Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit psychischen Störungen - Bo Hejlskov Elvén - E-Book

Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit psychischen Störungen E-Book

Bo Hejlskov Elvén

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Beschreibung

Klienten in der psychiatrischen Versorgung zeigen mitunter Verhaltensweisen, die Teammitglieder herausfordern können, wie agitiertes, ängstliches, desorientiertes, gewalttätiges, manipulatives, selbstverletzendes und suizidandrohendes Verhalten. Auf diese Verhaltensweisen angemessen zu reagieren, zu deeskalieren und eine bedürfnisgerechte Lösung zu finden ist fachlich und menschlich schwierig. Welche Lösungen in diesen herausfordernden Situationen machbar und praktikabel sein können, zeigen der erfahrene Psychologe Bo Hejlskov Eléven und die psychiatrie-erfahrene Sophie Abild McFarlane. Sie legen ein Praxishandbuch vor, das - Erklärungsansätze bietet, um herausforderndes Verhalten in der Psychiatrie zu verstehen - handlungsleitende Prinzipien anbietet, um gekonnt sich selbst, die Situation und den Klienten zu reflektieren - einen «Werkzeugkoffer» mit Verhaltens-/Handlungsanweisungen bereitstellt, um freundlich, sanft und effektiv mit herausfordernden Verhaltensweisen umgehen zu können.Die Autoren zeigen zahlreiche Beispiele und Möglichkeiten, wie Pflegende ein positives Milieu und eine angenehme und sichere Umgebung für Menschen mit psychischen Problemen schaffen können. Sie zeigen, wie Pflegende beruhigend auf Menschen mit psychischen Problemen einwirken können und so zu einer positiv veränderten Arbeits- und Behandlungsatmosphäre beitragen können. Die 2. Auflage wurde überarbeitet und ergänzt um - an Bedürfnissen und Stresstoleranz orientierten Erklärungsmodellen zu herausfordernden Verhaltensweisen (NDB, PLST) und ihre Bedeutung bei psychischen Erkrankungen - den Umgang mit herausforderndem Verhalten im recovery-orientierten Gezeitenmodell - eine gelassene Begegnung von herausforderndem Verhalten mit Humor und Heiterkeit - ein Gespräch über herausforderndes Verhalten zwischen einer psychiatrieerfahrenen und einer Pflegefachperson.

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Bo Hejlskov Elvén

Sophie Abild McFarlane

Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit psychischen Störungen

Praxisbuch für Pflege und Gesundheitsberufe

2., überarbeitete und erweiterte Auflage

Aus dem Englischen von Gabriella Frank

Deutschsprachige Ausgabe herausgegeben von Christoph Müller

Mit Beiträgen von

Jürgen Georg

Christoph Müller

Christian Zechert

Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit psychischen Störungen

Bo Hejlskov Elvén, Sophie Abild McFarlane

Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Pflege:

André Fringer, Winterthur, Jürgen Osterbrink, Salzburg; Doris Schaeffer, Bielefeld; Christine Sowinski, Köln; Angelika Zegelin, Dortmund

Bo Hejlskov Elvén. Klinischer Diplom-Psychologe, Dozent und Berater für die Themen „Autismus“ und „herausforderndes Verhalten“, Lomma, Schweden

E-Mail: [email protected]

Website: www.hejlskov.se

Sophie Abild McFarlane. Expertin aus Erfahrung in der psychiatrischen Versorgung. Peer-Supporterin auf einer Psychose-Station, Malmö, Schweden

Christoph Müller. (Dt. Hrsg.) Psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Dozent, Pflegejournalist und Redakteur der Fachzeitschrift „Psychiatrische Pflege“, Wesseling

E-Mail: [email protected]

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

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Anregungen und Zuschriften bitte an:

Hogrefe AG

Lektorat Pflege

z.Hd. Jürgen Georg

Länggass-Strasse 76

CH-3012 Bern

Schweiz

Tel. +41 31 300 45 00

[email protected]

www.hogrefe.ch

Lektorat: Jürgen Georg, Martina Kasper, Alissa Leuthold

Bearbeitung: Christoph Müller

Übersetzung: Gabriella Frank

Herstellung: René Tschirren

Umschlagabbildung: Getty Images/CaiaImages

Umschlag: Claude Borer, Riehen

Kapiteltrenner (Innenteil): Bettina vom Eyser, Wesseling

Satz: punktgenau GmbH, Bühl

Das vorliegende Buch ist eine Übersetzung aus dem Englischen. Der Originaltitel lautet „Frightened, Disturbed, Dangerous – Why working with patients in psychiatric care can be really difficult, and what to do about it“ von Bo Hejlskov Elvén und Sophie Abild McFarlane.

© 2017. Bo Hejlskov Eléven und Sophie Abild McFarlane. First published by Jessica Kingsley Publishers, London/Philadelphia.

Format: EPUB

2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2024

© 2024 Hogrefe Verlag, Bern

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96328-0)

(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76328-6)

ISBN 978-3-456-86328-3

https://doi.org/10.1024/86328-000

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Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

Teil I: Prinzipien

1 Prüfen, wer ein Problem hat

1.1 Wer löst Frau Kuhns Problem?

1.2 Patienten lösen keine Probleme

1.3 Zusammenfassung

1.4 Weiterführende Literatur

2 Menschliches Verhalten nach individuellen Fähigkeiten

2.1 Fähigkeiten, Anforderungen und Erwartungen

2.2 Eigenschaften und Normalverteilung

2.3 Individuelle Fähigkeiten

2.4 Herausforderndes Verhalten ist Teil des Alltags

2.5 Überhöhte Ansprüche

2.6 Rücksicht auf Bedürfnisse nehmen

2.7 Zusammenfassung

2.8 Weiterführende Literatur

3 Sinnvoll erscheinende Handlungen

3.1 Handlungen, die Sinn ergeben

3.2 Regeln, die keinen Sinn ergeben

3.3 Kunstgriffe für eine sinnvolle Alltagsgestaltung

3.4 Zusammenfassung

3.5 Weiterführende Literatur

4 Verantwortungsübernahme

4.1 Wer trägt die Verantwortung?

4.2 Konsequenzen und Bestrafung

4.3 Grenzen unserer Fähigkeiten

4.4 Zusammenfassung

4.5 Literatur und weiterführende Literatur

5 Misserfolge und Lernen

5.1 Lernen wir aus Erfolgen oder Misserfolgen?

5.2 Warum Maßregelung nicht funktioniert

5.3 Wie ein Verlierer aus Erfolgen lernt

5.4 Zusammenfassung

5.5 Literatur und Weiterführende Literatur

6 Zusammenarbeit und Affektregulation

6.1 Wenn Menschen im Affekt handeln

6.2 Das Modell der Affektregulation

6.3 Phasen der Affektregulation

6.4 Zusammenfassung

6.5 Literatur und Weiterführende Literatur

7 Beherrschung nicht verlieren

7.1 Das Beste geben

7.2 Alternative Strategien anbieten

7.3 Zusammenfassung

7.4 Weiterführende Literatur

8 Affektübertragung

8.1 Spiegelneuronen

8.2 Wirkung unserer Reaktionen auf Patienten

8.3 Warum der Gewinner verliert

8.4 Zusammenfassung

8.5 Weiterführende Literatur

9 Konfliktlösungen und Handlungsplan

9.1 Warum Konflikte aus Lösungsversuchen bestehen

9.2 Wenn das Personal gewinnen will

9.3 Bei Versagen ist ein Handlungsplan erforderlich

9.4 Körperliche Zwangsmaßnahmen vermeiden

9.5 Mehrfach fixieren ist eine Methode

9.6 Zusammenfassung

9.7 Weiterführende Literatur

10 Alltagsanforderungen und eingeschränkte Patientenautonomie

10.1 Übliche Anforderungen des Alltags

10.2 Einschränkung der Patientenautonomie

10.3 Sich Zustimmung einholen

10.4 Sinnvolle Strukturen schaffen

10.5 Ablenken anstatt Grenzen setzen

10.6 Zusammenfassung

10.7 Literatur und Weiterführende Literatur

11 Zuerkannte Autorität

11.1 Der Hobbessche Staat

11.2 Autorität gewinnen und Macht verstehen

11.3 Macht verdienen

11.4 Allen Bürgern steht Meinungsfreiheit zu

11.5 Die Meinungsfreiheit der Patienten

11.6 Das Recht, Autoritätspersonen zu kritisieren

11.7 Autorität und Führung

11.8 Zusammenfassung

11.9 Weiterführende Literatur

Teil II: Fallstudien und Handlungspläne

12 Wir arbeiten in einer Werkstatt

12.1 Die Ausreden des Mechanikers

12.2 Die Ausreden des Pflegepersonals

12.3 Falschparken

12.4 Zusammenfassung

12.5 Weiterführende Literatur

13 Fallstudien und Handlungspläne

13.1 Ein guter Handlungsplan

13.2 Unpassend formulierte Aufforderung

13.3 Zerstörtes Vertrauen und nur Verlierer

13.4 Konfliktsituationen wiederholen sich

13.5 Konfliktsituationen verhindern

13.5.1 Die Alltagsphase

13.5.2 Die Eskalationsphase

13.5.3 Die Chaosphase

13.5.4 Die Deeskalationsphase

13.6 Professionalisierung: auf die Methode fokussieren

13.7 Lösungsversuche, die Konflikte eskalieren lassen

13.8 Was muss im Alltag geändert werden?

13.9 Gewalttätige Konflikte verhindern

13.10 Für Entspannung sorgen

13.11 Konfliktprävention ist wichtig

13.12 Soziale Bedürfnisse

13.13 Literatur und Weiterführende Literatur

14 Das Prinzip des rücksichtsvollen Umgangs

14.1 Die kleinen Details

14.2 Klare Ziele und Beteiligung

Teil III: Arbeitsmaterial

15 Teil I: Prinzipien

16 Teil II: Fallstudien und Handlungspläne

Teil IV: Herausforderndes Verhalten bei seelisch erkrankten Menschen

17 Herausforderndes Verhalten: Einordnung in die PsychiatrieChristoph Müller

17.1 Literatur

18 Herausforderndes Verhalten und das Gezeiten-ModellChristoph Müller

18.1 Gespür entwickeln

18.2 Alltägliche Interaktion

18.3 Weg zur Lebensgeschichte

18.4 Literatur

19 Herausforderndes Verhalten, Humor und HeiterkeitChristoph Müller

19.1 Was ist herausforderndes Verhalten?

19.2 Wie kommt es zu herausforderndem Verhalten?

19.3 Was ist Heiterkeit?

19.4 Die Figur des Clowns

19.5 Interaktionelle Pflege nach Hildegard Peplau

19.6 Therapeutischer Humorprozess

19.7 Was hat das herausfordernde Verhalten mit dem Clown zu tun?

19.8 Von der Not, die Perspektive zu verändern

19.9 Literatur

20 Von Symptomträgern und einem FreispruchChristoph Müller im Gespräch mit Christian Zechert

20.1 Weiterführende Literatur

21 Herausforderndes Verhalten einschätzen und verstehenJürgen Georg und Christoph Müller

21.1 Vorkommen herausfordernden Verhaltens in der Praxis

21.2 Ansätze zum Verständnis herausfordernden Verhaltens

21.2.1 Das Adaptation-Coping-Modell

21.2.2 Das Modell der unbefriedigten Bedürfnisse

21.2.3 Das Modell der niedrigeren Stressschwelle

21.3 Herausforderndes Verhalten im Pflegeprozess

21.3.1 Pflegeassessment herausfordernden Verhaltens

21.3.2 Pflegediagnosen und herausforderndes Verhalten

21.3.3 Pflegeinterventionen bei herausforderndem Verhalten

21.4 Literatur

Anhang

Nachwort des deutschen HerausgebersChristoph Müller

Autor*innen- und Herausgeberverzeichnis

Psychiatrische Pflege im Hogrefe Verlag

Sachwortverzeichnis

|11|Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

im Umgang mit Menschen, deren Seelen aus dem Gleichgewicht geraten sind, ist herausforderndes Verhalten an der Tagesordnung. Dies verwundert nicht. Eine seelische Erkrankung ist immer auch mit einer Orientierungs- und Hilflosigkeit im Erleben und Verhalten verbunden. Der krisenhafte Zustand sorgt dafür, dass eine größere Verletzlichkeit gegeben ist. Und diese Verletzlichkeit bei den Betroffenen lässt Eskalationsspiralen rascher voranschreiten.

Das herausfordernde Verhalten ist grundsätzlich für diejenigen ein Problem, die damit umgehen müssen – als An- oder Zugehörige oder als professionell Tätige. Auffälliges Verhalten ist in der Interaktion mit dem sozialen Umfeld eines Menschen v. a. im Fokus. Den älteren Angehörigen fällt es schwer, wenn der demenziell veränderte Lebenspartner ständig in der gemeinsamen Wohnung umherläuft. Die Nachbarn können kaum damit umgehen, dass die junge Frau in der akuten Psychose zu jeder Tages-und Nachtzeit herumschreit und häufig die Menschen weckt. Der manische Mensch lässt sich in seinem Aktionsdrang nicht begrenzen.

Herausforderndes Verhalten hat etwas Wechselseitiges. Auf eine Aktion folgt konsequent eine Reaktion. So erscheint es natürlich, dass bei den Menschen, die mit auffälligem Verhalten konfrontiert werden, leibliche oder auch emotionale Reaktionen wachgerufen werden. Dem Nicht-Betroffenen gelingt es in vielen Momenten nicht mehr, den eigenen Verstand stärker sein zu lassen. Dies führt dazu, dass der Umgang mit herausforderndem Verhalten schwerfällt oder gar unmöglich gemacht wird.

Wenn ein Mensch herausforderndes Verhalten zeigt, so ist dies sicher ein Signal dafür, wie es ihm oder ihr geht. Herausforderndes Verhalten ist ein Gradmesser dafür, wie ausgeprägt seine Orientierungs- und Hilflosigkeit ist. Je hilfloser sich jemand fühlt, umso schwieriger fällt der Umgang mit ihm oder mit ihr.

So gegenwärtig auffälliges Verhalten im Miteinander mit seelisch erkrankten Menschen ist, so dürftig ist die Literatur zu diesem häufig aufkommenden Phä|12|nomen. Der Blick in die Regale von Bibliotheken und Buchhandlungen zeigt, dass die Beschäftigung mit herausforderndem Verhalten bei Menschen mit einer geistigen Behinderung oder einer Demenz, bei Menschen mit Autismus oder verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen zu gelungenen Publikationen geführt hat. Startet man die Suche nach spezifischer Literatur zu herausforderndem Verhalten mit psychischen Erkrankungen, so bleiben die Entdeckungen begrenzt. Das Buch „Schreckhaft, verstört, gefährlich?“ füllt eine Lücke, die es immer noch gibt.

Bo Hejlskov Elvén und Sophie Abild McFarlane sind ein Autoren-Tandem, das für die Auseinandersetzung mit herausforderndem Verhalten bei seelischen Erkrankungen wichtige Impulse geben kann. Hejlskov Elvén hat sich in Forschung und Lehre quasi objektiv mit dem Phänomen beschäftigt. Kenntnisreich und reflektiert nimmt er herausforderndes Verhalten unter die Lupe. Ihm geht es darum, dass Wissenschaft nicht nur lebens- und praxisnah arbeitet. Durch die Einbeziehung seiner Tochter Sophie Abild McFarlane wird es nicht nur lebensnah.

McFarlane weiß als Betroffene, was eine seelische Erkrankung bedeutet. Mit der Expertin aus Erfahrung kommt die subjektive Seite des herausfordernden Verhaltens zur Sprache. Sie weiß selbst, wie die emotionalen Entgleisungen eines Menschen zu herausforderndem Verhalten führen. Noch mehr: Sie bringt viele Erfahrungen in den Diskurs ein. Dabei wird eindrücklich dokumentiert, wie es in der Interaktion von psychiatrisch Tätigen und Menschen, die von einer seelischen Erkrankung betroffen sind, zu Missverständnissen oder zu Interpretationen von Verhalten kommt, das letztendlich von einem inneren zu einem äußeren Chaos führt.

In der klinischen Psychiatrie, aber auch in der sozialpsychiatrischen Versorgung kommt herausforderndes Verhalten vor. Psychiatrisch Tätige haben oft keine Handlungsressourcen. Faktisch führt auffälliges Verhalten immer wieder zu restriktiven Interventionen psychiatrisch Tätiger. Es ist nicht selten, dass Menschen mit herausforderndem Verhalten eine freiheitsbeschränkende Maßnahme erleben, sich dem subtilen Druck ihrer Betreuerinnen und Betreuer fügen müssen oder sich an autoritäre Strukturen anpassen müssen.

Dass Bo Hejlskov Elvén und Sophie Abild McFarlane mit dem Buch „Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit psychischen Störungen“ die subjektive Seite herausfordernden Verhaltens in den Diskurs einbringen, wird ein Zugewinn für den fachlichen Austausch sein. Psychiatrische Begleitung lebt davon, sich möglichst auf gleicher Augenhöhe zu bewegen. Psychiatrische Begleitung lebt davon, dass nach gemeinsamen Antworten auf anstehende Fragen gesucht wird. Psychiatrische Versorgung lebt davon, dass Betroffene, An- und Zugehörige sowie |13|psychiatrisch Tätige gemeinsam die Wege gehen, die zu gehen sind. Psychiatrische Versorgung muss trialogisch sein, sonst wird sie künftig keinen Wert haben.

Gemeinsam nach den Ursachen herausfordernden Verhaltens zu schauen birgt die Chance in sich, dem Übel an den Wurzeln zu begegnen. Gemeinsam Lösungen zu erarbeiten, um herausforderndes Verhalten reduzieren oder verhindern zu können, dies gibt dem Vorhaben ein breiteres Fundament. Das Ganze zeigt, dass sich Menschen, ganz egal ob seelisch erkrankt oder psychisch gesund, mit dem nötigen Respekt und der nötigen Akzeptanz begegnen.

Dass Bo Hejlskov Elvén an wenigen Stellen die Asymmetrie zwischen Betroffenen und Helfenden als gegeben hinnimmt, ist sicher der Tatsache geschuldet, dass er es in dem Versorgungssystem, in dem er lebt, nicht anders erlebt hat. Für uns psychiatrisch Tätige sollte es Ermunterung sein, sich der trialogischen Psychiatrie annähern zu wollen. Dass psychiatrisch Tätige mehr Verantwortung tragen, sollte sich im Bemühen ausdrücken, den seelisch erkrankten Menschen in seiner Not ernstzunehmen.

Bo Hejlskov Elvén spricht sich u. a. dafür aus, dass seelisch erkrankte Menschen, die ihre Mitmenschen verletzt haben, nicht polizeilich angezeigt werden sollten. Er zeigt die Schere auf, das Betroffene einerseits nicht zur Verantwortung gezogen werden können – aufgrund der seelischen Krise. Andererseits stellt sich die Frage, ob der Realitätsbezug nicht die polizeiliche Anzeige zur Folge haben muss, um beispielsweise die Beschäftigten nicht zum Freiwild in den psychiatrischen Einrichtungen werden zu lassen.

Mit dem Zwischenruf von Bo Hejlskov Elvén und Sophie Abild McFarlane ist ein Zeichen gesetzt, sich intensiver mit dem Phänomen des herausfordernden Verhaltens zu beschäftigen. Ihr Zwischenruf sollte eine große Beachtung unter Betroffenen, Angehörigen und psychiatrisch Tätigen finden. Als psychiatrisch Pflegender wünsche ich dem Buch, dass es ein Startpunkt für ein Mehr an Miteinander von Betroffenen, Angehörigen und psychiatrisch Tätigen ist.

Wesseling, im Oktober 2019

Christoph Müller

Psychiatrisch Pflegender, Fachautor

|15|Einleitung

Schreckhaft, verstört, gefährlich?

Warum die Arbeit mit Psychiatriepatienten so herausfordernd sein kann und wie wir damit zurechtkommen

Meine Tochter und ich haben dieses Buch gemeinsam geschrieben. Ich bin Psychologe und bereits seit vielen Jahren als Privatdozent und Pädagoge in der Behindertenhilfe und Psychiatrie tätig. Meine Tochter befindet sich seit nunmehr zehn Jahren in psychiatrischer Behandlung, die mit ihrem 17. Lebensjahr begann. In diesem Buch haben wir uns vorgenommen, herausforderndes Verhalten sowohl aus der Betroffenen- als auch aus der Beschäftigtenperspektive zu beleuchten. Zwar haben wir die Psychiatrie aus einem jeweils anderen Blickwinkel erlebt, jedoch hinderte uns das nicht, unsere unterschiedlichen Eindrücke zusammenzuführen, was nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken ist, dass wir Vater und Tochter sind.

In meiner Arbeit beschäftige ich mich in erster Linie mit behinderten Menschen, führe Untersuchungen durch und leite Personalschulungen. Mit der stationären Psychiatrie bin ich erstmals als Angehöriger eines Betroffenen in Berührung gekommen.

Es war nicht immer eine angenehme Erfahrung, die Entwicklung meiner Tochter als Außenstehender mitzuerleben. Diese Erfahrung hat mich jedoch umso mehr davon überzeugt, dass wir die Arbeitsmethoden der Psychiatrie weiter entwickeln müssen. Seitdem arbeite ich in der Psychiatrie mit folgendem Ziel: Wir müssen besser darin werden, uns um diejenigen Menschen zu kümmern, die unsere Fürsorge am meisten brauchen.

Wenn ich Beschäftigte in psychiatrischen Einrichtungen unterrichte und ausbilde, bekomme ich häufig die unterschiedlichsten Geschichten zu hören. Darin geht es oft um Patienten, die laut werden, andere bedrohen, handgreiflich werden oder sich selbst verletzen. Aber ich höre auch von Praktiken, die Patienten in ihr Zimmer schicken, isolieren, mechanisch fixieren oder ihnen Bedarfsmedikamente verabreichen. Oft ist der Fokus darauf gerichtet, was der Patient |16|eigentlich tun sollte und was das Personal unternimmt, damit die Patienten ruhig bleiben.

Beschäftigte in der Psychiatrie berichten außerdem häufig davon, dass sie sich machtlos fühlen, wenn Patienten verhaltensauffällig werden. Psychiatriepatienten erzählen ihrerseits von Mitarbeitern, die ihre Stimme erheben und strikten Gehorsam fordern, und von der Unzufriedenheit, nicht über sich selbst bestimmen zu können, sowie von ihrem Gefühl der Machtlosigkeit. Bei der Zusammenarbeit mit psychiatrischen Einrichtungen habe ich mir im Laufe der Jahre angewöhnt, gezielt nach diesem Gefühl der Machtlosigkeit zu suchen, da es destruktiver ist als jedes andere Gefühl, ganz gleich ob es Mitarbeiter, Patienten oder Angehörige betrifft.

Aus der Betroffenenperspektive ist es leicht verständlich, dass Machtlosigkeit verheerend ist. Als Psychiatriepatient hat man keine Kontrolle über sein Leben und man fühlt sich sowohl dem Personal als auch der eigenen Krankheit ausgeliefert. Das eigene Leben fühlt sich etwa so an, als würde man einen reißenden Fluss hinabgetrieben, kreuz und quer gegen Felsen geworfen und manchmal unter Wasser gedrückt. Machtlosigkeit ist aber auch für die Beschäftigten verheerend. Mitarbeiter, die sich hilflos fühlen, sind häufig streitlustig und begegnen Patienten mit hohen Ansprüchen. Wir als Mitarbeiter reagieren dann z. B. zynisch und resigniert. Und manchmal werden wir so hilflos, dass wir genau die Patienten meiden, um die wir uns eigentlich kümmern sollten.

Wenn aber das ganze System von Machtlosigkeit betroffen ist – wenn sich sowohl das Personal als auch die Patienten machtlos fühlen –, dann handelt es sich um die wohl verheerendste Form der Machtlosigkeit. Anstatt das Problem der Machtlosigkeit gemeinsam anzugehen, kämpfen Personal und Patienten immer erbitterter gegeneinander an. Oft ist die Atmosphäre von gegenseitigem Misstrauen gekennzeichnet. In solchen Situationen greifen Beschäftigte und Patienten zu Verhaltensweisen und Methoden, die nicht die gewünschte Wirkung erzielen. Das ist die extremste Konsequenz von Machtlosigkeit.

Die Hauptaufgabe der Psychiatrie

Die Aufgabe der Psychiatrie liegt in der Diagnostik und Therapie. Da herausforderndes Verhalten aber den Arbeitsablauf stört, sollte der Umgang mit herausforderndem Verhalten möglichst unkompliziert und reibungslos verlaufen, damit sich die Psychiatrie auf ihre eigentliche Tätigkeit konzentrieren kann. Sie besteht allerdings nicht darin, Betroffene zu korrektem Verhalten anzuleiten und sie dahingehend zu therapieren. Vielmehr geht es um Bewältigung und Vorbeugung un|17|günstiger Verhaltensweisen, die den Betroffenen in seiner Entwicklung behindern können, wieder in ein geregeltes Leben zurückzufinden. Bestenfalls geschieht das mithilfe von Methoden, die möglichst wenig Raum, Zeit und Energie beanspruchen. Deshalb liegt es nicht beim Betroffenen, ein bestimmtes Verhalten zu zeigen. Vielmehr ist es die Aufgabe der Psychiatrie, Rahmenbedingungen zu schaffen, die dem Patienten gutes Verhalten ermöglichen, sodass die Psychiatrie ihrer behandelnden Tätigkeit gerecht werden kann.

Ziel dieses Buches

Dieses Buch ist ein Versuch, den in der Psychiatrie herrschenden, äußerst unglückseligen Mangel an Wissen über herausforderndes Verhalten zu beheben. Deshalb soll der erfolgreiche, professionelle und evidenzbasierte Umgang mit herausforderndem Verhalten beleuchtet werden. Durch die Auseinandersetzung mit Ansätzen und Methoden wird es uns möglich sein, den Alltag in psychiatrischen Kliniken wie in der ambulanten und sozialpsychiatrischen Versorgung deutlich positiver zu gestalten.

In diesem Buch geht es darum, wie wir uns als Beschäftigte gegenüber Betroffenen verhalten können, damit sie nach der Behandlung ihr Leben wieder selbstbestimmt und selbstverantwortlich bewältigen können. Das Buch richtet sich in erster Linie an Klinikpersonal und Beschäftigte des sozialpsychiatrischen Dienstes, jedoch können auch Mitarbeiter der ambulanten Versorgung von den Methoden und dem Menschenbild davon profitieren. Der Schwerpunkt liegt auf dem Umgang mit herausforderndem Verhalten – und nicht auf der Behandlung –, weshalb es insbesondere für Mitarbeiter hilfreich ist, die in größerem Umfang bzw. nicht nur im therapeutischen Rahmen mit Patienten arbeiten.

In diesem Buch werden keine Diagnosen genannt. Das ist beabsichtigt. Diagnosen sind zwar wichtig für die Behandlung und die Prognose einer Krankheit, jedoch spielen sie keine Rolle, wenn jemand handgreiflich wird oder randaliert.

Der Aufbau dieses Buches

Das Buch ist in drei Teile untergliedert. Der erste Teil besteht aus elf Kapiteln, die jeweils ein Prinzip vorstellen und erläutern. Ein Prinzip lässt sich als ein Grundsatz definieren, nach dem man handeln sollte. Das erste Kapitel beruht beispielsweise auf dem Grundsatz „Prüfen Sie zuerst immer, wer tatsächlich ein Problem hat“.

Diese Prinzipien sind Bestandteil des Low-Arousal-Approach und basieren auf wissenschaftlicher Forschung zum Umgang mit herausforderndem Verhalten. Ich |18|bin zuversichtlich, dass diese Prinzipien ausreichen, um eine gewisse Offenheit zu schaffen und neue Denk- und Verhaltensmuster zu erproben. Wer den Mut dazu hat, wird in der Regel mit Erfolgen und guten Ergebnissen belohnt. Allerdings verlangt das von Ihnen als Leser eine gewisse Offenheit und Flexibilität.

Jedes Prinzip wird mit einer Alltagssituation (bzw. mit einem Fallbeispiel) illustriert. Die geschilderten Situationen hat die Co-Autorin, meine Tochter Sophie, als Patientin auf Psychiatriestationen und in psychiatrischen Wohnheimen selbst erlebt. Gestatten Sie, dass sich Sophie vorstellt.

Sophie

„Die oben beschriebene Situation, in der sich die Mitarbeiter wie auch die Betroffenen machtlos fühlen und es zu Gewalt und Auseinandersetzungen kommt, habe ich, Sophie, aus erster Hand erlebt. Mehr als zehn Jahre, von meinem 17. Lebensjahr an, war ich in stationärer und ambulanter Behandlung, wurde sozialpsychiatrisch betreut und wohnte in psychiatrischen Wohnheimen. Mein Beitrag zu diesem Buch sind die Fallbeispiele, die den Ausgangspunkt für jedes Kapitel bilden. Die Beispiele beschreiben Situationen, die ich oder meine Mitpatienten auf Stationen bzw. in Wohnheimen erlebt haben. Alle Situationen wurden bis auf die Tatsache, dass Sie um meine Anwesenheit wissen, anonymisiert. Heute habe ich es gut; ich wohne mit meinem Verlobten in einem kleinen Stadthaus und komme mit ambulanter Versorgung zurecht. Deshalb erlebe ich solche geschilderten Situationen zum Glück nicht mehr. Da ich mich nun in einem guten Zustand befinde, möchte ich zur Weiterentwicklung der Behandlungsmethoden in der Psychiatrie beitragen.“

In einigen Fallbeschreibungen erscheint das Verhalten des Personals möglicherweise unvertretbar und unethisch. In diesem Buch geht es mir aber nicht darum, die Fehler des Personals herauszustellen. Ich bin mir sicher, dass Sie das als Leser selbst einschätzen können. In den meisten Fallbeispielen geht es um Situationen, die deshalb einen unguten Verlauf nehmen, weil die Methoden und Vorgehensweisen ungeeignet sind. Ein weiteres Ziel ist, Mitarbeitern bei der Suche nach besseren Arbeitsmethoden zu helfen, damit die Behandlung erstens sowohl für die Betroffenen als auch für die Mitarbeiter sicherer wird, zweitens wahrscheinlicher zum Erfolg führt und drittens sich auch aus ethischer Sicht verbessert. Um das zu erreichen, müssen wir uns sowohl mit uns selbst als auch unseren Methoden auseinandersetzen.

Im zweiten Teil dieses Buches betrachten wir mehr Fallbeispiele aus Sophies Leben. Dabei berücksichtigen wir die Prinzipien, die im ersten Teil behandelt wur|19|den. Indem wir die Fallbeispiele analysieren, können wir nachvollziehen, was genau in diesen Situationen vor sich geht, um anschließend bessere Bewältigungsstrategien für ähnliche Situationen zu erarbeiten.

Grundlage für dieses Buch bilden Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung sowie Forschungsergebnisse zu Ansätzen und Methoden, die sich im Gesundheitswesen, in der Behindertenarbeit und Pädagogik als wirksam bzw. unwirksam erwiesen haben. Zugunsten der Lesbarkeit habe ich bis auf einige Ausnahmen keine Quellen im Fließtext angegeben. Wenn Sie sich die verwendeten Quellen erschließen möchten, finden Sie in in jedem Kapitel ein erweitertes Literaturverzeichnis (weiterführende Literatur), in dem die Quellen vorgestellt werden. Im Teil III finden Sie außerdem eine Sammlung mit Arbeitsmaterial, das in Personalsitzungen als Grundlage für Diskussionen verwendet werden kann.

|21|Teil I: Prinzipien

Teil I behandelt eine Reihe von Prinzipien für das Verhaltensmanagement, die in der Tradition des Low-Arousal-Approach stehen.

Jedes Kapitel beginnt mit einem Fallbeispiel, das ein Prinzip illustriert.

|23|1  Prüfen, wer ein Problem hat

|24|Prinzip: Prüfen Sie immer zuerst, wer tatsächlich ein Problem hat

Fallbeispiel Frau Kuhn

Frau Kuhn hat sich freiwillig in die Psychiatrie einweisen lassen. Abends hat sie manchmal Schwierigkeiten einzuschlafen, sodass sie lange wachliegt und sich im Bett wälzt. Deshalb hat sie den Stationsarzt in der letzten Sprechstunde darum gebeten, ihr Schlaftabletten zu verschreiben. Dieser hat ihr jedoch davon abgeraten, noch mehr Medikamente einzunehmen, und ihr stattdessen empfohlen, vor dem Schlafengehen eine Tasse Tee zu trinken. Dies würde ihr wahrscheinlich beim Entspannen und Einschlafen helfen.

Auf dieser Station dürfen Patienten vor der abendlichen Medikamentenausgabe um 22 Uhr nicht zu Bett gehen. Bis dahin ist der Teewagen für die Patienten allerdings schon weg.

Einige Tage nach dem Arztgespräch beschließt Frau Kuhn, den ärztlichen Rat zu beherzigen. Weil der Teewagen bereits fortgeschafft wurde, begibt sie sich zum Personalraum, um nach Tee zu fragen.

Vielleicht kann das Personal für sie eine Ausnahme machen? Die Mitarbeiter in der Küche wollen aber Frau Kuhn keinen Tee ausgeben. Frau Kuhn fragt: „Aber Sie haben doch Tee. Können Sie mir nicht einfach eine Tasse davon geben?“ Nein, die Mitarbeiter möchten ihr keinen Tee geben. Es gibt Regeln, wann Patienten Tee ausgeschenkt wird, und wo kämen wir hin, wenn jeder vor dem Schlafengehen Tee trinken wollte?

Frau Kuhn fühlt sich gestresst, beginnt zu weinen und setzt sich im Flur auf den Boden. Ein Pflegeassistent, Herr Huber, tritt aus dem Personalraum, packt sie am Arm, hebt sie hoch in den Stand und sagt: „Gehen Sie sofort in Ihr Zimmer und dann ab ins Bett.“ Frau Kuhn versucht, sich aus dem Griff zu befreien, indem sie eine ausladende Bewegung mit den Armen macht. Dabei trifft sie Herrn Huber in den Bauch, sodass dieser stürzt. Herr Huber drückt den Alarmknopf. Wenn ein Mitarbeiter während der Nacht den Alarm auslöst, kommen Pflegekräfte aus zwei verschiedenen Stationen herbeigeeilt. Insgesamt sechs Pflegekräfte zwingen Frau Kuhn zu Boden und verabreichen ihr eine Spritze. Anschließend wird sie ins Bett gebracht und auf eine geschlossene Station verlegt. Bis sie sich wieder auf der offenen Station befindet, vergehen zwei Wochen.

|25|1.1  Wer löst Frau Kuhns Problem?

Das Prinzip „Prüfen, wer tatsächlich ein Problem hat“ ist wichtig. Im geschilderten Beispiel rät der Stationsarzt Frau Kuhn dazu an, eine Tasse Tee zu trinken, damit sie besser einschlafen kann. Als sie versucht, das in die Tat umzusetzen, stößt sie auf Widerstand, den sie als frustrierend und wahrscheinlich als beleidigend erlebt. Darauf reagiert sie im Flur mit Tränen und dann mit einer ausladenden Bewegung, um sich aus dem Griff des Pflegers zu befreien, der ihr helfen wollte. Darauf folgt ein drastischer Eingriff, und das Ergebnis sind zwei Wochen auf einer geschlossenen Station.

Für den Leser klingt das nach keiner sinnvollen Lösung. Doch aus der Sicht des Personals stellt Frau Kuhn ein Problem dar. Sie hält sich nicht an die Regeln und Vorschriften, an welche die Mitarbeiter gebunden sind. Sie weint, will nicht schlafen gehen und riskiert, dass sich ein Mitarbeiter verletzt.

Frau Kuhns Handlungsspielraum ist begrenzt, sie findet es aber richtig, sich gegen Ungerechtigkeiten zu wehren. Die Mittel, die ihr dafür zur Verfügung stehen, sind Weinen oder der Versuch, sich zu befreien. Daher hat Frau Kuhn kein Interesse, ihr Verhalten zu ändern. Sie versucht, eine schwierige Situation mit den Mitteln lösen, die ihr zur Verfügung stehen.

Wenn die Mitarbeiter davon ausgehen, dass es Frau Kuhn ist, die ein Verhaltensproblem hat, dann wird es heikel. In diesem Fall werden sie von Frau Kuhn verlangen, dass sie ihr Verhalten ändert. Frau Kuhn findet ihr Verhalten jedoch nicht problematisch, und sie ist auch nicht in der Lage zu erkennen, wie sie die Situation anderweitig lösen könnte. Deshalb muss das Personal nach Lösungen suchen, damit sich solche Situationen nicht wiederholen. Die Mitarbeiter müssten eigentlich einen größeren Anreiz haben als Frau Kuhn, etwas an der Situation zu ändern. Denn sie sind Fachleute. Frau Kuhn ist eine Betroffene, die nachweislich Probleme mit Alltag und Routine hat. Frau Kuhn mit Gewalt auf eine geschlossene Station zu verlegen, ist daher nicht sinnvoll und auch keine gute Lösung. Unfreiwillige Pflegemaßnahmen müssen durch eine Fremd- oder Selbstgefährdung begründet sein. Und die Gefahr muss beträchtlich sein. Hier ist das aber keineswegs der Fall.

1.2  Patienten lösen keine Probleme

In diesem Buch geht es darum, wie wir Probleme, mit denen wir in der Psychiatrie und Sozialpsychiatrie möglicherweise konfrontiert werden, in den Griff bekommen können. Es ist jedoch wichtig, von Anfang an darauf hinzuweisen, dass der Schwer|26|punkt auf dem Unterscheiden zwischen den Problemen des Personals und denjenigen des Betroffenen liegt. In erster Linie behandelt dieses Buch Methoden, die zur Lösung von schwierigen Situationen im Arbeitsalltag eingesetzt werden können, um so für eine reibungslosere und weniger kraftraubende Arbeit zu sorgen.

Betroffene versuchen häufig, ihre Probleme mit den Mitteln zu lösen, die ihnen zur Verfügung stehen. Sie befinden sich aber in psychiatrischer Behandlung, gerade weil sie Probleme haben, mit ihrem Alltag, ihrem Leben und ihren Gefühlen klarzukommen. Deshalb hat das Personal mehr Verantwortung als die Patienten. Wir sind Fachleute; die Patienten sind keine. Deswegen tragen wir die Verantwortung. Nur wenn wir Verantwortung übernehmen, können wir auch schwierige Situationen lösen.

Fallbeispiel Frau Berger

Frau Berger wird aus der psychiatrischen Notfallambulanz auf eine Station verlegt. Während der Verlegung hat sie sich die Kapuze über den Kopf gezogen, um sich von äußeren Einflüssen abzuschirmen. Die Mitarbeiter fordern sie auf, die Jacke auszuziehen. Frau Berger möchte dies jedoch nicht. Die Mitarbeiter ermahnen sie mehrmals. Als Frau Berger die Jacke immer noch nicht abgelegt hat, ziehen sie ihr die Kapuze ab. Frau Berger wartet eine Weile ab und zieht die Kapuze schließlich wieder hoch.

Auch Frau Berger hat einen Grund für ihr Verhalten. Sie fühlt sich unwohl und hat das Bedürfnis, sich abzuschirmen. Die Mitarbeiter können das nicht verstehen und ziehen ihr die Kapuze ab. Frau Berger ist jedoch nicht dumm; sie wartet geduldig eine Weile ab, um die Kapuze wieder hochzuziehen. Offensichtlich hat das Personal ein Problem damit, dass Frau Berger die Kapuze hochgezogen hat. Und Frau Berger hat ein Problem mit dem ganzen Wirbel um sie herum wie auch mit der Tatsache, dass das Personal ihr die Kapuze abzieht. Also haben beide Seiten zwei unterschiedliche Probleme und daher zwei unterschiedliche Lösungsansätze. Von Frau Berger zu erwarten, dass sie die Probleme des Personals versteht und löst, ist eher unrealistisch.

|27|1.3  Zusammenfassung

In der Psychiatrie und Sozialpsychiatrie ist es beinahe alltäglich, herausforderndes Verhalten als ein Problem des Patienten anzusehen und dementsprechend damit umzugehen. In Wirklichkeit sind es die Mitarbeiter, die glauben, es gebe ein Problem. Ein Patient, der kein Problem sieht, ist nur selten motiviert, sein Verhalten zu ändern. Deshalb ist es die Aufgabe des Personals, die Situation so zu beeinflussen, dass kein herausforderndes Verhalten auftritt.

1.4  Weiterführende Literatur

Es freut mich, dass Sie dieses Buch lesen und Ihr Hintergrundwissen zu diesem Thema vertiefen möchten. Nachfolgend stelle ich hinter jedem Kapitel die Quellen vor, aus denen die Konzepte und Methoden dieses Buches stammen. Das bedeutet zwar, dass ich mich wiederholen werde, zugleich wird aber der Hintergrund der Prinzipien deutlicher.

Prinzip: Prüfen Sie immer zuerst, wer tatsächlich ein Problem hat

Die Grundkonzepte aus diesem Kapitel wurden von Andrew McDonnell entwickelt und stammen aus dem Buch:

McDonnell, A. (2010). Managing aggressive behaviour in care settings. Wiley.

Sie bilden außerdem die Grundlage für:

Hejlskov Elvén, B. (2010). No fighting, no biting, no screaming: how to make behaving positively possible for people with autism and other developmental disabilities. Jessica Kingsley Publishers.

|29|2  Menschliches Verhalten nach individuellen Fähigkeiten

|30|Prinzip: Menschen verhalten sich gut, wenn sie dazu in der Lage sind

Fallbeispiel Frau Hofmann

Das Personal im psychiatrischen Wohnheim, in dem Frau Hofmann lebt, hat alle Bewohner zu einem gemeinsamen Abendessen um 18 Uhr eingeladen. Allerdings haben die Mitarbeiter nicht daran gedacht, genügend Essen mitzubringen. Frau Hofmann ist ziemlich aufgeregt, weil sie sich in großen Gruppen nicht wohlfühlt und beim Essen eigentlich lieber allein ist. Es ist bereits 18.15 Uhr, als das Essen endlich auf den Tisch gebracht wird.

Frau Hofmann geht ziellos durch den Raum und fragt die Mitarbeiter darüber aus, was sie gleich essen wollen. Diese sind es irgendwann leid und fordern sie auf, dass sie sich ihre Portion nimmt und in ihr Zimmer geht. In der Eile nimmt sich Frau Hofmann etwas mehr, als sie normalerweise essen würde. Die Mitarbeiter fordern sie auf, etwas Salat zurückzulegen. Darauf reagiert sie gereizt und aufmüpfig. Die Beschäftigten wollen sie nun aus dem Raum schicken. Frau Hofmann wird wütend und beginnt zu schimpfen. Dann wirft sie das Essen auf den Boden und geht zum Rauchen in den Hof.

2.1  Fähigkeiten, Anforderungen und Erwartungen

Das Prinzip „Menschen verhalten sich gut, wenn sie dazu in der Lage sind“ wurde vom Psychologen Ross W. Greene formuliert. Das Prinzip ist eigentlich sehr einfach. Wenn sich eine Person gut verhält, dann liegt es daran, dass sie dazu in der Lage ist. Und wenn sich eine Person schlecht verhält, dann liegt dies daran, dass sie es anders nicht kann. Es bedeutet, dass sich das Umfeld dieser Person fragen muss, ob zu hohe Anforderungen an ihre Fähigkeiten gestellt werden.

Die unterschiedlichen Abschnitte der Fallsituation erfordern verschiedene Fähigkeiten, z. B. sich in einer ungewohnten Situation zurechtzufinden.

An einem normalen Tag bereitet Frau Hofmann ihre Mahlzeit gemeinsam mit dem Betreuungspersonal zu und nimmt dann das Essen allein ein. Und eines Tages passiert plötzlich etwas Ungewohntes: Sie wird mit den anderen Heimbewohnern gemeinsam essen – und sich freundlich verhalten müssen. Der bloße Ge|31|danken daran stresst sie. Und als sie auf das Essen warten muss, wird sie noch unruhiger. Warten erfordert Ausdauer, jedoch verfügt Frau Hofmann nur begrenzt darüber. So wird sie immer ungeduldiger.

Hinzu kommt, dass von ihr erwartet wird, sich schnell an die Situation anzupassen, als die Mitarbeiter bemerken, dass der Abend nicht wie vorgesehen verläuft. Daraufhin ändern sie schnell den Plan. Dies kann zwar an sich eine gute Sache sein, insbesondere, wenn damit die Mitarbeiter auf Frau Hofmanns wachsende Unruhe reagieren. Frau Hofmann kommt damit aber einfach nicht zurecht. Viele Patienten sind in Stresssituationen weniger flexibel und haben Schwierigkeiten, sich schnell anzupassen.

Frau Hofmann tut ihr Bestes. Sie fängt an, sich am Buffet zu bedienen. Durch den Stress schafft sie es nicht, sich eine Portion auf den Teller zu nehmen, die in dieser Situation angemessen wäre. Stattdessen bedient sie sich nach ihrem Appetit. Als die Mitarbeiter sie auffordern, ein wenig Essen zurückzulegen, bringt dies das Fass zum Überlaufen. Sie schämt sich, weil sie sich eine zu große Portion genommen hat; sie ist frustriert, weil sie sich nicht nach ihrem Appetit bedienen darf; sie ist wütend, weil die Mitarbeiter sie in Verlegenheit bringen und wie ein Kind behandeln. Vielleicht ist sie auch traurig, weil sie wieder daran erinnert wird, dass sie in einem Wohnheim lebt und solche Situationen generell nicht vermeiden kann. Sie kommt nicht länger zurecht. Also stellt sie die Autorität der Mitarbeiter infrage und widersetzt sich.

Die Mitarbeiter wollen nicht, dass ihre Autorität angezweifelt wird. Sie greifen zu härteren Maßnahmen und schicken sie aus dem Raum. Das verstärkt nur Frau Hofmanns Machtlosigkeit und die beginnt laut zu fluchen. Zum Glück gibt das Personal in diesem Moment nach. Hier hätte die Situation weiter eskalieren und in einer Fixierung bzw. in Gewalt enden können. Zwar wirft Frau Hofmann ihr Essen auf den Boden, aber sie geht aus eigener Initiative in den Hof, um sich zu beruhigen.

Im Allgemeinen hat Frau Hofmann Probleme damit, sich ungewohnten Situationen anzupassen, Teil einer größeren Gruppe zu sein, die richtige Portionsgröße zu bestimmen, die Konsequenzen ihres Verhaltens abzuschätzen und ihre Emotionen zu regulieren. Dennoch tut sie durchweg ihr Bestes. Ihr Bestes ist aber scheinbar nicht gut genug.

Frau Hofmann ist keineswegs eine ungewöhnliche Psychiatriepatientin. Die meisten Psychiatriepatienten haben Probleme damit, die alltäglichen Dinge zu regeln. Die Schwierigkeiten, auf die sie dabei stoßen, sind zwar verschieden, in diesem Fall wurden aber definitiv überhöhte Anforderungen an Frau Hofmanns Fähigkeiten gestellt.

|32|2.2  Eigenschaften und Normalverteilung

Menschliche Eigenschaften sind innerhalb der Bevölkerung normalverteilt. Dies betrifft Eigenschaften wie Körpergröße, Gewicht, Intelligenz, Aufmerksamkeit, Selbstorganisation, Lernfähigkeit, Geduld, soziale Kompetenzen und eine Reihe anderer Eigenschaften. Normalverteilung wird häufig wie in Abbildung 1 dargestellt.

Abbildung 1:  Die Normalverteilungskurve

Zur Veranschaulichung kann man sich Abbildung 1 als eine Gruppe von Menschen vorstellen, die sich je nach Ausprägung einer bestimmten Eigenschaft aufgestellt haben, beispielsweise nach ihrer Körpergröße: Kleine Menschen stehen links, große Menschen rechts, Menschen durchschnittlicher Größe in der Mitte. Da die meisten Menschen von mittlerer Größe sind, bildet die Kurve an dieser Stelle einen Hügel. Folglich liegen die Eigenschaften der meisten Menschen im Durchschnittsbereich. Je stärker ein Punkt vom Mittelwert abweicht, ganz gleich ob nach rechts oder links, umso weniger Menschen haben diese Ausprägung. Dies ist am Beispiel der Körpergröße leicht zu verstehen. Die Fähigkeiten, die das gemeinsame Abendessen von Frau Hofmann erforderte, sind normalverteilt. Beherrscht jemand Fähigkeiten wie Affektregulation nur auf weit unterdurchschnittlichem Niveau, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass diese Person eine Diagnose erhält.

Der Übergang vom Pathologischen zum Normalen ist fließend. Dies bedeutet für den Alltag in der Psychiatrie und in Wohnheimen, dass ein Großteil der Menschen gut mit Abweichungen von der Routine zurechtkommt, während es einem anderen Teil sehr gut gelingt. Ein weiterer kleiner Teil kann halbwegs mit solchen Änderungen umgehen, wohingegen sich ein paar Ausnahmefälle sehr schwer damit tun, wenn die Routine durch neue Anforderungen unterbrochen wird. Auch die Tagesform hat Einfluss darauf. Den meisten Patienten gelingt die Anpassung an neue Situationen besser, wenn sie sich gut fühlen (wie jedem anderen Menschen auch).

|33|2.3  Individuelle Fähigkeiten

Ein zentrales Thema dieses Buches ist, dass Fähigkeiten von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausgeprägt sind. In Bezug auf herausforderndes Verhalten unterscheide ich zwischen Menschen, die über die nötigen Kompetenzen verfügen, um von außen gestellten Anforderungen gerecht zu werden, und solchen, die nicht darüber verfügen. Es gibt viele verschiedene Gründe, warum jemand nicht in der Lage ist, Anforderungen und Erwartungen von außen zu genügen. Stress kann ein Grund dafür sein, durch problematische Beziehungen oder andere Unsicherheitsfaktoren ein Leben schwer zu machen. Der Wille oder die Absicht zu gutem Verhalten sind jedoch nicht Thema dieses Buches. Wichtiger Grund dafür ist folgende Erkenntnis aus der Forschung: Durch die Anwendung von Greenes Prinzip „Menschen verhalten sich gut, wenn sie dazu in der Lage sind“ werden wir erfolgreicher in unserer Arbeit. Diese Grundannahme leistet uns gute Dienste, um schwierige Situationen in unserem Arbeitsalltag zu lösen.

2.4  Herausforderndes Verhalten ist Teil des Alltags

Es wird immer Situationen geben, die nicht so verlaufen, wie wir es uns gewünscht hätten. Immer wieder bin ich überrascht, wenn Mitarbeiter herausforderndes Verhalten als eine Abweichung von der Norm darstellen. Dies ist es nämlich nicht. Herausforderndes Verhalten gehört zum Alltag. Dennoch sollten wir uns jedes Mal nach einer unglücklich verlaufenen Situation hinsetzen und darüber nachdenken, was genau schlecht gelaufen ist. Indem wir den Situationsverlauf und die einzelnen Situationsabschnitte genauer betrachten, werden wir genau verstehen, an welcher Stelle wir hohe Anforderungen an den erkrankten Menschen gestellt haben – sofern wir danach suchen. Wenn wir uns nur darauf konzentrieren, was der Betroffene hätte tun sollen – statt uns zu fragen, was er tatsächlich getan hat –, dann werden wir in vergleichbaren Situationen wieder mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. So werden wir nur den Misserfolg und nicht die Lösung sehen.

Also müssen wir unser Verhalten und unsere Erwartungen an die psychisch erkrankten Menschen überprüfen, um sie anschließend mit ihren tatsächlichen Fähigkeiten zu vergleichen. Dadurch lässt sich leichter erkennen, worin die Schwierigkeiten liegen. Wenn sich ein Betroffener nicht gut verhält, werden wir auch |34|immer einen Bereich finden, in dem wir selbst unter unseren Möglichkeiten geblieben sind. So ist es nun einmal. Es mag schwer sein, dies zu akzeptieren, aber so ist das eben.

Es erfordert viel Engagement von unserer Seite, damit wir unseren eigenen Anteil am Verhalten des betroffenen Menschen erkennen können. Dieser Schritt ist unbedingt notwendig, wenn sich die Situation nicht wiederholen soll. Jedes Verhalten entsteht durch ein Zusammenspiel zwischen einer Person und ihrer Umwelt – entweder durch eine direkte Interaktion mit uns selbst oder durch eine Interaktion mit der Umwelt, auf die wir Einfluss haben.

2.5  Überhöhte Ansprüche

Konflikte entstehen, weil zu hohe Anforderungen an die Fähigkeiten eines seelisch Erkrankten gestellt werden. Haben wir vielleicht überhöhte Erwartungen an seine Fähigkeiten zur Selbstorganisation, Impulskontrolle oder Sozialkompetenz?

Nach einem zeitraubenden Konflikt sollte man gleich im Anschluss einen Plan entwerfen, um ähnliche Konflikte zukünftig zu verhindern. Wie sollte die tägliche Routine gestaltet werden, um das Konfliktrisiko zu reduzieren? Können sich die Betroffenen alle gleichzeitig in Gemeinschaftsräumen aufhalten? Sollte zu bestimmten Uhrzeiten mehr Personal anwesend sein? Sollte es mehr geplante Aktivitäten für bestimmte Menschen geben?

Wir müssen überprüfen, ob wir überhöhte Erwartungen in Bezug auf bestimmte Fähigkeiten haben:

In komplexeren Situationen die Konsequenzen einer Handlung abschätzen: Diese Fähigkeit ist erforderlich, um die Konsequenzen unserer eigenen Handlungen abzuschätzen, aber auch, um ungefähr vorherzusagen, was im nächsten Moment geschehen könnte. Betroffene, die damit Schwierigkeiten haben, brauchen mehr Struktur und Vorhersehbarkeit in ihrem Alltag als andere.

Tätigkeiten strukturieren, planen und vollenden: