Herausforderndes Verhalten bei Demenz - Bo Hejlskov Elvén - E-Book

Herausforderndes Verhalten bei Demenz E-Book

Bo Hejlskov Elvén

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Beschreibung

Menschen mit Demenz schlagen aus scheinbar heiterem Himmel um sich, verweigern tagelang die Morgentoilette oder rufen nächtelang "Hallo". Versucht man, eine Pflegehandlung durchzusetzen oder herausforderndes Verhalten zu unterbinden, kann die Situation schnell eskalieren. Dieses Buch beschreibt den Pflegealltag aus personzentrierter Sicht. Wie erkennt man Auslöser für herausforderndes Verhalten? Wie geht man gelassen darauf ein? Wie kann man mit einer ruhigen Atmosphäre vorbeugen? Anhand typischer Pflegesituationen werden Schritt für Schritt Strategien vorgeschlagen, die Menschen mit Demenz mehr Autonomie und Lebensqualität erleben lassen. Dafür benötigen Fachkräfte Offenheit und Flexibilität, gewinnen aber auch Sicherheit und Zufriedenheit bei ihrer verantwortungsvollen Arbeit.

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Seitenzahl: 211

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Reinhardts Gerontologische Reihe

Original-Titel: Adfærdsproblemer i ældreplejen

© 2015 The authors and Dansk Psykologisk Forlag A/S, Copenhagen.

Die Übersetzung basiert auf der englischen Ausgabe Confused – Angry – Anxious?

© 2017 Jessica Kingsley Publishers.

Bo Hejlskov Elvén, Lomma (Schweden), ist als Klinischer Psychologe in Praxis und Weiterbildung tätig.

Charlotte Agger, Kopenhagen (Dänemark), ist Pflegefachkraft und leitet ein Demenzzentrum.

Iben Ljungmann, Hillerød (Dänemark), ist Psychologin und berät Pflegeeinrichtungen für Menschen mit Demenz.

Hinweis: Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass die Autoren große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. – Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02937-2 (Print)

ISBN 978-3-497-61344-1 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61343-4 (EPUB)

© 2020 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Covermotiv: © istock.com/PeopleImages

Satz: Bernd Burkart; www.form-und-produktion.de

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Inhalt

Einführung

Teil 1:Grundsätze

1Finden Sie heraus, wer das Problem hat

2Menschen benehmen sich gut, wenn sie können

3Menschen tun immer das, was ihnen sinnvoll erscheint

4Wer die Verantwortung übernimmt, kann etwas bewirken

5Menschen mit Demenz lernen nicht mehr

6Man braucht Selbstbeherrschung, um mit anderen zu kooperieren

7Jeder tut, was er kann, um die Selbstbeherrschung zu behalten

8Affekte sind ansteckend

9Konflikte bestehen aus Lösungen und Bei Versagen muss ein Aktionsplan her

10In Pädagogik und Pflege geht es darum, die richtigen Forderungen so zu stellen, dass sie funktionieren

11Führen heißt kooperieren

Teil 2:Fallbeispiele und Aktionspläne

12Wir arbeiten in einer Autowerkstatt

13Ein Beispiel aus dem täglichen Leben

14Menschen mit großen sozialen Bedürfnissen

15Unangemessenes Verhalten

16Angehörige sind auch Menschen

17Mögliche körperliche Ursachen ausschließen

Teil 3:Zusatzmaterialien

Formen von Demenz

Personzentrierte Pflege

Material für Diskussionen

Literatur

Einführung

Vorhersagen zu treffen ist schwierig, doch eins können wir mit Gewissheit sagen: Weltweit rechnen Behörden damit, dass die Anzahl der über 80-Jährigen zwischen 2020 und 2030 um 45 Prozent steigen wird. Da das Risiko, an einer Form von Demenz zu erkranken, mit fortschreitendem Lebensalter zunimmt, besteht Grund zu der Annahme, dass in naher Zukunft immer mehr Menschen von Demenz betroffen sein werden.

Gleichzeitig hat die Anzahl der Plätze in der vollstationären Altenpflege in den meisten westlichen Ländern signifikant abgenommen, eine Entwicklung, die zu dramatischen Veränderungen in der Betreuung und Pflege älterer Menschen führt. Die Bewohner stationärer Pflegeeinrichtungen weisen heutzutage erhebliche physische und/oder geistige Beeinträchtigungen auf, sodass sie trotz weitreichender Möglichkeiten an häuslicher Pflege wie ambulante Pflegedienste und andere Hilfeangebote ihren Alltag nicht mehr allein bewältigen können. Anders als in der Vergangenheit brauchen Bewohner in Altenpflegeheimen also wesentlich mehr Unterstützung sowohl im physischen als auch im kognitiven Bereich. Dabei hat die Komplexität ihrer Probleme deutlich zugenommen, seit man davon ausgeht, dass ältere Menschen unabhängig von ihrem Gesundheitszustand in einer Pflegeeinrichtung unterkommen. So hat eine Untersuchung im Verwaltungsbezirk Kopenhagen ergeben, dass zwischen 60 und 80 Prozent der Menschen, die in einem normalen Pflegeheim leben, an Demenz leiden oder demenzähnliche Symptome zeigen. Das bedeutet, dass all jene, die mit der Pflege älterer Leute betraut sind, mit herausfordernden Verhaltensweisen zurechtkommen müssen, wie sie als Folge einer demenziellen Veränderung auftreten können. Es ist einfach Teil ihres Jobs, allerdings ein Teil, der besondere Fertigkeiten erfordert.

Auch in der Haltung den hilfsbedürftigen Menschen gegenüber hat sich ein Wandel vollzogen. Das Recht auf Selbstbestimmung und Würde ist heute eine der wesentlichen Prämissen von Pflege und Betreuung, die sich jedoch nicht ohne besonderes Wissen und besondere Fähigkeiten umsetzen lässt. So wie wir uns in Bereichen wie Hygiene und Wundversorgung spezielle Kenntnisse aneignen, sollten wir auch sicherstellen, dass die Pfleger, die sich um ältere Menschen kümmern, so ausgebildet sind, dass sie die Verhaltensweisen verstehen, die möglicherweise bei einer demenziellen Erkrankung auftreten, und mit ihnen umgehen können.

Bei unseren Gesprächen mit Mitarbeitern von Altenpflegeheimen erfuhren wir von herausfordernden Verhaltensweisen wie Schreien, Spucken, Umsichschlagen, Beschimpfungen und die Weigerung demenziell veränderter Menschen, sich bei der Körperpflege helfen zu lassen. Oft sehen sich die Mitarbeiter dann gezwungen, den Patienten zurechtzuweisen, ihn in sein Zimmer zu schicken, ihn ruhigzustellen oder physische Maßnahmen zu ergreifen und ihn in seinem Rollstuhl aus dem Raum zu schieben oder ihn mit Gewalt vom Ort des Geschehens zu entfernen. In solchen Situationen überkommt sie zwangsläufig ein Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit.

Allerdings haben wir auch beobachtet, dass sich viele ältere Menschen, darunter solche mit demenziellen Veränderungen, in schwierigen Situationen wie diesen ebenfalls ohnmächtig und hilflos zu fühlen scheinen. Sie bringen zum Ausdruck, dass sie nicht von anderen gegängelt und dem unterworfen werden wollen, was in der patientzentrierten Pflege als maligne oder bösartige Pflege bezeichnet wird. Auf diesen Punkt werden wir später zurückkommen.

Wenn diejenigen, die mit der Pflege älterer und demenziell veränderter Menschen betraut sind, ihre Haltung und ihr Verständnis dieses Problems nicht ändern, wird ihre Tätigkeit immer anstrengender und immer teurer werden. Aus diesem Grund ist ein solches Buch nötig.

Da wir bei unserer Arbeit sowohl bei den Pflegenden als auch bei vielen älteren Menschen mit so viel Ohnmacht konfrontiert wurden, richten wir bei Fortbildungen für Angehörige der Pflegeberufe unser Augenmerk vor allem auf dieses Gefühl, weil es unserer Meinung nach verheerende Folgen hat. Dabei spielt es keine Rolle, ob es Pflegekräfte, Heimbewohner oder alte Menschen betrifft, die mit Unterstützung in ihrem häuslichen Umfeld leben.

Warum sich Ohnmacht auf so drastische Weise auf ältere Menschen auswirkt, lässt sich leicht nachvollziehen. Sie sind nicht in der Lage, ihre Situation zu beeinflussen, sie haben das Gefühl, dem Personal oder der Krankheit ausgeliefert zu sein und vom Strom des Alltags mitgerissen zu werden. Je mehr ihre Fähigkeiten nachlassen, desto stärker wird das Ohnmachtsgefühl. Aus Menschen, die problemlos ihren Alltag bewältigt, vielleicht Kinder großgezogen und wie alle anderen ihren Beitrag zur Gemeinschaft geleistet haben, sind Menschen geworden, die auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Möglicherweise ist ihnen auch bewusst, dass ihre Abhängigkeit in Zukunft noch größer werden wird.

Auf die Pflegenden wirkt sich das Gefühl der Ohnmacht jedoch ebenso verheerend aus. Hilflose Mitarbeiter werden häufig streitlustig und fordernd oder zynisch und resigniert, was dazu führen kann, dass sie genau den Menschen aus dem Weg gehen, für die sie sorgen sollen, und lieber im Büro oder im Pausenraum sitzen, statt den Kontakt zu den Bewohnern zu suchen.

Am schlimmsten macht sich die Ohnmacht, die Pflegende wie Bewohner gleichermaßen spüren, wahrscheinlich im System selbst bemerkbar. Sie wird nicht als gemeinsames Problem wahrgenommen, sondern treibt im Gegenteil einen Keil zwischen die älteren Menschen und die Pflegekräfte. Auf diese Weise kann eine Atmosphäre gegenseitigen Misstrauens zwischen den beiden Gruppen entstehen, die sich in harten Worten und manchmal in Handgreiflichkeiten äußert. Bei Menschen mit Demenz kann sie in Form von Schlägen und Tritten zum Vorschein kommen, bei den Mitarbeitern in Form von körperlicher Gewalt, wenn sie die Bewohner gegen ihren Willen in ihre Zimmer bringen oder sie im äußersten Fall fixieren.

Alle Beteiligten können sich nur allzu leicht in Situationen wiederfinden, in denen ihre Verhaltensweisen und Methoden nicht so funktionieren, wie sie es erwarten. Das ist die allerschlimmste Folge der Ohnmacht.

Mehr Informationen und effizientes, professionelles Handeln

Mit diesem Buch wollen wir vor allem Ihnen, die Sie mit demenziell veränderten Menschen arbeiten, mehr Informationen über die verschiedenen herausfordernden Verhaltensweisen geben, sodass Sie effizient, professionell und souverän damit umgehen können. Das Verständnis dieser Verhaltensweisen und der in diesem Buch beschriebenen Methoden wird Ihnen und Ihren Kollegen helfen, Ihrem Arbeitsalltag eine positive Richtung zu geben.

Dabei geht es in erster Linie darum, das eigene Verhalten und den Umgang mit schwierigen Situationen zu betrachten. Forschungen haben gezeigt, dass die Veränderung des eigenen Verhaltens der beste Weg ist, mit dem Verhalten anderer umzugehen.

Das wichtigste Ziel bei der Pflege älterer Menschen mit Demenz

Bei der Pflege älterer Menschen, egal ob sie an Demenz leiden oder nicht, geht es vor allem darum, ihnen die Unterstützung zu gewähren, die sie im Alltag brauchen, um ein möglichst erfülltes Leben führen zu können. Wenn sie jedoch demenzielle Veränderungen und das oft damit einhergehende herausfordernde Verhalten aufweisen, wird die Arbeit für die Pflegenden schwieriger. Um so ruhig und locker wie möglich mit diesen Verhaltensweisen umzugehen, sollten sich die Pflegekräfte auf ihre wesentliche Funktion konzentrieren. Ihre Aufgabe besteht dann nicht darin, die Menschen mit Demenz zu maßregeln oder ihnen richtiges Benehmen beizubringen, sondern vielmehr darin, ihre negativen Verhaltensweisen zu steuern und zu verhindern, um ihnen ein funktionierendes Leben zu ermöglichen. Vorzugsweise auf eine Art, die nicht allzu viel Zeit, Energie und Raum in Anspruch nimmt. Es ist nicht die Aufgabe der Menschen mit Demenz, sich zu benehmen. Eher ist es die Aufgabe der Pflegenden, einen Kontext zu schaffen, in dem das alltägliche Leben dieser Menschen funktionieren kann.

Dieses Buch verfolgt zwei Ziele: Es will Sie als jemanden, der mit älteren demenziell veränderten Menschen arbeitet, in die Lage versetzen, mit diesen Menschen zu denken, zu handeln und interagieren zu können, gleichgültig, ob sie in einer stationären Pflegeeinrichtung oder in ihrer häuslichen Umgebung leben. Und es will Ihnen zeigen, wie Sie dabei dafür sorgen, dass alle älteren demenziell veränderten Menschen ein funktionierendes Leben aufrechthalten können, in dem sie autonom und in der Lage sind, Verantwortung für ihr eigenes Handeln zu übernehmen.

Verschiedene Arten von Demenzerkrankungen

Wenn von Demenz die Rede ist, sollte man immer bedenken, dass sich diese Krankheit nicht bei allen Menschen auf die gleiche Weise manifestiert. Es gibt unterschiedliche Arten von Demenz, die jeweils unterschiedliche Auswirkungen auf das Verhalten der Betroffenen haben. Bei einem Buch wie diesem, in dem es um herausforderndes Verhalten geht, ist es vor allem wichtig, sich der verschiedenen Demenzen und ihrer Ausdrucksformen bewusst zu sein. Daher enthalten die Zusatzmaterialien im Anhang einen Überblick über die vier häufigsten Arten von Demenz: Alzheimer-Krankheit, vaskuläre Demenz, frontotemporale Demenz und Lewy-Körper-Demenz. Neben diesen vier Arten gibt es viele weitere, allerdings seltenere Formen und oft leiden Betroffene an mehreren Formen gleichzeitig.

Die Szenen, die im Buch geschildert werden, sind zwar anonymisiert, haben sich aber in verschiedenen Pflegeeinrichtungen tatsächlich so zugetragen. Dabei handelte es sich entweder um spezielle Stationen für Menschen mit Demenz oder um ganz normale Altenpflegeheime. Bei unseren Darstellungen haben wir bewusst darauf verzichtet, die Art von demenzieller Erkrankung zu nennen, an der die Betroffenen leiden, da wir grundsätzlich davon ausgehen, dass die Entscheidung der Pflegenden für oder gegen eine bestimmte Herangehensweise nicht von der Demenzdiagnose selbst abhängen sollte. Der entscheidende Faktor sollte vielmehr eine personzentrierte Haltung sein, bei der die Ressourcen und Fähigkeiten, Einschränkungen, Interessen, Verhaltens- und Reaktionsmuster eines jeden Individuums identifiziert werden, wenn sich der demenziell veränderte Mensch in einem der unterschiedlichen Stadien psychischer Anspannung befindet. Bevor Sie weiterlesen, sollten Sie sich mithilfe der im Anhang dargestellten Formen demenzieller Veränderung und ihrer Folgen einen generellen Überblick über die kognitiven Schwierigkeiten und Symptome verschaffen, die bei den unterschiedlichen Arten von Demenz auftreten können, sodass Sie im Alltag erkennen und verstehen, warum jemand ein bestimmtes Verhalten an den Tag legt. So kann es hilfreich sein, zu wissen, dass Menschen mit einer bestimmten Demenzform zu Halluzinationen neigen, für die aber bei einer Lewy-Körper-Demenz eine Behandlung mit antipsychotischen Medikamenten nicht infrage kommt, weil sie ohne Wirkung auf die Halluzinationen bleibt.

Nur wenn man verstehen lernt, welchen spezifischen Problemen ein Mensch mit Demenz gegenübersteht, kann man ein Gespür dafür entwickeln, was bei der nächsten schwierigen Situation mit diesem Menschen funktioniert. In einen Blumentopf im Wohnzimmer zu urinieren kann z. B. die Folge bestimmter Arten von Hirnschädigungen sein. Möglicherweise leidet der Betroffene an einem Frontalhirnsyndrom und es ist ihm egal, wohin er uriniert. Es kann aber auch sein, dass er aufgrund seiner Alzheimer-Krankheit seine Umgebung falsch interpretiert und den Blumentopf als eine Toilette oder einen Baum im Garten sieht, an dem er sich erleichtern kann. Außerdem kann ein generelles Verständnis der unterschiedlichen Demenzformen eine Inspirationsquelle für pädagogische Lösungen sein. So könnten Sie einem Patienten mit frontotemporaler Demenz ruhig und deutlich erklären, wo er sich stattdessen erleichtern sollte. Bei Alzheimer-Patienten müssen Sie mit Hinweisen auf Fehler oder Defizite jedoch sehr vorsichtig sein, weil sie sich tatsächlich sehr schämen. Und natürlich wollen Sie nicht, dass sich jemand schämt, denn das ist einer der Grundgedanken der personzentrierten Pflege.

Personzentrierte Pflege

Die Pflege alter Menschen verschob sich von der Bereitstellung von Plätzen in der stationären Altenpflege für diejenigen alten Menschen, die weitgehend gesund waren, einerseits und von Krankenhausbetten für körperlich Kranke und ältere Menschen mit Demenz andererseits hin zu der Pflege von heute, bei der nahezu jeder Hilfe bekommt, der irgendeine Art von funktionaler Beeinträchtigung aufweist. Parallel zu dieser Verschiebung ist in Großbritannien eine Pflegephilosophie aufgekommen, die man als „personzentrierte Pflege“ bezeichnet. Die Grundzüge dieses Ansatzes hat der britische Psychologe Tom Kitwood entwickelt. Sie sind seitdem weltweit umgesetzt und weiterentwickelt und sogar in andere Pflegebereiche wie Geburtshilfe und Allgemeinmedizin übertragen worden. Tom Kitwoods zentraler Punkt besagt, dass der Mensch wichtiger ist als die Diagnose. Als Pflegender müssen Sie als Allererstes den Menschen sehen, nicht seine Diagnose.

Dabei handelt es sich um einen zutiefst humanistischen Gedanken. Schließlich sind wir alle Menschen und sollten nicht als Pflegegegenstand betrachtet werden. Tom Kitwood stellte fest, dass sich diejenigen, die wie Individuen behandelt werden, eher wie Menschen verhalten als wenn sie als Pflegegegenstand gelten. Das bedeutet, dass die Qualität der Pflege einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich die Krankheit auf einen Menschen mit Demenz auswirkt.

Laut Kitwood versetzt ein Pflegestandard, der auf fünf wichtigen psychologischen Grundbedürfnissen beruht, einen Menschen mit Demenz in die Lage, besser mit seiner Krankheit zurechtzukommen und über einen längeren Zeitraum ein höheres Niveau an Funktionalität aufrechtzuhalten. Diese fünf Grundbedürfnisse sind:

1.Trost. Der demenziell veränderte Mensch bekommt Trost in Form von Zärtlichkeit, Nähe, Linderung von Ängsten und Kummer, Beschwichtigungen und dem Gefühl der Geborgenheit, das der Kontakt mit anderen Menschen mit sich bringt. Außerdem bedeutet es, dass die Pfleger die Dinge zusammenhalten, falls sie auseinanderzubrechen drohen. Wenn der Betroffene die Kontrolle verliert, darf das Personal sie nicht auch noch verlieren, sondern muss ihm helfen, die Kontrolle wiederzuerlangen.

2.Primäre Bindung. Der demenziell veränderte Mensch sucht in seinem Kontakt zu anderen die Bestätigung, dass er wertgeschätzt wird, unabhängig von seiner persönlichen Krise. „Sie mögen mich, auch wenn ich gerade einen schlechten Tag habe.“ Es bedeutet auch, dass die Pfleger die Wahrnehmung des Betroffenen als Ausgangspunkt nimmt und sie respektiert.

3.Einbeziehung. Damit ist der Wunsch der Betroffenen nach Zugehörigkeit zu einem größeren Zusammenhang und nach dem Gefühl gemeint, ein unerlässlicher Bestandteil einer Gruppe zu sein, ohne den die Gruppe nicht so gut zurechtkäme.

4.Beschäftigung. Dieser Begriff bezeichnet das Verlangen von Menschen mit Demenz, in bedeutsame Aktivitäten eingebunden zu werden, die seine Fähigkeiten und seine Biographie berücksichtigen. Damit sind auch alltägliche Verrichtungen und das Leben an sich gemeint.

5.Identität. Damit ist gemeint, dass ein demenziell veränderter Mensch einen Identitätssinn hat, weiß, wer er ist und „seine eigene Geschichte erzählen“ kann. Der Begriff umfasst auch das Recht, gesehen, gehört und ernstgenommen zu werden.

Es gibt jedoch auch bösartige Pflege und Betreuung, die das Fortschreiten der Krankheit beschleunigen und oft herausforderndes Verhalten zur Folge haben. Tom Kitwood nennt siebzehn Aspekte dieses Pflegestils, die im Anhang unter „Zusatzmaterialien“ vorgestellt und analysiert werden. Sie charakterisieren eine Pflege, die die Identität, die Ressourcen und die Fähigkeit ignoriert, als unabhängiger Mensch und soziales Wesen zu handeln.

Die personzentrierte Arbeit mit Menschen mit Demenz erfordert ständiges Engagement. Als Pflegender entwickelt man leicht den Wunsch, zu erziehen oder das Verhalten von Patienten mithilfe von Belehrungen zu lenken. Allerdings setzen sowohl Erziehung als auch belehrendes Lenken eine Lernfähigkeit voraus, und eine Demenzerkrankung bedeutet, dass man nicht mehr so gut lernen kann.

Personzentrierte Pflege und der Low-Arousal-Ansatz

Die grundlegende Prämisse dieses Buches ist es, eine Verbindung zwischen Methoden der personzentrierten Pflege und dem Low-Arousal-Ansatz herzustellen (eine Methode, mit herausforderndem Verhalten umzugehen. Sie lässt sich am besten anhand der Grundsätze beschreiben, die die Kapitelüberschriften dieses Buches bilden.), da die beiden Methoden oder pädagogischen Ansätze sich gegenseitig ergänzen. Es ist leichter, personzentriert zu arbeiten, wenn Sie praktische Methoden an der Hand haben, mit herausforderndem Verhalten umzugehen. Gleichzeitig ist es leichter, den Low-Arousal-Ansatz umzusetzen, wenn Sie mit der Philosophie der personzentrierten Pflege vertraut sind.

Wir, die Autoren dieses Buches, arbeiten auf unterschiedliche Weise sowohl mit dem Low-Arousal-Ansatz als auch mit der personzentrierten Pflege. Für Bo Hejlskov Elvén als Psychologen ist der Low-Arousal-Ansatz fundamental, während Charlotte Agger und Iben Ljungmann, die beide ein Demenzzentrum leiten, die personzentrierte Herangehensweise besonders wichtig ist.

Dieses Buch lesen

Der Sinn dieses Buches besteht darin, eine Offenheit zu schaffen, die mit Begriffen wie „gesunder Menschenverstand“ und „Chemie“ aufräumt. Diese Begriffe werden meist dann eingesetzt, wenn uns kein schlüssiges Argument einfällt, warum wir das tun, was wir gerade tun. Außerdem will das Buch Sie als Pflegende älterer Menschen, vor allem Menschen mit Demenz, dahin führen, dass Sie versuchen, anders, rücksichtsvoller, respektvoller und effizienter zu denken und zu handeln. Dafür braucht es neben Offenheit jedoch auch Flexibilität.

Der erste Teil des Buches ist in elf Kapitel unterteilt, von denen sich jedes einem Prinzip widmet, das an mindestens einem realen Beispiel veranschaulicht wird. Die Prinzipien gründen auf Forschungen, die sich speziell mit herausforderndem Verhalten beschäftigen. Manche scheinen von unserem normalen Denken weit entfernt zu sein. Doch dass Sie sich entschieden haben, dieses Buch zu lesen, legt die Vermutung nahe, dass sich die Prinzipien, nach denen Sie bisher gehandelt haben, als unbrauchbar erwiesen haben. In jedem Kapitel betrachten wir auch die Reaktionen der Pflegenden auf verschiedene Situationen im Lichte der verschiedenen Prinzipien.

Der zweite Teil des Buches besteht aus Fallstudien realer Interaktionen zwischen älteren Menschen und Personal. Hier betrachten wir die Situationen ein wenig breiter gefasst, vor dem Hintergrund der Prinzipien, wie sie im ersten Teil beschrieben werden. Das hilft verstehen, was wirklich passiert, und darauf basierend lassen sich mögliche Strategien formulieren. Die Idee ist, Ihnen als Pflegenden praktische Methoden und einen generellen Ansatz an die Hand zu geben, den Sie bei Ihrer Arbeit mit alten und demenziell veränderten Menschen einsetzen können. Denn wir sind überzeugt, dass Sie oft auf solche Situationen stoßen, wie wir sie beschreiben.

In diesem Buch haben wir uns dort, wo wir z. B. „der/die Pfleger/in“ hätten schreiben können, für „der Pfleger“ entschieden. Das geschah allein aus praktischen Erwägungen, um den Text lesbarer zu machen. Aus demselben Grund verwenden wir die Begriffe „ältere Menschen“ oder „alte Menschen“, obwohl in den meisten Fällen Menschen mit Demenz aller Altersstufen gemeint sind. Und anstatt das Buch mit Fußnoten zu überschwemmen, haben wir im Anhang Kapitel für Kapitel die Sachbücher aufgeführt, in denen Sie die im Text vorgestellten Forschungen und Theorien nachlesen können. Auch das dient der Lesbarkeit des Textes. Im Anhang finden Sie außerdem zu jedem Kapitel Anregungen für Gruppendiskussionen mit Ihrem Team. Jede Diskussion sollte etwa eine Viertel- bis halbe Stunde dauern, sie eignen sich als Schlusspunkt für die wöchentliche Teamsitzung oder ähnliche Zusammenkünfte.

Teil 1:      Grundsätze

1Finden Sie heraus, wer das Problem hat

BEISPIEL

Dora

Dora kam Mitte April in die Kurzzeitpflege. Auf ihren unruhigen Wanderungen über die Station taucht sie immer wieder im Dienstzimmer auf und bittet um ihre Schlüssel, weil sie nach Hause in ihre Wohnung zurückkehren will. Auch heute verlangt Dora wieder nach ihren Schlüsseln. Sie besteht darauf, dass man sie ihr aushändigt. Lisa, die gerade im Dienstzimmer ist, droht sie mit sehr aggressiver Stimme: „Ich will meine Schlüssel, und wenn Sie sie mir nicht geben, gehe ich zur Polizei. Ich weiß, dass Sie sie verstecken.“ Dann beginnt sie, in Kisten und Schränken herumzuwühlen. Als Lisa sie auffordert, damit aufzuhören, geht sie weg. Kurz darauf sieht Lisa, wie Dora die Straße überquert. Sie ist auf dem Weg nach Hause.

Probleme und Lösungen

Der Grundsatz „Finden Sie heraus, wer das Problem hat“ ist einfach. Bei dem Beispiel von Dora endet eine schwierige Situation damit, dass sie geht. Für die Pfleger ist das ein großes Problem. Für Dora ist es eine Lösung. Für sie besteht kaum ein Grund, ihr Verhalten zu ändern. Sie hat eine hervorragende Lösung für ein schwieriges Problem gefunden. Die Pfleger stehen jedoch vor einem Dilemma. Für jemanden verantwortlich zu sein, der sich nicht zurechtfindet, ist ein großes Problem, vor allem, wenn derjenige in seine alte Wohnung zurückwill.

Wenn die Pfleger in dieser Situation zu dem Schluss kommen, dass Dora diejenige mit dem Problem ist, wird es kompliziert, weil sie dann von ihr verlangen, dass sie ihr Verhalten ändert. Für Dora ist es jedoch keinesfalls problematisch, dass sie aus dem Pflegeheim verschwindet, und sie hat nicht vor, eine gute Lösung gegen eine schlechte einzutauschen. Vielmehr müssen Lisa und ihre Kollegen dafür sorgen, dass es gar nicht so weit kommt. Bei ihnen muss der Anreiz, ihr eigenes Verhalten anzupassen, größer sein als bei Dora. Sie sind die Profis. Dora dagegen ist eine Bewohnerin in Kurzzeitpflege. Sie hat nachweislich Schwierigkeiten, ihren Alltag zu bewältigen. Die aktuelle Situation lässt sich dadurch entschärfen, dass ein Pfleger hinter Dora hergeht. Im nächsten Schritt müssen die Pfleger verhindern, dass sich die Situation wiederholt. Dora einzusperren, um sie besser unter Kontrolle zu haben, ist keine Lösung. Außerdem wäre eine solche Maßnahme weder legal noch vernünftig. Pflegende dürfen keine Gewalt anwenden, um die Kontrolle zu behalten.

BEISPIEL

Dora

Lisa folgt Dora. Sie läuft nicht, sondern geht ihr ruhig und unaufgeregt nach, bis sie sie eingeholt hat. Lisa fragt: „Was machen Sie, wenn Sie nach Hause kommen?“ „Ich will nach Hause, weil es da warm ist“, sagt Dora und reibt sich die nackten Arme. „Ist Ihnen kalt?“, fragt Lisa. „Möchten Sie einen warmen Pullover anziehen? Kommen Sie, wir gehen rein und suchen Ihnen einen warmen Pullover heraus.“ Zusammen kehren sie ins Heim zurück und holen einen Pullover aus dem Schrank, den Dora anzieht. Dora setzt sich ins Wohnzimmer, lächelt und winkt Lisa zu, die wieder ins Dienstzimmer geht.

BEISPIEL

Frederick

Frederick kommt aus seinem Zimmer gestürmt und ruft: „Feuer, Feuer!“ Einige Pfleger eilen herbei und stellen schnell fest, dass es nirgendwo brennt. Dunja, eine Pflegeassistentin, erklärt ihm: „Nein, hier ist kein Feuer. Kein Feuer und kein Rauch.“ Frederick schiebt sie beiseite und schreit: „Feuer, Feuer!“, während er den Flur hinunterhastet.

Dunja folgt ihm mit einigen Kollegen. Gemeinsam versuchen sie, ihn festzuhalten, doch er schlägt nach ihnen und ruft umso lauter. Die Pfleger alarmieren die Stationsschwester und erklären ihr, dass Frederick vollkommen paranoid sei und ein Beruhigungsmittel brauche. Die Schwester geht zu Frederick und fragt ihn: „Wo brennt es denn?“ Frederick hört auf zu rufen und antwortet: „Im Bein, im Bein.“ Die Schwester fragt ihn: „Tut Ihnen das Bein weh? Möchten Sie etwas gegen die Schmerzen?“ Offensichtlich erleichtert lässt sich Frederick in einen Sessel sinken und meint: „Ja, bitte. Gut, dass Sie gekommen sind.“

Auch für Fredericks Verhalten gibt es einen Grund. Ihm tut das Bein weh, aber er versteht es nicht. Seine Interpretation, dass es irgendwo brennt, resultiert aus seiner Unfähigkeit, die Schmerzen in einen Kontext einzubetten. Da er glaubt, etwas habe Feuer gefangen, ist es für ihn nur folgerichtig, dass er aus seinem Zimmer gelaufen kommt und Hilfe holen will.

Dunja und die anderen Mitarbeiter verstehen nicht, was vor sich geht. Zuerst versuchen sie, Fredericks Wahrnehmung zu korrigieren (eine Form des Lenkens ohne Rücksicht auf seine Wahrnehmung), und als das nicht funktioniert, kommen sie zu dem Schluss, dass er ein Sedativum braucht, um sich zu beruhigen. Für sie ist Fredericks Herumlaufen und Rufen ein Problem. Für Frederick ist es jedoch eine Lösung. Sein Problem ist natürlich, dass er Schmerzen hat. Erst als die Pflegekraft ihn fragt, was er erlebt, hat der Rest der Belegschaft Zugang zu seinem Problem, sodass es gelöst werden kann. Und dadurch wird auch das Problem der Mitarbeiter gelöst. Von Frederick zu erwarten, dass er das Problem des Mitarbeiterstabs löst, ist weder realistisch noch vorausschauend gedacht. Daher ist es auch nicht hilfreich, wenn sie Frederick auffordern, ruhig zu sein, oder ihm zeigen, dass im Haus kein Feuer ausgebrochen ist.