werden und sie wollten eine Wanderung vom Campingplatz bis zur Germania machen. Seit dem Grill-Wettbewerb hatten sie viel gemeinsam unternommen und verstanden sich immer besser. Bis vor wenigen Tagen waren sie eine immer lustige Dreiergruppe gewesen, aber am Vortag war Fred als erster der drei wieder abgereist. Etwas besorgt dachte sie an das Ende des Urlaubs in einigen Tagen. Die Ausbildung würde beginnen und die junge Frau wusste noch nicht so recht, wie das mit wechselnden Ausbildungsorten für verschiedene Bereiche werden würde. Energisch schob sie den Gedanken von sich. Sie wollte es auf sich zukommen lassen und die Gegenwart genießen.

Das erste Stück des Weges war offensichtlich nur sehr wenig begangen und etwas verwildert, aber mit Hilfe der Wanderkarte erreichten sie bald den Hauptweg. Fröhlich plaudernd genossen sie die gemeinsame Zeit. Immer wieder gab es durch die Bäume einen schönen Ausblick auf den Rhein mit seinen Schiffen.

Enttäuscht stellte Svenja fest, dass die Adlerwarte geschlossen hatte und so ging es ohne die geplante Pause das kurze Stück weiter zum Niederwald-Denkmal. Beeindruckt standen sie vor der majestätisch über den Rhein blickenden Germania mit ihren Inschriften. Nachdem sie einige Erinnerungsfotos geschossen hatten, ging es weiter zur Kabinenbahn, mit der sie hinunter in das Touristenstädtchen Rüdesheim fahren wollten, um dann den Zug zurück in Richtung Campingplatz zu nehmen. Vorher wollten sie auf der Terrasse neben der Bergstation der Seilbahn ein Eis genießen.