Heliosphere 2265 - Das Marsprojekt: Sammelband (Bände 1-4) - Andreas Suchanek - E-Book

Heliosphere 2265 - Das Marsprojekt: Sammelband (Bände 1-4) E-Book

Andreas Suchanek

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Beschreibung

Captain Kristen Belflair und die Crew der JAYDEN CROSS befinden sich im September 2267 auf dem Weg zu den Aaril, um einen Pakt mit den Elementaliens auszuhandeln. Ebenfalls an Bord: der Außenminister der Republik, ein hochrangiger Diplomat und ein Agent des Exekutivkommandos. Das Schiff wird aus dem Hinterhalt angegriffen und kann sich der Übermacht nur schwer erwehren. Im Verlauf des Kampfes kommt es zum Zusammenspiel inkompatibler Antriebstechnologien, das Schiff wird durch den übergeordneten Raum geschleudert. Das Schicksal der Crew blieb ungeklärt ... ... bis Heute. Dieser Sonderband enthält die Romane 1-4 der Miniserie "Heliosphere 2265: Das Marsprojekt", die parallel zum dritten Zyklus der Mutterserie (Bände 25-36) spielt.

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HELIOSPHERE 2265

DAS MARSPROJEKT

SAMMELBAND

ANDREAS SUCHANEK

Wie alles begann

Captain Kristen Belflair und die Crew der JAYDEN CROSS befinden sich im September 2267 auf dem Weg zu den Aaril, um einen Pakt mit den Elementaliens auszuhandeln. Ebenfalls an Bord: der Außenminister der Republik, ein hochrangiger Diplomat und ein Agent des Exekutivkommandos.

Das Raumschiff fällt im Verlauf des Fluges aus dem Phasenraum und wird von den Assassinen des Ketaria-Bundes angegriffen, die die an Bord befindliche Tasha Yost – eine der fünf gesuchten Genschlüsselträger – entführen. Dabei kommt eine Manipulation am Hauptcomputer des Schiffes zum Einsatz.

Nach erfolgreicher Flucht aktivieren die Angreifer offenbar eine Schaltung, die das Raumschiff in den Phasenflug zwingt und gleichzeitig das neue Interlink-Aggregat aktiviert. Die inkompatiblen Technologien interagieren und schleudern den Raumer durch das höherdimensionale Kontinuum.

Während die Solare Republik weiter gegen Richard Meridian, den Jahrhundertplan und Imperator Sjöberg kämpft, bleibt das Schicksal der JAYDEN CROSS ungewiss.

Bis heute.

Liberty-Kreuzer JAYDEN CROSS, Status: unbekannt. Ort: unbekannt. Datum: unbekannt

Es roch nach ionisiertem Sauerstoff und verschmorter Isolierung; elektrische Energien knisterten. Die Geräusche sollten nicht da sein, doch sie waren es. Ein Stöhnen erklang. Die Stimme wirkte seltsam vertraut, aber gleichzeitig fremd. Es dauerte endlose Sekunden, bis sie die Wahrheit realisierte, dass nämlich sie selbst gestöhnt hatte. Was bedeutete ...

Ich lebe!

Dieser eine Gedanke vertrieb abrupt die Benommenheit. Adrenalin peitschte durch ihren Körper, sie fuhr in die Höhe, öffnete die Augen.

Captain Kristen – Kirby – Belflair saß neben einer Konsole inmitten der Gestalt gewordenen Hölle. Sinneseindrücke prasselten auf sie ein, überfluteten ihr Denken.

Zerstörte Arbeitsstationen ragten empor, bedeckt von halb zersplitterten Touch-Oberflächen aus Saphirglas. Überspannblitze zuckten über Elektronikkomponenten hinter Wandpanelen, die sich gelöst hatten. Statusdioden am Projektionsblock der zentralen Holosphäre blinkten rot auf.

Kirby kam mühsam auf die Beine. Der Geruch von Zink und Eisen vertrieb alles andere.

Blut.

Mit wenigen Schritten war sie bei ihrem Ersten Offizier. Commander Aliou Nymba lag zusammengekrümmt vor seinem Sitz. Die ebenholzfarbene Haut wirkte unnatürlich bleich, verkrustetes Blut klebte in den raspelkurzen weißen Haaren. „Aliou“, sagte sie leise.

Er stöhnte, rollte auf den Rücken und öffnete die Augen. „Captain?“

„Bleiben Sie liegen.“ Mit zitternden Fingern riss Kirby an dem Fach mit dem medizinischen Notfallkit – die Zugangsplatte hatte sich verkantet –, bis es endlich aufsprang. Glücklicherweise war der Inhalt unbeschädigt. Sie streifte den Scannerhandschuh über und untersuchte ihren I.O. gründlich. „Prellungen und Hämatome, aber keine ernsten Verletzungen.“

Er kam aufstöhnend in die Höhe. „Jetzt Sie.“

Kirby wollte im Reflex widersprechen, als ringsum Geräusche erklang, schmerzerfüllte Rufe. Sie sah jedoch ein, dass sie mit inneren Wunden niemandem würde helfen können.

„Sie sind auch okay“, sagte Aliou kurz darauf.

Jemand hustete.

Mit wenigen Schritten war Kirby bei der Navigationskonsole. „Czem?“

Der Navigator beugte sich zur Seite und spuckte Blut. Der sonst stets wie aus dem Ei gepellt wirkende Lieutenant Commander sah furchtbar aus. Die Uniform war an mehreren Stellen zerrissen, der Vollbart ließ ihn fast animalisch wirken. Als er lächelte, verwandelte das Blut auf den Zähnen ihn zu einem schimärenhaften Abbild seiner selbst. „Alles in Ordnung, Ma’am. Hab mir nur auf die Zunge gebissen.“

Sie untersuchte ihn kurz. Tatsächlich hatte auch er lediglich oberflächliche Verletzungen davongetragen.

„Captain“, erklang Alious Stimme.

„Czem, verschaffen Sie sich einen Überblick. Helfen Sie den anderen, und dann will ich einen Statusreport.“

„Aye, Ma’am.“

Ihr I.O. kniete neben der Taktik- und Waffenkonsole am Boden. Commander Sienna McCain hatte die Zähne zusammengebissen und starrte Kirby trotzig entgegen. „Mir geht es gut.“

Die braune Haut der Australierin war von Schürfwunden bedeckt, ihre Lippe aufgeplatzt. Das hüftlange dunkelblonde Haar umrahmte ihr Antlitz wie ein matter Heiligenschein.

Von der Hüfte abwärts lag sie unter Konsolentrümmern.

„Dann sollten wir wohl den Gleichgewichtstest machen“, sagte Kirby trocken. „Stellen Sie sich auf ein Bein.“

Sienna kniff wütend die Lippen zusammen.

Der Sensorhandschuh enthüllte, dass sie diverse innere Verletzungen davongetragen hatte. Eine Quetschung der Lunge, was erklärte, warum ihr Atem so rasselnd ging. Dazu eine angeknackste Rippe und Blutungen. Irgendwo hatte außerdem ein Trümmerstück den Körper penetriert. Die Blutlache unter ihr wurde langsam größer. „Sie müssen sofort auf die Krankenstation. Kirby an Olivia.“

Die Lautsprecher des Interkom-Systems knackten einmal kurz, doch es blieb still.

„Commander Özenir“, rief sie in Czems Richtung, „das wäre der passende Moment für ein Status-Update.“

„Bin dabei“, kam es zurück. „Ich musste erst unserem Sensorgenie helfen.“

Lieutenant Bai Yun, das „Küken“ unter den Kommandobrückenoffizieren, wirkte ramponiert und zittrig, hielt sich aber tapfer. Er hatte seine Konsole an der Seite geöffnet und begutachtete den Schaden. Das rotblonde Haar des Koreaners sah aus wie ein überdimensioniertes Warnicon, das auf seinem Schädel aufleuchtete.

Kirby schaute auf die leere Kommunikationskonsole, an der bis vor kurzem Tasha Yost gesessen hatte. Die Freundin war fort, entführt von den Assassinen.

Konzentriere dich, Kirby. Um Tasha kümmern sich andere. Jayden bekommt das hin.

Gemeinsam mit Aliou arbeitete sie weiter. Im hinteren Bereich der Kommandobrücke standen zwei zitternde Wissenschaftler an den Trümmern, die einst Konsolen gewesen waren. Drei andere lagen am Boden. Aus der Brust eines Mannes ragte ein Metallfragment, zwei Frauen lagen daneben in der Lache seines Blutes.

Alle drei tot.

Kirby drängte ihre Emotionen tief in ihr Innerstes zurück. Jetzt galt es, Stärke zu zeigen. Die Crew benötigte keinen Menschen mit Fehlern und Schwächen, der an der Spitze stand, sondern eine unbeugsame Kämpferin. Sie gab sich selbst ein paar Sekunden Zeit, atmete tief durch. „Czem, ich benötige einen Status von Ihnen, sofort.“

„Die Navigation ist ausgefallen“, sagte er. „Wir trudeln. Sowohl das Interlink- als auch das Phasenmodul sind laut meiner Anzeigen zerstört. Genaueres kann ich aber nicht sagen, da der Datenstrom zum Maschinenraum abgerissen ist.“

Bai Yun hob zögerlich den Finger. „Ma’am.“

„Sprechen Sie.“

„Unsere Außensensoren sind ausgefallen, daher kann ich nicht sagen, wo wir uns befinden. Allerdings funktioniert der Annäherungsalarm. Da er nicht aktiv ist, befindet sich kein fester Körper in der Nähe.“

„Gute Arbeit.“ Sie nickte ihm anerkennend zu. „Also kein Planet oder Asteroiden, die uns gefährlich werden können. Ganz zu schweigen von einem feindlichen Schiff.“

„Allerdings ...“

„Ja?“

„Ich konnte die internen Sensoren für einige Minuten wieder online schalten – bevor sie endgültig ausfielen. Die Ummantelung einer Fusionsbatterie weißt Mikroperforationen auf. Es entweicht erste Strahlung im Maschinenraum.“

Kirby nahm die Worte gelassen auf, obgleich sie wusste, was das bedeutete. Ein Strahlungsleck konnte das gesamte Deck entvölkern. „Können wir dort jemanden erreichen?“

Ein Kopfschütteln.

„Also schön. Aliou, Sie übernehmen das Kommando, koordinieren Sie alles. Bai Yun, Sie sind zuständig für die internen Sensoren und die Kommunikation. Was auch immer Sie tun, wen auch immer Sie hinzuziehen müssen, tun Sie es.“

„Aye, Ma’am.“

„Czem, Sie übernehmen den Antrieb und – falls irgendwie möglich – die Defensivsysteme.“

„Kein Problem.“

Bei so viel Optimismus musste Kirby lächeln. Es verschwand jedoch sofort wieder, als sie zu Sienna herabsah. „Und Sie, Commander, bleiben gefälligst am Leben.“

„Und was, wenn ich fragen darf, haben Sie vor, Captain?“ Alious Stimme war wie immer ruhig und kontrolliert. Sie bewunderte ihn dafür. „Ich, I.O., begebe mich in den Maschinenraum. William benötigt zweifellos Hilfe.“

„Die Strahlung ...“

„Ich bin vorsichtig. Sie kennen mich doch.“

„Eben.“

Sie schenkte ihm ein kurzes Grinsen, dann rannte sie davon. Glücklicherweise ließ sich das Kommandobrückenschott öffnen. Dahinter aber wurde das ganze Ausmaß der Zerstörung deutlich. Kirby fragte sich, wie das Schiff dieses Chaos überhaupt hatte überstehen können, während sie zwischen Trümmern, Verwundeten und Toten in Richtung Maschinenraum rannte.

*

Sol-System, Terra, 08. März 2257, 10:55 Uhr

(vor zehn Jahren)

„Das ist ... unglaublich.“ Martin zog sie in eine Umarmung. Sein Kuss war so wild und voller Energie, dass Kirby sich wünschte, es ihm nicht am Strand erzählt zu haben.

Gleichzeitig war es die beste Kulisse für etwas Derartiges. Die Wellen brandeten sanft gegen die Küste, im Hintergrund zogen Seeschwalben ihre Kreise. Der Geruch nach Salz und Tang lag in der Luft.

„Eine Professur mit vierundzwanzig.“ Martin ließ ihr einen Moment Zeit, Atem zu schöpfen. „Das ist großartig. Ich wusste schon immer, dass du etwas Besonderes bist.“

Wie er so dastand und auf sie herabblickte, fühlte Kirby Wärme in ihrer Brust emporsteigen. Sein dunkles Haar wurde vom Wind zerzaust, der Dreitagebart verlieh ihm einen verwegenen maskulinen Touch, die braunen Augen schauten sanft in die Welt.

Die perfekte Mischung.

Wieder küsste er sie stürmisch. „Du als erfolgreiche Mathematik-Professorin an der Akademie der Space Navy und ich im Ingenieursbüro der Schiffskonstruktion. Das ist so ... wer hätte das gedacht? Es fügt sich alles. Wir können zwei Jahre lang arbeiten, dann das erste Kind ...“

Er begann damit, eine rosige Zukunft zu malen. Das Bild gefiel Kirby – mit einigen wenigen Abstrichen. Martin war es sehr wichtig, dass ihr Nachwuchs die besten Genresequenzierungen erhielten, die erhältlich waren. Sie sollten schön sein und intelligent und ... perfekt.

Aber darüber reden wir noch einmal,dachte sie.Pläne lassen sich anpassen.

Sie ließ sich in den Moment fallen.

Weitere Küsse folgten, und am Ende lagen sie kichernd im Sand, eng umschlungen, und scherten sich nicht um die pikierten Blicke der Spaziergänger. Immerhin trugen sie noch Kleidung. Leider.

Erst als die Sonne hinter dem Horizont versank, schlenderten sie gemütlich zu ihrem Hotel. Es war ein moderner Glasbau, der von Antigraveinheiten über dem Meeresspiegel gehalten wurde. Stahlseile vertäuten das Gebäude mit dem felsigen Meereskliff. Ein breiter Gang führte durch das Riff ins Innere. Wie Kirby gehofft hatte, begann es kurz nach ihrer Rückkehr zu stürmen.

Die gesamte Front der Suite – die sie für eine Woche gemietet hatten – war komplett verglast und gab den Blick auf die Wellen frei, die immer wieder gegen das Gebäude schlugen. Es blitzte und donnerte.

Sie nahmen sich nicht einmal die Zeit, ihre Kleidung vollständig abzustreifen und fielen wie zwei ausgehungerte Teenager übereinander her. Kirby riss Martins Hemd auf, die Knöpfe flogen zu allen Seiten davon. Sie bedeckte seine Brust mit Küssen und glitt dann tiefer. Er stöhne wohlig auf.

Während Blitz und Donner miteinander verschmolzen, lagen sie auf dem dicken Teppichboden und taten es den Gezeiten gleich.

Befreit und entspannt gleichermaßen schliefen sie ineinander gekuschelt ein.

Es war ein beständiger Signalton, der sie aus dem Schlaf riss. Martin rollte sich einfach zur Seite und murmelte etwas, doch sie konnte das Geräusch nicht ignorieren. Ihr Hand-Com war so geschaltet, dass lediglich Prioritätssignale durchkamen. Nackt und müde stapfte sie zu dem Glastisch vor der Medienwand.

Die dünne Touch-Fläche floss förmlich auf ihren linken Handrücken. Die ID ließ sie seufzend die Augen schließen.Warum bin ich nicht einfach liegen geblieben?„Mum, wir hatten doch vereinbart, dass Martin und ich nur im Notfall gestört werden.“

„Spreche ich mit Kristen Belflair?“

Die Stimme war ihr unbekannt. „Wer sind Sie, wie kommen Sie an die ID meiner Mutter?“

Ein Räuspern erklang.„Mein Name ist Doktor Jean Raspier, Arzt im orbitalen Space-Navy-Hospital. Spreche ich mit Kristen Belflair?“

„Ja.“ Mehr brachte sie nicht heraus. Es war kein klarer Gedanke, der sich manifestierte, kein echtes Wissen, lediglich ein Gefühl. Etwas war geschehen. Etwas Schlimmes.

„Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass es um 17:10 Solarer Standardzeit zu einem Gleiterunfall gekommen ist. Eine Orbitalfähre wich vom Leitstrahl ab, trudelte in die Atmosphäre und explodierte. An Bord befanden sich Katja und Oliver Belflair sowie deren Tochter Franziska und ihr Sohn.“

Die Worte hingen in der Luft, während die Zeit zu gefrieren schien. Kirby sah sich selbst dort stehen, hörte, wie noch mehr Worte aus dem Aufnahmefeld drangen. Das Gewitter war vorübergezogen, lediglich Regentropfen prasselten weiterhin sanft gegen die Scheibe.

Gerüche, Geräusche, alles umgab sie wie eine dumpfe Glocke.

Ihre Mutter, ihr Vater, ihre Schwester und ihr Neffe hatten schon lange die Orbitalplattform besuchen wollen.

Ihr Neffe liebte den Weltraum, wollte mit seinen elf Jahren später unbedingt zur Space Navy, um ein berühmter Captain zu werden, der heldenhaft die Solare Union beschützte. Nächtelang lag er wach und starrte zu den Sternen, verschlang jeden Science-Fiction-Roman, als sei er eine Süßigkeit.

Kirby stand einfach da, konnte sich nicht bewegen. Tränen rannen heiß über ihre Wangen.

Irgendwann, der Morgen graute bereits, erwachte Martin.

Acht Wochen später schloss sich die Tür zu ihrem Appartement mit einem pneumatischen und endgültigen Zischen. Kirby hatte es nicht geschafft, die Trauer zu überwinden. Nicht schnell genug jedenfalls. Martin hatte ihr eine Woche gegönnt, in der er liebevoll und zärtlich gewesen war. In der zweiten hatte er Ratschläge erteilt, wie sie wieder zu sich selbst finden könnte. Die Ungeduld kam in der dritten Woche. Er sprach von Plänen, die sie langsam anpackenmussten.

Doch Kirby hatte keine Energie mehr. Ihr gesamtes Leben war von einem Moment zum nächsten aller Fröhlichkeit beraubt worden. Grau überdeckte Grau. Jede Armbewegung war schwer. Oftmals lag sie einfach nur auf der Couch, die Musik spielte im Hintergrund, die Zeit verstrich. Minuten wurden zu Stunden, ein bedeutungsloses Einerlei an Sinneseindrücken.

Irgendwann beschaffte sie sich die Akten des Vorfalls. Ein simpler Software-Bug hatte die Katastrophe ausgelöst. Sie wollte jemandem die Schuld geben, doch da war niemand. Über Kontakte verschaffte sie sich Zugang zu der Software und machte den Programmierer ausfindig. Ein junger Mann, der in Neu Berlin arbeitete.

Sie wollte ihn zur Rede stellen, suchte ihn in seiner Firma auf. Doch am Ende musste sie begreifen, dass niemand etwas Derartiges hätte voraussehen können. Der junge Mann zerfleischte sich selbst, machte sich Vorwürfe, obgleich er übermüdet gewesen war. Die Firma erwartete Überstunden. Und so hätte sie weiter nach dem nächsten Verantwortlichen suchen können. Und dem nächsten. Und dem nächsten.

Stattdessen ließ sie los. Kirby taumelte von einem Tag zum nächsten. Die Professur an der Akademie wurde anderweitig vergeben, da sie nicht zur Verfügung stand. Geld war kein Problem, ihr Konto war voll, doch die Energie wollte nicht zurückkehren. Der Sinn in allem war fort.

Ob sie hier war oder nicht, machte keinen Unterschied. Sie war allein. Irgendwann stieg sie einfach in ein Shuttle, aktivierte den Zufallsmodus und ließ sich irgendwohin fliegen. Es war ein sonniger Tag in der Zielstadt. Nach einem Spaziergang blickte sie auf und erkannte den Eiffelturm.

Paris.

Sie wanderte an der Seine entlang, schaute aufs Wasser und sog den Duft des erwachenden Sommers tief in ihre Lunge.

Schließlich sank sie auf einer Bank nieder. Menschen gingen an ihr vorbei, alleine oder zu zweit. Familien alberten herum, Eltern schimpften oder lachten mit ihren Kindern. Gravradfahrer schlängelten sich durch die Menge.

Es war der Tag, an dem Kristen – Kirby – Belflair auf eine kleine energiegeladene japanische Frau traf. Eine Begegnung, die ihr Leben für immer verändern sollte.

*

LK JAYDEN CROSS, Status: unbekannt. Ort: unbekannt. Datum: unbekannt

Ich werde alt.

Kirby zog sich aus dem Verbindungsschacht. Der Lift auf Höhe des Maschinendecks war ausgefallen, die Schotts blockiert. Die einzige Möglichkeit, ihr Ziel zu erreichen, waren die Wartungsschächte gewesen, die die gesamte JAYDEN CROSS durchzogen.

Vor dem Panzerschott des Maschinenraums stand bereits ein Mann. Er trug einen dunkel schattierten Skinsuit, eine Spezialanfertigung, wie Kirby erkannte. „Sie stecken voller Überraschungen.“

„Captain“, sagte ExKom-Agent Jake Fooley. Mit seinen schwarzen Haaren, den blauen Augen und einem athletischen Körper gehörte er eher in einen Modekatalog als auf ein Raumschiff. Vermutlich war er deshalb der JAYDEN CROSS zugeteilt worden. Immerhin hatte er ursprünglich Tasha Yost beschützen sollen. „Schön zu sehen, dass es Ihnen gut geht. Wie steht es um die Kommandobrücke?“

„Nicht gut. Was tun Sie hier?“

„Ich war mit dem Minister und Schnatzberg im Diplomatischen Quartier, als es passiert ist. Die beiden sind nur leicht verletzt und einstweilen in Sicherheit. Da ich eine gewisse Ausbildung genossen habe, wollte ich mich nützlich machen.“

Eine schöne Umschreibung für das, was er war, wie Kirby fand. Vermutlich kannte er sich rudimentär in allen wichtigen Fachbereichen aus, die auf einem Raumschiff Teil des Alltags waren. Die Anforderungen, die an Agenten gestellt wurden, waren enorm.

„Was wissen wir bis jetzt?“

„Die Strahlung im Maschinenraum ist so hoch, dass die Messflächen einiger interner Sensoren durchgebrannt sind.“ Er deutete auf das 3D-Display neben dem Schott. Die Anzeige war ein kruder Mix aus Strahlenspitzen. „Ich versuche gerade, das Schloss zu depolarisieren, damit ich es aufziehen kann.“

Kirby schaute skeptisch dabei zu, wie er ein Depolarisationsmodul anheftete. Eine kleine Diode sprang von Rot auf Grün. Das Magnetfeld der beiden Verschlusskomponenten war nun gleichartig gepolt. Trotzdem war es eine immense Herausforderung, ein Panzerschott aufzuziehen.

Fooley holte zwei Haftgriffe hervor und brachte sie an. Als bestünde das Schott aus Aluminium, zog er es auf. Es beruhigte sie ein wenig, dass er dabei die Zähne zusammenbiss. Seine Kiefermuskeln traten hervor, der Skinsuit spannte über die Armmuskeln.

„Warum ... schauen Sie ... so?“, sagte er stöhnend.

„Ich habe nur gerade überlegt, ob sie ein aufgerüsteter Assassine sind. Aber die hätten weniger Schwierigkeiten mit dem Schott.“

„Weniger ... ist heute ihr humorvoller Tag?“

Sie grinste. „Galgenhumor.“ Kirby trat an Fooleys Seite, heftete einen weiteren Griff an und zog.

Gemeinsam wuchteten sie das Panzerschott zur Seite.

Die K.I. der Skinsuits schloss sofort den Helm. Strahlenwarnungen leuchteten auf dem Heads-Up-Display um die Wette. Fassungslos starrte Kirby auf das, was einst der Maschinenraum gewesen war. Der Hauptraum glich einer Trümmerlandschaft. „Eines ist sicher, von hier greift niemand mehr auf den Hauptcomputer zu.“

Fooley kniete neben einem der Ingenieure nieder. Er schüttelte den Kopf.

„Verdammt.“ Kirby ließ den Blick schweifen und entdeckte schließlich Lieutenant Commander William Porter. Der Chefingenieur der JAYDEN CROSS, der erst vor wenigen Monaten von Alzir-12 hierher versetzt worden war, lag zusammengesunken neben dem Fusionsmodul. Sie rannte zu ihm. „Er lebt.“

Fooley koppelte die K.I. des Bewusstlosen mit der eigenen, während Kirby das Modul untersuchte.

„Er hat eine massive Strahlenvergiftung und muss sofort auf die Krankenstation“, statuierte der ExKom-Agent. „Wir dürfen nicht warten. Außerdem müssen wir ebenfalls hier raus. Die Skinsuits schützen uns nur wenige Minuten.“

„Bringen Sie ihn vor den Maschinenraum“, sagte sie. „Bereiten Sie sich darauf vor, das Schott wieder zu verschließen. Wir benötigen auch Siegelschaum. Und untersuchen Sie die anderen.“

Fooley verschwand.

Kirby überprüfte die Anzeigen. Die Ummantelung der Fusionsbatterie war an mehreren Stellen perforiert. Die Strahlung trug das Potenzial in sich, die DNA eines jeden hier irreparabel zu schädigen. Selbst ein Skinsuit half nicht dauerhaft dagegen. Die Skalenwerte auf dem Display verschlechterten sich rapide, ihr blieben nur noch wenige Minuten.

Normalerweise hätte sie die Batterie automatisiert ausgestoßen. Leider waren die Schächte mit Trümmern verstopft.

Während Fooley einen weiteren Ingenieur nach draußen schleppte, hastete Kirby zum Interlink-Modul. Sie öffnete die Zuleitung zur Fusionsbatterie manuell, dann rannte sie zurück und entsiegelte den entsprechenden Port. Das Icon auf dem Monitor pulsierte, worauf die Strahlung langsam sank. Es würde weder dauerhaft noch vollständig reichen, aber ihnen etwas Zeit erkaufen.

Warnung: Der Träger ist aggressiver Fusionsstrahlung ausgesetzt. Irreparable Schäden der DNA sind nicht auszuschließen. Es wird dringend empfohlen, einen Arzt zu konsultieren.

Kirby rannte zum Schott. Davor lagen neben Lieutenant Commander Porter und noch drei weitere Ingenieure. „Die einzigen?“

Fooley nickte bedauernd. „Alle anderen sind tot.“

Gemeinsam griffen Sie nach den Haftgriffen und zogen das Schott wieder zu, bis es einrastete. Während sie den Verschlussmechanismus erneut polarisierte, trug der Agent den Siegelschaum auf. Sofort sank die Strahlung im Gang auf ein Niveau, das in einem Skinsuit ungefährlich war.

„Auf zur Krankenstation“, sagte Jake. „Wir werden zwei Mal gehen müssen.“

„Dann fangen wir besser an.“

*

Commander Aliou Nymba sank in den Sitz des Kommandanten und atmete tief durch. Gemeinsam mit den anderen Kommandooffizieren hatte er Verletzungen behandelt, Medikamente verabreicht und Skinsuits rekalibriert, damit die K.I. wieder korrekt funktionierte.

Er sehnte sich nach ein paar Stunden Schlaf, doch das kam in der aktuellen Situation natürlich nicht infrage. Vermutlich würde Kirby eine Woche durcharbeiten, wenn er sie nicht ein wenig bremste.

Er griff über seinen Handrückencontroller auf die Funktion des Skinsuits zu, ließ sich eine Koffein-Taurin-Mischung verabreichen und trank Wasser aus dem im Kragen verbauten Trinkhalm.

„Sir“, meldete sich Lieutenant Bai Yun, „ich habe die interne Kommunikation wieder aktiv geschaltet, wenn auch nicht flächendeckend. Unser Phasenfunk ist ebenfalls bereit.“

„Endlich eine gute Nachricht.“ Er spürte, wie die Injektion zu wirken begann, seine Lebensgeister kehrten zurück. „Senden Sie umgehend einen Notfallcode in Richtung NOVA.“

„Aye, Sir.“

„Nymba an Captain Belflair.“ Das Interkom reagierte und etablierte die Verbindung, was ihn beruhigt aufatmen ließ.

„Schön, Sie zu hören, I.O.“, erklang Kirbys Stimme.„Haben wir außer der internen Kommunikation noch etwas?“

„Den Phasenfunk. Ein Notsignal ist bereits abgesetzt. Die Sensoren sind weiterhin offline.“

„Der Pike-Antrieb macht nach wie vor Schwierigkeiten“, meldete sich Lieutenant Commander Czem Özenir. „Aber ich bin dran. Soweit das von hier oben geht. Captain, haben wir Zugang zum Maschinenraum?“

„Ich muss sie enttäuschen, Commander.“Kirby keuchte schwer.„Mister Fooley und ich befördern gerade vier Überlebende in Richtung Krankenstation. Der Maschinenraum ist versiegelt, ich habe die Strahlung abgeleitet – soweit das möglich war. Überwachen Sie das Ganze, sobald die internen Sensoren wieder online sind, Mister Bai Yun.“

„In Ordnung, Ma’am“, sagte der Sensoroffizier.

Stimmengewirr drang aus dem Lautsprecher. Die resolute Stimme von Olivia Collins war zu vernehmen, was Aliou aufatmen ließ. Die Chefärztin war unentbehrlich. Sie konnten einen Großteil der technischen Module ersetzen, doch Leben retten, das vermochte nur sie.

Er unterbrach die Kommunikationsverbindung.

„Czem“, wandte er sich an den Navigator. „Wie steht es um unsere Shuttles.“

„Die Fernabfrage bestätigt zwei aktive Fähren, der Rest ist nicht verwendbar.“ Er sah auf. „Sie haben eine Idee?“

„Wir müssen wissen, wo sich die JAYDEN CROSS befindet und was dort draußen vorgeht“, sagte Aliou. „Der einzige bekannte Zwischenfall, in dem diese beiden Antriebstechnologien miteinander interagierten, war die Havarie der HYPERION.“

Özenir nickte. „Ich war damals dabei. Wir kamen mit der TORCH, um sie zu retten. Am Ende glitt unser Schiff über das vierte Phasenband, die HYPERION wurde davongeschleudert. Falls ein ähnlicher Effekt die JAYDEN CROSS erwischt hat, könnten wir überall sein.“

„Schnappen Sie sich ein Shuttle, fliegen Sie hinaus und nehmen Sie eine einfache Sensormessung vor“, sagte Aliou. „Wenn möglich, setzen Sie eine Überlichtsensorplattform ab. Diese Sensoren besitzen eine größere Reichweite.“

„Aye, Sir.“

Während Özenir davonstürmte, nahm Aliou seinen Platz hinter der Navigationskonsole ein und versuchte, über das ständig verschwindende Touch-Interface auf die Navigationskontrollen zuzugreifen.

„Sir“, erklang eine zögerliche Stimme.

Aliou sah auf. Vor ihm stand eine zierliche, stupsnasige Blonde. Sie trug die Rangabzeichen eines Fähnrichs. Als er sie anblickte, bildete sich ein roter Fleck auf ihrer Nase; ihr ganz persönliches Zeichen für Aufregung. „Miss Arlington.“

Zusammen mit drei anderen Fähnrichen der Abschlussklasse der Space Navy Akademie hatte sie mit Kirby einen gefährlichen Auftrag zu Ende gebracht, in dessen Verlauf Captain Brown gestorben war.

„Sir, ich ...“

„Sprechen Sie.“

Sie streckte ihren Rücken durch. „Da Lieutenant Yost nicht mehr an Bord ist und der Sekundäroffizier“, sie deutete auf ein Tuch in der Ecke, „nicht überlebt hat, bitte ich um die Erlaubnis, die Kommunikationskonsole übernehmen zu dürfen.“

Im Normalfall hätte Aliou jeden Fähnrich zusammengestaucht, der etwas Derartiges zu fragen wagte. Andererseits war es in der aktuellen Situation eine Sache der Logik. Arlington hatte sich mehr als einmal bewiesen, und es stand niemand Höherrangiges zur Verfügung.

„Erlaubnis erteilt“, sagte er. „Überwachen Sie die interne Kommunikation, leiten Sie alle Schadensmeldungen auf meine Konsole weiter und priorisieren Sie den Kommunikationsfluss nach eigenem Ermessen.“

„Aye, Sir.“

Er hielt sie auf. „Fähnrich Arlington. ‚Eigenes Ermessen‘ bedeutet, dass das Leben zahlreicher Menschen in Ihren Händen liegt. Das ist nicht die Zeit für Fehler.“

„Ich ... Verstanden, Sir.“

Sie ging zur Konsole und begann sofort mit der Arbeit. Da sich Bai Yun zum Tausendsassa entwickelte, benötigte auch er Unterstützung. „Fähnrich Arlington.“

„Sir?“

„Stellen Sie mir eine Verbindung zu Petro de Silva her. Soweit ich mich erinnere, konnte er mit den Sensoren umgehen?“

„Er ist ein Ass. Ich suche nach seinem Transponder, allerdings fluktuieren die internen Sensoren. Flächendeckende Verfügbarkeit wird dauern.“

Während Aliou wartete, betrachtete er die deaktivierte Holosphäre. Zu gerne hätte er nach draußen gesehen.

Wo war die JAYDEN CROSS gestrandet?

*

„Dort drüben in den Stasetank, ich habe noch keine freien Kapazitäten“, sagte Doktor Olivia Collins.

Die gut zwei Meter große Frau mit den verhärmten Gesichtszügen und der stoischen Miene – die obendrein fast niemals lachte – deutete herrisch in eine Richtung.

Der angesprochene Paramedic reagierte mechanisch und brachte einen schwer blutenden Kameraden dorthin.

Kirby hatte die Krankenstation noch nie zuvor so voll erlebt. Verletzte saßen zusammengekauert am Boden. Neben vereinzelten Paramedics und Ärzten wuselte auch Fähnrich Julia Artaf hin und her.

Es machte Kirby stolz zu sehen, wie die Fähnriche sich entwickelten, die einst mit ihr gemeinsam an Bord der unfertigen JAYDEN CROSS aufgebrochen waren, um den Mörder von Santana Pendergast zu stellen. Nach Abschluss der Akademie hatten sie alle für ihr erstes Jahr auf dieses Schiff wechseln wollen. Sie hatte der Bitte stattgegeben.

„Olivia“, sagte Kirby. „Wir haben William dabei.“

Die Ärztin deutete auf den Boden. „Legen Sie ihn hier ab, die anderen dort an der Seite.“

Mit zielsicheren Griffen überprüfte sie den Zustand des Chefingenieurs und der drei übrigen. „Die Ingenieure kommen durch, William ist zu schwer verletzt.“

„Aber ...“

„Ma’am“, sagte die Ärztin. „Was ich hier mache, nennt man Triage. Ich helfe denen, die eine Chance haben. Wir besitzen kaum Medikamente, zwei der Behandlungsräume sind zerstört, und von meinem Ärzteteam haben es nur zwei geschafft. Es tut mir leid, aber Williams Leben ... ich kann kaum noch etwas für ihn tun.“ Sie verabreichte eine Injektion. „Das verschafft ihm Zeit.“

Kirby schluckte. „Commander McCain auf der Brücke ist verletzt.“

„Ich komme hier nicht weg.“ Sie winkte Fähnrich Artaf herbei. Die junge Frau mit den hüftlangen dunklen Haaren und den geheimnisvollen grünen Augen wirkte bereits wie eine fertige Ärztin. Sie war selbstbewusst bis hin zur Arroganz. Heute war Kirby froh darüber.

„Ma’am“, sie nickte Kirby höflich zu.

„Miss Artaf, Sie begeben sich sofort zur Brücke“, befahl Olivia. „Untersuchen Sie alle dort Verletzten, Priorität hat einstweilen Commander McCain, doch es gilt das Triage-Protokoll. Ohne Ausnahme.“

„Verstanden.“ Ihr Blick fiel auf L.I. Porter. „Wird er durchkommen?“

„Ich gebe mein Bestes“, sagte Olivia, wobei sie Kirby einen durchdringenden Blick zuwarf.

Die Chefärztin hatte eigentlich etwas anderes sagen wollen. Aber im Angesicht der hoffnungsvoll dreinblickenden Offiziere und Verletzten ringsum konnte sie den sicheren Tod eines Führungsoffiziers nicht einfach so verkünden.

„Das weiß ich doch.“ Artaf seufzte. „Er hat Ian in den letzten Tagen intensiv eingelernt. Vielleicht kann der helfen.“

Kirby erinnerte sich. Fähnrich Ian McAllister war ein begnadeter Navigator. Nach dem Abschluss der Akademie hatte er sich jedoch für die Ingenieurslaufbahn entschieden. Porter hatte einen Narren an dem Frischling gefressen, der seinerseits begierig jeden Informationsschnipsel aufsaugte, den der erfahrene Chefingenieur ihm weitergab.

„Danke für den Hinweis“, sagte Kirby. „Wo ist er?“

„Behandlungsraum 2, aber fast vollständig wiederhergestellt.“ Mit diesen Worten eilte Arlington mit einem medizinischen Notfallkit davon.

„Also schön. Olivia, wir brauchen Fähnrich McAllister. Er ist der einzige, der nicht im Maschinenraum war. Wenn William ihn eingelernt hat ...“

„Verstanden. Kommen Sie mit.“

Jake und Kirby folgten der resoluten Ärztin, die im Vorbeigehen einem Patienten eine Injektion verabreichte und einem anderen die Augen schloss.

*

Sol-System, Terra, Paris, 02. Juni 2257, 11:30 Uhr

(vor zehn Jahren)

„Aber Kindchen, wie kann man an so einem Tag derart betrübt dreinschauen“, erklang eine Stimme.

Die Bilder von tosenden Wellen, die an eine Hotelzimmerfront brandeten, zerfaserten. Kirby kehrte zurück in die Wirklichkeit. Neben ihr hatte sich eine kleine japanische Frau auf der Bank niedergelassen. In ihrem Blick lag eine derartige Energie, dass es wirkte, als habe jemand zwei Fusionsreaktoren hinter den Augen der Unbekannten verankert. „Ich ... ähm ...“

„Ich weiß, man spricht nicht einfach so wildfremde Menschen an.“ Sie winkte ab. „Aber sei’s drum, die meisten Regeln machen das Leben doch nur schwerer. Sie sehen so unglücklich aus. Liebeskummer?“

„Auch“, Kirby räusperte sich. Seltsamerweise tat die offene Art der Frau ihr gut; sie wirkte frisch und ... diese Energie. „Ein ... genau genommen vier Todesfälle in der Familie.“

„Oh. Das tut mir aufrichtig leid. Ich wüsste nicht, was ich täte, wenn meiner Familie etwas zustößt. Und meine Älteste, schrecklich, anstatt einen ruhigen Job anzunehmen, ist sie bei der Space Navy. Fremde Welten erkunden und sowas. Vermutlich hätte ich ihr all die Science-Fiction-Romane abnehmen sollen, als sie noch klein war. Hm. Möglicherweise hätten es Piratenromane auch getan. Wobei, dann würde sie sich heute wahrscheinlich den Eriin-Piraten anschließen.“

Ohne es zu wollen, musste Kirby lächeln.

„Ah, Sie können ja doch ein anderes Gesicht aufsetzen.“

Ihre Miene wurde sofort wieder ernst. „Mir steht einfach nicht der Sinn danach. Die meiste Zeit über empfinde ich ... nichts.“

„Das verstehe ich. Aber denken Sie nur, um wie viel schöner das Leben mit einem Lächeln auf den Lippen ist. Was auch immer wir verloren haben: Wenn die Zeit der Trauer vorüber ist, richten wir uns wieder auf und gehen erhobenen Hauptes in die Zukunft. Man kann einen solchen Schmerz nie vergessen. Doch Sie werden ihn akzeptieren und hinter sich lassen müssen, Kindchen.“

„Was ist, wenn ich das nicht kann?“ Kirby war eigentlich nicht der Mensch, der sich Fremden gegenüber einfach öffnete. Sie bewunderte Freundinnen, die stets einen kecken Spruch auf den Lippen hatten und sich nicht unterkriegen ließen. „Was soll ich nur tun?“

„Ein Tipp unter uns Frauen: Werden Sie als Erstes die Brille los?“

„B... Was?!“

„Das Ding auf Ihrer Nase. Man nennt es: Brille.“

„Ich weiß, was man eine Brille nennt!“

„Wo liegt dann das Problem?“

„Aber ... Es geht doch nicht um die Bezeichnung.“

„Das stimmt, es geht um das Design. Absolut hässlich.“ Die Frau griff so schnell nach der Brille, dass Kirby einfach nicht schnell genug reagieren konnte. Schon zerbrach das Gestell unter ihrem zutretenden Schuh.

„Haben Sie gerade ...“

„Ja.“

„Sie!!!!!“ Kirby sprang auf. Wütend funkelte sie die kleine japanische Frau an, in deren Augen es triumphierend blitzte.

„Für jemanden, der nichts fühlt, sind ihre Emotionen aber sehr stark ausgeprägt.“

„Äh.“ In diesem Augenblick kam Kirby sich einfach nur doof vor.

Die Frau patschte mit ihrer Hand auf den freien Platz neben sich, worauf Kirby sich wieder setzte. „Ich habe auch Menschen verloren, die mir wichtig sind. Mehr als einen. Aus verschiedenen Gründen muss ich zudem ständig um das Wohl meiner Familie bangen. Absolute Sicherheit gibt es einfach nicht. Und Schicksal ...“ Ihr Blick wurde einen Augenblick glasig, als er verborgene Bilder enthüllte, die im Geist der Frau emporstiegen. „... ja, das Schicksal ist etwas Grausames. Doch ich glaube, dass das Kämpfen sich lohnt. Wir haben ein Leben. Niemand ...in der Regelweiß niemand, wie lange es währt. Es ist kostbar. Das Schicksal hat Ihren Eltern, Ihrer Schwester und Ihrem Neffen in einer grausamen Laune alles genommen, und sie sind alleine zurückgeblieben. Wollen Sie das, was Ihnen geblieben ist, jetzt auch einfach wegwerfen?“

Kirby schüttelte instinktiv den Kopf. Zwischen ihren Fingern fühlte sie die scharfkantigen Splitter der Brille. In der Luft lag der Geruch von Regen, der den schönen Sommertag vermutlich bald enden lassen würde. „Ich habe darüber nachgedacht, meinen Ex-Verlobten zu kontaktieren. M...“

„Martin.“ Kirbys Augen weiteten sich, worauf die Frau schnell versicherte: „War nur eine Vermutung. Die meisten Männernamen, die vor etwa zwanzig Jahren vergeben wurden, waren laut einer Statistik ‚Martin‘.“

„Aha.“ Das klang zwar seltsam, doch eine andere Erklärung fiel Kirby gerade nicht ein.

Die Frau winkte ab. „Vergessen Sie Martin.“ Sie musterte Kirby von oben bis unten. „Ich denke, zu Ihnen passt eher jemand anderes. Ein Jayden vielleicht.“

Kirby lachte auf. „Warum ausgerechnet Jayden?“

„Nur ein Gefühl“, sagte sie. „Ich gehe oft nach Gefühl. Aber wenn Sie eines Tages einem Jayden begegnen, werden Sie an mich denken und ihm vielleicht eine Chance geben. Bei einem Drink oder zwei.“

„Vielleicht.“

„Und haben Sie auch eine Idee, was ich nun weiter tun soll? Abgesehen von einem Besuch beim Augenarzt, damit er mir meine Sehschwäche weg lasert?“

Die japanische Frau kicherte. „Kindchen, wohin Ihr Weg sie führt, das können nur Sie selbst bestimmen. Ich kann lediglich helfen. Aber wenn ich Sie mir so ansehe, dann wirkt es nicht, als gäbe es hier auf der guten alten Erde etwas, das Sie hält. Vielleicht liegt Ihr Schicksal ja ganz woanders.“ Die Frau erhob sich. „Aber jetzt muss ich los. Mein Mann wartet. Außerdem hat meine Tochter heute einen freien Abend und darf die Space Navy Akademie verlassen. Leben Sie wohl.“

Erst als die Frau schon wieder in der Menge verschwunden war, begriff Kirby, dass sie sie nicht nach ihrem Namen gefragt hatte. In der nächsten Sekunde wurde ihr klar, dass sie ihr auch nie gesagt hatte, dass es bei dem Todesfall um ihre Eltern, ihre Schwester und ihren Neffen gegangen war.

Sie bekam eine Gänsehaut.

Jayden,hallte ein Name in ihrem Geist wieder. Sie lächelte. Sooo schlecht klang das gar nicht.

Space Navy Akademie.

Kirby schaute gen Horizont. Vielleicht war es genau das, was sie brauchte. Einen Neubeginn. Bei dem Gedanken daran, die Erde zu verlassen, kullerten ganze Gebirgsmassive von ihrem Herzen.

Zum ersten Mal, seit langer Zeit, lächelte sie.

Den besorgten – und ein wenig schuldbewussten – Blick der kleinen japanischen Frau sah sie nicht.

*

LK JAYDEN CROSS, Status: schwer beschädigt; Ort: unbekannt; Datum: unbekannt

„Mister McAllister“, sagte Doktor Olivia Collins sanft.

Kirby hatte noch nie erlebt, dass die Chefärztin so gefühlvoll mit einem Patienten umging.

Der bullig-muskulöse rothaarige Mann – für Kirby sah er eher aus wie ein Kind – fuhr in die Höhe. Er entstammte dem irischen Sektor von Terra, hatte raspelkurze Haare und grüne Augen, die verwirrt und ängstlich umherblickten.

„Was ist passiert?“, fragte er mit kratziger Stimme.

Spezialsensoren in Form von flachen runden Pads waren an seine Stirn und die nackte Brust geheftet. In der Projektionsröhre rotierte die schematische Darstellung seines Körpers.

„Bleiben Sie ruhig sitzen, der Nanostamm benötigt noch ein bis zwei Minuten“, sagte Olivia. „Ich muss zu den anderen Patienten. Captain, Mister Fooley.“ Sie nickte ihnen zu und verschwand.

„Ma’am!“ McAllister wollte aufspringen, doch Kirby drückte ihn sanft auf das Behandlungsbett.

„Bleiben Sie liegen, Fähnrich. Was ist das Letzte, an das Sie sich noch erinnern?“

„Ich ... Commander Porter schickte mich los, um eine Energiezuleitung in der Krankenstation zu reparieren. Dann ist etwas explodiert.“

„Schwere Verbrennungen zweiten Grades und eine perforierte Lunge“, lass Fooley von der Anzeige ab. „Sie haben Glück gehabt. Wenn die Reparatur nicht auf der Krankenstation stattgefunden hätte, wären Sie gestorben.“

„Ich muss zurück zum Maschinenraum.“

Kirby drückte ihn erneut nach unten. „Hören Sie mir jetzt genau zu.“ In wenigen Worten fasste sie den Status der JAYDEN CROSS zusammen. „Wir sind irgendwo gestrandet, es funktioniert fast nichts, und ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Commander Porter aufgrund einer Verstrahlung behandelt werden muss. Olivia tut natürlich, was sie kann, aber er ist momentan nicht einsatzbereit.“

McAllister starrte sie nur an.

„Ian“, sagte sie sanft, „Sie sind der einzige Ingenieur auf zwei Beinen. William wollte Sie zu seinem Nachfolger heranziehen. Zugegeben, er hat vermutlich damit gerechnet, noch fünf, sechs Jahre Zeit zu haben, aber das Schicksal ...“ Für einen Augenblick wurde Kirby schwindelig. Sie glaubte, eine kleine japanische Frau vor sich zu sehen, die resolut die Fäuste in die Hüfte stemmte. Das Bild verschwand. „Was ich sagen wollte: Das Schicksal hatte andere Pläne.“ Sie berichtete von der Verstrahlung. „Sie sind der Einzige, der die notwendige Expertise besitzt, den Maschinenraum zu dekontaminieren.“

McAllister fuhr sich hektisch über den roten Haarschopf. „Aber ... Commander Porter ...“

„Olivia tut für ihn, was sie kann“, sagte Fooley entschieden. „Und Ihre Aufgabe ist es, alles zu tun, damit dieses Schiff uns nicht um die Ohren fliegt.“

Der harte Tonfall brachte McAllister zur Besinnung. „Wurde der Siegelschaum aufgetragen?“

„Ja“, sagte Kirby.

„Sicherheitskraftfelder?“

„Nein. Sind außer Funktion.“

„Verdammt.“ Er schlug seine geballte Rechte in die linke Handfläche. „Die Strahlung wird von den Fusionsbatterien in die Interlink-Kammer abgeleitet. Die Ummantelung ist nach der Interaktion beider Antriebstechnologien aber vermutlich perforiert. Ich müsste die Daten ...“

Fooley hielt ihm ein Pad entgegen, das er irgendwie herbeigezaubert hatte.

McAllister ergriff das Gerät. Während er auf der Unterlippe knabberte – was ihn noch mehr wie den Welpen aussehen ließ, der er auch war –, studierte er die Daten. „Mikrofrakturen, überall im Mantel. Die Strahlung landet in der Kammer und sammelt sich an. Sobald ein Limit erreicht ist, wird sie durch die Frakturen absickern.“

„Wohin?“, fragte Kirby.

„In den gesamten rückwärtigen Bereich des Schiffes. Innerhalb von 24 Stunden ist die JAYDEN CROSS unbewohnbar.“

„Lösungen?“

„Hm.“ McAllisters Finger huschten über das Touch-Display. „Normalerweise würden wir die Interlink-Kammer öffnen, um das Modul abzustoßen. Wenn ich den Schaden aber richtig beurteile, lässt sich die Innenschleuse nicht schließen, was den gesamten Maschinenraum dem Vakuum aussetzen würde. Falls wir den Schacht danach nicht mehr versiegeln können, wäre die Sektion verloren.“

Fooley lugte an McAllisters kräftigem Arm vorbei auf die Anzeige. „Wäre das problematisch?“

„Natürlich“, sagte der Fähnrich. Er robbte von der Liege, griff nach seinem zerfetzten Hemd, das an der Seite lag, und streifte es über. Der Nanostrom hatte alle Verletzungen geheilt, wie in der Projektionsröhre angezeigt wurde. „Momentan können wir den Pike-Antrieb noch verwenden. Sollte es daran aber zu Problemen kommen, gibt es keinen sekundären Zugang. Setzen wir den Maschinenraum dem Vakuum aus und können die Versiegelung nicht mehr aufbauen, verlieren wir über kurz oder lang auch den Pike.“

Er ließ das Pad sinken.

Kirby massierte sich die Schläfen. Eine schlechte Nachricht jagte die nächste.Eins nach dem anderen.

„Okay. Mister Fooley, unterstützen Sie Fähnrich McAllister. Er ist ab sofort der ... Chefingenieur.“

„Wie ... was ... ich?! Ma’am, Commander Porter ...“

Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ian, Sie sind der Letzte, der noch steht. Tun Sie einfach, was Sie können.“

„Aber ...“

„Das ist ein Befehl.“

Der Fähnrich streckte die Brust heraus. „Aye, Ma’am.“

„Agent Fooley, Sie passen auf ihn auf! Er ist ab sofort mehr wert als ein Asteroidenfeld Duspanit.“

„Aye, Ma’am“, sagte der Agent mit einem leicht spöttischen Funkeln in den Augen.

Sie ignorierte ihn. Ihr Platz war auf der Kommandobrücke. Als sie den Ausgang ansteuerte, kam gerade Julia Artaf zurück, eine Antigravbare vor sich herschiebend. Auf ihr lag Sienna McCain, bewusstlos.

„Wie geht es ihr?“

Fähnrich Artaf sah auf. In ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, der darauf hindeutete, dass die schlechten Nachrichten für den Tag noch nicht vorüber waren.

*

Außerhalb der JAYDEN CROSS

„Sind wir noch nicht weit genug?“, fragte Fähnrich Petro de Silva. Der schlaksig-bleiche Offizier aus dem portugiesischen Sektor der Erde war auf dem Weg zur Kommandobrücke in Czem gerannt, worauf dieser ihn sofort akquiriert hatte.

„Der Strahlungsmix aus dem Heckbereich stört massiv unsere Sensoren“, erklärte er dem Frischling. „Wenn wir vernünftige Messungen vornehmen wollen, müssen wir zuerst ausreichenden Abstand zwischen uns und die JAYDEN CROSS bringen. Andernfalls können wir es gleich bleiben lassen.“

„Hm. In Ordnung.“

„Wir erreichen in wenigen Augenblicken die notwendige Mindestdistanz. Bereiten Sie das Ausschleusen der Überlichtsensorplattformen vor.“

„Auch Kiesel?“

Czem überdachte den Vorschlag. Die kleinen Aufklärerdrohnen besaßen ausgezeichnete Sensoren, benötigten aber normalerweise eine gewisse Grundgeschwindigkeit – die aktuell nicht vorhanden war. Sie würden durch das Systemkriechen. In der jetzigen Situation lieferte jedoch selbst das dringend gebrauchte Informationen. „In Ordnung, wir schleusen auch Kiesel aus.“

Er brachte das Shuttle in einer Entfernung von 3.000 Kilometern zur JAYDEN CROSS zum Stillstand. Die bordeigenen Sensoren tasteten hinaus in den Raum, während de Silva die Plattformen ausschleuste und die Kiesel abfeuerte.

Normalerweise liebte Czem diesen Augenblick. Es war, als erhellten fliegende Lichtkegel den unbekannten Weltraum, erschufen ein dreidimensionales Bild aus dem Geheimnisvollen. Die Holosphäre flimmerte kurz, stabilisierte sich aber glücklicherweise.

„Während die Sensoren uns das Innere des Systems zeigen, werfen wir einen Blick nach draußen“, sagte Czem.

Petro de Silva schaute neugierig von den eingehenden Datenströmen auf. „Wie meinen Sie das?“

„Die Sterne werden uns die aktuelle Position des Schiffes verraten“, erklärte er. „Passen Sie auf.“ Er schaltete die Decke transparent, aktivierte den Zoom. „Wenn wir ...“

Czem verstummte.

„Sir“, sagte Fähnrich de Silva. „Wo sind die Sterne?“

„Das ist eine gute Frage.“

Vor ihnen lag pure Schwärze, als habe sie jemand in ein Tintenfass gesteckt. Es gab keine sichtbaren Sonnen, nicht einmal der Zoom enthüllte welche. Er erhöhte den Faktor und ließ Computeranalysen laufen, was jedoch keinerlei Ergebnis brachte.

„Wie kann das sein?“, murmelte Czem. „Die Sensoren erkennen keine substanzielle Materie in Reichweite. Wir wissen aber, dass die Sterne da sind, folglich muss etwas das Licht schlucken, das sie ausstrahlen.“

„Das würde bedeuten, dass wir irgendwo eingeschlossen sind.“

Czem nickte. Ein beunruhigender Gedanke. Konnte es sein, dass die Phasen- und Interlinkstrahlung kombiniert einen Schild um das Schiff errichtet hatte? Waren sie die Quelle für das unsichtbare, lichtschluckende Feld?

„Sir.“

„Wir müssen es irgendwie schaffen, das, was da ist, zu durchdringen.“

„Sir!“

„Möglicherweise können die Sensoren der JAYDEN CROSS uns mehr verraten. Aber dazu müssen wir sie erst einmal wieder online bringen.“

„Sir!“

„Fähnrich?“

Petro de Silva deutete auf die Holosphäre, in der erste Daten eingingen. Ein Planet war erkannt worden, ebenso die Strahlung eines Sterns. „Wir befinden uns nicht im interstellaren Leerraum. Das hier ist ein Sonnensystem.“

Czem verwarf seine Theorie sofort. Sie waren nicht der Auslöser, denn das Licht des Sterns war messbar und sichtbar. Das ließ darauf schließen, dass die Barriere sich um das System herum erstreckte.

Ein Schutz vor Bedrohungen oder ... ein Gefängnis.

„Ist das ...“ Die Stimme des Fähnrichs zitterte. „Diese Daten.“

„Wovon sprechen Sie?“

„Im Zuge der Enthüllungen, die die HYPERION rund um Richard Meridian machte, habe ich mich ein wenig genauer mit dem Hintergrund zu Heliosphären beschäftigt. Es gibt keine zwei exakt identischen – natürlich entstandenen – Heliosphären.“ Er deutete mit zitterndem Finger auf die Anzeige. „Die Alpha- und Omega-Teilchen entsprechen jenen im Sol-System. Sir.“ Er räusperte sich. „Laut den Daten ist das hier das Solare System.“

Für einen Augenblick glaubte er, dass der Fähnrich den Verstand verloren hatte. Dann gingen die ersten Sensordaten ein. Sie starrten beide auf die rotbraune Kugel, die in der Holosphäre materialisierte.

„Der Mars“, hauchte Czem entsetzt.

*

Alpha Centauri-System, Raumstation AC-0, 02. Juni 2260, 5:32 Uhr

(vor sieben Jahren)

„Das muss Schicksal sein“, sagte Dex. Er knuffte ihr in die Seite und grinste dabei über das ganze Gesicht. Kirby vermutete schon länger, dass er in sie verliebt war, sprach es jedoch nicht an.

Für sie war er ein Freund. Ohne seine Unterstützung in Stellarkartographie und Quantenmechanik hätte sie die Akademie der Space Navy niemals überstanden. Umgekehrt hatte sie Dex in Physik, höherer Mathematik und Phasenraumtechnik mehr als einmal den Arsch gerettet.

Unter den Kommilitonen galten sie längst als unschlagbares Duo. Anfangs hätte das niemand für möglich gehalten. Der schüchterne Dex hatte sich schwer damit getan, Anschluss zu finden, war am ersten Tag linkisch in den Vorlesungsraum gestolpert. Mit den braunen Wuschelhaaren und Sommersprossen im ganzen Gesicht wirkte er wie ein Welpe. Kirby dagegen war mit ihren Anfang zwanzig relativ alt, bedachte man, dass das durchschnittliche Einstiegsalter neuer Anwärter bei achtzehn Jahren lag. Während die Mehrheit sie beide schnitt, wuchsen sie untrennbar zusammen.

„Was heißt hier Schicksal“, sagte Kirby. „Ich halte das eher für eine – ausnahmsweise mal sinnvolle – Auswahl des Computers.“

Das Schott glitt zur Seite und gab den Weg in den Hauptshuttlehangar von AC-02 frei. Die Trainingsstation der Space Navy im Alpha Centauri-System schwebte 4 AE entfernt vom zentralen Stern, oberhalb der Ekliptik. Drei übereinander schwebende Ringe, in deren Zentrum ein Zylinder rotierte. Streben verbanden alle Elemente untereinander.

Die anderen warteten schon. Dex und Kirby schafften es gerade rechtzeitig, sich unter die Kameraden zu mischen, da tauchte bereits ein wütend dreinblickender Commodore Eisenmann auf.

Er war das unliebsame Faktotum der Akademie. Trotz intensiver Recherche war nicht herauszubekommen, wann er seinen Dienst angetreten hatte. Er war schon immer da gewesen und würde es wohl noch Generationen lang bleiben.

„Schluss mit dem Getuschel!“ Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken und blickte sie aus wütend funkelnden Augen an. Sein raspelkurzes weißes Haar ließ den Schädel kantig wirken. „Warum vergeude ich nur immer wieder meine Zeit mit euch Grünschnäbeln. Dies ist also Ihre letzte praktische Prüfung, meine Damen und Herren“, erklärte er. „Und damit auch die anspruchsvollste. Das Überlebenstraining ist hart, verdammt hart. Sie werden eine Woche lang in ihren Raumanzug eingesperrt sein. Sparen Sie an Ressourcen und gehen Sie wohlüberlegt vor. Die Zweiergruppen wurden bereits eingeteilt, doch Ihre Ziele kennen Sie nicht. Einige von Ihnen werden auf Wüstenmonden oder Wasserwelten ausgesetzt, andere in Raumschiffwracks. Danach lassen wir Sie alleine.“

Kirby kannte die Details natürlich längst, wie auch die meisten ihrer Kameraden. Eine legendäre Hackerin namens Giulia Lorencia hatte vor einigen Jahren ein kleines Hintertürchen zu einem Datencluster des Hauptcomputers aufgetan. Dort tauchten immer mal wieder Dokumente auf. Die letzte Prüfung war auch eine psychische Herausforderung. Die HAMPTON würde sie zum Zielort bringen. Das Raumschiff des Eriin-7-Szenarios.

Es gab kaum jemanden an der Akademie, der nicht von dem unmöglichen Manöver wusste. Es war Teil der Simulation, die alle Kadetten durchlaufen mussten. Angeblich gab es tatsächlich drei verschiedene Lösungsmöglichkeiten, die aussichtslos erscheinende Schlacht doch noch für sich zu entscheiden. Es endete stets damit, dass die HAMPTON ebenso zerstört wurde wie das Schiff, das zu ihrer Rettung herbeigeeilt kam.

Ein einziger Offizier hatte es einige Jahre zuvor geschafft, das „Spiel“ zu gewinnen: Kadett Lukas Akoskin. Selbst heute noch wurde sein Name mit Ehrfurcht ausgesprochen.

Sie wollen uns bis an unsere Grenzen treiben – und darüber hinaus.„Das wird lustig“, sagte sie leise.

„Angeblich fallen sechzig Prozent durch“, sagte Dex aus dem Mundwinkel.

„Das ist ein Gerücht.“

„Aber ein sehr hartnäckiges.“

„Sei gefälligst still.“

Er kicherte. „Und wenn nicht?“

Plötzlich stand Eisenmann vor ihnen. „Jedes verdammte Mal.“

Kirby streckte den Rücken so weit durch, wie sie nur konnte, und starrte geradeaus.Nur keinen Blickkontakt herstellen.

„Sir?“, fragte Dex.

Kirby schloss die Augen. Er hatte ihn angesprochen.Böser Fehler.

„Jedes verdammte Mal gibt es zwei Kindsköpfe, die aus mir unerfindlichen Gründen mit guten Noten abschließen und kichernd hier stehen. Das zeigt mir jedoch nur, dass Sie beide den notwendigen Ernst vermissen lassen. Dort draußen zwischen den Sternen geht es um Leben und Tod. Ein falscher Handgriff kann ihre Kameraden ins Jenseits befördern. Aber das ist natürlich alles weit weg. Sie sind jung und unsterblich, nicht wahr? Nichts kann Ihnen passieren.“ Seine Stimme war eisig, machte dem Namen alle Ehre. „Wir werden sehen. Kindsköpfe bekommen von mir immer ganz besonders lustige Orte zugeteilt.“

Kirby schluckte. Sie wusste von den möglichen Szenarien. Eiswüste, Gluthölle, Gasriese – worunter sie sich wenig vorstellen konnte – und Schiffswrack. Dabei galt Letzteres als die größte Herausforderung mit dem höchsten Schwierigkeitsgrad.

Eisenmann schritt die Reihen ab und brabbelte etwas von Mut und Ehre, Kameradschaft und lauter Dingen, die doch damals besser gewesen waren.

Dann setzten sie alle über zur HAMPTON, die sie in das Zielgebiet brachte.

Eine Woche später standen Dex und Kirby auf einem Raumschiff, das mit Fug und Recht die Bezeichnung „Trümmerhaufen“ verdiente. Und der Kampf ums Überleben begann.

*

„Mal ehrlich, das ist schon ein Witz“, sagte Dex. „Oder eher Ironie.“

„Was meinst du?“ Kirby war am Ende ihrer Nerven. Ihr Oberkörper steckte in einer offenen Konsole.

„Na, der Name.“

„TITANIC?“

„Irgendwer hatte da einen makabren Sinn für Humor. Ich wette, es war Commodore Eisenmann.“

Kirby nahm einen Multiphasenresequenzierer auf und führte ihn über ein Speichermodul. „Dir ist schon klar, dass hier drin alles voller Sensoren ist und unsere Anzüge dazu jedes Wort aufzeichnen. Die Prüfungskommission kann am Ende alles hören, was wir besprechen.“

„Na und? Mal ehrlich, den Kerl kann doch niemand leiden.“

Kirby kicherte. „Vermutlich hast du recht. Aber jetzt hilf mir gefälligst. Ich persönlich würde die TITANIC nämlich gerne vor dem Untergang retten. Die haben sich bestimmt noch was ausgedacht, um uns die kommende Woche auf Trab zu halten.“

Dex grummelte, machte sich dann aber am Display zu schaffen. Nachdem Sie die Energiezuleitung wiederhergestellt hatten, die Schwerkraftgeneratoren wieder liefen und sie in den Lagerräumen versiegelte Weltraumnahrung gefunden hatten, schien das Schlimmste überstanden.

Tatsächlich war die psychische Herausforderung das wahre Problem. Im Schiff gab es nicht mehr genug Sauerstoff. Das gesamte Lebenserhaltungssystem war irreparabel zerstört. Dadurch mussten sie die Skinsuits dauerhaft tragen und die Sauerstoffpatronen regelmäßig austauschen. In den ersten Nächten war Kirby ständig hochgeschreckt, hatte einmal sogar eine Panikattacke gehabt.

Sie hatten beschlossen, die Sensoren wieder funktionstüchtig zu machen, um die Umgebung in Augenschein zu nehmen. Immerhin konnten sie überall sein. Theoretisch war es möglich, dass das Schiff in einem Orbit um Jupiter schwebte. Oder irgendwo im stellaren Leerraum.

Ihnen war mitgeteilt worden, dass die SOLAR, ein Leichter Kreuzer der Akuula-Klasse, in einer Entfernung von 2 AE Wache hielt. Sollten sie in echte Bedrängnis geraten, konnten sie ein Notsignal absetzen. In dem Fall galt die Prüfung allerdings als nicht bestanden. Passierte das ein zweites Mal, wurde der Kadett von der Akademie ausgeschlossen.

„Riechst du das?“, fragte Dex. Er liebte das Spiel. „Eindeutig ViKo.“

„Jetzt wo du es sagst. Eindeutig Schokoaroma.“

„Kiwi.“

„Oh, klar. Das meinte ich.“

Sie kicherten beide.

„Ich vermisse das verdammte Zeug. Ein Morgen ohne ViKo ist einfach kein echter Morgen.“

Eine winzige Statusdiode direkt vor Kirby sprang auf grün. Sie überprüfte den Energiefluss und lächelte. „Die Konsole ist wieder online. Wir können uns ja als Nächstes am Getränkespender versuchen. Vielleicht hat jemand in der Prüfungskommission dort ein Bonusprogramm eingebaut.“

Hier und dort gab es kleine Herausforderungen, mit deren Bewältigung sie sowohl Extrapunkte als auch Belohnungen erhielten. Mal ein Wärmeaggregat, mal ein Schlafserum.

„Ich fürchte, daraus wird nichts“, sagte er. „Die haben eine weitere Gemeinheit für uns in petto. Die Sensoren zeigen ein Gefecht in unmittelbarer Nähe.“

„Was?!“ Kirby robbte so schnell unter der Konsole hervor, wie sie nur konnte. „Das kann doch gar nicht sein. Laut Missionsvorgabe spielt sich alles hier im Raumschiff ab.“

Ein Blick auf das Display verriet ihr, dass die SOLAR gegen ein unbekanntes Schiff mit der Signatur der Eriin-Piraten kämpfte.

„Ist das irgendeine Abwandlung von Eriin-7?“, überlegte Dex.

Im gleichen Augenblick erwachte das Funkmodul zum Leben.

„Das haben wir doch noch gar nicht repariert“, sagte er.

„Die müssen es von außen reaktiviert haben.“ Kirby schaute auf die Textzeilen, die auf der Konsole eingingen. „Protokoll Beta-9.“ Sie riss die Augen auf. „Abbruch der Prüfung aufgrund einer echten Gefechtssituation.“

„Ist das vielleicht ein Teil der Prüfung?“

Sie schüttelte fahrig den Kopf. „Das ist verboten. Beta-9 darf nur in einemechtenGefahrenfall eingesetzt werden.“

Sie blickten beide auf das Display.

„Das Eriin-Schiff ist ein Schwerer Kreuzer“, sagte Dex leise. „Die SOLAR hat keine Chance.“

Der Kampf wurde verbissen weitergeführt, und wer auch immer auf der SOLAR das Sagen hatte, er war taktisch ein Ass. Während sie das Geschehen verfolgten, entdeckte Kirby plötzlich einen winzigen Punkt, der auf sie zugeflogen kam. „Was ist das?“

„Ein Shuttle?“ Dex prüfte schnell die Sensoranzeigen. „Nein, zu klein. Ist noch zu weit ... Oh Gott, das ist ein Gamma-Gefechtskopf.“

„Geschätzter Einschlagpunkt?“

„Zentrum der TITANIC.“

Sie warfen sich einen kurzen Blick zu, dann stürmten sie von der Kommandobrücke, die genau mittschiffs lag und somit das Ziel war. Da der Lift nicht funktionierte, sprangen sie in einen Verbindungsschacht und kletterten davon.

Als sie zwei Decks hinter sich gebracht hatten, schlug der Torpedo ein. Laser- und Gammastrahlen zerfetzten Hüllenpanzerung, Decks, Konsolen und Energiezuleitungen.

Die TITANIC war ein tapferes kleines Schiff, doch gegen eine solche Gewalt kam sie nicht mehr an. Sie zerbrach in der Mitte, und beide Hälften trifteten auseinander. Der Schacht, in dem Kirby und Dex steckten, wurde durchsiebt.

Wie durch ein Wunder blieb Kirby unverletzt, aber ein Metallfragment durchbohrte Dex‘ Anzug auf Bauchhöhe. Es war ein langsamer und schmerzhafter Tod. Sie hielt seine Hand und fand tröstende Worte, während Tränen heiß über ihre Wangen rannen.

„Wir sind ein Team“, sagte sie erstickt. „Wage es ja nicht, mich alleine zu lassen.“

„Käme mir nicht in den Sinn“, sagte er Blut spuckend. „Schließlich sind wir eines Tages beide Admiräle und machen uns auf SOL-22 über die Frischlinge lustig. Ich sage doch: Das wir uns begegnet sind, war Schicksal.“

Es waren seine letzten Worte.

Vier Stunden später traf die TORCH ein. Ein aufmerksamer Sensoroffizier entdeckte das weit entfernte Notsignal. Eine Suchmannschaft barg Kadett Kristen „Kirby“ Belflair, die einen toten Freund in ihren Armen hielt.

*

„Herein.“

Kirby betrat den Bereitschaftsraum von Commodore Santana Pendergast. Die TORCH hatte das Solsystem mittlerweile erreicht. In wenigen Stunden würde sie von Bord gehen und all das hinter sich lassen.

Das Schott rastete wieder ein.

„Ah, Fähnrich Belflair“, sagte die Commodore.

Während des Fluges schon hatte Kirby erfahren, dass sie – so makaber es auch war – die Abschlussprüfung bestanden hatte. Sie trug nun den Rang eines Fähnrichs. „Nehmen Sie Platz.“

Sie sank schweigend auf den Besuchersitz.

„Ihr Entlassungsgesuch kam nicht unerwartet“, sagte Pendergast.

Die Frau besaß dunkles Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Ihr Auftreten strotzte nur so vor Energie, Stärke und Durchsetzungskraft. Während sie sonst eher hart dreinschaute, wurde ihr Blick nun weich. „Ich habe Ihr Entlassungsgesuch noch nicht weitergeleitet.“

„Ma’am ...“

Pendergast bedeutete ihr mit einer entschiedenen Geste zu schweigen. „Das hätte niemals geschehen dürfen. Aufklärungsdrohnen hatten das Gebiet weitreichend abgesucht, doch niemand hat damit gerechnet, dass sich Eriin-Piraten so weit entfernt von ihrem Territorium herumtreiben. Ein Erkundungsschiff fand auf einem der Monde des Systems, in dem wir die TITANIC geparkt hatten, eine ihrer Basen. Es tut mir aufrichtig leid, Kristen. Ich weiß, das macht es nicht wieder gut. Sie und Dexter Hayes waren gut befreundet. Doch so tragisch es ist, es wird nicht der letzte Kamerad sein, den Sie verlieren.“

Sie zuckte zusammen. „Dann ist eine Offizierslaufbahn wohl nichts für mich.“

„Dass Sie das sagen, zeigt mir nur, dass es genau umgekehrt ist. Niemand will Offiziere, die den Tod eines Freundes, eines Kameraden, so einfach hinnehmen. Solange es schmerzt, sind wir noch immer Menschen. Keiner in der Navy erwartet, dass Sie nichts fühlen. Ich selbst habe bereits viele Freunde im Kampf verloren. Wir müssen es verarbeiten und weitermachen.“

Kirby schluckte. „Aber wozu?“

„Um alle anderen zu schützen. Ohne uns gäbe es viel mehr Tote. Wir stehen zwischen den Feinden dort draußen und der Menschheit, so traurig das auch ist.“

„Aber, wie ...“

Pendergast stützte die Arme auf der blank polierten Tischplatte ab. „Trauern Sie, verarbeiten Sie und machen Sie weiter. Lachen Sie, leben Sie. Jeder findet seinen eigenen Weg, damit umzugehen. Wer weiß, eines Tages werde ich dort draußen von einem Schiff der Eriin-Piraten in Stücke gerissen oder von einer Pulserkugel getötet. Es würde mich beruhigen zu wissen, dass dann jemand wie Sie da ist, um nachzurücken.“

Seltsamerweise merkte Kirby, wie sie langsam entkrampfte. Das Gespräch tat ihr gut. Pendergast war völlig anders als Eisenmann. In ihren Augen stand Mitgefühl. „In Ordnung.“

„Dann kann ich Ihr Entlassungsgesuch also löschen?“

„Das können Sie.“

„Sehr gut.“ Pendergast berührte ein Icon, worauf eine Datei auf ihrem Pad verschwand. „Dann bereiten Sie sich darauf vor, auf ihr erstes Schiff versetzt zu werden.“

„Ich bleibe nicht hier?“

Die Commodore lachte. „Die TORCH ist das Flaggschiff der Heimatflotte. Um hier zu dienen, müssen Sie sich ein ganzes Stück nach oben arbeiten.“

Kirby nickte. Sie sah sich um und fasste einen Entschluss. Eines Tages wollte sie hier ihren Dienst tun, unter Santana Pendergast als Kommandantin.

„Sie können wegtreten, Kristen.“

Sie erhob sich. „Sagen Sie doch Kirby.“

Pendergasts Braue wanderte in die Höhe. „Ich spreche meine Untergebenen niemals mit Spitznamen an.“

„Oh. Entschuldigung.“Wir werden ja sehen.

Sie verließ den Bereitschaftsraum.

Jahre später, sie besaß längst den Rang eines Lieutenant Commanders, trat sie ihren Posten auf der TORCH an – dem Flaggschiff von Admiral Santana Pendergast. Sie war längst bekannt dafür, stets einen frechen Spruch auf den Lippen zu haben und sich von niemandem etwas sagen zu lassen. Zwei Monate nach ihrem Antritt nannte Admiral Pendergast sie „Kirby“.

Und als ihre Vorgesetzte und Freundin ihr Leben opferte, um die gewählte Präsidentin der Republik zu beschützen, war es Kirby, die ihren Tod rächte und den Attentäter gefangen nahm.

Eine heldenhafte Tat, die ihr den Rang eines Captains auf der JAYDEN CROSS einbrachte.

*

LK JAYDEN CROSS, Status: schwer beschädigt; Ort: unbekannt; Datum: unbekannt

„Das ist völlig unmöglich“, sagte Kirby. „Mit gerunzelter Stirn starrte sie auf das holografische Abbild des Mars, während die K.I. im Hintergrund eine dunkle Barriere anzeigte, die alles umschloss.“

Immer mehr Systeme auf der Kommandobrücke gingen wieder online. Bedauerlicherweise wurde dadurch das gesamte Ausmaß der Schäden erst richtig deutlich. Und nicht nur an leblosen technischen Geräten.

Lieutenant Commander Sienna McCain wurde auf der Krankenstation behandelt. Ihr aktueller Status war ungewiss, Doktor Collins wollte sich erst äußern, wenn sie eine verlässliche Aussage treffen konnte.

Zwischenzeitlich hatte es der Außenminister irgendwie geschafft, seinen Missmut über Interkom kundzutun, weil niemand ihn auf dem Laufenden hielt. Wäre das Schiff kein Trümmerfeld, vermutlich stünde er längst hier, um alles im Blick zu behalten. Obgleich Tian Chang in der Regel sehr beherrscht auftrat, war er als Zivilist nicht auf eine derartig angespannte Situation vorbereitet gewesen. Von Schnatzberg – dem Diplomaten und Vollidioten in Personalunion – ganz zu schweigen.

Kirby überprüfte die aktuellen Statusreports. Fooley und Fähnrich McAllister bereiteten Drohnen vor, die sie in den Maschinenraum schicken wollten. Corporal Kowalczyk und seine Marines arbeiteten sich durch das Schiff, befreiten Eingeschlossene und Verletzte; räumten Zugänge zu neuralgischen Bereichen frei und leiteten die Berichte weiter an die Schadenskontrolle.

Einstweilen konnte sie nur die Zügel lockerlassen.

Alle auf der Brücke starrten zur zentralen Holosphäre, in der ein Teil der Umgebung angezeigt wurde.

„Dem stimme ich zu“, sagte Aliou. „Wenn das hier das Solsystem wäre, hätte Sjöberg uns längst eine Armada auf den Hals gehetzt. Wo sind die Phasenstörer und Ortungsplattformen? Nein.“ Er schüttelte entschieden den Kopf. „Das kann einfach nicht derechteMars sein.“

„Das sind die Aufzeichnungen der Drohnen“, sagte Lieutenant Commander Czem Özenir. „Mehr kann ich dazu auch nicht sagen. Allerdings hat Fähnrich de Silva recht, die Alpha- und Omegapartikel entsprechen jenen unseres heimatlichen Sonnensystemsvorder Veränderung der Heliosphäre durch Meridian. Es ist wie ein veralteter Fingerabdruck.“

Kirby ließ den Blick über ihre zusammengewürfelte Mannschaft wandern. Bai Yun saß auf dem Platz von Sienna an der Taktik- und Waffenkontrolle. Dafür hatte Fähnrich Petro de Silva die Sensoren übernommen. Da Tasha entführt worden war, saß Fähnrich Arlington hinter der Kommunikationskonsole.

Glücklicherweise waren ihr von den Senioroffizieren Lieutenant Commander Özenir und Commander Nymba, ihr I.O., geblieben.

„Also schön, Leute“, sie stemmte ihre Fäuste in die Hüften. „Wir sehen einen Planeten, der aussieht wie der Mars, und eine Heliosphäre, die jener des Solsystems ähnelt. Welche Erklärungen gibt es noch?“

„Vielleicht ist es beim Zusammenbruch der alternativen Zeitlinie irgendwie zu ...etwasgekommen“, sagte Fähnrich Arlington. Auf ihrer Nase erschien ein roter Fleck, als sie in das Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit rückte. „Also ... das ist nur so ein Gedanke.“

Kirby warf ihrem I.O. einen durchdringenden Blick zu. „Gibt es dafür irgendwelche Anzeichen?“

Aliou schaute fragend zu Czem Özenir.

Es war allerdings Bai Yun, der antwortete. „Das ist eine interessante Theorie, die ich jedoch widerlegen kann. Dank der Reise, die die HYPERION in die Zukunft unternommen hat, wissen wir von den unterschiedlichen Tachyonensignaturen, die differente Zeitebenen besitzen. Quantenzustände zeigen uns außerdem, ob es eine alternative Realität ist, in der die JAYDEN CROSS sich befindet.“

„Das ist hier nicht der Fall?“

Bai Yun schüttelte den Kopf. „Ich habe entsprechende Messungen bereits vorgenommen. Das hier ist die Gegenwart und keine alternative Zeitlinie. Wir wurden örtlich versetzt, aber das ist auch schon alles.“

Kirbys Laune sank in neue Tiefen. Mit jeder auftauchenden Information wurde das Rätsel nur größer. Sie konnte noch immer nicht einschätzen, ob es eine äußere Gefahr gab oder sie alle Zeit der Welt besaßen, ihre technischen Probleme in den Griff zu bekommen. „Was zur Hölle bleibt dann noch?“

„Eine Kopie“, sagte Czem. Der Lieutenant Commander starrte sinnierend in die Holosphäre.

„Hm. Unwahrscheinlich“, kam es von Bai Yun. „Zumindest keine kürzlich erfolgte Kopie – wie auch immer all das überhaupt möglich ist. Ich habe die Sonne untersucht.“

„Und?“, fragte Kirby hoffnungsvoll.

„Das Alter ist identisch mit Sol. Allerdings finden sich keinerlei Sonnenstationen, Sensorplattformen, Phasenstörer oder Torpedoforts in Koronanähe. Da dort aber die Tote Zone ist, über die feindliche Raumschiffe jederzeit einfliegen können, müsste das der am besten gesicherte Ort im System sein. Da die Alpha- und Omegapartikel außerdem eine Heliosphäre erzeugen, die mit der Zeit vor der Änderung durch Meridian identisch ist – die im Jahr 2265 erfolgte –, ist es also keine aktuelle identische Kopie.“

„Also weitere Rätsel.“ Kirby schnaubte frustriert.

„Ma’am“, sagte Fähnrich Arlington, als auf ihrer Konsole ein Icon hektisch blinkte. „Ich erhalte soeben Meldung von McAllister und Jake Fooley, sie haben Techbots modifiziert. Allerdings destabilisiert sich die Fusionsbatterie mit erhöhter Geschwindigkeit.“

„Wunderbar, was kommt als Nächstes?“

Arlington lauschte weiter, dann schaute sie traurig auf. „L.I. Porters Zustand hat sich verschlechtert. Doktor Collins gibt ihr Bestes, aber ...“

Kirby sank in ihren Sitz und schloss für einen Moment die Augen. Das konnte doch alles gar nicht wahr sein.

*

Dreadnought TORCH, 15 Lichtjahre vom Alzir-System entfernt, 04. August 2266, 04:36 Uhr

(Zwei Jahre zuvor, vor der Entscheidung bei NOVA)