Heliosphere 2265 - Der Fraktal-Zyklus 1 - Dunkle Fragmente (Bände 1-4) - Andreas Suchanek - E-Book

Heliosphere 2265 - Der Fraktal-Zyklus 1 - Dunkle Fragmente (Bände 1-4) E-Book

Andreas Suchanek

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Beschreibung

Inhalt Am 1. November 2265 übernimmt Captain Jayden Cross das Kommando über den Interlink-Kreuzer Hyperion. Ausgerüstet mit einem neuartigen Antrieb und dem Besten an Offensiv- und Defensivtechnik wird die Hyperion an den Brennpunkten der Solaren Union eingesetzt. Bereits ihr erster Auftrag führt die Crew in ein gefährliches Abenteuer. Eine Bergungsmission entartet zur Katastrophe. Umringt von Feinden muss Captain Cross eine schwerwiegende Entscheidung treffen, die über Leben und Tod, Krieg oder Frieden in der Solaren Union entscheiden könnte ... Dies ist der erste Sammelband aus der Serie "Heliosphere 2265". Er beinhaltet die Romane 1-4 der monatlichen E-Book-Reihe. Heliosphere 2265 erscheint seit November 2012 monatlich als E-Book. Die Serie ist auch als Hardcover und Hörspiel erhältlich.

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Heliosphere 2265

Der Fraktal-Zyklus 1

„Dunkle Fragmente“

von Andreas Suchanek

Raumstation SOL-22, Im Orbit um Neptun, 01. November 2265

„Nehmen Sie Platz, Captain Cross.“ Admiral Sjöberg deutete auf den Konturensessel vor seinem Schreibtisch.

Jayden versuchte, seiner Aufregung Herr zu werden. „Danke, Sir.“ Er wollte souverän wirken, was eindeutig misslang. Seine Hände waren schweißnass. Und zitterte da nicht seine linke Hand?

Die Ereignisse hatten ihn komplett überrollt.

„Ihre ärztlichen Befunde sehen ausgezeichnet aus, auch wenn wir Sie leider zu früh von Kassiopeia I zurückholen mussten.“ Sjöberg bedachte Jaydens rechten Handrücken mit einem durchdringenden Blick. „Die Dermalregeneration konnte nicht beendet werden, wie ich sehe.“

Jayden strich über die Brandnarben. Das einzige Überbleibsel jenes Kampfes, der 260 Leben gekostet hatte. Erneut glaubte er, den Rauch von verschmorten Uniformen, verbrannter Haut und ionisiertes Gas in der Luft zu riechen. In seinem Geist sah er Lieutenant Patricia Falsi, die, von einem scharfkantigen Trümmerstück getroffen, zu Boden ging. Während die junge Frau in einer Lache ihres eigenen Blutes ertrank, zerfetzte die Explosion einer Konsole Captain Hekuns Gesicht. Kurz vor seinem Ruhestand kostete ihn eine Handvoll Piratenschiffe des Eriin-Bundes das Leben.

Jayden hatte das Kommando über die DEFENDER an sich gerissen und die Schiffe des Eriin-Bundes in einem blutigen Gemetzel besiegt. Doch zu welchem Preis? Es gab nur vierzig Überlebende! Von den Senioroffizieren schaffte es neben ihm nur Lieutenant Guevara – schwer traumatisiert.

Doch anstatt Jayden für den Verlust eines Schiffes und so vieler Leben vor ein Militärgericht zu stellen, hefteten sie ihm einen Orden an die Brust, klopften ihm auf die Schulter und beförderten ihn zum Captain. Noch während er in einem Heiltank auf Kassiopeia regenerierte, erhielt er das Kommando über die HYPERION.

Mit einem Kopfschütteln vertrieb er die Erinnerung. „Mir geht es gut, Sir. Aber Ihre Nachricht hat mich überrascht. Bis zum ersten Auslaufen der HYPERION sollten noch Wochen vergehen.“

„Wir mussten unseren Zeitplan anpassen. Ich fürchte, die abschließende Regeneration Ihrer Haut muss von Ihrem Schiffsarzt durchgeführt werden.“ Admiral Sjöberg atmete schwer aus. „Wir vermissen die PROTECTOR.“

„Captain Bowmans Schiff?“

Sein Gegenüber nickte.

Jayden kannte Angelica Bowman. Sie war ein hervorragender Captain: nicht zu waghalsig, aber auch keine sture Paragrafenreiterin.

„Sie befand sich auf einer Erkundungsmission am Rande des Parliden-Sektors“, erklärte der Admiral.

Jayden sog scharf die Luft ein. „Sie vermuten eine Attacke von deren Seite? Das könnte einen zweiten Krieg verursachen.“

Der Krieg gegen das Volk der Parliden lag fast ein Jahrhundert zurück. Von 2173 bis 2177, ganze vier Jahre lang, hatten die Aliens versucht, die Solare Union ihrem Imperium einzuverleiben. Doch während dieser gesamten Zeit war es nicht gelungen, auch nur einen Parliden lebend oder tot gefangen zu nehmen.

Schiffe, die kampfunfähig geschossen wurden, zerstörten sich selbst. Tote Parliden zerfielen zu Nanostaub. Bis heute wusste die Menschheit fast nichts über sie. Erst im Verlauf der Friedensgespräche nach dem Krieg war es zu ersten persönlichen Kontakten zwischen Botschaftern beider Seiten gekommen.

Sjöberg nickte. „Und aus genau diesem Grund muss diese Sache schnell aufgeklärt werden. Die HYPERION ist bisher das einzige Schiff mit Interlink-Antrieb. Damit kann sie das fragliche Gebiet innerhalb kürzester Zeit erreichen. Ein Phasenraumflug würde zu lange dauern. Erschwerend kommt hinzu, dass alle zur Verfügung stehenden Schiffe nur Phase-2-fähig sind.“

Die Sache gefiel Jayden nicht im Geringsten. Er kannte die HYPERION bisher nur aus Berichten und Datenblättern von technischen Spezifikationen. Er sollte diesen wichtigen Auftrag mit einer Crew durchführen, die er bisher noch nicht kannte, die sich noch nicht aufeinander eingespielt hatte. Leider hatte er einmal mehr keine Wahl. Wenn ein anderes Schiff Hilfe benötigte, stand das weitere Vorgehen außer Frage. „Was wissen wir über das Verschwinden der PROTECTOR?“

Sjöberg verzog das Gesicht. „Nicht viel. Bowman befehligt das Schiff seit mittlerweile zwei Jahren. Es ist ein Leichter Kreuzer der ersten Generation. Die Aufrüstung stand kurz bevor. Der letzte bekannte Aufenthaltsort und ein Auszug des Logbuchs wurden in Ihren persönlichen Speicher überspielt.“

„Dann sollte ich wohl aufbrechen.“

„Da ist noch etwas,Captain.“

Die Art, wie Sjöberg das Wort Captain betonte, verhieß schlechte Neuigkeiten. Der Admiral verzog sein Gesicht, strich kurz über seinen Vollbart und streckte den Rücken kerzengerade durch.

„Sir?“

„Sie können sich zweifellos vorstellen, welch ein Gerangel es bei der Verteilung der Posten auf der HYPERION gab. Innerhalb der Admiralität kam es zu einem heftigen Disput über die Besetzung des Kommandobrückenpersonals.“

Jayden nickte.

„Vergessen Sie das nicht.“ Sjöberg biss sich auf die Unterlippe. „IhreErnennung war nicht das Problem. Was kann schon gegen einen Captain eingewendet werden, der von der Präsidentin persönlich den Tapferkeitsorden der Solaren Union umgehängt bekommen hat?!“

Ich habe nicht darum gebeten, dachte Jayden. Es fiel ihm schwer, den Ausführungen des Admirals zu folgen, ohne diesem deutlich zu sagen, was er von alledem hielt.

„Abgesehen von Ihrem Schiffspsychologen, Commander Tauser, wurden all Ihre spezifischen Personalanforderungen abgelehnt.“

Jayden gelang es nur mit Mühe, Fassung zu bewahren. Noch während der Rekonvaleszenz auf Kassiopeia hatte er eine Liste der Führungsoffiziere zusammengestellt, die er für sein neues Kommando haben wollte. Ab und an kam es vor, dass einer solchen Anforderung nicht nachgegeben werden konnte, weil die entsprechenden Offiziere auf ihrem Posten benötigt wurden. Doch er hatte sich informiert. Bei seinen Anforderungen war das nicht der Fall gewesen. „Alle!?“

„Ich fürchte, so ist es. Es ist mir gelungen, Ihnen eine solide Crew zusammenzustellen, was mich eine Menge Gefallen gekostet hat. Bedenken Sie, dass alle politischen Fraktionen zufriedengestellt werden mussten. Mehr war einfach nicht drin.“

In diesen Momenten verfluchte Jayden lautlos die verkrusteten Strukturen der Admiralität. Nichts ging mehr ohne Gefallen, persönliche Beziehungen und Verbindungen in die Kreise der großen Firmendynastien.

„Ich verstehe, Sir. Darf ich fragen, wer mein Erster Offizier ist?“

„Commander Noriko Ishida.“

Jayden gelang es gerade noch, nicht impulsiv die Faust auf den Tisch zu schlagen. „DieIshida?“

„Lassen Sie sich nicht von Vorurteilen leiten, Captain. Commander Ishida wurde von mir persönlich als I.O. der HYPERION ausgewählt. Mir ist bewusst, dass innerhalb der Flotte allerlei Gerüchte über die Ereignisse kursieren, die zum Verlust der INCEPTION geführt haben. Vertrauen Sie meinem Urteil: Nichts davon trifft zu. Geben Sie ihr eine Chance.“ Der Tonfall Sjöbergs machte klar, dass er keine Bitte aussprach.

Jayden nickte, wenn auch gezwungen. Eigentlich sollte er über solchen Vorurteilen stehen. Als Dynastiespross hatte er einen harten Weg in der Flotte zurückgelegt. Immer wieder hatten seine Kameraden es ihn spüren lassen, was sie in ihm sahen. Einen zweitklassigen Offizier, der es nicht verdient hatte, die Uniform zu tragen. Der nur aufgrund persönlicher Gefallen und Vetternwirtschaft aufgenommen worden war. Immer wenn die Presse über Einsparungen oder Massenentlassungen bei einem der großen Familienkonzerne berichtete, hatten sie es ihn spüren lassen. Denn er war einer vondenen. „In Ordnung.“

„Begeben Sie sich zu Orbitalpod 27. Ein Schnellshuttle fliegt Sie zur Orbitalwerft 1 im Marsorbit.“

Cross schüttelte dem Admiral die Hand, dann machte er sich auf den Weg. Sein erstes eigenes Kommando wartete auf ihn. Die Admiralität vertraute ihm ein neues Schiff an, eine neue Besatzung, vertraute ihm das Leben dieser Männer und Frauen an. Er sollte sie befehligen und beschützen.

Im Geist sah er zum x-ten Mal das Konterfei von Captain Hekun vor dem brennenden Wrack der DEFENDER.

*

Als das Schott hinter Captain Cross zufuhr, trat Admiral Santana Pendergast aus dem angrenzenden Holo-Konferenzraum, in dem sie das Gespräch verfolgt hatte. Björn machte sich auf eine Tirade gefasst.

Wie immer trug seine Co-Admiralin ihr braunes schulterlanges Haar zu einem Pferdeschwanz im Nacken gebunden. Die Uniform glänzte makellos, ihr Blick war eiskalt und klar. Santana Pendergast war das Paradebeispiel einer „Hart-aber-fair“-Admiralin, die Björns Meinung nach oftmals über das Ziel hinausschoss.

„Er ist der Falsche für diesen Posten“, sagte sie.

„Und das erkennen Sie nach einer einzigen Unterhaltung?“

„In der Tat.“ Sie nickte. „Als Sie Cross als Captain durchsetzten, haben Sie Ihren Feinden Munition geliefert – Michalew und seine Hardliner konnten doch nicht anders, als alle übrigen Anträge abzulehnen.“

Björn gestattete sich ein wohldosiertes Grinsen. „Worauf ich mit der Mehrheit der gemäßigten Admiräle meine jeweilige Zweitwahl durchsetzen konnte.“

Pendergast sank in den Sessel vor seinem Schreibtisch. Da ihre Körperwerte im integrierten Speicher hinterlegt waren, passten sich Sitzfläche und Rückenlehne umgehend an.

„Sie wollen mir doch nicht sagen, dass es Ihr Plan war, Cross mit dieser Crew auszustatten.“ Pendergast runzelte die Stirn. „Es mögen ja allesamt Spezialisten sein, Asse auf ihrem Gebiet – andernfalls hätten Sie sie niemals auf die HYPERION bekommen -, aber gleichzeitig hat nahezu jeder Mist gebaut oder eine Menge Feinde an der Backe kleben.“

„Ach, Santana, hören Sie doch auf. In jeder Crew sitzen Offiziere, die einer von uns aus politischen oder persönlichen Gründen nicht leiden kann.“

„Natürlich, aber das sindirgendwelcheSchiffe. Die HYPERION ist der erste Interlink-Kreuzer der Menschheit. Wenn das erste Logbuch von Captain Cross eingeht, können Sie davon direkt ein Dutzend Kopien anfertigen, denn ich sage Ihnen, jeder Admiral wird mit einem Vergrößerungsfeld nach einer Verfehlung suchen, um ihn an die Wand zu nageln.“

„Inklusive Ihnen?“

Sie nickte. „Inklusive mir. Cross mag Heldentum bewiesen haben, als er das Kommando über die DEFENDER übernahm und Tikara II vor diesem Piratenpack gerettet hat, aber er ist und bleibt ein Anfänger. Ihn nach 199 Tagen als Commander schon zum Captain zu befördern, war ein politischer Schnellschuss. Dieses Schiff ist eine Nummer zu groß für ihn.“

„Ich für meinen Teil halte ihn für genau den richtigen Mann auf der richtigen Position.“

„Und nur aufgrundmeinesVertrauens inIhrUrteil konnten Sie ihn durchsetzen. Aber seien Sie versichert, ich werde Cross im Auge behalten.“ Mit diesen Worten stand Pendergast auf. „Und sollte er einen Fehler machen, nutzt ihm auch sein Orden nichts mehr. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?“

„Absolut, Santana, absolut.“

„Dann ist es ja gut.“ Mit einem Nicken wandte sie sich um und verließ seinen Raum.

Björn aktivierte das Hologramm der HYPERION. Der Interlink-Kreuzer erschien als verkleinertes Abbild in einem Regen aus Pixeln nur wenige Zentimeter über seinem Schreibtisch. Es blieb zu hoffen, dass er Cross nicht überschätzte.

*

Interlink-Kreuzer HYPERION, Orbitalwerft Mars I, 01. November 2265

Jayden starrte mit offenem Mund auf den gewaltigen Körper der HYPERION. Sein Shuttle näherte sich der Orbitalwerft von oben, was ihm einen sensationellen Blick gestattete.

Das Schiff wirkte wie ein überdimensionales Schwert. Anstelle der Parierstange bildete jedoch ein abgeflachter Ring die Grenze zum Antriebssegment. Ein greifarmförmiges Gebilde ragte aus dem Ring hervor. Von ihm ausgehend hielten gerichtete Gravstrahlen den Phasenring in Position, über den der überlichtschnelle Funk und die gerichteten Laserübertragungen liefen.

Mit insgesamt 300 Metern Länge war der Interlink-Kreuzer genauso lang wie ein Schlachtkreuzer, wenn auch deutlich schlanker. Insgesamt zwölf Decks durchzogen das Schiff, unterteilt in jeweils vier Sektionen. Die 420 Mann starke Besatzung unterteilte sich in Offiziere, Crewmen, ärztlichen Stab, Marines, die interne Sicherheit und Techniker.

Das Shuttle flog eine Kurve, um in den Hangar einzufliegen. Schon einige Minuten später – Jayden hätte die Aussicht gerne länger genossen – setzte der Pilot die Maschine sanft auf und gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass er aussteigen konnte.

Eigentlich war es auch heute noch Tradition, den Captain mit einer Ehrengarde zu begrüßen, doch bei diesem Schiff schien einfach alles anders zu sein. Nur eine einzige Offizierin erwartete ihn, während ringsum Techniker herumwuselten, um letzte Feineinstellungen vorzunehmen. Hatte man sein Kommen nicht angekündigt?

Er erkannte Noriko Ishida auf den ersten Blick. Der zierliche Körperbau, die feinen asiatischen Gesichtszüge, die kerzengerade Haltung: Sie wirkte genau wie auf dem 3D-Bild in ihrer Akte, das er noch im Shuttle angesehen hatte.

Sie hob die rechte Hand zum traditionellen militärischen Gruß auf Schläfenhöhe. „Willkommen an Bord, Captain Cross. Die Admiralität hat leider versäumt, ihre Ankunft rechtzeitig bekannt zu geben.“

„Vielen Dank, Commander.“ Er erwiderte die Ehrenbezeugung. „Machen Sie sich nichts daraus. Admiral Sjöberg wusste wohl, wie knapp bemessen unser Zeitplan ist. Wir werden später noch genug Zeit für Etikette haben. Wie ich sehe, wird eifrig gearbeitet. Stören wir die Leute nicht länger. Bitte bringen Sie mich direkt auf die Kommandobrücke.“

Während sie den Shuttlehangar verließen, entlud der Pilot Cross' Gepäck.

„Die Alpha-Schicht ist komplett versammelt“, sagte Ishida. „Commander Lorencia, Ihre Chefingenieurin, koordiniert die letzten Feineinstellungen des Interlink-Antriebs. Sobald wir die Freigabe erhalten, kann es losgehen.“

„Ausgezeichnet.“

In seinem Gesichtsfeld erschien ein Eingabefenster. Beinahe wäre er gestolpert. „Verdammt!“ Abrupt blieb er stehen.

„Sir?“ Verwirrt blickte seine I.O. ihn an. Dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. „Ich verstehe, Sie wurden also ebenfalls nicht informiert.“

„Nicht informiert?“

„Der Computer stellt eine Verbindung zu Ihrem Kommandochip her.“

Seit einigen Jahren besaß die komplette Brückencrew eines Schiffes einen solchen Chip. Auf ihm waren alle notwendigen Kommandocodes gespeichert, um auf neuralgische Schiffsfunktionen zuzugreifen.

Dem Captain und seinem I.O. war es mit diesen Codes möglich, die interne Sicherheit zu überbrücken oder die Selbstzerstörung auszulösen. Stellten die Lebenszeichensensoren in den Anzügen der Crew den Tod eines der Offiziere fest, wurden die entsprechenden Codes auf dem Chip des Nachfolgers automatisiert freigeschaltet.

Ein solcher Chip musste aber bisher bei Dienstantritt vom Chefarzt auf der Krankenstation aktiviert werden.

„Die HYPERION wurde mit dem neuen Incept-System ausgestattet. Mit den alten Systemen konnten die Codes auf den Chips der Führungsoffiziere zwar in Notfallsituationen freigeschaltet werden, bei Dienstantritt auf einem neuen Schiff war jedoch eine manuelle Übertragung der aktuellen Codes durch einen Sicherheitschip notwendig. Um diesen einzusetzen, mussten Chefarzt und Sicherheitschef anwesend sein und die Freigabe autorisieren. So zumindest bisher. Das neue System überträgt die Daten nun sofort, wenn ein Führungsoffizier sein neues Schiff betritt.“ Ishida grinste ihn an. „Glauben Sie mir, ich war genauso überrascht wie Sie. Aber die Admiralität baut das neue System schon seit Monaten in die Schiffe ein. Bestätigen Sie die Anfrage der K.I., und alle Codes werden auf Ihren Chip überspielt.“

Cross befolgte den Rat seiner I.O. Der Chip projizierte eine Statusanzeige auf seine Netzhaut, die den Fortschritt der Übertragung anzeigte. Einige Sekunden später war alles vorbei.

Gemeinsam gingen sie weiter.

„Es gefiel mir schon nicht, als diese verdammten Dinger vor fünf Jahren eingeführt wurden“, sagte Cross. „Und jetzt ist sogar eine drahtlose Übertragung der Kommandocodes möglich. Was haben diese Technik-Heinis der Flotte sich dabei nur gedacht?“

„Die Argumentation für die Einführung der Chips war stichhaltig, Captain“, widersprach Ishida. „Durch die Vernetzung des Chips mit dem Hirn des jeweiligen Kommandooffiziers stehen Codes nur diesem Offizier zur Verfügung. Sie können nicht geklaut oder kopiert werden. Auch bei einer Enterung des Schiffes fallen sie dem Feind nicht in die Hände. Und bei einer Entnahme zerstört der Chip sich selbst. Die Vorschriften …“

„Ich weiß, was die Vorschriften besagen“, unterbrach er sie. Mit einem Zischen fuhren die Türen zur Seite und sie betraten den multidirektionalen Lift. Jayden berührte das Kommandobrücken-Icon auf der 3D-Touch-Oberfläche, worauf die Kabine sich auf Magnetfeldern in Bewegung setzte. „Trotzdem war mir schon immer unwohl bei dieser Sache.“

„Dann sind Sie generell kein Anhänger von technischen oder bionischen Erweiterungen?“

Der Lift kam zum Stehen. Sie betraten das Kommandodeck und hielten vor dem Schott zur Hauptbrücke an. Ein bläulich glimmender Strahl tastete sie beide ab.

„Ich will meinen Körper in seiner natürlichen Form behalten“, erwiderte er. „Aber meine Urgroßeltern waren auch noch gegen genetische Aufwertung und heute gehört das zum Alltag. Die Gesellschaft verändert sich.“

„Das tut sie. Und urplötzlich gehört man zum alten Eisen.“ Ishida lächelte bitter.

Das Schott rollte zur Seite und gab den Weg ins Zentrum des Interlink-Kreuzers frei.

*

„… werden wir gemeinsam die Herausforderung meistern.“

Jayden atmete auf, als die Brückencrew applaudierte und sich alle nach und nach wieder ihren Konsolen widmeten. Er war kein guter Redner, doch diese war ihm scheinbar gelungen, obwohl er sie aus dem Stegreif gehalten hatte. Damit war zumindest das erste Eis zwischen ihm und seinen Offizieren gebrochen. In den folgenden Tagen würde er natürlich mit jedem ein ausführliches Gespräch führen. Aber einstweilen galt es, sein neues Schiff kennenzulernen.

Die Kommandobrücke glich in ihrer Form einem abgeflachten Ei. Die HYPERION besaß als eines der ersten Raumschiffe einen Holotank, genau in der Mitte der Zentrale. Das Ganze sah aus, als hätte jemand einen Quader an die Decke geklebt, an dessen unterem Ende eine Tischplatte befestigt war. Das Gegenstück stand auf dem Boden. Zwischen den beiden Platten konnte ein Feld aus gerichteten Gravitations-Ebenen aufgebaut werden, in dem die entsprechenden Pixel projiziert wurden.

Die Primärkonsolen der Senioroffiziere waren ringsherum angeordnet. Jeder von ihnen musste nur den Kopf heben, um auf den Holotank sehen zu können.

Der Kommandosessel des Captains – und damit sein neues zweites Zuhause – stand neben dem von Commander Ishida auf einem leicht erhobenen Podest gegenüber des Brückenschotts.

Wie Perlen einer Kette reihten sich zudem ringsum an der Wand die Sekundärstationen auf. Hier arbeiteten Wissenschaftler, Astrogatoren und Taktiker, um die Primärstationen mit Daten zu versorgen.

„Sir, die Orbitalwerft wünscht einen guten Flug“, meldete Lieutenant Sarah McCall von der Kommunikationskonsole. Jayden fühlte bei ihrem Anblick sofort eine Art Beschützerinstinkt aufwallen. Die junge Offizierin wirkte wie ein Hundewelpe, den man ins kalte Wasser geworfen hatte.

„Richten Sie meinen Dank aus“, sagte Jayden.

Während McCall in ihr Headset sprach, wandte er sich an Lieutenant Peter Task, den Navigator. „Also gut, Mister Task, bringen Sie uns raus.“

Der bullige Mann mit dem roten Stoppelhaar nickte behäbig. Nach außen wirkte es, als sei Peter Task ständig in Gedanken versunken und fände nur kurz in die Wirklichkeit zurück, um seinen Pflichten als Navigator nachzukommen.

Neben Jayden streckte seine I.O. die Beine aus und loggte sich in ihren Kommandoaccount ein. Er tat es ihr gleich und wurde prompt mit einer Flut an Nachrichten in seinem persönlichen Speicher begrüßt. Admiral Sjöberg wünschte einen guten Flug, die Raumkontrolle sendete ihren Abschlussbericht, die Sicherheit und das Technikteam meldeten den aktuellen Status. Der „Papierkram“ begann bereits vor dem Start. Mit einer Wischbewegung schob er das Nachrichteninterface zur Seite und öffnete die Dateien, die die technischen Spezifikationen des Schiffes enthielten.

Die HYPERION beschleunigte und ließ den Mars weiter hinter sich. Der Interlink-Kreuzer brachte es auf 3700 m/s² und würde damit in etwa zehn Stunden 0,45 LG erreicht haben. An diesem Punkt wechselten gewöhnliche Schiffe in den Phasenraum, da der Fusionsfluss zur Energiegewinnung aus bisher ungeklärten Gründen bei dieser Geschwindigkeit zusammenbrach, worauf die Raumer nicht weiter beschleunigen konnten.

Die HYPERION würde dies als erstes reguläres Raumschiff nicht tun. Natürlich hatte es bereits Testsonden und –Raumer gegeben, doch das war einfach etwas anderes. Sie waren das erste Schiff im aktiven Dienst, das den Interlink-Antrieb einsetzte.

„Commander Ishida, kommen Sie bitte mit in meinen Bereitschaftsraum“, bat Jayden. „Commander Akoskin, Sie haben das Kommando.“

Er gedachte, die verbleibenden Stunden auf sinnvolle Art zu nutzen und damit zugleich seine Nervosität loszuwerden. Immerhin bot der neue Antrieb noch immer etliche Risiken. Und die Gemütlichkeit von Lieutenant Task war nicht dazu angetan, ihn zu beruhigen.

*

Noriko betrat den Bereitschaftsraum von Captain Cross. Während ihr kommandierender Offizier hinter seinem Schreibtisch Platz nahm, sah sie sich ein wenig um. Auf die Wände wurden die Standardbilder von Wäldern und Landschaften projiziert; aus transparenten Deckenplatten leuchtete warmes Licht; der Schreibtisch war leer. Dem Raum fehlte bisher noch jede persönliche Note. Noriko roch Plastik, frisch entpackte Formmöbel und verschweißte Nähte.

„Nehmen Sie Platz, I.O.“ Captain Cross deutete auf den Besuchersessel vor seinem Schreibtisch.

Sie setzte sich und schlug die Beine übereinander. Ihr neuer Captain war ganz anders, als sie es erwartet hatte. Statt eines souveränen Alpha-Tiers hatten die Admiräle das Schiff diesem unscheinbaren Mann gegeben. Laut seiner Akte war Captain Cross 33 Jahre alt – und damit für ein solch wichtiges Kommando noch verdammt jung. Sein braunes Haar war sauber nach hinten gekämmt, die Zähne blitzten beim Lachen schneeweiß und die Gesichtszüge waren ebenmäßig. Vermutlich hatten seine Eltern eine mittlere Genskulpturierung springen lassen.

„Wie Sie wissen, wurde unser Start vorverlegt“, begann Cross. „Das hat mir leider jede Möglichkeit genommen, die Crew vor dem Start kennenzulernen. Wie lange befinden Sie sich bereits auf der HYPERION?“

Der Captain saß entspannt in seinem Konturensessel und blickte sie offen an. Keine Spur von Abneigung oder Vorbehalten. Doch auch ihm mussten die Gerüchte über sie zu Ohren gekommen sein. Verbarg er es nur gut? „Seit vier Wochen, Sir.“

„Ihr bisheriger Eindruck?“

„Bis letzte Woche war das gesamte Schiff eine einzige große Baustelle. Es wird noch einige Zeit dauern, bis alle Kinderkrankheiten beseitigt sind und die Crew sich aufeinander eingespielt hat.“

„Das dachte ich mir. Was mich zu meinem nächsten Punkt bringt.“ Cross machte einige Tippbewegungen auf der Touch-Oberfläche seines Schreibtischs, worauf mehrere Gesichter holografisch in den Raum zwischen der Decke und dem Tisch projiziert wurden. „Erzählen Sie mir etwas über meine Crew.“

Noriko räusperte sich. „Ich hatte die Möglichkeit, mit allen ein erstes Gespräch zu führen.“Und Ihre Vorbehalte mir gegenüber deutlich zu spüren.

Jayden berührte das Konterfei eines Mannes, das daraufhin vergrößert wurde. Das Label am unteren Rand wies ihn als Lieutenant Commander Lukas Akoskin aus.

„Da hätten wir Ihren Waffen- und Taktikoffizier, Commander Akoskin. Er ist 26 Jahre alt und entstammt der Kolonie Comienzo. Deren Bewohner bestehen zu 80 Prozent aus den Nachkommen von Siedlern aus dem spanischen Sektor. Die Admiralität war der Meinung, dass seine Jugend kein Hindernis darstellt. Er hat bei der Ausarbeitung der neuen Waffendoktrin für den Interlink-Kreuzer mitgearbeitet. Messerscharfer Verstand, Bester seines Jahrgangs.“

Als sie schwieg, sagte der Captain: „Die Fakten aus der Akte sind ja ganz nett, aber was haltenSievon ihm?“

Noriko begriff, dass Cross ihr diese Frage primär stellte, um seine I.O. einschätzen zu können. Zweifellos würde er mit jedem Kommandobrückenoffizier im Verlauf der Reise ein persönliches Gespräch führen.

„Schauen Sie ihn an. Vermutlich haben seine Eltern eine Genaufwertung der Alpha-Klasse herausspringen lassen. Er sieht gut aus – schwarzes dichtes Haar, hellblaue Augen, strahlend weiße Zähne – und ist sich dessen bewusst. In den vergangenen Wochen bestand seine Hauptfreizeitbeschäftigung aus Flirts. Sein Umgangston ist ab und an etwas flapsig, aber nie unverschämt.“Wenn auch oft nahe dran.„Er ist ein Heißsporn.“

Cross schmunzelte. „Ich verstehe.“ Er beugte sich vor und berührte ein weiteres Gesicht.

„Lieutenant Tess Kensington“, sagte Noriko, als das Gesicht der blonden Ortungsoffizierin vergrößert wurde. „32 Jahre, stammt von Tikara II.“

Der Captain sog bei der Erwähnung der Kolonie unvermittelt scharf die Luft ein.

„Vermutlich haben Sie in ihr eine glühende Verehrerin, immerhin haben Sie unter Einsatz Ihres Lebens die Heimat ihrer Eltern verteidigt.“ Noriko lächelte, als sie das Unbehagen im Blick des Captains erkannte. So viel Lob war ihm sichtlich unangenehm. „Davon abgesehen kann ich sie nur als resolut bezeichnen. Sie entstammt der Unterschicht von Tikara II, was in der Regel gleichbedeutend mit einer Laufbahn als Pirat, Schmuggler oder Dieb ist. Die Intelligenteren wandern aus oder sterben recht früh, da nur die Gewalttätigen überleben.“ Wenn nur ein Teil von dem, was in ihrer Akte stand, der Wahrheit entsprach, hatte Lieutenant Kensington einen verdammt harten Weg hinter sich. „Sie ist tough, spricht offen aus, was sie denkt, und jongliert mit Ortungsalgorithmen wie mit Gravbällen. Sie hat in einer der Übungen, in der ihre Gruppe eigentlich nur verlieren konnte, ein kleines Wunder vollbracht, in dem sie ein getarntes Parlidenschiff aufspürte.“

„Beeindruckend.“

„Sie ist es gewohnt zu kämpfen“, fügte Noriko hinzu.

Der Captain nickte bedächtig, verweilte mit seinem Blick noch kurz auf Kensington und berührte eines der beiden verbliebenen Abbilder.

Während Kensingtons Konterfei wieder verkleinert wurde, vergrößerte die K.I. das Gesicht eines Mannes mit rotem Stoppelhaar und gemütlichem Blick.

„Peter Task“, sagte Noriko. „Er ist … besonders.“

„Das habe ich schon bemerkt.“

„Anders, als Sie vielleicht denken.“ Sie schwieg einen Augenblick, um die richtigen Worte zu finden. „Man sagt, er habe drei Anläufe gebraucht, um an der Akademie aufgenommen zu werden. Trotzdem ist er ein ausgezeichneter Navigator. Entgegen dem leicht behäbigen Eindruck, den er macht, kann er eine Menge.“

„Sprechen Sie weiter.“

„Ich kann nicht wirklich viel über ihn sagen. Außerhalb der Arbeit sitzt er meist neben anderen Offizieren auf dem Entspannungsdeck an der Bar. Aber er redet nur wenig, stattdessen hört er zu. Ich denke, man tut gut daran, ihn nicht zu unterschätzen.“

Während der Blick des Captains gedankenverloren durch sie hindurchging, berührte sie das letzte Abbild.

„Lieutenant Sarah McCall“, erklärte sie. Eine stupsnasige Frau mit braunen Locken blickte lächelnd in das Aufnahmeobjektiv.

„Holt die Admiralität jetzt schon Leute direkt von der Akademie?“

„Die Brückencrew wurde aus Offizieren zusammengestellt, die …“

„Ist schon gut.“ Er winkte ab. „Die Admiralität hat ihre Gründe.“

Zweifellos. Wie sie es immer hat.Es fiel ihr schwer, bei diesen Gedanken nicht auszuspucken. Nach allem, was sie durchgestanden hatte, galt es nach wie vor, ihr Schild nicht sinken zu lassen. „McCall ist die Verkörperung des Schüchternen. Wenn Sie mit ihr sprechen, wird sie meist zu Boden schauen, scheu nicken und mit piepsiger Stimme sprechen.“ Noriko lachte auf. „Von diesen Punkten abgesehen verrichtet sie ihre Arbeit tüchtig und kompetent. Ihre Familie ist ihr sehr wichtig. Sie übernimmt ab und an Schichten von anderen Offizieren im Tausch gegen zusätzliche Phasenfunkzeit. Die verbringt sie dann im Gespräch mit ihrer Familie.“

„Also gut“, sagte Cross. „Dann kommen wir zu unserem letzten Kommandobrückenoffizier.“ Dabei berührte er ein Icon auf dem Touch-Panel. „Commander Noriko Ishida.“

„Was wollen Sie wissen, Sir?“

„Überspringen wir die Fakten aus der Akte. Vermutlich wissen Sie, woran ich am meisten interessiert bin.“

„Das Kelvin-Debakel.“

Der Captain nickte.

„Ich bin verblüfft. Warum haben Sie mich als Ihren I.O. angefordert?“ Von dem Moment an, als sie ihren Marschbefehl erhalten hatte, hatte sie sich das gefragt. „Warum ich?“

„Diese Ehre gebührt Admiral Sjöberg.“

„Ich verstehe.“ Die Enttäuschung brannte wie ein Fusionskern in ihrem Inneren. „Etwas anderes hätte mich gewundert.“

„Ich vertraue seinem Urteil. Obwohl es mir bei den umgehenden Gerüchten – das gebe ich offen zu – durchaus schwerfällt. Bis vor wenigen Jahren waren Sie die Vorzeigeoffizierin schlechthin. Ich habe noch niemals jemanden gesehen, der einen so kometenhaften Aufstieg hingelegt hat und obendrein noch Kompetenz besitzt.“

„Das nehme ich einfach als Kompliment.“

Bisher hatte noch niemand nach der Wahrheit gefragt. Erst einmal hatte sie einem Offizier berichtet, was damals geschehen war. Dem Falschen.

„Sir, ich denke nicht, dass die Vergangenheit eine Rolle spielen sollte. Sie ist Geschichte.“

Cross zögerte. „Verstehen Sie mich nicht falsch, aber Sie sind meine rechte Hand an Bord. Ich muss Ihnen vertrauen können. Und auch wenn es keine Relevanz mehr besitzen sollte, muss ich wissen, ob die Gerüchte zutreffen.“

„Maschinenraum an Captain Cross.“ Die Stimme von Lieutenant Commander Lorencia drang aus dem Interkom.

„Cross hier.“

„Sir, bitte kommen Sie in den Maschinenraum. Wir haben hier unten ein Problem, das wir umgehend besprechen müssen.“

„Ich bin auf dem Weg.“

In einer fliegenden Bewegung stand Cross auf. „Sie haben die Kommandobrücke, Commander. Wir führen unser Gespräch ein anderes Mal fort.“

Sie nickte und schob die Gedanken an das Gestern beiseite – wie sie es immer tat. „Aye, Sir.“

*

Das Schott rollte zur Seite und Jayden betrat den Maschinenraum.

„Captain“, sagte Lieutenant Commander Lorencia. „Willkommen an Bord. Ich fürchte, wir haben ein ernstes Problem.“

„Nur eines?“ Er hatte längst gelernt, dass es fast immer die Technik war, die einem reibungslosen Ablauf im Weg stand. „Worum geht es?“

Im Maschinenraum wuselte es. Überall beugten sich Ingenieure über Geräte, machten Eingaben an den Touch-Panels oder fuhren mit Handscannern über Maschinenblöcke.

Lorencias Reich zog sich über zwei Decks, die durch drei Magnetschwebeplattformen miteinander verbunden waren. Hinzu kamen die technischen Labors. Die Antriebssektion schloss direkt an, abgeschottet durch vier parallele Personenschleusen.

„Wir haben ein Problem mit der Feineinstellung des Helix-Konverters.“ Sie deutete in Richtung der Antriebssektion. „Wie Sie wissen, dient er dazu, Materiepartikel aus der uns umgebenden dunklen Materie zu extrahieren und dem Fusionswandelgenerator zuzuführen. Dieser leitet das Ganze weiter …“

Cross bemühte sich darum, seiner L.I. zu folgen. Er hatte die technischen Spezifikationen noch im Krankenbett studiert, aber er war nun mal kein Techniker.

„… an den Hochenergiespeicherring. Die dort gespeicherte Energie wird dem Interlink-Antrieb zugeführt. Und der frisst eine Menge davon.“

„Was genau ist unser Problem?“

„Der Helix-Konverter verarbeitet die Materiepartikel nicht korrekt, weshalb nicht genug Energie für den Antrieb im Speicherring landet.“

Jayden verzog das Gesicht. „Wir können also nicht auf Überlicht gehen?“

„Doch, da der Speicherring aktuell noch ausreichend Energie enthält“, erklärte sie. „So weit ich informiert bin, liegt der letzte bekannte Aufenthaltsort der PROTECTOR 160 Lichtjahre entfernt. Sobald wir dort sind, haben wir nur noch genug Energie für einige Lichtjahre. Wir müssen den Konverter erst wieder korrekt kalibrieren. Das mag einfach klingen, kann aber mehrere Tage dauern.“

„Es ist aber mit Bordmitteln möglich?“ Allein der Gedanke, irgendwo zwischen den Sternen zu stranden, außerhalb der Phasenfunk-Relaiskette, löste eine ganze Reihe unschöner Fantasien aus.

„So viel kann ich Ihnen versichern.“

„Immerhin etwas. Also gut, halten Sie mich auf dem Laufenden. Wir werden das Zielgebiet wie geplant anfliegen. Sobald es möglich ist, kriegen Sie Ihre Auszeit für den Antrieb.“

„Sehr gut.“ Mit einem Nicken wandte sie sich wieder ab und ging ihrer Arbeit nach.

Jayden lächelte. Lorencia war etwas ruppig, aber irgendwie hatte das etwas Erfrischendes. Er schenkte ihr einen letzten Blick, wandte sich um und verließ den Maschinenraum.

*

Jayden betrat die Brücke, nahm auf seinem Konturensessel Platz und transferierte die Kommandogewalt von Ishidas Konsole zurück auf seine.

Er hatte die letzten Stunden in seinem Bereitschaftsraum verbracht – mit den Personalakten seiner Offiziere und einer leichten Mahlzeit. Doch nun war es endlich so weit. Die Spannung auf der Kommandobrücke war mit den Händen greifbar. Alle warteten gespannt auf den Moment, an dem der Interlink-Antrieb seinen Betrieb aufnehmen würde.

Abgesehen von den Versuchen mit automatisierten Testsonden und einem experimentellen Leichten Kreuzer hatte bisher noch niemand einen Überlichtflug unter Umgehung des Phasenraums absolviert.

„Wir erreichen in wenigen Minuten 0,45 LG“, meldete Lieutenant Task von der Navigationskonsole. „Der Vektor für den Interlink-Flug steht.“

„Ich hoffe, es liegen keine Planeten im Weg“, bemerkte seine I.O. leise zu seiner Linken.

Auf seinem Kommandodisplay verfolgte Jayden die eingehenden Klarmeldungen. Das System hatte den Vektor von Lieutenant Task akzeptiert. Da bereits kleinere Abweichungen weit am Ziel vorbeiführen konnten, wurde der Kurs zwar von der Astrogation berechnet, dann jedoch von der K.I. und dem Sekundäroffizier überprüft.

Der Maschinenraum meldete eine stabile Energieversorgung durch den Speicherring; die Interlink-Komponenten waren bereit.

„Ich aktiviere den Melnikow-Schild“, kommentierte Task.

Jaydens Hände wurden schweißnass. Sollte auch nur eine der Maschinen versagen … er verwarf den Gedanken.

Im Holotank war noch immer die dreidimensionale Sternenkarte sichtbar, auf der der aktuelle Standort der HYPERION und ihr prognostizierter Vektor angezeigt wurden. Der Start- und der Endpunkt des Interlink-Fluges waren mit einer blauen Linie verbunden.

„Sir, wir erreichen 0,45 LG. Bitte um Erlaubnis, auf Interlink zu gehen.“

Jayden schluckte. „Bringen Sie uns auf Überlicht, Lieutenant.“

Mit einer flinken Handbewegung berührte Task ein Symbol auf seiner Konsole. Auf der Kommandobrücke war nichts zu bemerken, doch die Geschwindigkeitsanzeige schoss augenblicklich in die Höhe.

Mit durchschnittlich 6200-facher Lichtgeschwindigkeit raste die HYPERION durch den Raum.

„Es scheint alles zu funktionieren“, sagte Commander Ishida. „Damit schreiben wir Geschichte! Kein anderes uns bekanntes Volk besitzt ein Raumschiff, das in der Lage ist, im Normalraum auf Überlichtgeschwindigkeit zu gehen und das obendrein so hohe Beschleunigungswerte erreicht. Wir könnten in jedes Sonnensystem spazieren, ohne dass ein Phasenraumstörer uns davon abhält.“

Jayden erinnerte sich noch an die Euphorie unter den Offizieren, als die ersten Nachrichten über den Interlink-Raumer die Runde gemacht hatten. Durch die Energie, die vom Speicherring in den Interlink-Konverter überführt wurde, konnten das Higgsfeld neutralisiert und die Masse des Raumers aufgehoben werden. Solange Energie zur Verfügung stand, konnte das Schiff an dem vorausberechneten Vektor entlang mit Überlichtgeschwindigkeit durchs All rasen. Eine Änderung des Kurses war nicht möglich.

Dies hatte in der Anfangszeit vielerorts die Euphorie wieder gedämpft. Immerhin gab es eine Menge Hindernisse im Raum, die unvorhersehbar waren. Zwar war ein Interlink-Raumer im Verlauf eines Fluges nur quasi-materiell, konnte größere Hindernisse also sogar theoretisch durchfliegen. In der Praxis hatte sich aber gezeigt, dass es immer wieder zu Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Materieteilchen kam, die immense Schäden anrichteten. Erst Ilija Melnikow hatte dieses Problem gelöst.

Er hatte ein Schild entwickelt, das den Raumer während der Passage in eine Phasenblase hüllte. Hierdurch blieben nicht nur die physikalischen Gesetzmäßigkeiten an Bord in Kraft, gleichzeitig wurde auch die Wechselwirkung mit Materiepartikeln aufgehoben. Das Schiff konnte in der Tat feste Objekte durchfliegen – in der Theorie sogar Planeten, was Jayden jedoch lieber nicht testen wollte.

„Wollen wir hoffen, dass wir niemals wieder in ein bewohntes Sonnensystem einfliegen müssen, ohne offiziell eingeladen worden zu sein“, erwiderte er seiner I.O. „Alles in Ordnung, Lieutenant McCall?“

Das jüngste Crewmitglied rieb sich die Schläfen und hatte die Augen zusammengekniffen. „Ja, Sir. Nur leichte Kopfschmerzen.“

„Wenn ich mich nicht irre, ist Ihre Schicht sowieso zu Ende. Ab auf die Krankenstation mit Ihnen.“

„Sir, ich bin sicher, es handelt sich nur …“

„Auf die Krankenstation, Lieutenant! Das ist der erste Interlink-Flug, den eine Crew absolviert. Mehr muss ich dazu nicht sagen.“

„Aye, Sir.“ McCall übergab ihren Platz an die Ablösung und verließ die Kommandobrücke.

„Vielleicht warten wir mit den ‚Sektkorken’ noch eine Weile“, bemerkte Jayden. „Ich bin in meinem Bereitschaftsraum.“

*

IL HYPERION, 160 Lichtjahre von der Erde entfernt, 10. November 2265

Commander Ishidas Stimme drang aus dem Interkom. „Sir, wir haben den letzten bekannten Aufenthaltsort der PROTECTOR erreicht.“

„Ich bin auf dem Weg.“ Jayden stürzte den verbliebenen Schluck seines Vitamincocktails hinunter.

Während des neuntägigen Fluges hatte er mit jedem seiner Senioroffiziere ein erstes Gespräch geführt. Langsam entwickelte er ein Gefühl für deren Persönlichkeit. Commander Ishida stellte sich als kompetente I.O. heraus, die die Kommandobrückencrew mit Simulationen auf Trab hielt, Protokolle überarbeitete und den schlimmsten Papierkram übernahm.

Doktor Petrova hatte ihre Untersuchungen abgeschlossen und Entwarnung gegeben. Beim Kopfschmerz von Sarah McCall gab es keinen Bezug zum Interlink-Flug.

Da sein Aufenthaltsraum direkt an die Kommandobrücke anschloss, benötigte er nur einige Sekunden, um seinen Platz zu erreichen.

„Ich kappe den Energiefluss zum Interlink-Antrieb in 3 … 2 … 1 … wir sind auf Unterlicht“., sagte Lieutenant Task in diesem Augenblick. „Abbremsvorgang beginnt.“

Commander Ishida nickte Jayden zu. „Wir befinden uns zwölf Lichtjahre vom nächsten Außenposten der Parliden und dreiundzwanzig Lichtjahre vom Rand der Solaren Union entfernt. Galaktisches Niemandsland.“

„Lieutenant Kensington, Sie sind am Zug.“ Jayden fixierte die Ortungsoffizierin. „Finden Sie mir einen Hinweis auf die PROTECTOR.“

„Wir haben den letzten Aufenthaltsort des Schiffes erreicht“, erwiderte der Blondschopf. „Sobald wir nahe genug sind, setze ich Sensorplattformen aus.“

Obwohl der Abbremsvorgang Stunden in Anspruch nahm, brach auf der Kommandobrücke hektische Betriebsamkeit aus. Lieutenant Commander Akoskin begann mit der Entwicklung taktischer Szenarien auf der Grundlage der Umgebungsparameter. Lieutenant Task variierte den Schiffsvektor, um die HYPERION in die günstigste Ausgangslage für den Scan zu bringen.

„Lieutenant McCall, finden sich irgendwelche Phasenfunkports in Reichweite?“

„Negativ, Sir“, erwiderte sie. „Ich habe einen dauerhaften Suchlauf aktiviert. Bisher keine Signale.“

„Das wird eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen“, bemerkte seine I.O.

Jayden nickte nur und betrachtete die Daten der eingehenden Sensorauswertung.

„Sir, ich habe etwas“, sagte Lieutenant Kensington nach zwei Stunden.

„Die PROTECTOR?“

„Nein, Sir, aber die Reststrahlung eines Phasendurchbruchs mit der typischen Signatur eines Schiffes der Space Navy.“

Jayden atmete erleichtert auf. Das bedeutete immerhin, dass das Schiff nicht zerstört worden war. „Können Sie den Vektor bestimmen?“

Kensington nickte. „Das ist kein Problem.“ Sie machte einige Eingaben, dann blickte sie auf: „Die Flugrichtung weist in Richtung des Stillen Sektors.“

„Lieutenant Task, setzen Sie den gleichen Vektor. Wir fliegen die Route der PROTECTOR im Interlink-Flug ab.“

Da ein Schiff im Phasenraum den Kurs ebenfalls nicht ändern konnte, war es für die HYPERION kein Problem, den Vektor abzufliegen. Irgendwo musste der Leichte Kreuzer wieder in den Normalraum gestürzt sein.

„Aye, Sir.“

Jayden betrachtete skeptisch die Energieanzeige des Speicherrings. „Unser Energievorrat ist fast aufgebraucht. Und falls Sie in den Stillen Sektor geflogen sind, haben wir Sie sowieso verloren.“

„Warum sollte Captain Bowman dorthin fliegen?“, fragte Ishida. „Der ursprüngliche Auftrag war eine Beobachtung der Grenze zum Parlidenraum. Eine simple Aufklärungsmission.“

„Aufklärungsmissionen sind niemals simpel“, erwiderte Jayden. „Wir wissen nicht, was geschehen ist. Aber ich stimme Ihnen zu. Falls sie aus irgendeinem Grund dort reingeflogen sind, werden wir sie nicht wiedersehen.“

Vor mittlerweile sieben Jahren hatte eine Flotte aus drei Leichten Kreuzern ein Sternensystem entdeckt, das von einem Wall aus unbekannter Strahlung eingehüllt wurde. Jede einfliegende Sonde verlor innerhalb kürzester Zeit ihre gesamte Energie. Bevor diese Gefahr jedoch in Gänze erkannt wurde, war eines der Schiffe schon auf dem Weg gewesen. Alle Systeme waren ausgefallen, während es von seinem Eigenschub weiter in das System getragen wurde. Dieses erste Schiff, die PROMETHEUS, befand sich noch immer auf ihrem Flug in das Sonnensystem. An Bord lebte längst niemand mehr. Tote Körper auf einer Reise ins Zentrum des Rätsels.

Jeder Versuch, den Energiefluss in Testsonden bei Eintritt in das System aufrechtzuerhalten, war in den auf den Zwischenfall folgenden Monaten fehlgeschlagen. Daraufhin hatte die Admiralität den Sektor als verboten erklärt. Eine Wissenschaftsstation war am Rande errichtet worden. Sie sollte dazu dienen, Näheres über die Strahlung herauszufinden, doch bisher verzeichneten die Wissenschaftler an Bord keine nennenswerten Fortschritte.

Jayden ließ seine Gedanken schweifen, während die HYPERION am Vektor der PROTECTOR entlang in Richtung des stillen Sektors flog.

*

Jayden beugte sich in seinem Sitz nach vorne, als die PROTECTOR im Holotank erschien. „Lieutenant Kensington, was können Sie mir sagen?“

„Augenblick, Sir.“ Die Ortungsoffizierin kniff die Augen zusammen. „Keine äußerlichen Schäden. Ich messe schwache Lebenszeichen. Eine klare Ortung ist nicht möglich. Irgendetwas zerfasert die Sensorstrahlen.“

„Lieutenant McCall, können Sie dort drüben jemanden erreichen?“

„Unsere Kontaktversuche werden nicht beantwortet, Sir.“

Jayden fixierte die PROTECTOR. Das Schiff schwebte im Nichts zwischen den Sternen, viele Lichtjahre vom Stillen Sektor und jedem anderen System entfernt. Er konnte den Blick nicht von der vielfach gezoomten Aufnahme der Bugkamera wenden, während die HYPERION abbremsend auf den Leichten Kreuzer zuflog. Die Stunden des Wartens waren das Schlimmste.

Als die Geschwindigkeit des Schiffes ausreichend gesunken war, wandte Jayden sich an Lieutenant Task. „Bringen Sie uns längsseits und aktivieren Sie den Traktorstrahl.“

„Was haben Sie vor, Sir?“, fragte Commander Ishida.

„Ein Trupp Marines soll rübergehen und nachsehen, was da nicht in Ordnung ist.“

„Technisches Versagen?“

„Möglich“, erwiderte er. „Aber ich glaube nicht daran. Laut der Dokumente liegt die letzte Wartung erst wenige Monate zurück.

Lieutenant Kensington, gibt es Torpedopartikel im Umkreis um die PROTECTOR? Bekannte Energiesignaturen? Gamma-Strahlung?“

„Negativ, Sir.“

„Das Ganze wird immer mysteriöser“, murmelte Commander Ishida, während sie auf ihrer Kommandokonsole Daten abrief. „Die PROTECTOR ist von einer Blase aus Phasenstrahlung umgeben. In so hoher Konzentration dürfte dies im Normalraum nicht vorkommen.

Lieutenant Kensington, versuchen sie, so viel wie möglich darüber herauszufinden.“

Jayden zoomte die Aufnahmen des Bugteleskops heran. „Was ist das?“

Seine I.O. runzelte dir Stirn. „Sir?“

„Die Tore von Frachtraum 1 sind zerstört.“ Es war Zufall, dass sie das Schiff aus eben jenem Winkel anflogen, der das Loch in der Hülle zeigte. „Was verdammt noch mal …“

„Sir“, unterbrach ihn Lieutenant Kensington. „Ich konnte die Sensorauflösung ein wenig verbessern. Neben den menschlichen Lebenszeichen orte ich auch eine Parlidensignatur.“

„Die Marines sollen sich auf Feindkontakt einstellen“, sagte Jayden zu Commander Ishida.

Konnte es tatsächlich sein, dass die Parliden ein Schiff der Space Navy geentert hatten? Damit hatte sich die PROTECTOR gerade in ein politisches Pulverfass verwandelt.

*

Corporal Mark Pride blickte aus dem Bullauge auf die HYPERION, die rasch kleiner wurde. Nach allem, was Captain Cross im Briefing mitgeteilt hatte, erwies sich die Mission als zunehmend problematisch.

Beim Anflug an die PROTECTOR hatte die Kommandobrückencrew festgestellt, dass der Traktorstrahl nicht einsetzbar war, weil sich die Oberfläche der Hülle auf molekularer Ebene verändert hatte. Erst nach einer umfangreicheren Rekalibrierung und erneuten Feinabstimmung konnten beide Schiffe miteinander gekoppelt werden.

Leider hatte die Strahlung noch weitere Auswirkungen. Der Funk war gestört. Und ohne Funkverstärker gelang es nicht, Kontakt mit der K.I. der PROTECTOR herzustellen, wodurch Captain Cross auch nicht auf die internen Kamera-Feeds zugreifen konnte.

Und jetzt war Mark mit seinem Team auf dem Weg in feindliches Gebiet – denn als nichts anderes sah er die PROTECTOR an. Lieutenant Kensington hatte einen Parlidenkontakt ausgemacht. Da sich keines dieser Aliens an Bord eines Schiffes der Space Navy befinden sollte, mussten sie mit feindlichem Beschuss rechnen.

Das Shuttle vibrierte kurz, als sie die Strahlenblase durchflogen. Kurz darauf stabilisierte sich die Flugbahn wieder.

„Ich sende den Code an den Computer der PROTECTOR. Wenn er von keinem Offizier an Bord widerrufen wird, dürfte es keine Probleme geben“, meldete Pilot René Lagrange aus dem Cockpit. „Er wurde akzeptiert.“

Die Tore des Shuttlehangars fuhren auseinander und ließen sie ein.

„Der Hangar ist leer, keine Lebenszeichen“, meldete der Pilot.

„Also gut, Jungs, jetzt gilt es“, sagte Mark zu seinem zwölfköpfigen Team. „Ihr wisst, wie es aussieht. Uns erwartet eine unbekannte Anzahl an Parliden – bisher wurde einer geortet, doch der Scan war ungenau -, vermutlich mehrere verletzte Offiziere. Es wird nur geschossen, wenn es unvermeidbar ist. Wir durchforsten das Schiff, koppeln einen Phasenfunkverstärker an“, dabei blickte er zu den Alvarez-Brüdern, die den Verstärker in ihrem Rucksack bei sich trugen, „und kümmern uns um die Verletzten. Noch Fragen?“

Auf das vielstimmige „Nein, Sir“ öffnete er das Zugangsschott des Shuttles.

In Dreier-Teams sprangen sie durch die Luke. Seine Jungs waren Profis, was mit jeder ihrer Bewegungen deutlich wurde.

„Pride an HYPERION.“

Die Antwort blieb aus. Wie vermutet durchdrang das Signal die Strahlenblase nicht. Erst musste der Verstärker angeschlossen werden.

„Sir, Palok hier“, erklang eine weibliche Stimme aus seinem Helmfunk. „Ich befinde mich im Steuerbüro des Hangars. Sie sollten meinen OpDa checken.“

Die einzelnen Servo-Suits konnten untereinander Daten austauschen. Als Anführer des Teams konnte er zudem auf den optischen Datenstrom zugreifen, der von den übrigen Suits verarbeitet wurde.

Er schaltete seine Frequenz auf die visuelle Aufnahme von Private Paloks Helmkamera und starrte im nächsten Moment in das grauenvoll verzerrte Gesicht eines Toten. „Können Sie ihn identifizieren?“ Mark reagierte instinktiv professionell.

„Es handelt sich um Lieutenant Tim Simmens“, las Palok vom Aufnäher der Uniform ab. „Anhand der immensen Menge an Blut, die hier überall zu finden ist, gehe ich von multiplen Stichverletzungen aus.“

Seit wann stechen die Parliden auf ihre Opfer ein?, fragte sich Pride.„Markieren Sie den Fundort und machen Sie weiter.“

„Aye, Sir.“ Sie beendete den Funkkontakt.

Normalerweise konnte sich auch die Kommandobrückencrew der HYPERION zuschalten, doch durch die Störung war das nicht möglich.

Diego und Alejandro Alvarez, die beiden Brüder aus dem spanischen Sektor der Erde, flankierten Mark, als er sich zum Maschinenraum aufmachte.

Bereits in den ersten Minuten gingen Meldungen von allen Teams ein. Überall auf dem Schiff lagen Tote. Was auch immer hier geschehen war, es hinterließ ein grausiges Bild. Aufgehängte, erstochene und aufgeschlitzte Offiziere. Ein untypisches Bild für Schiffe, die von Parliden geentert wurden. Im Verlauf des Krieges hatten die Sternköpfe aufgebrachte Schiffe meist mitsamt ihrer Crew in die Luft gesprengt. Sie machten keine Gefangenen, zogen aber auch nicht schlachtend umher. Sie waren effizient, kalt und brutal.

Im Maschinenraum fanden sie den Chefingenieur.

„Das ist ja widerlich“, brachte Diego hervor. „Das sieht fast so aus, als hätte er sich selbst umgebracht.“

Mark musste ihm im Stillen beipflichten. „Der Chefingenieur lag am Boden, ein Laserschneider steckte in seiner Brust, ein Pulser lag direkt neben ihm. Die Crew des Maschinenraums lag in Lachen aus ihrem eigenen Blut, niedergestreckt von Pulserschüssen.

„Alejandro, Diego, schließt diesen verdammten Phasenfunkverstärker an. Jetzt!“

Die beiden zuckten zusammen und begannen hektisch zu arbeiten.

Captain Cross würde es gar nicht gefallen, das hier zu sehen. Und obwohl Mark im Laufe seiner Karriere schon einiges erlebt hatte, dachte er mit Grauen daran, dass sie als Nächstes die Kommandobrücke aufsuchen mussten.

*

Jayden atmete erleichtert auf, als im Inneren des Holotanks der Maschinenraum der PROTECTOR in einem Regen aus Pixeln erschien. Eine Erleichterung, die nur wenige Sekunden anhielt. „Corporal Pride, geben Sie mir einen Statusbericht.“

„Was Sie sehen, spiegelt den bisher abgesuchten Schiffsbereich wider“, erklang die Stimme des Marines aus dem Akustikfeld. „Vom Shuttlehangar bis zum Maschinenraum fanden wir nur Tote. Kein Parlidenkontakt.“

Jayden schluckte. „Begeben Sie sich zur Kommandobrücke.“

„Verstanden, Sir.“

Der Corporal ging auf direktem Weg zum multidirektionalen Lift, der das Schiff vom Bug bis zum Heck durchzog. Am Rande des Aufnahmefeldes waren die Silhouetten der Brüder Alvarez zu erkennen, die ihren Vorgesetzten flankierten.

Wohin Pride auch blickte, überall herrschte Chaos: zertrümmerte Maschinen, zersplitterte Panels, tote Körper. Die oberflächliche Betrachtung der Leichen zeigte, dass sie allesamt durch äußere Gewalteinwirkung umgekommen waren.

Jayden ballte die Fäuste.

„Noch ist nichts bewiesen“, murmelte Commander Ishida und schenkte ihm einen durchdringenden Blick.

Ihre Gelassenheit sorgte dafür, dass er noch wütender wurde. Am liebsten hätte er sich einen Pulser gegriffen und wäre seinen Marines auf die PROTECTOR gefolgt. Stattdessen musste er hier sitzen und zusehen. Es war immer das Gleiche: Er selbst überlebte, während andere für ihn in den Tod gingen. Jayden schüttelte den Kopf und verdrängte den Gedanken. Doktor Nakura hatte ihm sehr deutlich gemacht, dass er sich von seinerSurvivor‘s guiltnicht dominieren lassen durfte. Fast jeder Offizier machte im Verlauf seiner Karriere Ähnliches durch, wenn er Kameraden verlor. Die Schuldgefühle konnten einen Überlebenden zerfressen, obwohl es gar keinen Grund gab, solche zu haben. Doch auch wenn Jayden die dahinterstehende Logik durchaus verstand, gelang es ihm einfach nicht, die gefühlte Schuld abzustreifen.

Corporal Pride gab soeben den Zugangscode zur Brücke ein. Mit einem Zischen fuhr das Schott zur Seite. Alles blieb still. Er gab Diego mit einer Geste zu verstehen, dass er vorangehen sollte. Mark und Alejandro würden ihm Deckung geben.

Diego schob sich an der Wand entlang durch das offene Schott. Plötzlich zischten elektrisch geladene Nanopartikel eines Pulserschusses durch die Luft. Die Ladung schlug frontal in Diegos Brust ein und ließ ihn zurücktaumeln. Direkt vor dem Eingang fiel er zu Boden.

„Melde feindlichen Beschuss!“ Pride brachte das Pulsergewehr in Anschlag und presste seinen Körper an die Wand, während Alejandro seinen Bruder an den Beinen packte und zur Seite zog.

Schuss um Schuss zischte durch das offene Schott und schlug außerhalb des Kamerafeldes in Decke und Wand ein.

„Feuer einstellen!“, rief Pride. „Wir sind hier, um Ihnen zu helfen.“

Diego Alvarez rappelte sich wieder auf. Der Servo-Suit hatte ihn vor Verletzungen bewahrt. „Alles in Ordnung?“, fragte Alejandro leise.

„Meine Ehre wurde verletzt“, erwiderte er trocken.

„Wer sind Sie?!“ Die Stimme zitterte. Der Beschuss endete.

„Corporal Mark Pride vom Interlink-Kreuzer HYPERION. Wir sind hier, um Ihnen zu helfen.“

„Sie lügen! Sie wollen mich töten! Sie sind genauso wahninnig wie die anderen.“

„Ich versichere Ihnen, dem ist nicht so. Legen Sie ihre Waffe zur Seite und lassen Sie uns persönlich miteinander reden.“ Die Stimme von Pride klang ruhig und klar.

Zur Antwort schoss ein Pulserstrahl in die Decke.

„Sir, ich erbitte Anweisungen zum weiteren Vorgehen“, wandte sich der Corporal an Jayden.

„Betäuben Sie ihn und sichern Sie die Kommandobrücke der PROTECTOR. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Alles Weitere klären wir, sobald unser unbekannter Freund an Bord der HYPERION ist.“

„Aye, Sir.“

„Commander.“ Jayden blickte zu seiner I.O. „Ein Paramedic soll sich auf den Weg zur Brücke der PROTECTOR machen. Ich will …“

„Sir!“ Die Stimme von Lieutenant McCall unterbrach ihn. „Ich erhalte Meldung von den Marines, die die Krankenstation des Schiffes überprüfen.“ Kurz hielt seine Kommunikationsoffizierin inne und lauschte in ihr Headset. „Private Ginsberg hat einen Parlidenkontakt. Bisher nur im Scan, aber der Kontakt steht kurz bevor.“

„Verdammt.“ Jayden wog kurz die Optionen ab, die ihm blieben. „Lieutenant McCall, weisen Sie die Marines in den umliegenden Sektoren an, sich zur Krankenstation zu begeben. Wir gehen auf Nummer sicher. Corporal Pride, bereinigen Sie die Situation auf der Brücke schnellstmöglich.“

In einer fließenden Bewegung sank Jayden in seinen Konturensessel. „Und unsere Krankenstation soll alles für das Eintreffen von Verwundeten vorbereiten.“

*

Doktor Irina Petrova war eine Naturgewalt. Nicht anders konnte Jayden die resolute 65-jährige Ärztin mit dem schlohweißen dichten Haar bezeichnen. Wie ein Leuchtturm im sturmgepeitschten Ozean stand sie zwischen den Paramedics und Ärzten und gab Anweisungen. Als sich ihre stahlblauen Augen endlich auf ihn richteten, hatte er unweigerlich das Bedürfnis, von der Krankenstation zu fliehen.

„Ah, Captain Cross“, grüßte ihn die Doktorin und eilte auf ihn zu. „Schön, Sie zu sehen. Leider ist es wohl nicht die Antrittsuntersuchung, die Sie hierher führt.“

Jayden lächelte, bemerkte jedoch recht schnell, dass es kein Scherz gewesen war. „Wie Sie vermutlich wissen, bin ich ein wenig beschäftigt.“

„Das höre ich häufig. Ob Sie es glauben oder nicht, uns Ärzten ergeht es da nicht anders.“ Sie bedeutete ihm mit einem Wink, ihr zu folgen. „Aber vertagen wir diese Diskussion.“

Doktor Petrova führte ihn zu einem Stasetank, der zusammen mit zehn weiteren in die Wand der Krankenstation eingelassen war. Auf eine Berührung ihrer Finger erwachte das Panel daneben zum Leben und zeigte diverse Skalen und Messwerte an, die ihm jedoch nichts sagten.

„Es ist das erste Mal, dass die Menschheit einen lebenden Parliden untersuchen kann“, erklärte sie. „Zumindest glaube ich, dass er noch am Leben ist.“

Entgegen den ersten Befürchtungen waren seine Marines nicht auf feindliche Parliden gestoßen. Stattdessen hatten sie einen der Sternköpfe in einem Stasetank auf der Krankenstation der PROTECTOR gefunden. Die Marines und Paramedics begannen mittlerweile damit, die Toten auf die HYPERION zu überführen. Außer dem Brückenoffizier, den Corporal Pride schlussendlich betäubt hatte, und dem Parliden gab es keine Überlebenden.

„Zeigen Sie ihn mir.“

Doktor Petrova betätigte eine Taste, worauf die Oberfläche des Tanks transparent wurde. Die Physiognomie ähnelte der eines Menschen: zwei Arme, zwei Beine, Hals und Kopf. Die Haut war jedoch von einem rötlichen Schwarz und schimmerte metallisch. Überall am Körper gab es Wölbungen und stachelartige Auswüchse. Die Augen glichen zwei ölig schimmernden Murmeln. Es gab Theorien, wonach die Parliden allesamt Rüstungen trugen, doch falls dem tatsächlich so war, konnte niemand sagen, wie sie darunter aussahen. Und das war auch alles, was sie generell über die Parliden wussten.

„Faszinierend, nicht wahr“, bemerkte Doktor Petrova. „Unsere medizinischen Scanner können die Außenhaut nicht durchdringen. Ich kann nicht einmal die Zusammensetzung der obersten Hautschicht feststellen. Anscheinend wurden subkutan Störsender in die Haut implantiert, anders kann ich mir die Störstrahlung nicht erklären, die von dem Körper ausgeht.“

„Sie können mir also nicht sagen, weshalb er oder sie in Stase liegt?“

„Ich fürchte, darüber kann uns nur das Logbuch des Chefarztes Auskunft geben. Bisher wurde es jedoch nicht zu mir transferiert.“

„Und das wird auch noch einige Zeit dauern“, erwiderte Jayden. „Mittels meiner Kommandocodes wurde ich von der K.I. der PROTECTOR als ranghöchster Offizier akzeptiert. Wir haben die Datenbank des Schiffes überspielt, mussten jedoch feststellen, dass Captain Bowman sie verschlüsselt hat.“

„Das wundert mich nicht. Aus irgendeinem Grund scheinen da drüben alle durchgedreht zu sein. Was ich bisher sah, lässt vermuten, dass sie sich gegenseitig umbrachten.“

„Und Sie schließen etwas Virologisches nach wie vor aus?“

„Zumindest konnte ich im Blut der Toten nichts dergleichen nachweisen. Natürlich habe ich die Quarantänebestimmungen beachtet.“

„Da habe ich keinen Zweifel.“ Jayden wandte sich ab. „Senden Sie mir bitte eine Kopie aller Untersuchungsergebnisse, die den Parliden betreffen. Wie geht es unserem anderen Überlebenden.“

Sie führte Jayden zu einem zweiten Stasetank. „Lieutenant Michael Larik, Marsianer. Er war der Kommunikationsoffizier der PROTECTOR.“

„Warum ist er noch immer bewusstlos?“

„Was auch dort drüben geschehen ist, führte bei ihm zu einem schweren neurologischen Schock. Ich musste ihn in ein künstliches Koma versetzen.“

Jayden betrachtete das Gesicht des jungen Mannes. Die länglichen Züge, die großen Augen, bedeckt von pigmentierten Augenlidern. „Wie lange wird es dauern, bis wir ihn wecken können?“

„Schwer zu sagen. Ich werde Sie über seinen Zustand auf dem Laufenden halten. Prognosen sind zu diesem Zeitpunkt kaum möglich.“

„Danke, Doktor.“ Jayden nickte kurz.

Während Doktor Petrova sich wieder ihren Patienten widmete, ging Jayden in Richtung Brücke.

Der Friedensvertrag mit den Parliden besagte eindeutig, dass diese das Territorium der Solaren Union nicht betreten durften. Der Schluss lag nahe, dass Captain Bowman dem Parliden irgendwie hatte helfen wollen. Alles andere wäre einer Kriegserklärung gleichgekommen.

Eine weitere Klausel in dem Vertrag besagte, dass es der Menschheit verboten war, Parliden zu untersuchen. Allein der Aufenthalt dieses Wesens auf der Krankenstation konnte katastrophale Folgen nach sich ziehen.

*

„Darf ich Sie kurz stören, Commander?“

Lieutenant Commander Giulia Lorencia blickte auf. „Ach du liebe Zeit! Holen die euch mittlerweile schon direkt aus den Holo-Kursen?“

„Wie bitte?“ Lieutenant McCall trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.

Giulia lächelte. Sie mochte es, die Frischlinge ein wenig aus der Reserve zu locken. Auch wenn es sich bei diesem Frischling um ein Mitglied der Brückencrew handelte. „Nichts, Lieutenant, schon gut. Sie sind hier wegen der Dechiffrierung?“

„Das ist korrekt. Captain Cross schickt mich.“

Als hätte sie‘nen Stock verschluckt. Mal sehen, ob wir das Eis brechen können.„Was die aktuellen Protokolle zur Verschlüsselung von Datenbanken angeht, ist mein Wissen ein wenig eingerostet. Vielleicht kommen Sie ja weiter.“

Mit diesen Worten führte sie McCall durch ein Meer aus herumrennenden Technikern zu einer der Maschinenraum-Konsolen.

Die Kommunikationsspezialistin schaute einem der Techniker hinterher. „Sie wirken alle ein wenig aufgeregt.“

„Wir haben ein paar Probleme mit dem Helix-Konverter. Das bringen Prototypen so mit sich. Sie sind nun mal meist unzuverlässig.“ Sie bedeutete McCall, Platz zu nehmen. „Hier können Sie arbeiten. Je früher wir erfahren, was dort drüben geschehen ist, desto eher können weitere Schritte geplant werden.“

„Die Admiralität wird zufrieden sein, dass wir die PROTECTOR so schnell gefunden haben.“

Giulia entschlüpfte ein Lachen, bevor sie es herunterschlucken konnte. „Aber sicher.“

„Was meinen Sie?“

Giulia seufzte. Nun war es ausgerechnet sie, die einem unschuldigen Frischling die Illusionen rauben musste. Ähnlich war es ihr selbst damals ergangen. „Die HYPERION ist ein Projekt, das parteiübergreifend nicht nur Zustimmung fand. Was die Besatzung angeht, sind wir ein Spiegelbild politischer Seilschaften und Gefälligkeiten.“

„Ich verstehe nicht.“

„Es ist relativ simpel: Ein Teil der Admiralität steht hinter uns, während ein anderer Teil darauf hofft, dass wir Mist bauen.“

„Warum?“

„Ist das nicht offensichtlich? Um daraus politisches Kapital zu schlagen. Wir wurden quasi fast im Alleingang von Admiral Sjöberg und Admiral Jansen ausgewählt. Sie gehören allesamt ins Lager der Gemäßigten. Durch die Unterstützung von Admiral Pendergast konnten sie sich gegen die Hardliner unter Michalew durchsetzen. Die hoffen jetzt natürlich darauf, dass wir scheitern, um diverse Posten neu zu besetzen.“

„Aber das ist doch lächerlich!“ Auf Lieutenant McCalls Wangen bildeten sich rote Flecken. „Natürlich werden wir auch Fehler machen. Wir sind allesamt Menschen.“

„Eben.“ Giulia warf die Arme in die Luft. „Der Posten auf der HYPERION ist ein Schleudersitz. Das sollte Ihnen klar sein. Wenn die Hardliner ihren Coup d'État bekommen, sind die Senioroffiziere sofort weg vom Fenster. Vielleicht wird man Sie auf ihrem Posten belassen und Lieutenant Task – naja, den auch. Aber das war es auch schon.“

„Sie klingen ganz schön verbittert.“

„Ich bin nur realistisch. Mein Job macht mir Spaß. Der Maschinenraum ist der Platz, an dem ich arbeiten will. Solange die mir kein Arschloch vor die Nase setzen, das es ständig besser weiß, ist alles bestens. Man sollte immer über das informiert sein, was die Politiker so treiben.“

McCall gab einige Parameter über die Touch-Oberfläche in das Panel ein und aktivierte so einen Dechiffrierungsalgorithmus. „Es wird nicht ganz einfach. Aus irgendeinem Grund hat Captain Bowman nicht das aktuelle Passwort gewählt, um die Datenbank zu schützen. Wir können nur darauf hoffen, dass sie nicht zu kreativ war.“

„Wie wollen Sie vorgehen?“

„Als wir auf der Akademie waren, entwickelte ich gemeinsam mit einigen Kommilitonen ein Programm, das eine schnelle probabilistische Suche nach dem Urbild eines gegebenen Hashwertes ermöglicht. Hierfür speicherten wir über einen Zeitraum von mehreren Jahren Lookup-Tabellen, um im Fall der Fälle Zugriff auf Datenbanken mit unbekanntem Passwort zu erhalten.“

Giulia schmunzelte. Während McCall sich mit dem Problem beschäftigte, fiel ihre Schüchternheit wie eine Schale von ihr ab. Sie vergaß sichtbar, dass ein vorgesetzter Offizier zugegen war, und vertiefte sich in das vor ihr liegende Problem. Giulia erkannte, weshalb man die Lieutenant der HYPERION zugeteilt hatte. Hinter ihrer schüchternen Fassade steckte eine Menge. „Sie haben sich also einer kleinen Hacker-Gruppe angeschlossen.“

Lieutenant McCalls Gesicht nahm den Farbton einer überreifen Tomate an. „So kann man das nicht sagen. Wir haben das Programm nur …“

„Für den Notfall geschrieben, schon klar.“ Giulia lachte auf. „Machen Sie sich keine Sorgen, solche Gruppen gab es in jedem Semester. So weit ich informiert bin, hat die Akademieleitung sogar mit Absicht verhältnismäßig leicht zugängliche Datenbanken erstellt, um die Fähigkeiten der Studenten zu testen. Konnte die Gruppe die Datenbank knacken, ist das durchaus in ihre Akte eingeflossen. Zudem wurde überprüft, ob die Daten an ihre Kommilitonen weitergegeben wurden. Soziales Verhalten und so.“

„Ist das Ihr Ernst?“ McCall schüttelte den Kopf. „Ein weiterer der berühmten Tests. Ich frage mich immer wieder, wie ich die Akademie überstehen konnte, ohne paranoid zu werden.“

„Da sind Sie nicht die Einzige.“

„Gehörten Sie auch zu einer solchen Gruppe?“

Giulia schüttelte den Kopf. „Ich hatte andere Wege, mir meine Informationen zu besorgen.“ Sie versuchte, nicht zu grinsen. „Aber kommen wir zurück zum Thema. Ich nehme an, Sie umgehen die Salt-Verschlüsselung, in dem sie den Algorithmus mit den verschiedenen Standard-Salts der Flotte testen?“

„Das ist korrekt.“

„Wir können nur hoffen, dass Captain Bowman nicht auf die Idee kam, diesen zu verändern. Was auch immer sie in der Datenbank verbergen wollte, es war ihr verdammt wichtig.“

„Die Frage ist nur: Wollte sie es vor einer möglichen Nachstellung der Parliden sichern oder vor uns.“

Giulia war gespannt darauf, die Antwort zu erfahren. Da sich die Datenbank bei Sarah McCall in guten Händen befand, beschloss sie, ihre Aufmerksamkeit wieder ganz dem Speicherring zu widmen. Sie klopfte der jungen Lieutenant jovial auf die Schulter. Während sie zurück in die rückwärtige Sektion ging, kreisten ihre Gedanken bereits wieder um das Problem mit dem Helix-Konverter.

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IL HYPERION, Bereitschaftsraum des Captains, 10. November 2265

„Was gedenken Sie zu tun, Sir?“ Commander Ishida saß mit übereinandergeschlagenen Beinen im Besuchersessel und blickte forschend zu ihm auf. „Mit jedem Tag wird die Gefahr größer, dass uns ein Parlidenschiff aufspürt. Der Parlide auf der Krankenstation der PROTECTOR muss irgendwo an Bord gekommen sein. Wenn ein Suchteam dieser Spur folgt, werden sie uns früher oder später finden.“

Jayden warf einen Blick auf seine Tischkonsole. Ishida hatte ihm alle aktuellen Daten und Informationen in seinen Speicher überspielt, auf den er nun zugriff.

Die Tiefraumsensoren hatten erste Parlidensignaturen entdeckt, die kurz darauf verschwunden waren. Vermutlich durch einen Sprung in den Phasenraum. Mit unbekanntem Vektor.

„Unsere Optionen sind begrenzt“, sagte Jayden. „Wir sind weit außerhalb der Phasen-Relaiskette, was eine Kommunikation mit dem Hauptquartier unmöglich macht.“

„Wir könnten das Kurierboot entsenden.“

Die Idee hatte etwas für sich. Die kleinen Kurierboote waren in der Lage, im Phasenraum bis auf das dritte Band aufzusteigen, wo Schiffe 3300-fache Überlichtgeschwindigkeit erreichen konnten. Wissenschaftlern war es vor einigen Jahren gelungen, das vierte Band anzumessen, doch bisher konnte noch kein Schiff dorthin aufsteigen. Doch obwohl ein Kurierboot damit deutlich schneller war als die 1600-fache Überlichtgeschwindigkeit des ersten Bandes oder die 2500-fache des zweiten, würden mehrere Tage vergehen, bis der Bote mit einer Antwort zurückkehrte. „Ich glaube nicht, dass die Zeit dafür ausreicht.“

„Wir können keine Antwort abwarten“, sagte Ishida, „aber zumindest den aktuellen Status sollten wir übermitteln. Wenn die Parliden uns aufspüren und die Signatur einen der Ihren an Bord entdecken, werden sie einen Angriff starten, so viel ist sicher.“

„Der Weltraum ist groß. Doch Sie haben recht. Vermutlich suchen die längst nach ihrem verschwundenen Crewmitglied und wir wissen noch nicht, wo oder wie er auf die PROTECTOR kam.“

„Also senden wir das Kurierboot aus?“

„Sobald wir die Datenbank entschlüsselt haben, wird es aufbrechen. Dann werde ich auch entscheiden, wie wir mit der PROTECTOR weiter verfahren. Ich will sie nicht vernichten, aber wir können sie auch nicht hier zurücklassen. Wenn die Parliden sie entdecken, könnten sie zu viel über unseren technischen Stand erfahren. Sie mit Traktorstrahlen hier fortzuschaffen, würde zu lange dauern und zudem nichts nutzen. Vermutlich könnten die Parliden uns über jede Entfernung orten, die wir mit dem Pike-Antrieb zurücklegen können. Aber das besprechen wir mit Commander Lorencia, wenn es so weit ist. Ihr wird schon etwas einfallen.“

Ishida machte Eingaben auf ihrem Memopad. „Ich bereite alles Notwendige vor. Ihnen ist klar, dass wir einen kriegerischen Akt begehen, in dem wir den Parliden nicht aus der Stase holen.“

Jayden nickte bedächtig. „Das mag sein, doch die Sicherheit meines Schiffes geht vor. Wir wissen nicht, wie er reagiert, wenn wir ihn aufwecken. Das Letzte was ich will, ist ein wildgewordener Parlide auf meinem Schiff, der am Ende noch denkt, wir hielten ihn gefangen.“

„Die Vorschriften für diesen Fall sind klar. Tote Parliden dürfen nicht geborgen oder untersucht werden. Lebende Parliden müssen als Gast behandelt und einem Vertreter ihres Volkes übergeben werden.“

„Diesbezüglich haben Sie Ihre Meinung mittlerweile deutlich gemacht, I.O.“, stoppte Jayden den Redefluss. „Meine Entscheidung steht. Unser ‚Gast‘ bleibt einstweilen in Stase. Wenn wir zurück sind, werde ich das vor der Admiralität rechtfertigen. Und Ihr Protest wird natürlich im Logbuch vermerkt.“