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Heide Birkners Leben ist unausgefüllt. Sie lebt allein mit ihrem Hund Mutz und sehnt sich nach einer Herausforderung. Dabei hätte sie allen Grund, sich langsam zur Ruhe zu setzen und stolz auf ihr Leben zurückzublicken. Das finden zumindest ihre Freundinnen. Jahrelang hat sie hart gearbeitet und nebenbei noch fünf Kinder alleine ernährt und großgezogen. Ihr Mann war im Krieg verstorben und so war sie auf sich alleine gestellt. Nun sind alle Kinder aus dem Haus, wohnen im ganzen Land verstreut und haben selbst schon Kinder. Trotzdem, sich einfach zurücklehnen und nichts tun, das ist nichts für Heide Birkner. Dafür fühlt sie sich noch viel zu jung und tatkräftig. Kurzum beschließt sie, ihre fünf Kinder nacheinander zu besuchen. Vielleicht wird sie ja vor Ort gebraucht und kann sich nützlich machen. Doch so sehr ihre Kinder auch ihre Gesellschaft genießen und sich über einen Babysitter erfreuen, so recht glücklich ist Heide Birkner in der Rolle als Omi nicht. Enttäuscht kehrt sie zurück nach Hause und findet dort ganz unerwartet eine neue Aufgabe, nach der sie ihr Leben fortan ausrichten kann.HERBSTREISE ist ein ermutigender Roman, der gerade in schwierigen Lebenssituationen Kraft und Hoffnung spendet. -
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Seitenzahl: 271
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Lise Gast
Roman
Saga
Herbstreise
© 1983 Lise Gast
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711509555
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Heide hatte die Haustür geöffnet und stand auf der Schwelle, das Gesicht gehoben, dem Morgen entgegen witternd. Es roch so gut, schon ein klein wenig herbstlich, – wirklich schon? Und war doch erst August ...
Herrlich riecht es, dachte sie. Sie liebte den Herbst. Die herbe Frühe, die schräg über den Hang heraufkommende Sonne, den blitzenden Tau.
›Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
den blauen Himmel unverstellt
herbstkräftig die gedämpfte Welt
in warmem Golde fließen –‹
Nein, ganz so weit war es noch nicht, es kündigte sich erst an. Genüßlich tat sie ein paar Schritte durch das nasse Gras, hoffend, Mutz würde es nicht merken. Mutz, ihr Rassehund, ein kleiner weißer Spitz – eine Rasse, die sehr selten geworden war. Früher, als sie selbst noch ein Kind war, vor langer langer Zeit also, da hielt man einen Spitz auf Bauernhöfen und auch auf Schiffen, auf Zillen, jenen flachen Kähnen, bewohnt von alten und jungen Schiffern, beflaggt mit bunter Wäsche, die im Fahrtwind wimpelte. Dorthin gehörten diese Hunde, die klein sind wie Spielzeugtiere und wuschelig wie Angorakaninchen und kläffen können, kläffen wie keine andere Rasse.
Doch Mutz hatte gemerkt, daß ihre Herrin vor die Haustüre getreten war. Wie der Blitz fuhr sie an Heide vorbei, stieß das Türchen auf und fegte hinüber in den Garten auf der anderen Straßenseite. Dort gab es keinen Zaun, dafür aber ebenfalls eine Hündin – Mutz war weiblichen Geschlechts, was bei ihrem sozusagen unverbindlichen Namen extra betont werden muß – und haßte alle andern Hündinnen, vor allem aber die fette Dackelin von gegenüber.
Heide sprang hinter ihr her. Sie war für ihr Alter sehr behend, vor allem, wenn es um Mutz ging. Das kam, wie sie stets betonte, unter anderem davon, daß sie jeden Morgen ›Tau trat‹, das heißt, zu faul war, um Schuhe anzuziehen, wenn sie nach dem Wetter sah. Barfuß auch heute sprang sie über die Straße und zum gegenüberliegenden Anwesen, das von zwei alten Schwestern samt Untermieter bewohnt wurde. Den Schwestern gehörte der Dackel, und mit eben diesem maß Mutz ihre geringen Kräfte.
Ein Spitz kann klein sein und trotzdem ungeheuer angriffslustig. Mutz jedenfalls ging jeden Hund an, gleichgültig, wie groß er war, genauer gesagt: jede Hündin. Rüden wurden nicht von ihr behelligt. Und da Mutz außer ihrer Angriffslust auch noch schneeweiße, spitze Zähne hatte, war es kein Wunder, daß gleich darauf ein schriller Schrei: »Hilfe, Hilfe!« durch den Morgen gellte. Die eine der beiden Schwestern fuhr aus dem Haus wie die Kugel aus dem Rohr.
Das wiederholte sich jeden Tag oder doch fast jeden Tag. Manchmal dachte Heide daran, das Türchen zu sichern, dann raste Mutz mit der Nase dagegen und sprang und sprang so lange daran hoch, bis Heide sie erwischte und heimschleifte. Meist aber vergaß Heide die Sicherung. So war es auch heute gewesen.
Es war nicht leicht, in den schwarzweißen Hundeknäuel hineinzugreifen und die weiße Hälfte herauszuzerren. Doch die schwarze blieb an der weißen hängen, mit den Zähnen in Mutz’ Fell verbissen, obwohl ein energisches: »Pfui, laß los! Wirst du wohl!« ertönte. Dann drehte Heide bei. Hinter ihr gellte es noch in den höchsten Tönen: »Ich zeige Sie an, Frau Birkner! Sie werden es erleben! Ich geh zur Polizei!«
Heide schlug ihr Gartentürchen und dann die Haustür hinter sich zu, setzte Mutz ab und fuhr sich durchs Haar. Das war eisgrau und stand wie ein Gefieder um ihren Kopf, nicht dauergewellt und zur Zeit nicht einmal gekämmt. Wer nahm sich schon in aller Frühe die Zeit dazu. Aber wie du aussiehst, so wirst du behandelt – alte Geschichte.
Hätte man doch einen Mann im Haus, der jetzt imponierend oder drohend auftauchen und die alte Wachtel da drüben in ihr Reich zurückscheuchen könnte! Ach ja, eine Witwe, eine Frau ohne Mann – bei aller Emanzipation ist sie eben doch schutzlos. Die beiden giftigen Schwestern da drüben hatten wenigstens einen Untermieter, den sie aufstacheln konnten, wenn ihnen etwas nicht paßte, und der konnte schimpfen, du lieber Gott! Gegen ordinäres Schimpfen ist man machtlos.
»Mutz, du sollst doch nicht!«
Heide hockte auf der Küchenbank, den kleinen Spitz auf dem Schoß, drückte ihre Stirn in seinen weißen Puschelpelz und versuchte zu lachen, es wurde aber eher ein Weinen daraus.
»Diese Giftnudeln da drüben! Aber warum schließe ich auch nicht ab! Morgen tu’ ich es bestimmt!«
Für jetzt war es zu spät. Gute Vorsätze in Ehren, sie nützen nur nichts mehr, wenn der Abgesandte der feindlichen Partei bereits in Marsch gesetzt ist. Er erschien, Heide sah es durch das Riffelglas der Eingangstür. Nein, sie würde nicht aufmachen, er könnte läuten von nun an bis in Ewigkeit.
Und das tat er auch. Jedenfalls beinahe bis in Ewigkeit. Heide hatte sich in das hinterste Gelaß ihrer Wohnung verkrochen und steckte die Finger in die Ohren. Als er schließlich aufhörte, zu randalieren – er ließ es nicht beim Läuten bewenden, sondern klopfte, donnerte, schrie und fluchte – war sie mit den Nerven fertig. Sie nahm Mutz an die Leine, verließ mit ihr das Haus durch die Hintertür und schlich in ihren Garten, vorsichtig, so daß man sie von gegenüber nicht sehen konnte. Mutz mußte ja hinaus, und auf ihrem eigenen Grundstück durfte niemand darüber schimpfen.
Im Garten nebenan arbeitete ihr neuer Nachbar. Er hatte schon Bäume gesetzt, ehe das Haus fertig war; jetzt fuhr er gute Gartenerde auf den Platz, den er für Blumen ausgesucht hatte. Er grüßte zu Heide hinüber, trat dann an den Zaun und wischte die Hand an der Hose ab, ehe er sie ihr reichte. Er hatte Besuch bei ihr gemacht, als er mit dem Bauen anfing – mit einem Blumenstrauß, was ihr sehr gefallen hatte.
Er war Rentner, älter als sie, sah gut aus, wie sie fand, frisch und braungebrannt wie alle Gartenliebhaber. Am Zaun entlang wuchsen Monatserdbeeren, er bückte sich und pflückte einen kleinen Strauß davon, den er Heide über den Zaun reichte. Heide war entzückt, sie bedankte sich, lächelte ihn an. Er hatte so schöne braune Augen.
Sie hatte von jeher eine Schwäche für braune Augen. Keines ihrer Kinder hatte braune, alle hatten helle Augen. Immer hatte sie, wenn sie ein Kind erwartete, heimlich gehofft, daß das Mendelsche Gesetz ihr zuliebe ein einziges Mal seine Regeln überspringen und ihr ein Kind mit braunen Augen zukommen lassen würde. Es tat ihr nicht den Gefallen. Und auch Schwiegersöhne und -töchter brachten blaue Augen in die Familie ein. Nun ja, auch helle Augen sind schön, und seine Kinder liebt man, wie sie auch beäugt sein mögen.
»Meine weibliche Hand ist leider verhindert, Sie zu begrüßen«, sagte der Nachbar zu Heide, »sie ist beim Masseur, wegen ihrer Bandscheiben. Sie ist eine große Gärtnerin vor dem Herrn und wird es sehr vermissen, in der Erde herumzubuddeln, aber ganz wird sie den Schaden im Rücken wohl nicht mehr loswerden.« Heide hatte die neue Nachbarin schon mehrmals beobachtet, wenn sie im Garten tätig war, immer nur für kurze Zeit. Sie mußte viel jünger sein als er, mindestens zehn Jahre. Heide ließ ihr gute Besserung wünschen.
»Eigentlich ist sie zu beneiden, von kundiger Hand massiert zu werden, statt sich mit dem bösen Gegenüber herumschlagen zu müssen –« bestimmt hatte der Nachbar vorhin die Schimpfkanonade des Untermieters von drüben gehört. Er lachte.
»Ärger gehabt? Schlimm! Die beiden Hündinnen werden wohl nie in Frieden miteinander leben können. Um jedes Grundstück, auf dem ein Hund lebt, gehört nun einmal ein Zaun. Jaja, kleine Mutz –« er streichelte den Spitz über den Zaun hinweg.
»Ärger? Der Ausdruck reicht eigentlich nicht hin«, sagte Heide, und es klang recht kläglich. »Mit Ärger wird man fertig. Es ist mehr: Gift, Vergiftung des Alltags, jeden Tag aufs neue. Aber hier steht nun einmal mein Haus, ich kann es nicht nehmen und woandershin tragen, wo die Umgebung friedlicher ist.«
»Nein. Leider und Gott sei Dank nicht. Denn ich zum Beispiel finde es ausgesprochen hübsch, daß Sie hier und nicht anderswo wohnen. Nur – in der nächsten Zeit wird es hier recht laut werden, aber nicht durch Hundegebell. Bauen macht nämlich Lärm –« er lächelte entschuldigend. Heide war gerührt.
»Das stört mich längst nicht so wie ein keifender Mensch«, sagte sie herzlich. »Außerdem kann man ja eine Zeitlang verreisen. Ich hatte das sowieso vor. Ich will zu meinen Kindern fahren, ehe Schnee und Nebel kommen und die Tage merklich kürzer werden; ich will sie reihum besuchen. Vorgenommen habe ich mir das schon seit langem.«
So war es auch. Sie hatte sich schon längere Zeit mit dem Gedanken getragen, jetzt machte sie Ernst damit. Sie sah ihren Nachbarn fragend an.
»Darf ich Ihnen den Schlüssel in Verwahrung geben? Damit Sie notfalls in mein Haus hineinkönnen, wenn es nötig sein sollte. Bisher hatte ich ja niemanden in der Nähe und fuhr nur ungern weg. Aber wenn ich wüßte, Sie sähen nach dem Rechten –«
»Aber gern. Ihr Vorschlag ehrt mich. Blumen gießen, mal lüften, Post hereinholen, damit der Briefkasten nicht überquillt und jeder sieht: Hier ist die Hausherrin verreist. Und bei etwa einbrechender Kälte nach der Heizung sehen. Sie notfalls anrufen können, wenn etwas zu entscheiden ist. Schön. Ich bin sowieso jeden Tag hier, bis ich richtig einziehe.«
Sie besprachen noch einiges, er ging mit ihr ins Haus, und sie zeigte ihm den Heizungsraum.
»Mit der Heizung stehe ich sowieso immer auf Kriegsfuß, da bin ich dankbar, wenn ich mal Fragen stellen darf.« Sie gingen wieder hinauf.
»Ich weiß nicht, ob Sie wissen, daß ich fünf Kinder habe«, sagte sie, als sie wieder ins Wohnzimmer traten. »Drei Söhne und zwei Töchter. Ich gebe Ihnen die Adressen und die Telefonnummern. Arndt, mein Ältester, ist Anwalt und lebt in Frankfurt, noch unverheiratet, ich notiere die Telefonnummer der Kanzlei dazu. Meist ist er dort zu erreichen, zu Hause erst abends. Der Jüngste arbeitet in Zürich an der Universität. Er wohnt mit einer Freundin zusammen, ich wünschte so sehr, daß sie heiraten. Aber wie das nun heute so ist – Sie wissen ja. Es ist ein ganz, ganz nettes und liebes und tüchtiges Mädchen, ich kenne sie schon lange. Der mittlere Sohn, Konrad, bewirtschaftet einen Hof in der Nähe von Nürnberg. Ihn besuche ich vielleicht zuerst. Oder meine Tochter Ulrike – sie hat einen Studienrat zum Mann und zwei Söhne. Meine jüngste Tochter hat drei Kinder, die noch klein sind, die heb’ ich mir sozusagen bis zuletzt auf, denn da gibt es sicher viel zu helfen. Das ist Christine, sie war nie berufstätig und geht ganz in ihrer Familie auf. Jedes Mal, wenn ich hinkomme, meine ich, sie erwartet wieder ein Kind – trotz der vielen Arbeit! Ja, sowas gibt es auch heute noch.
Natürlich ist mir jedes meiner Kinder gleich lieb. Und wenn Sie anrufen und ich bin nicht bei dem einen, dann versuchen Sie es eben beim nächsten. Ach ja, es ist gut, Sie hier zu wissen.«
»Das freut mich, daß Sie das finden. Und wenn Sie wiederkommen, ist hoffentlich die schlimmste Arbeit an meinem Haus getan.«
So hatte Heide also beschlossen zu verreisen. Für Wochen; Mutz würde natürlich mitfahren. Bei ihrer Rückkehr wären die Schwestern gegenüber samt Dackel und Untermieter vielleicht gestorben. Hoffentlich.
Das war kein christlicher Wunsch. Mit schlechtem Gewissen versuchte sie, ihn zu verdrängen.
Und der Nachbar hatte recht: Bauen ist für die Umwelt kein Zuckerlecken. Es gehört zwar zu den Übeln, die vergehen, aber solange es währt, hat es seine Nachteile, vor allem akustische. Da kommen Lastwagen und laden ab, der Erdschieber brummt und der Kran kracht. Da stäubt der Staub und stinkt der Asphaltkocher, denn meist ist auch ein Stück Straße mitbetroffen, es wird gebuddelt und geklopft, daß einem der Kopf dröhnt, wenn Feierabend ist und die endlich eingetretene Stille beinah noch schmerzhafter ist. Ganz abgesehen davon, daß ihre Kinder sich bestimmt freuen würden, wenn sie sie wieder einmal besuchte.
Heide stapfte durch ihr Reich und hörte sich plötzlich pfeifen. Sie schien bester Laune zu sein, denn sie merkte, daß sie den Finnländischen Reitermarsch pfiff, ihren Lieblingsmarsch. Den pflegte sie immer zu pfeifen, wenn es ihr gut ging.
Und heute früh? Ging es ihr da nicht miserabel? Vorbei. Das kleine Gespräch mit dem Nachbarn hatte ihr gut getan, mit einem Mal sah die Welt anders aus. Jetzt freute sie sich auf ihre Herbstreise, und so fuhr sie fort zu pfeifen, während sie die Sachen zusammensuchte, die sie mitnehmen würde.
Ein weiser Mann hatte ihr einmal verraten, man könne Bedrücktheit, schlechte Laune, ja, sogar kommende Krankheiten, etwa eine sich meldende Grippe, wegpfeifen, wegsingen, wegsummen. Sie hatte es gleich versucht, damals, als sie noch so viel zu tun hatte, daß sie sich einfach keine Krankheit leisten konnte. Und mit Erfolg! Jetzt merkte sie es wieder: Sobald man pfeift, summt oder singt, werden das Herz leichter und die Stimmung besser. Es gehörte zu jenen Erfahrungen, die sie – wenn auch spät – gemacht und nun der Jugend voraus hatte. Arme Jugend in dieser Beziehung. Freilich, man mußte es üben, ausüben, nicht nur darauf warten, daß es sofort half. Es war wie beim Schwimmen. Anfangs trägt einen das Wasser nicht und schon gar nicht, wenn man zu faul ist, die notwendigen Bewegungen zu machen. Man muß eben immer wieder probieren, nicht nachlassen.
Wie schön, daß es Dinge gibt, die dem Alter vorbehalten sind. Heide lachte. Sie gehörte nicht zu den Menschen, die unbedingt jung sein wollen, die sich an die Jugend klammern und nicht altern können. Sie hatte jene Zeit erlebt, da man ums nackte Leben kämpfen mußte, um das der Kinder und um das eigene, um eben seinen Kindern das Leben erhalten zu können. Eine Zeit, in der man schon über einen vollen Suppenteller, über ein warmes Bad – beinah unvorstellbar damals! – außer sich geriet vor Glück. Sie wünschte sich diese Zeit nicht in falscher Romantik zurück. Aber sie hatte nicht vergessen, was viele sofort aus dem Gedächtnis verloren hatten, als es ihnen besser ging: Wie schlimm es damals gewesen war, wie köstlich es heute ist, den Kindern sagen zu können: »Eßt, ich hab noch mehr draußen! Steigt in die heiße Wanne! Kauft euch eine neue Hose, die alte ist wirklich nicht mehr gut.« Das schien ihr kein verdammenswerter Materialismus, und wer das so nennt, der hat nie wirkliche Not gelitten. Und ist dadurch ein wenig arm dran, jawohl ...
Heide pfiff sich noch eins. Ja, es war gut zu verreisen. Wenn sie wiederkam, war vielleicht das Nachbarhaus fertig und der Radau vorbei, und gegenüber – ja, vielleicht hatten die zwei Schwestern dann ein Schloß geerbt und waren dorthin gezogen, sie gönnte es ihnen. Das war zwar nicht wahrscheinlich, aber kein Ding ist unmöglich. Fürs erste wich sie aus, Mutz würde mitfahren, und die fette Dackelin hatte ihren Frieden.
Heide freute sich sehr auf die Reise, auf die Kinder. Keins wohnte hier am Ort, sie waren wie Samenkörner übers Land verstreut, doch nicht allzu weit weg. Konrad wohnte am nächsten, dorthin hatte sie zuerst gewollt, vor allem, weil sie mit dem Gedanken spielte, Mutz dort zu lassen. Eine längere Autoreise ist für einen Hund eigentlich eine Zumutung, meinte sie, jetzt aber überlegte sie es sich anders.
Es war wohl besser, sie fuhr erst zu Ulrike. Alle ihre Kinder waren oder taten jedenfalls sehr eifersüchtig aufeinander, jedes wollte das liebste, beste, geliebteste sein. Heide gab es sich selbst gegenüber allerdings nicht zu, warum sie so gern zu Ulrike fuhr. Denn eigentlich fuhr sie zu Hans. Fast immer, wenn sie diese Tochter besuchte, meinte sie im Grunde den Schwiegersohn. Hans war eine ihrer großen Lieben.
Hans war Lehrer, das allein aber war es nicht. Daß er gern Lehrer war, leidenschaftlich gern – daß er immer wieder, auch unter den heutigen, erschwerten Umständen, Lehrer werden würde, das gab den Ausschlag. Heute, da man als Lehrer kaum mehr eine Handhabe hat, gegen unbotmäßige Schüler vorzugehen und, falls man droht, von den Schülern ausgelacht wird, dies alles aber einstecken und diskussionsbereit bleiben muß, – wahrhaftig, das schien ihr eine Art Heldentum zu sein. Daß er trotz vieler Widerstände, trotz ihrer Trägheit und Aggressivität seine Schüler unverdrossen mit allen Kostbarkeiten der Geisteswelt bekannt zu machen versuchte, sie entzündete, sie mitriß, oft gegen ihren Willen, fand Heide großartig. Deutschlehrer war er, aber nicht nur das.
»Ich lasse meine Schüler nicht ohne Goethe und Shakespeare ins Leben hinaus«, sagte er manchmal drohend. Und dann mußte Heide an eine ihr unvergeßliche Filmszene denken: ein Geistlicher stand im Kirchenportal, einen schweren Leuchter mit brennenden Kerzen in der Hand, um einen Mann, der sich ins Gotteshaus geflüchtet hatte, zu schützen. Er schrie die anstürmende Menge an:
»Hier ist ein Haus des Friedens! Ich schlage jedem die Zähne ein, der versucht, hier einzudringen!«
So etwa, auf einem ähnlichen Posten, stand Hans.
»Ihr geht mir nicht ungebildet ins Leben, so wahr ich hier stehe!«
Und er stand wohl allein, jedenfalls in seiner Schule. Jüngere Kollegen betrachteten ihn mitleidig: »Armer Irrer! Sich so zu engagieren. Laß die Kerls doch blöd bleiben, wenn sie es nicht anders wollen! Goethe und dieses feudale Zeitalter, was soll’s! Es gibt anderes, das uns näher steht. Die Bildzeitung sollen sie analysieren, das bringt heutzutage was!«
Natürlich gehörten auch moderne Autoren in den Unterricht. Hätte man Hans mißverstehen wollen, so wäre das ein Leichtes gewesen. Man mußte ihn richtig verstehen wollen, wann aber gibt sich ein Schüler diese Mühe? Heide erinnerte sich noch an damals, als sie selbst jung war, als sie und ihre Klassengenossen ihren Weg ins Leben suchten.
»Was wir werden wollen? Nur nicht Lehrerin«, sagten dreiviertel ihrer Mitschülerinnen. Auch sie. Allzu viele Schwächen hatte man an denen erkannt, die es zweifellos auch mit ihnen gut gemeint hatten. Aber von den Schülerinnen waren sie erbarmungslos kritisiert worden, wie wohl alle Lehrer zu jeder Zeit.
Ja, Hans war eine Ausnahme, die Ausnahme. Als sie jetzt an ihn dachte und an den Abend, den sie mit ihm und Ulrike verbringen würde, wurde sie wieder ganz froh, verdrängte ihr Selbstmitleid – da muß man fort, nur weil es ›dem bösen Nachbarn nicht gefällt‹ – und dachte nur noch an ihre Reise.
Der neue, der ›gute‹ Nachbar war allerdings nicht da, als sie mit dem Schlüssel hinüberging. Die Außenmauern standen zwar, aber die Fenster waren noch nicht drin, doch der Garten ringsum war schon mit Muttererde aufgefüllt und sogar teilweise bepflanzt. Kapuzinerkresse blühte als Einfassung, in der Mitte prangten bunte Sommerblumen, sicherlich würde das Haus übers Jahr in einem richtigen Blumenkorb stehen. Deshalb bedauerte sie es nicht, daß hier gebaut wurde, eine simple Wiese, die zweimal im Jahr gemäht wurde, war längst nicht so schön wie der Garten eines Blumenliebhabers. Da nahm man das Haus mitten darin gern in Kauf.
Sie schrieb ein paar Zeilen auf den Briefumschlag, in dem der Schlüssel und die Anschriften ihrer Kinder steckten, und legte ihn auf die Schwelle des Nachbarhauses. Besprochen war ja alles. Sie hätte sich gerne noch persönlich verabschiedet, aber nun wollte sie fort. Daß nur nicht noch etwas dazwischen kam!
Der Frühherbst schien nachholen zu wollen, was der ziemlich verregnete Sommer versäumt hatte. Heide winkte ihrem Häuschen zu, als sie im strahlenden Sonnenschein davonfuhr: Bis bald! Schon als sie losfuhr, hatte sie Heimweh nach Hause; der Mensch ist ein inkonsequentes Wesen, zumal der weibliche. Jetzt sollte sie vorwärts denken und sich freuen! Erfahrungsgemäß würde sie es nach einiger Zeit dann auch tun. Ein bißchen über sich selbst spottend besprach sie das mit Mutz, die auf dem rechten hinteren Sitz saß und mit gespitzten Ohren zuhörte. Wie schön, einen Hund zu haben! Sie redete gern mit ihm und freute sich nachts, wenn er sich räkelte oder im Traum seufzte oder auch an ihr Bett herankam und sich streicheln ließ. Sie würde sich schwer von ihm trennen, wenn sie ihn bei Konrad ließ. Fest dazu entschlossen war sie noch nicht. Abwarten! Vorläufig fuhren sie noch zu zweit.
»Nicht wahr? Bist doch meine Beste«, sagte Heide und streichelte den kleinen Kopf, der sich ihr zärtlich entgegenstreckte.
Als sie aus der Ortschaft heraus war und an dem Wäldchen vorüberkam, in dem das Kloster lag, mußte sie an Walter denken. Unwillkürlich gab sie mehr Gas. Sie hatte diese Erinnerung vergessen wollen. Hier wurde sie wieder lebendig.
Er war ein guter Kerl und hatte sich ›drüben‹ tapfer durchgeschlagen, mit Frau und Kindern und Enkeln. Jetzt führte der Sohn die Apotheke. Bei ihm und dessen Frau lebte er.
»Sie tut, was sie kann, kocht ganz gut«, hatte er berichtet. »Wochentags bekommen wir das Essen aus der Gemeinschaftsküche. Aber Sonnabend und Sonntag kocht sie.«
Daß er ›Sonnabend‹ und nicht ›Samstag‹ sagte, kam Heide merkwürdig vor. Sie selbst hatte sich schon längst an ›Samstag‹ gewöhnt. Jetzt fiel ihr wieder ein, daß Walter immer sehr großen Wert auf gutes Essen gelegt hatte, mehr, als bei ihnen eigentlich üblich war. Gutes Essen, na schön, aber anderes war wichtiger.
Als Freund ihres Bruders war Walter ihr von Kindheit an vertraut. Sie hatte ihn immer gern gemocht, mehr aber nicht.
Trotzdem hatte er ihr vor langer Zeit einen Heiratsantrag gemacht, nicht nur ihr, auch ihrer jüngeren Schwester und ein paar Freundinnen, mit denen sie viel zusammen waren. Die Mädchen hatten ganz unbefangen darauf reagiert:
»Als Freund, Walter, immer. Aber heiraten, nee, das doch nicht, sei nicht böse.«
Er nahm es nicht übel. Aber jetzt, da seine Frau seit ein paar Jahren tot war, redete er sich wohl ein, sie hätten einander einmal geliebt. Nur, daß sie schon verlobt gewesen sei, als er sie hätte heiraten wollen, habe dazwischengestanden. Sie wußte genau, daß das nicht zutraf, und er hätte es auch wissen müssen. Aber was Männer sich so einbilden! Erst hatte sie ihn überhaupt nicht ernst genommen, als er da auf der Bank am Eingang des Klosters plötzlich gestammelt und angefangen hatte, sie zu küssen – und noch mehr. Verblüfft war sie, und danach, als sie begriff, worauf er hinauswollte, eigentlich nur mehr wütend.
Sie fand nicht, daß sie ihm entgegengekommen sei. Längst begrüßte man sich auch hier mit zwei Küssen, nicht nur die Familie, auch gute Freunde; das heißt, man tat, als küßte man sich, nahm sich in die Arme und hauchte in die Luft, einmal rechts und einmal links. Vielleicht hatte er noch die Vorstellung von früher, daß man nur küßt, wenn man liebt. Und vielleicht meinte er auch, er müsse sich als Witwentröster geben, um sie nicht zu enttäuschen.
»Nee nee nee«, sagte sie laut, während sie nun mit Mutz am Klosterwäldchen vorbeifuhr, »nee nee nee, nicht mit mir.«
Er hatte es wohl nicht verstanden und auch nicht verstehen wollen, daß sie ihn ernstlich abgewehrt hatte. Am Abend war er sogar in ihr Zimmer gekommen, das sie, Mutz wegen, offen gelassen hatte. Mutz pflegte abends im Wohnzimmer zu liegen und erst später in ihr Schlafzimmer zu kommen, um dort ihren eigentlichen Hundeplatz einzunehmen. Deshalb ließ Heide ihre Schlafzimmertür immer ein wenig offen stehen. Und da kam nun Walter, im Schlafanzug, unmißverständlich.
Er hatte ihr gut gefallen – vorher. Er war gewachsen an den Schwierigkeiten des Lebens. Dies aber verdroß sie. Nein, sie wollte nicht ›getröstet‹ werden. Wenn überhaupt, dann suchte sie sich den Tröster selbst aus. Und außerdem, jetzt, als Großmutter – wie schrieb Fontane in seinem unsterblichen Stechlin? »Das ging nun dreißig Jahre, und es war nicht immer leicht gewesen, aber nun war es geschafft.« Sie hatte sich, so wie der alte Dubslav, eine Philosophie zusammengebaut, eine heitere, klaglose, nicht etwa: »Warum muß gerade ich den geliebten Partner der eigenen Generation so zeitig verlieren?«, sondern: »Mit ihm wäre es schöner gewesen, aber so ist es auch ganz schön.« Ehrlich gesagt, war ihre Ehe nicht nur »ganz schön« gewesen, sondern sehr schön, mitunter wunderschön. Freilich, bis die Kinder groß waren, hatte es manche Sorgen gegeben, aber welches Leben ist ohne Sorgen! Ihre Kinder hatten alle ihren Weg gemacht und Heide war dem Leben dankbar dafür. Sie selbst lebte klugerweise allein, mit Mutz als Gesellschaft und ihrem geliebten Schachteltrio, das sie mit zwei anderen älteren Frauen, zwei alten Schachteln wie sie selbst, gegründet hatte. Sie selbst spielte Bratsche, die eine Geige und die andere Cello. Wer Musik ausübt, ist nie ganz einsam. Sie verbrachten viele schöne Stunden miteinander, musizierend und nachher schwatzend, in einer herzlichen und gleichzeitig unverbindlichen Freundschaft. Nein, mir fehlt es an nichts, lieber Walter. Aber ich will tolerant sein und dir deine geplanten Übergriffe nicht verargen. Jedermann macht mal einen Fehler.
So fuhr sie dahin. Es war ein Genuß zu fahren, um diese Zeit störte der Verkehr nicht allzuviel. Alle Straßenschilder waren gut zu erkennen – Deutschland ist das bestbeschilderte Land, hatte neulich einer ihrer Söhne geäußert, der lange in Irland gelebt hatte. Und das Wetter war freundlich. Kurzum, Heide meinte wieder einmal, sie beneide nur einen einzigen Menschen auf der Welt, und das sei sie selbst.
Sie freute sich auf ihre Kinder und auf die Enkel. Es war immer spannend, die Jungen neu kennenzulernen. Sie entwickelten sich von einem Besuch zum anderen weiter, und eigentlich oft überraschend. Wie zum Beispiel hatte sich Ulrike entwickelt, an Hans’ Seite, wie war sie gewachsen! Ihre Situation innerhalb der Familie als das mittlere von drei Kindern – ›nur ein Mädchen zwischen zwei Buben‹ – hatte sie natürlich geprägt. Daß später noch zwei Geschwister nachkamen, änderte nicht mehr viel. Die ersten Jahre sind entscheidend. Sie strebte, wohl auch deshalb, zeitig in den Beruf und hatte die Schule mit sechzehn Jahren verlassen, in einer fremden Stadt die Buchhändlerlehre begonnen und abgeschlossen. War ihren Weg gegangen, bespöttelt von ihren Brüdern, die sie erst später schätzen lernten, und hatte, unwahrscheinliches Glück, auf Anhieb den richtigen Mann gefunden: Hans, den Menschenbildner. An seiner Seite wurde sie, was sie jetzt war: sie selbst; munter, eigenständig, unbefangen auch Fremden gegenüber und von tätigem Sozialbewußtsein erfüllt. Nicht nur, daß jeder aus der weiteren Verwandtschaft immer zu ihr kommen konnte, wenn geholfen werden mußte, auch ungezählte Fremde hatte sie aufgenommen und in ihre Familie integriert. Hatte Kinder bei sich gehabt, deren Mütter noch eine Berufsausbildung fertig machten oder umsatteln wollten, Großmütter eingeladen, die auf Zeit betreut werden mußten, ausländischen Studenten auf die Beine geholfen. Daß ihr Haushalt dabei oft litt, daß es drunter und drüber ging und auch finanziell nicht recht durchzuführen war, störte weder sie noch Hans. Heide hatte oft schon Löcher gestopft, wenn es unumgänglich war, aber sie überblickte dieses muntere Leben nicht genau, hätte sich auch, altersbedingt, sicherlich oft Sorgen gemacht. Doch immer wieder siegte Ulrikes unbedenkliche Art, sie ließ sich nicht ausnützen, obwohl sie mit beiden Händen »streute«. Und – das machte sie so einmalig –, sie streute mit Liebe und Wärme.
Heide lächelte vor sich hin, während sie dieser Tochter entgegenfuhr. Möge das Leben ihr freundlich gesinnt bleiben! Mehr brauchte man ihr gar nicht zu wünschen. Nun war sie gespannt, wie die beiden Enkelsöhne sich inzwischen entwickelt hatten. Es ist ja so, daß Kinder sehr guter Pädagogen manchmal recht unerzogen sind.
Als die Jungen noch klein waren, hatte Heide, wie so manch eine Großmutter, mitunter gedacht, es wäre nicht schlecht, sie etwas strenger heranzunehmen. Sie durften vieles, was Heides Kinder in diesem Alter nicht gedurft hatten: sich im Beisein von Besuch verprügeln, bei Tisch derart ungezwungen herumwirtschaften, daß nicht eine einzige Mahlzeit zu Ende ging ohne umgeworfene Becher, verschmutzte Tischtücher oder – was Heide vor allem nicht leiden konnte – nur halb leer gegessene Teller. Die Notzeit, da jedes Stückchen Brot, jede halbe Kartoffel eine Kostbarkeit gewesen waren, konnte sie einfach nicht vergessen. Jetzt aber hieß es in allen klugen Erziehungsbüchern, man dürfe ein Kind nie zwingen, den Teller leer zu essen, so wie man ein Kind auch niemals schlagen dürfe. Ulrikes Buben waren tatsächlich ohne Schläge aufgewachsen, auch ohne die endlosen Ermahnungen von früher: »Benehmt euch anständig bei Tisch!«, dennoch konnte man mit ihnen im Hilton essen. Wie Hans und Ulrike das fertiggebracht hatten, war Heide schleierhaft. Ihr waren Tischmanieren wichtig, ebenso wie die Reinlichkeit. Aber diese Frage – ach ja, ach ja!
Natürlich hatte Ulrike ihre Kinder täglich gebadet, als sie klein waren. Jetzt aber hieß es schon lange: Seife zerstört den natürlichen Säuremantel der Haut, man darf sie nicht zuviel schrubben, die zarte junge Haut. Herr des Himmels, wie hätte denn der Säuremantel ihrer Generation ausgesehen! Einer Generation, die sich gern wusch, die gern duschte, in schlimmen Zeiten zehn Kilometer Fußmarsch in Kauf genommen hatte, um einmal in eine heiße Wanne steigen zu können, und sommers, wenn es gar nicht anders ging, ins Freie geradelt war, um sich von oben bis unten im Bach zu waschen. Er müßte ja in Fetzen hängen, der vielumhegte Säuremantel! Und die Hoffnung, daß die Liebe zur Sauberkeit mit der ersten Liebe käme, die konnte man getrost in den Schornstein schreiben. Denn heute begeisterten sich die jungen Männer anscheinend nur für Mädchen mit ähnlichen Ansichten, zotteligen Mähnen und dem gewissen »strengen« Geruch, den sie selbst wohl nicht merkten. Daß Reinlichkeit keine Tugend, sondern ein Vergnügen war, hatte diese Generation noch nicht begriffen.
Heide gingen diese Gedanken durch den Kopf, während sie in dem Städtchen, in dem Ulrike und Hans wohnten, das Spielzeuggeschäft durchstöberte. Was bringt man Vierzehn- und Zwölfjährigen mit, um eine willkommene Großmutter zu sein? Frühere Generationen suchten sich mit soldatischem Zubehör beliebt zu machen. ›Fahn und Säbel und Gewehr–‹, das gab es heute leider auch schon wieder. Lieber etwas zum Basteln? Wie wäre es mit einem Experimentierkasten? Nein, doch nicht, die beiden sprengten dann wohl gelegentlich das ganze Elternhaus in die Luft. Vielleicht aber ein Segelflugmodell?
Was würde man Mädchen in diesem Alter schenken? Puppen? Kleinstkinder werden heutzutage oft von den jungen Vätern gewickelt, weil Mütterchen berufstätig ist. Also auch Puppen nicht mehr gefragt? Oder für beide Geschlechter akzeptabel? Heide bezweifelte das. Auch die modernste Großmutter wird zögern, Enkelsöhnen Puppen mit Zubehör, mit Windeln und Strampelhöschen, als Spielzeug anzubieten.
Schön, bleiben wir bei Flugzeugen. Heide entschied sich für zwei verschiedene Modellkästen und verließ erleichtert den Laden. Auf diese Weise sorgte man für Beschäftigung bei gutem und schlechtem Wetter: Bei Regen konnten die Jungen bauen und bei Sonne fliegen lassen. Erfahrungsgemäß ist es zwar meist umgekehrt. Beim schönsten Wetter sitzen Kinder besonders gern über dem nie endenden Spiel, bei dem man Straßen, Plätze und Häuser kauft und verkauft, spekuliert und den Mitspieler übers Ohr haut, oder sie müssen fernsehen. Das allerdings gab es bei Ulrike nicht, man lebte ohne ›Glotze‹, darin waren die Eltern bisher konsequent geblieben. Mit dem Erfolg, daß die Jungen zum Nachbarn gingen und dort eben alles anschauten, und nicht nur klug Ausgewähltes. Nun, das war nicht Heides Problem.
Sie kaufte noch eine Steige reife Pfirsiche; Schokolade bringt eine Großmutter von heute nicht mehr mit. Obst ist überall willkommen. Zufrieden mit sich hob sie die kleine Holzkiste auf den rechten Vordersitz des Autos, klappte die Tür zu und sah, als sie sich umdrehte, in ein lachendes rundes Gesicht. Sie erkannte es sofort, und dieses spontane Erkennen löste bei ihr einen Gluckser aus, über den das Gesicht noch mehr ins Lachen geriet.
»Heide, ich wußte es doch!«
»Elfi! Nein, wie kommst du hierher?«
Sie waren Klassenkameradinnen gewesen und hatten sich Jahrzehnte nicht gesehen.
»Ganz sicher war ich mir nicht, aber als du so schautest – so hast du früher auch geguckt!«
»Aber du hast dich gar nicht verändert!«
»Leider. Du siehst mich noch in ganzer Fülle.«
Elfriede Habicht war immer dick gewesen. Essen war ihre Leidenschaft, wie Heide sich erinnerte. Um so komischer wirkte ihr Kosename »Elfi«. Daß ihr Vater Professor gewesen war, wußte Heide auch noch, und daß ihre beiden Schwestern ganz normale Figuren hatten. Elfi war übrigens über ihre eigene Gestalt gar nicht bekümmert.
»Vor zwei Jahren«, erzählte sie strahlend, während sie half, die Kiste mit den Pfirsichen hinten zu verstauen, »da hat es mich mal gepackt. Und ich hungerte verbissen, hungerte mir vierzig Pfund herunter. Ob man davon schöner wird, steht dahin. Ich jedenfalls wurde es nicht. Ich sah aus wie Dürers Mutter, du kennst ja das Bild, verhärmt und traurig. Nun ja, und da mußte ich zu einem Orthopäden, wegen einer geringfügigen Sache an der Hüfte, langweilig zu erzählen. Der kannte mich noch nicht.
›Also, gnädige Frau, als erstes müssen Sie jetzt abnehmen, abnehmen, abnehmen‹, sagte er. Nachdem ich vierzig Pfund los war! Ich sag dir, das hat mich so geschockt, daß ich gleich anfing zu essen. Die vierzig Pfund sind wieder drauf.«
Heide mußte lachen. So war Elfi immer gewersen, und eigentlich sah sie reizend aus, wenn man den Blick auf das Gesicht beschränkte. Rund die Wangen, ohne Falten, mit herrlichen Farben. Nur durfte man die Augen nicht weiter südwärts schweifen lassen.