Hermeneutik - Kasuistik - Fallverstehen - Andreas Wernet - E-Book

Hermeneutik - Kasuistik - Fallverstehen E-Book

Andreas Wernet

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Beschreibung

Dieser Band widmet sich der Bedeutung des Fallverstehens für die erziehungswissenschaftliche Forschung und die pädagogische Praxis. Das Buch veranschaulicht exemplarisch die unterschiedlichen kasuistischen Zugriffsweisen. An Interpretationsbeispielen werden Methodologien, Verfahren und Herangehensweisen in unterschiedlichen pädagogischen Handlungsfeldern (Schulpädagogik, Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung) vor Augen geführt. Dabei kommt den pädagogisch-praktischen Implikationen dieser Forschungsverfahren besondere Aufmerksamkeit zu. Denn die Bedeutung von Hermeneutik, Kasuistik und Fallverstehen stützt vor allem auch auf die berufspraktische Relevanz der so gewonnenen Befunde. In der Neuauflage werden aktuelle kasuistische Positionsbestimmungen diskutiert. Dr. Andreas Wernet hat die Professur für Schulpädagogik mit dem Scherpunkt Schul- und Professionsforschung am Institut für Erziehungswissenschaft (IEW) der Leibniz Universität Hannover inne.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort der Herausgebenden

Die Herausgebenden

Vorwort zur 2. Auflage

Prolog Hermeneutik im Zeichen einer zweiten »realistischen Wende«

Lektüreempfehlung zu diesem Kapitel

Kapitel 1 Methodologische Verortungen

1 Zum Konzept der Wirklichkeitswissenschaft

Lektüreempfehlung zu diesem Kapitel

2 Hermeneutik: Verstehen als Textrekonstruktion

Methodologische Elementarbestimmungen der Hermeneutik

Das Fremde als Zuständigkeitsbereich der Hermeneutik

Der Text als Ausdruck und Protokoll

Hermeneutik als Rekonstruktion

Allgemeines und Besonderes: Der Fall

Lektüreempfehlung zu diesem Kapitel

Kapitel 2 Von der geistes- zur wirklichkeitswissenschaftlichen Hermeneutik

Beispiel 1: Der Litauische Schulplan (Klafki)

Hermeneutik oder Empirie?

Beispiel 2: Der erste Schultag (Combe)

Zusammenfassung

Lektüreempfehlung zu diesem Kapitel

Kapitel 3 Von der illustrativen zur rekonstruktiven Kasuistik

Beispiel 1: Die Wirklichkeit des Hauptschülers (Wünsche)

Beispiel 2: Zur Paradoxie der Aufforderung zur Autonomie (Helsper)

Zum Problem der Normativität

Resümee: Zum Fallbegriff

1. Fallrekonstruktion statt Fallillustration

2. Der Fall zwischen Theorie und Praxis

Lektüreempfehlung zu diesem Kapitel

Kapitel 4 Kasuistische Erkundungen

1 Partnerarbeit im Mathematikunterricht

Zur Analyse der Aufgabenstellung

Zusammenfassung

Lektüreempfehlung zu diesem Kapitel

2 Goethes Ganymed

Ganymed für Schüler

Didaktik und Halbbildung

Lektüreempfehlung zu diesem Kapitel

3 »Bauernhöfe«

Lektüreempfehlung zu diesem Kapitel

4 Die »Wiederholungsübung«

Lektüreempfehlung zu diesem Kapitel

Resümee

Epilog Kasuistik in erziehungswissenschaftlichen Forschungs- und Praxisfeldern

Literatur

Grundrisse der Erziehungswissenschaft

Herausgegeben von Jörg Dinkelaker, Merle Hummrich, Wolfgang Meseth, Sascha Neumann und Christiane Thompson

Der Autor

Dr. Andreas Wernet hat die Professur für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Schul- und Professionsforschung am Institut für Erziehungswissenschaft (IEW) der Leibniz Universität Hannover inne.

Andreas Wernet

Hermeneutik – Kasuistik – Fallverstehen

Eine Einführung

2., aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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2., aktualisierte Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-042140-0

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-042141-7epub:ISBN 978-3-17-042142-4

Vorwort der Herausgebenden

Die »Grundrisse der Erziehungswissenschaft« verfolgen angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung und Pluralisierung von pädagogischen Feldern und wissenschaftlicher Grundlagen den Anspruch einer begrifflich-systematischen Einführung in die Erziehungswissenschaft. Die Reihe führt in erziehungswissenschaftliche Teildisziplinen und Forschungskontexte ein, wobei ihr Bezug zu pädagogisch-professionellen Feldern eine besondere Berücksichtigung erfährt. Im Sinne gesellschafstheoretischer Reflexion greift die Reihe z. B. auch zeitgenössische Schlüsselprobleme der erziehungswissenschaftlichen und pädagogischen Reflexion auf.

Die »Grundrisse der Erziehungswissenschaft« zielen darauf ab, widerstreitende Auffassungen in Forschung, Theoriebildung und Praxis als Teil erziehungswissenschaftlicher Selbstverständigung zu vermitteln und auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse, Problemstellungen und Konflikte zurückzubeziehen. Ein Nachdenken über Erziehung, Bildung und Lernen erfordert gleichermaßen eine breite Einbettung in die wissenschaftliche Diskurslandschaft wie in andere gesellschaftliche Kontexte (Politik, Wirtschaft, Religion, Medizin). Indem die »Grundrisse« auch die historische Genese, die epistemologischen Konturen und öffentlichen Geltungsbedingungen erziehungswissenschaftlichen Wissens und pädagogischer Semantiken aufgreifen, eröffnen sie überdies eine kritische Reflexion ihrer Methoden und Wissensformen.

Die Herausgebenden

Jörg Dinkelaker (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg)Merle Hummrich (Goethe-Universität Frankfurt am Main)Wolfgang Meseth (Goethe-Universität Frankfurt am Main)Sascha Neumann (Eberhard Karls Universität Tübingen)Christiane Thompson (Goethe-Universität Frankfurt am Main)

Vorwort zur 2. Auflage

Als dieses Buch 2006 in Erstauflage erschienen ist, konnte es schon auf eine bemerkenswerte Tradition der pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Kasuistik zurückgreifen. Gleichwohl war der Begriff noch nicht wirklich etabliert und das Interesse an Kasuistik eher randständig. Es ist wohl vor allem den damaligen Herausgebern der Reihe »Grundriss der Pädagogik/Erziehungswissenschaft« (Werner Helsper, Christian Lüders, Frank-Olaf Radtke, Jochen Kade und Werner Thole) zu verdanken, dass darin überhaupt ein Band unter dem Titel »Kasuistik« aufgenommen wurde.1

Diese Situation hat sich grundlegend geändert. Die Diskussion um Kasuistik – und vor allem um kasuistische Lehrer/innenbildung – hat im deutschsprachigen Raum seither eine erhebliche Intensivierung und Verdichtung erfahren. Das lässt sich an der Vielzahl der Publikationen und der Vielzahl von kasuistischen Tagungen und Workshops ablesen. Hier sei stellvertretend auf die von Irene Pieper u. a. (2014), Merle Hummrich u. a. (2016), Melanie Fabel-Lamla u. a. (2020) und Doris Wittek u. a. (2021) herausgegebenen Sammelbände verwiesen und auf die »Arbeitsgemeinschaft Kasuistik in der Lehrer/innenbildung«, die auf einer von Katharina Kunze und Bernd Stelmaszyk 2014 in Würzburg veranstalteten Tagung ins Leben gerufen wurde und die seither regelmäßige Arbeitstreffen in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland veranstaltet (vgl. http://www.ag-kasuistik.de). Mit guten Gründen könnte man von einer kasuistischen Bewegung sprechen, die sich in dem Diskurs um die Lehrer/innenbildung formiert hat.

Diese kasuistische Bewegung gestaltet sich ausgesprochen vielfältig und facettenreich. Ihr gemeinsamer Nenner stellt das Interesse an einer material gehaltvollen und an der konkreten pädagogischen Praxis orientierten Lehrer/innenbildung dar. Dieses Interesse steht in einer langen Tradition einer exemplarischen, reflektierenden Auseinandersetzung mit der beruflichen Handlungspraxis und der ihr eigenen Phänomene und Problemdimensionen. Gemeinsam ist diesem Interesse das Misstrauen gegenüber den Vorstellungen einer technizistischen Lehrer/innenbildung. Denn wenn die berufliche Handlungspraxis selbst nicht als Technologie beschreibbar ist, kann die berufliche Bildung bzw. Ausbildung schwerlich in der Vermittlung und Aneignung von Technologien bestehen.

Insofern kann das gesteigerte Interesse an einer kasuistischen Lehrer/innenbildung auch als eine Reaktion auf den diskursiven Raumgewinn kompetenztheoretischer Modelle interpretiert werden. Deren Suggestivität beruht auf der einfachen Gleichung, dass der unterrichtlichen Hervorbringung von Kompetenzen die universitäre Hervorbringung von Kompetenzhervorbringungskompetenzen korrespondiert. Das führt notgedrungen zu einer Angleichung der universitären Lehrer/innenbildung an die schulische Praxis.

Es liegt auf der Hand, dass unterrichtstheoretische Modelle, forschungsmethodische Paradigmen und hochschuldidaktische Ansätze in einer wahlverwandtschaftlichen Beziehung zueinander stehen. Sie sind durch »Denkstile« (Fleck 1980) verbunden. So korrespondiert der forschungsmethodische Anspruch der Vermessung unterrichtlicher ›Outcomes‹ (Lehr-Lern-Ergebnisse des Unterrichts) mit einer outcome-orientierten Unterrichtstheorie (Lehr-Lern-Forschung) und mit den Vorstellungen einer outcome-orientierten Lehrer/innenbildung (Kompetenzbildung im Sinne von Lehr-Lern-Ergebnissen der universitären Lehre). Die fallverstehende Rekonstruktion unterrichtlicher Interaktion korrespondiert mit einer ›praxeologischen‹ Unterrichtstheorie und einem praxisreflektierenden Anspruch der Lehrer/innenbildung. Der hermeneutische Forschungszugriff thematisiert die unterrichtliche Praxis als hermeneutische und folgerichtig die Lehrer/innenbildung als einen genuin hermeneutischen Prozess.

Eine grundlegende Vorentscheidung des vorliegenden Buches besteht darin, den hermeneutisch-kasuistischen Standpunkt forschungslogisch zu begründen. Im Kern orientieren sich die vorgetragenen Überlegungen zu einer kasuistischen Lehre nicht an dem Bezugssystem der Hervorbringung von Ergebnissen dieser Lehre, sondern an dem Bezugssystem der Qualität dieser Lehre als performative Praxis. Sie orientieren sich, mit Luhmann gesprochen, nicht an der Zweckprogrammierung, sondern an der konditionalen Programmierung. Die Frage der Kasuistik, so wie sie hier aufgeworfen wird, ist also nicht die Frage danach, was die Kasuistik erreichen oder bewirken kann, sondern welche Orientierungen und Prinzipien sie der Lehre geben kann.

Auf diese Frage gibt dieses Buch im Sinne einer Positionsbestimmung eine eindeutige Antwort: Die heutige Kasuistik wird als ein Prozess der Transformation beschrieben, der sich in dem Selbstverständnis und Selbstanspruch erziehungswissenschaftlicher Forschung und Lehre unter dem Einfluss der Entwicklung qualitativer Forschungsmethoden vollzieht. Diese vor allem durch sozialwissenschaftliche Forschungen getragene Methodenentwicklung ist für die Erziehungswissenschaft auch deshalb folgenreich, weil sie anschlussfähig ist an Traditionen pädagogischen Denkens; nämlich an die Tradition einer geisteswissenschaftlichen Hermeneutik und an die Tradition einer gedanklichen Auseinandersetzung mit konkreten pädagogischen Kontexten und Handlungssituationen. Beiden Traditionen wohnt ein wirklichkeitswissenschaftliches Moment inne, das sich zwar artikuliert, das aber im immanenten Rahmen dieser Traditionen nicht entwicklungsfähig ist. Erst der Kontakt mit sozialwissenschaftlichen Forschungsansätzen führt zu einer ›Entfesselung‹ des wirklichkeitswissenschaftlichen Moments; einer Autonomisierung wissenschaftlicher Geltungsansprüche gegenüber den tradierten normativen und praktischen Ansprüchen.

Dieser Prozess wird in diesem Buch als Transformation einer geistes- in eine wirklichkeitswissenschaftliche Hermeneutik (▸ Kap. 2) und als Transformation der illustrativen in eine rekonstruktive Kasuistik (▸ Kap. 3) beschrieben. Diese Beschreibung beruht auf der Annahme komplementärer Bewegungen. Während sich die hermeneutische Tradition damit schwer tut, ihre methodische Ernsthaftigkeit und Diszipliniertheit (»den Autor besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat«; vgl. S. 50), die sie an der Auseinandersetzung mit ›außeralltäglichen‹ und ›heiligen‹ Texten gebildet hat, auf die ›profanen‹ Texte der alltäglichen Interaktion anzuwenden, tut sich die kasuistisch konkrete und exemplarische Tradition damit schwer, ihren empirischen, an der Konkretion interessierten Blick methodisch zu disziplinieren. Dem Empiriedefizit der hermeneutischen Tradition steht ein Methodendefizit der kasuistischen Tradition gegenüber. Vor dem Hintergrund der sozialwissenschaftlichen Methodenentwicklung löst sich diese Spannung auf. Die wirklichkeitswissenschaftliche Transformation der hermeneutischen Tradition geht Hand in Hand mit der forschungsmethodischen Transformation der konkret-exemplarischen Tradition.

Damit ist der Rahmen eines empirisch begründeten, methodisch kontrollierten Forschungsverständnisses abgesteckt, der im heutigen Wissenschaftsverständnis eigentlich nicht zur Disposition steht. Diese wissenschaftlich nicht hintergehbare Orientierung an Geltungsansprüchen stellt aber natürlich nicht nur für die wissenschaftliche Forschung ein verbindliches Bezugssystem dar; sie stellt auch für die universitäre Lehre einen verbindlichen Orientierungsrahmen dar. Denn universitäre Lehre ist zuallererst und wesentlich die Lehre der universitär institutionalisierten Wissenschaften. Die kasuistische Lehre ist insofern zunächst nichts anderes als die Lehre, die einem hermeneutisch-fallverstehenden Forschungsverständnis folgt und damit diesen erziehungswissenschaflichen Teilbereich in der universitären Lehre repräsentiert.

Die kasuistische Bewegung bezieht ihre Antriebsenergie aber nicht aus dem Zusammenhang zwischen einer wissenschaftsparadigmatischen Position und ihrem Niederschlag in der wissenschaftlichen Lehre. Dieser Zusammenhang, der in allen universitären Disziplinen anzutreffen ist, ist auch nicht dazu geeignet, eine besondere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die ›Attraktivität‹ der Kasuistik beruht nicht darauf, dem Wissenschaftsanspruch der universitären Lehre Geltung zu verschaffen; sie beruht darauf, mit dem ihr eigenen Wissenschaftsanspruch zugleich den Praxisanspruch der Lehre zu befriedigen.

Denn die universitäre Lehre, die im Kontext pädagogisch-berufsorientierter Studiengänge erfolgt – und das gilt in besonderem Maße für das Lehramtsstudium –, ist dem Anspruch der beruflichen Qualifizierung im Studium ausgesetzt. Damit wird die universitäre Lehre unter ganz andere Ansprüche als die genuin und immanent wissenschaftlich einzulösenden gestellt. Dieser doppelte Anspruch, der die Erziehungswissenschaft schon in ihrer universitär-disziplinären Institutionalisierung begleitet und der sich in der terminologischen Unterscheidung von Pädagogik und Erziehungswissenschaft reproduziert (ausführlich dazu König 2021), führt zu einem nicht stillstellbaren Dauerproblem, das nach (strukturell notwendig unbefriedigenden) Lösungen drängt. Das besondere Interesse an der Kasuistik speist sich wesentlich aus der Hoffnung, diese habe eine Lösung für das Problem der Versöhnung wissenschaftlicher und berufspraktischer Ansprüche zu bieten. Die Lehre, die sich als kasuistische versteht und bezeichnet, ist eine Lehre, die sowohl wissenschaftlichen als auch berufspraktischen Ansprüchen genügt.

Die Frage der Auslotung des Verhältnisses zwischen wissenschaftlichen und berufspraktischen Ansprüchen der kasuistischen Lehre steht im Zentrum der Debatten der letzten Jahre. Dabei kann sich die Kasuistik darauf berufen, dass eine hermeneutisch-fallrekonstruktive, wirklichkeitswissenschaftliche Beschäftigung mit den Phänomenen der pädagogischen Praxis zweifelsohne einen Bezug zu dieser Praxis aufweist. Der Fall stellt das »Fenster zur Praxis« (Thon 2016) dar. Dieser Praxisbezug scheint mir unbestritten. Er stellt gleichsam den ›kleinsten gemeinsamen Nenner‹ der Kasuistik dar. Und in gewisser Weise ist dieser ›Minimalkonsens‹ einer kasuistischen Lehre schon deshalb bemerkenswert, weil es dem alternativen Wissenschaftsverständnis, nämlich der quantitativ prozedierenden ›empirischen Bildungsforschung‹, an einem Modell der aus ihr hervorgehenden praxisbezogenen Lehre mangelt. Auch wenn der Praxisbezug der kasuistischen Lehre sich kaum in den Anspruch einer Praxisqualifikation ummünzen lässt, stiftet er doch eine größere Praxisnähe als eine Lehre, die die Studierenden die zahlenförmige Vermessung der Bildungswirklichkeit lehrt.

Allerdings werden in der kasuistischen Debatte auch Praxisansprüche geltend gemacht, die über den Praxisbezug im Sinne einer immanenten Qualität der kasuistischen Lehre hinausgehen. Die kasuistische Lehre soll nicht nur ihre wissenschaftliche Dignität hinsichtlich bedeutsamer Phänomene der pädagogischen Praxis verantworten. Sie soll darüber hinaus für eine berufspraktische Wirksamkeit, eine praxisbedeutsame Folgenhaftigkeit der kasuistischen Lehre einstehen. Sie soll berufliche Fähigkeiten ausbilden.

Der Hauptstrang dieser Argumentation beruht, kurz gesagt, auf der Formel der Herausbildung einer »Reflexionskompetenz«, die die Studierenden im Rahmen der kasuistischen Lehre erwerben. Häufig wird dabei von der Ausbildung eines »reflexiven Habitus« gesprochen, die einen wesentlichen Beitrag zur Professionalisierung der Studierenden leisten soll.

Dieses Modell hat die kasuistischen Diskussionen der letzten Jahre dominiert. »Professionalisierung« wird weithin als »übergeordnetes Ziel der Fallarbeit in der Lehrer*innenbildung« angesehen (Schmidt/Wittek 2021a: 173). Allerdings mehren sich in jüngster Zeit skeptische Stimmen, die die einfache Formel, dass eine fallbasierte Lehre eine Reflexionskompetenz hervorbringe, die zur Professionalisierung im Sinne einer Habitusbildung führen würde, in Frage stellen.

Das betrifft zunächst den Professionalisierungsbegriff. Helsper hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Vorstellung einer Professionalisierung im Sinne eines individuellen, sich auch und vor allem im Rahmen der Ausbildung vollziehenden Entwicklungsprozesses deutlich unterschieden werden muss von der Annahme einer institutionell gestifteten Professionalität (vgl. dazu Helsper 2021a, 57). So wird die von Oevermann hypostasierte »Professionalisierungsbedürftigkeit pädagogischen Handelns«, die wesentlich auf ein strukturelles Defizit der Institutionalisierung pädagogischer Berufe zielt (vgl. Oevermann 2002), unter der Hand zu einer Entwicklungsanforderung, die an die pädagogischen Akteure gerichtet ist. Aber gegenüber der strukturellen Rahmung des pädagogischen Handelns ist die Ausbildung, auch und nicht nur die kasuistische, machtlos. Allenfalls eröffnet sie einen »professionalisierenden Möglichkeitsraum« (Helsper 2021b, 167).

Das betrifft aber auch das Modell der kasuistischen Herausbildung einer berufspraktisch bedeutsamen Fähigkeit zur Praxisreflexion. Wenzl attestiert diesem Modell ein »quasi-kompetenztheoretisches Professionsverständnis, das mit ihrem qualitativ-rekonstruktiven Forschungskern eigentlich nicht zu vereinbaren ist« (Wenzl 2021, 282). Damit legt er den Finger in die Wunde einer implizit technizistischen Kasuistik. Die Fähigkeit zur Reflexion stellt als solche zwar keine Technik dar. Aber die Vorstellung der systematischen Hervorbringung dieser Fähigkeit folgt strukturell demselben Lehr-Lern-Kurzschluss, den die fallrekonstruktive Forschung an den sogenannten kompetenztheoretischen Modellen dezidiert kritisiert. Dieser kasuistisch-technokratische Kurzschluss wird durch einen »semantischen Trick« übertüncht: »So steht der Begriff der Reflexion ja assoziativ geradezu in Opposition zum Begriff der Wirkung. Wer von Reflexion in Bezug auf pädagogisches Handeln spricht, scheint entsprechend gerade nicht in Wirkungskategorien zu denken« (Wenzl 2021, 294).

Die Wirkungssemantik, die die Diskussionen um eine kasuistische Lehre begleitet, wäre allerdings dann kaum der Rede wert, wenn sie sich auf einen Legitimationsdiskurs bzw. eine legitimatorische Argumentation beschränken würde. Sie würde sich dann die Suggestion, dass der wirklichkeitswissenschaftliche Praxisbezug ihrer Lehre zugleich zu handlungspraktisch folgenreichen Ergebnissen führt (Professionalisierung; Reflexionskompetenz), zunutze machen, ohne zu verkennen, dass es sich bei dieser Vorstellung der Praxiswirksamkeit lediglich um eine Imagerie (vgl. Wernet 2016; Helsper 2021a) bzw. lediglich um eine politisch-legitimatorische Deklaration handelt.

Dass im kasuistischen Diskurs nicht nur substantielle, sondern auch legitimationswissenschaftliche Argumentationen (vgl. Wernet 2021) zu finden sind, steht außer Frage. Das entspricht der allgemeinen bildungspolitischen Tendenz, die Erziehungswissenschaft möge ihren ›praktischen Nutzen‹ selbst ausweisen und dem erziehungswissenschaftlichen Selbstverständnis, dass dieser Ausweis tatsächlich zu ihren zentralen Aufgabenfeldern gehört. Problematisch wird dieser Diskurs erst dann, wenn die legitimatorischen Modelle als substantielle verstanden werden; wenn sich also das forschungs- und erkenntnislogische Selbstverständnis der Fallrekonstruktion den Vorstellungen ihrer Praxiswirksamkeit unterwirft und sich an ihnen ausrichtet. Damit gehen nicht nur unproduktive und irritierende Vermengungen einher; damit wird zugleich ein Schlüsselproblem des kasuistischen Diskurses unkenntlich gemacht; nämlich die unvermeidliche Frage nach dem Primat eines erkenntnisorientierten bzw. praxisorientierten Kasuistikverständnisses.

Diese Frage nimmt in den »Verhältnisbestimmungen« (Fabel-Lamla u. a. 2020) und »Ordnungsversuchen« (Wittek u. a. 2021), die in jüngster Zeit zur Kasuistik vorliegen, eine zentrale Rolle ein. Fast durchgängig finden wir hier als eine Unterscheidungsdimension die Gegenüberstellung einer die primär erkenntnisverpflichteten und einer primär praxisverpflichteten Kasuistik. So unterscheidet Ohlhaver zwischen einer »rein wissenschaftlichen« und einer »entscheidungsorientierten Kasuistik« (Ohlhaver 2011); Meseth zwischen einer »pädagogischen« und einer »erziehungssoziologischen Kasuistik« (Meseth 2016, 45 ff.); Kunze zwischen einer »rekonstruktiven« und einer »praxisreflexiven Kasuistik« (Kunze 2016, 117) bzw. zwischen »Konzepten fallbasierten Lernens« und »Konzepten rekonstruktiver Kasuistik« (Kunze 2018; vgl. auch Heinzel 2021); Hummrich stellt typologisch einer »problemlösungsorientierten« Kasuistik eine »erkenntnisorientierte Kasuistik« gegenüber (Hummrich 2021, 31). Auch wenn diese Gegenüberstellungen jeweils unterschiedliche Aspekte pointieren, folgen sie doch einer ähnlichen Logik wie die in diesem Buch vorgeschlagene Unterscheidung zwischen einer illustrativen und einer rekonstruktiven Kasuistik (▸ Kap. 3).

Denn all diesen Unterscheidungen ist gemeinsam, dass mit dem »Pädagogischen«, der »Praxisreflexion«, dem »fallbasierten Lernen«, der »Problemlösungsorientierung«, der »Entscheidungsorientierung« oder dem »Illustrativen« eine Relativierung und Schwächung des forschungslogisch begründeten Erkenntnisanspruchs der Kasuistik einhergeht. Insofern gehen diese Modelle mehr oder weniger explizit davon aus, dass einerseits die Erkenntnisorientierung einer forschungsorientierten Kasuistik in der Lehre keine praktischen Problemlösungen zu bieten hat, dass andererseits die pädagogisch-illustrative, problemlösungs- oder entscheidungsorientierte Kasuistik nur um den Preis der mehr oder weniger weitreichenden Suspendierung von Erkenntnisinteressen zu haben ist.

Insofern machen diese Diskussionen darauf aufmerksam, dass Kasuistik nicht dazu in der Lage ist, das tradierte Problem der Verortung und Verhältnisbestimmung eines pädagogischen und eines erziehungswissenschaftlichen Selbstverständnisses zu beseitigen. Die Unterscheidung zwischen Pädagogik und Erziehungswissenschaft, wie auch immer man sie genau fassen mag, wiederholt sich in der Unterscheidung einer pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Kasuistik. Dass das vorliegende Buch als Beitrag zu einer erziehungswissenschaftlichen Kasuistik zu verstehen ist, steht außer Frage. Dass damit eine Zurückhaltung gegenüber pädagogisch-praktischen Ansprüchen einhergeht, scheint mir eine notwendige Folge des Erkenntnisanspruchs einer erziehungswissenschaftlichen Kasuistik zu sein. Dass die auf ein praktisches Bewirken zielenden ›pädagogischen‹ Ansätze dem Erkenntnisanspruch eine gegenüber dem Praxisanspruch nachgeordnete, ›subalterne‹ Rolle zuweisen, scheint mir umgekehrt eine notwendige Folge des Praxisanspruchs der pädagogischen Kasuistik zu sein. Dieses Spannungsverhältnis vermag der kasuistische Diskurs nicht aufzulösen. Aber er ist offensichtlich dazu in der Lage, zur Klärung der Standpunkte und ihrer Implikationen beizutragen.

In diesem Zusammenhang ist schließlich auf einen weiteren Schwerpunkt der kasuistischen Debatte der letzten Jahre hinzuweisen, nämlich auf die kasuistische Selbstbeobachtung der kasuistischen Praxis. Diese Option ist, wie eingangs schon bemerkt, forschungslogisch bedingt. Das empirische Instrumentarium der Messung kann die ihrem Wissenschaftsverständnis folgende Praxis der Lehrer/innenbildung nur nach deren messbaren Outcomes befragen. Sie kann ihre (wie jedwede) Praxis als Praxis nicht in den Blick nehmen. Das empirische Instrumentarium der Fallrekonstruktion ist umgekehrt nicht dazu in der Lage, die Outcomes einer kasuistischen Lehre zu erfassen. Aber es ist natürlich dazu in der Lage, die Praxis der kasuistischen (wie jedweder) Lehre in demselben forschungslogischen Modus zum Gegenstand zu machen, den sie auch gegenüber ihrem primären Gegenstand, nämlich der pädagogischen Praxis, in Anschlag bringt. Der kasuistische Standpunkt impliziert, sich selbst zum Fall machen zu können.

Die Beiträge, die im Kontext dieses ›selbstreflexiven‹ Forschungsansatzes entstanden sind, sind durch ein bemerkenswertes Moment der Selbstkritik geprägt. Im Gegensatz zu den legitimationswissenschaftlichen Tendenzen der kasuistisch-programmatischen Beiträge führt diese empirische Auseinandersetzung nicht zu einem Selbstlob, sondern zu einer Relativierung der programmatisch erhobenen Ansprüche2. Natürlich kann die fallrekonstruktive Analyse der Praxis der fallbezogenen Lehre empirisch jene Effekte der Professionalisierung, der Habitusbildung oder der Herausbildung einer Reflexionskompetenz, selbst wenn sie sich ›in-the-long-run‹ tatsächlich einstellen sollten, nicht aufzeigen. Das läge außerhalb ihrer forschungslogischen Möglichkeiten. Allerdings könnte sie empirisch ein bestimmtes kommunikatives Niveau rekonstruieren, das Anlass zur Hoffnung auf solche Effekte gäbe.

Die diesbezüglichen Forschungsergebnisse weisen nicht in diese Richtung. Die Erwartung einer lebendigen und konzentrierten, material intensiven, sinnerschließenden und theoriebildenden Diskussion, die in etwa der Vorstellung einer professionalisierungsindikativen kasuistischen Lehre entspräche, wird durch die empirische Beobachtung dieser Lehre weitgehend gekränkt. Sie macht vielmehr darauf aufmerksam, dass die gemeinsame, diskursiv-verstehende Sinnerschließung am Fall nicht einfach schon durch das kasuistische Setting gleichsam als selbstläufige Kommunikationspraxis institutionalisiert ist. Die empirischen Untersuchungen zeigen, dass der institutionalisierte Möglichkeitsraum einer handlungsentlasteten und distanzierten Reflexion pädagogischer Praxis kaum als kommunikative Befreiung wahrgenommen wird, sondern als irritierende Herausforderung, als Zumutung und gelegentlich als Überforderung.

Ich will in diesem Zusammenhang nur auf den Topos der studentischen Partizipation3 eingehen, der mir von zentraler Bedeutung zu sein scheint. Denn die kasuistische Lehre stützt sich nicht zuletzt auf die Erwartung, dass die Arbeit am Fall zu einer diskursiven Verlebendigung führt; auch und gerade gegenüber der für das Universitätsseminar stilbildenden, lektüregestützten Theoriediskussion. Die kommunikativen ›Zumutungen‹ (Kunze & Wernet 2014, Kollmer 2019), die mit der seminaristischen Theoriediskussion einhergehen und die sich einerseits in einer ausgesprochen zurückhaltenden Diskussionsbeteiligung, andererseits in dem häufigen Ausbleiben diskursiver Bezugnahme auf die Vorredner/innen (vgl. König 2019) zeigt, sollten sich eigentlich am Gegenstand des Protokolls der konkreten pädagogischen Praxis auflösen. Dem ist nicht so. Tatsächlich geht mit der kasuistischen Lehre ein höheres Maß der Partizipation und der diskursiven Selbstläufigkeit einher. Aber diese Partizipation und Selbstläufigkeit beruht nicht auf der Ingangsetzung einer erkenntnislogisch kohärenten (König 2019) und progressiven Dynamik der rekonstruktiven Sinnerschließung, sondern auf der Freisetzung einer pädagogisch-alltagsweltlichen, jargonhaften Rede (vgl. Wernet 2018). Ihr ist das Protokoll der pädagogischen Praxis kein zu entschlüsselndes Rätsel, sondern lediglich ein Anlass, alltagsweltliche Sichtweisen, »lebensweltliche Bezugnahmen« (Wenzl 2019, 25) oder Projektionen (Ohlhaver 2009) abzurufen. Die kommunikative Öffnung, die die kasuistische Diskussion zweifelsohne leistet, steht also in gewisser Weise im Zeichen der kommunikativer Entdisziplinierung. Die Diskussionen am Fall laufen Gefahr, nicht den Modus der reflexiven Kommunikation, sondern den Modus der assoziativen Kommunikation zu begünstigen. Wo umgekehrt die Disziplin einer konzentrierten Interpretation aufgebracht wird, droht die Arbeit am Fall sich in einem »fruchtlosen Methodenexerzitium« (vgl. Kabel u. a. 2020, 180) zu verlieren.

So macht die empirische Selbstbeobachtung der Praxis der Fallrekonstruktion darauf aufmerksam, dass die kasuistische Lehre kein reibungslos funktionierendes Lehrformat zur Verfügung stellt. Es handelt sich um eine durchaus herausfordernde, Widerstände bearbeitende (vgl. Kramer 2021) Form der Lehre. Das betrifft nicht nur die Zumutungen eines erkenntnisgenenerierenden Diskurses überhaupt, das betrifft auch die Zumutungen einer damit einhergehenden Selbstreflexion. Denn eine »akteursorientierte Kasuistik« (vgl. S. 183 ff.) setzt immer auch die Bereitschaft voraus, sich (eher implizit als explizit) selbst zum Fall zu machen (vgl. Heinrich & Klenner 2020).

Das schmälert nicht die hochschuldidaktischen Qualitäten der kasuistischen Lehre. Damit sind weder die partizipatorischen Potentiale »gemeinsamen Interpretierens« (Reichertz 2013) geleugnet, noch ist damit die Bedeutsamkeit ihres beruflichen Wirklichkeitsbezugs in Frage gestellt. Die Hinweise auf Problemdimensionen der kasuistischen Lehre, auf ihre »strukturell eingelagerten Schwierigkeiten« (Schmidt & Wittek 2021b, 264) und auf ihre ›Fallstricke‹ (vgl. Breidenstein u. a. 2021; Wernet 2021) sollten nicht als Defizitdiagnose verstanden werden. Sie stellen eine empirisch fundierte Auseinandersetzung mit den strukturellen Voraussetzungen, Gegebenheiten und Herausforderungen der universitären Lehre im Allgemeinen, der kasuistischen Lehre im Besonderen dar. Dieser realistische Blick auf die Kasuistik stellt auch keine Selbstschwächung dar. Gerade in der Fähigkeit zur empirisch begründeten ›Selbstkritik‹ und in der Anerkennung ihrer herausfordernden und zumutenden Implikationen stellt die Kasuistik ihre forschungs- und ausbildungslogische Dignität unter Beweis.

Endnoten

1Anmerkung der Herausgeber*innen: Im Vorwort der Neuauflage wurde im Gegensatz zum übrigen Text gegendert. In dieser Diskrepanz spiegelt sich der Wandel in den wissenschaftlichen Sprachkonventionen zwischen dem Zeitpunkt der Entstehung des Ausgangstextes und der neuen Auflage.

2Einen Überblick zum aktuellen Stand dieser Forschung gibt Heinzel (2021: 56 ff.). Vgl. auch Schmidt & Wittek (2021b: 263 ff.).

3Zur Erwartung und Forderung der studentischen Partizipation und der ›aktiven Teilnahme‹: Kollmer (2019: 41 ff.).

Prolog Hermeneutik im Zeichen einer zweiten »realistischen Wende«

Hermeneutik, Kasuistik und Fallverstehen spielen in der Erziehungswissenschaft eine besondere Rolle. Im Kontext dieser Disziplin nehmen diese Konzepte eine eigenständige Position ein. Als solche gehören sie in den methodischen und methodologischen Zusammenhang der Begründung und Herausbildung einer qualitativen oder interpretativen Forschungstradition derjenigen Wissenschaften, die die sinnstrukturierte und sinnkonstituierte Welt zum Gegenstand ihrer Betrachtung machen. Sie gehören erkenntnis- und forschungslogisch unter das gemeinsame Dach einer »sozialwissenschaftlichen Hermeneutik«. Ob wir es mit historischen, ethnologischen, soziologischen, kulturwissenschaftlichen oder erziehungswissenschaftlichen Fragestellungen und Themen zu tun haben; wir sind immer mit einem Gegenstand konfrontiert, dessen Erkenntnis das Verstehensproblem aufwirft. Deshalb haben sich neben den so genannten quantitativen Methoden die so genannten qualitativen Methoden herausgebildet. Erstere widmen sich der Erfassung sozialer Tatsachen, der Feststellung der Häufigkeit ihres Auftretens und der Bestimmung statistischer Zusammenhänge des Auftretens unterschiedlicher Sachverhalte. Letztere zielen auf die sinnverstehende Erschließung der Phänomene der sozialen Welt. Sie wollen die Sinnzusammenhänge, entlang derer sich soziales Handeln strukturiert, rekonstruieren.

Diese forschungsmethodologische Unterscheidung, die sich vor allem in den Sozialwissenschaften gebildet hat, lässt sich auch in der Erziehungswissenschaft beobachten. Das kann nicht verwundern. Denn sowohl erkenntnislogisch als auch methodisch stellen sich hier (wie da) dieselben Probleme. Aus methodologischer Perspektive ist die erziehungswissenschaftliche Forschungssituation keine andere als die sozialwissenschaftliche. Auch hier können wir danach unterscheiden, ob die Tatsachen, die im Kontext der Erziehungs-‍, Bildungs- und Unterrichtsprozesse feststellbar sind, einer quantitativen oder einer qualitativen Erforschung unterzogen werden. Und die methodischen Operationen, die jeweils zur Anwendung kommen, sind keine anderen als diejenigen, die wir in sozialwissenschaftlichen oder psychologischen Nachbardisziplinen antreffen.

Gleichwohl steht die Methodendebatte der Erziehungswissenschaft der letzten 60 Jahre unter anderen Vorzeichen. Der Entwicklung qualitativer Methoden, die in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren erfolgt, steht die Erziehungswissenschaft passiv, unbeteiligt und häufig sogar desinteressiert gegenüber. Erst in den letzten 30 Jahren entwickelt sich ein hermeneutisches, verstehendes oder interpretatives Forschungsverständnis auf der Basis eines wirklichkeitswissenschaftlichen Forschungsprogramms. Wenn aber die erkenntnislogische Situation der Erziehungswissenschaft keine speziellen Probleme aufweist, worauf beruht dann ihre verspätete oder nachträgliche Methodenentwicklung?

Es sind nicht forschungsimmanente Gründe, die für diese Situation verantwortlich sind. Es ist vielmehr das Interesse der Disziplin selbst, das zu dieser bemerkenswerten Lage führt. Die Pädagogik als universitäre Disziplin formiert sich nicht entlang einem ihr eigenen Erkenntnis- und Forschungsinteresse, sondern entlang einem pädagogisch praktischen und zugleich normativen Interesse. Es geht ihr auch und vor allem darum, der pädagogischen Praxis – vor allem der pädagogisch unterrichtlichen Praxis des Lehrers – Orientierungen bereitzustellen und darum, die Frage nach der guten und richtigen pädagogischen Praxis systematisch aufzuwerfen und zu beantworten. Das Zentrum ihrer Zuständigkeit sieht diese Pädagogik in handlungspraktischen und normativen Ansprüchen.

Daraus entsteht innerdisziplinär ein Problem des wissenschaftlichen Selbstverständnisses, das sich leicht an den konkurrierenden Bezeichnungen »Pädagogik« und »Erziehungswissenschaft« ablesen lässt und in das die Frage eines hermeneutischen und kasuistischen methodischen Selbstverständnisses, die uns hier interessiert, unmittelbar involviert ist. Die Differenz der beiden Bezeichnungen besteht darin, dass mit dem Terminus Erziehungswissenschaft weder ein pädagogisch praktischer noch ein normativer Anspruch reklamiert wird. Fragen der Geltung von wissenschaftlichen Aussagen sind damit abgekoppelt von der Frage der wünschenswerten erzieherischen Praxis und der Frage der (berufspraktischen) Realisierung eines als wünschenswert formulierten Zustands. Die Fragen, die die Erziehungswissenschaft aufzuwerfen und zu beantworten beansprucht, stehen auf einem anderen Blatt als die ethischen, normativen oder praktischen Fragen, die im Zentrum des pädagogischen Interesses stehen.4

Das Problem, vor das uns die beiden Bezeichnungen stellen, lässt sich entlang einer Begriffsklärung, die Emile Durkheim vorgenommen hat, erläutern. Er unterscheidet zwischen »pädagogischer Kunst«, »Pädagogik« und »Wissenschaft der Erziehung«. Dem erziehungspraktischen Können ist die Welt der erziehungsrelevanten Ideen und Ideensysteme gegenübergestellt (Pädagogik). Davon unterscheidet Durkheim wiederum die wissenschaftliche Betrachtung der Erziehungswirklichkeit (vgl. Durkheim 1902/03, 57 f.5). Die entscheidende Implikation dieser begrifflichen Differenzierung betrifft den Aspekt der Nichtüberführbarkeit. Auf je andere Weise beziehen sich Kunst, Pädagogik und Erziehungswissenschaft auf denselben Gegenstand. Sowenig dabei die pädagogischen Ideen mit der praktischen Handlungskompetenz gleichgesetzt werden dürfen, so verfehlt wäre es, in der Pädagogik die Wissenschaft der Erziehung zu sehen. Diese wissenschaftssystematische Trennung ist umso bedeutsamer, als die Pädagogik als »System von Ideen« der erziehungswissenschaftlichen Theorie gleichsam zum Verwechseln ähnlich sieht. Die Differenz sieht Durkheim darin, dass die erziehungswissenschaftliche Betrachtung keinen praktischen Einfluss auf die Erziehungswirklichkeit nehmen will.

Von geradezu paradigmatischer Bedeutung wird die Unterscheidung zwischen Pädagogik und Erziehungswissenschaft im Rahmen der von Heinrich Roth so bezeichneten »realistischen Wendung« (Roth 1962). Die Disziplin soll ihr Selbstverständnis ändern: sie soll den Weg von der »Pädagogik zur Erziehungswissenschaft«, so der prononcierte Titel einer grundlegenden Programmschrift von Wolfgang Brezinka, beschreiten. Die Auseinandersetzung mit Erziehungsfragen soll jenen Weg einschlagen, den die anderen Disziplinen schon längst gegangen sind; den der Verwissenschaftlichung.6 Pädagogik enthält »...von dem, was zu einer Wissenschaft gehört, zu wenig und von anderem, was nicht dazu gehört, zuviel...« (Brezinka 1971, 7). Das pädagogische Wissenschaftlichkeitsdefizit, das in ihrer praktisch-normativen Orientierung liegt, gilt es zu beseitigen. Erziehungswissenschaft soll sich nicht mehr damit begnügen, Reflexionen und Anleitungen zur praktischen Ausübung der pädagogischen Kunst vorzunehmen und ethisch-normative Systeme einer idealen pädagogischen Praxis zu formulieren. Sie will auch einen Beitrag zur Erforschung der pädagogischen Wirklichkeit leisten.

Das bis hierhin skizzierte Verwissenschaftlichungsprogramm ist an sich methodologisch-paradigmatisch indifferent. Es besagt zunächst ja lediglich, dass Geltungsfragen ins Zentrum der Betrachtung der Realität pädagogischer Praxis rücken sollen. Diesem Anspruch folgen sowohl die quantitative als auch die qualitative Forschungslogik. Tatsächlich aber vollzieht sich die »realistische Wendung« als »positivistische«. Sie vollzieht sich methodisch im Kontext quantitativer Verfahren. Das ist insofern nicht überraschend, als sich darin die Methodensituation, wie sie in Soziologie und Psychologie zu beobachten ist, reproduziert. Und gerade die Orientierung an diesen beiden Disziplinen (vgl. Roth 1966) bedeutet auch eine Orientierung an dem dort dominanten tatsachenwissenschaftlichen Forschungsverständnis. Es zielt auf die Erfassung von Wirklichkeit in Kategorien von kausal-deduktiven Wenn-Dann-Hypothesen. Qualitative Verfahren befinden sich demgegenüber in einer eher marginalen Position.

Durch die Gegenüberstellung von Erziehungswissenschaft und Pädagogik erhält die Verwissenschaftlichungsbewegung allerdings eine besondere, methodologisch folgenreiche Pointe. Die Positivierung, die die neue Erziehungswissenschaft anstrebt, richtet sich explizit gegen die Tradition einer geisteswissenschaftlichen, hermeneutischen Pädagogik. So wird Hermeneutik den normativen, praktischen Interessen der Pädagogik zugeschlagen und dabei ihr empirisch methodisches Potenzial verkannt. Im Gegenzug gelingt es der geisteswissenschaftlich-hermeneutischen Tradition der Pädagogik nicht, ein überzeugendes hermeneutisches Forschungsverständnis zu entwickeln. Sie schließt sich nicht den methodischen Entwicklungen einer qualitativen Methodik an, sondern sucht das hermeneutische Denken an die Eigenständigkeit eines ethisch gestimmten pädagogischen Denkens zu binden. Dieses wechselseitige »Arbeitsbündnis«, das die alte Pädagogik und die neue Erziehungswissenschaft eingehen, versperrt der Entwicklung eines hermeneutischen, wirklichkeitswissenschaftlichen Forschungsverständnisses den Weg. Das soll an einigen wichtigen Schriften im Folgenden gezeigt und erläutert werden.

Für die Logik der Positionierung eines erziehungswissenschaftlichen gegenüber einem pädagogischen Selbstverständnis ist Wolfgang Brezinkas Programmschrift »Von der Erziehungswissenschaft zur Pädagogik« grundlegend. Brezinka knüpft hier an Durkheims Unterscheidung zwischen pädagogischer Kunst, Pädagogik als Erziehungslehre und Erziehungswissenschaft an. Ihren Wissenschaftscharakter erhält die Erziehungswissenschaft gegenüber der Pädagogik dadurch, dass sie darauf verzichtet, eine Erziehungslehre zu sein. Als Tatsachenwissenschaft beschränkt sie sich auf die Erkenntnis der Gegebenheiten (vgl. Brezinka 1971, 25 f.7). Und genau dieses Argument wendet er gegen die geisteswissenschaftliche Pädagogik. Sie folge einem Selbstverständnis, das »weniger zur Erforschung der Realität als zur ›Sollensbestimmung‹8 und zur ›Mitgestaltung‹9« sich verpflichte und seine Grundform als »Philosophieren in der praktischen Situation«10 begreife (vgl. Brezinka 1971, 1 ff.). Die geisteswissenschaftliche Pädagogik sei eine »Praktische Pädagogik« (Brezinka 1971, 190 ff.). In Übereinstimmung zu Durkheim bezweifelt Brezinka nun keineswegs die Bedeutung und Notwendigkeit einer solchen »Praktischen Pädagogik«. Er will sie nur nicht als Erziehungswissenschaft gelten lassen.11 Die Nüchternheit einer tatsachenwissenschaftlichen, (gesetztes-) hypothesenüberprüfenden »positivistischen« Forschung scheint geradezu als Erlösung von einer normativ orientierten und praktisch engagierten Pädagogik empfunden zu werden.

Dieses Plädoyer für eine sich von pädagogisch-praktischen und normativen Ansprüchen befreiende Erziehungswissenschaft trifft auch den hermeneutischen Methodenanspruch. Die Verwissenschaftlichung besteht eben darin, »Erziehung als Tatsache zu beschreiben und zu erklären« (Brezinka 1974, 54), wobei unter erklären verstanden wird, »Gesetzmäßigkeiten zu entdecken« (Brezinka 1974, 65). Erst eine positivistisch-gesetzeswissenschaftliche, subsumierende und quantifizierende Erforschung der Tatsachen der Erziehung vermag es, dem Normativitätsproblem zu entgehen. Nur eine solche Forschung ist dazu in der Lage, Fragen der Geltung von Fragen des »Seinsollens« zu sondern. Sie erst leistet die Emanzipation zur Erziehungswissenschaft gegenüber den normativ-praktischen Ansprüchen und Forderungen der Pädagogik.

Damit wird das hermeneutische Forschungsverständnis ins Abseits gedrängt. Der Umstand, dass das hermeneutische Programm im Kontext geisteswissenschaftlicher Pädagogik immer auch normativ gerichtet und nicht entschieden als empirisches Forschungsparadigma in Anschlag gebracht ist, wird ihm nun zum Verhängnis. Brezinkas Ausführungen sind von heftigen Attacken gegen die hermeneutischen Ansätze von Wilhelm Flitner und Otto Bollnow durchzogen. Ist dort das hermeneutisch verstehende Anliegen noch eng an ein praktisches Anliegen gekoppelt, so will Brezinka damit aufräumen. Schlägt Bollnow beispielsweise ganz in Übereinstimmung zu einem heute völlig selbstverständlichen hermeneutischen Forschungsstil vor, »Gebilde der Erziehungswirklichkeit als einen ›Text‹« auszulegen (Bollnow 1964, 228), so ist Brezinka, ganz geblendet von dem von Bollnow vertretenen Anspruch, aus der hermeneutischen Wirklichkeitsauslegung eine Beurteilung und Bewertung der Wirklichkeit abzuleiten, gar nicht in der Lage, die Potenziale einer wirklichkeitswissenschaftlichen Wende dieser hermeneutischen Konzeption zu sehen, aufzunehmen und zu würdigen (vgl. Brezinka 1974, 174). Brezinka schüttet das Kind mit dem Bade aus. Schutz gegen den unwissenschaftlichen Anspruch normativer Setzungen kann nur eine Forschung leisten, die sich von der verdächtig gewordenen Hermeneutik lossagt und sich darauf beschränkt, »Erziehung als Tatsache zu beschreiben und zu erklären« (Brezinka 1974, 54). Und um das pädagogisch-hermeneutische Gespenst zu bannen, wird die Hermeneutik dorthin verwiesen, wo ihr angestammtes Terrain vermutet wird: als »philologische Hermeneutik« soll sie sich mit den »in den Quellen überlieferten Aussagen« beschäftigen (vgl. Brezinka 1971, 103). Hermeneutik soll zurück zur Skriptualität.

Gleichzeitig werden die wissenschaftstheoretischen Implikationen einer philosophischen Hermeneutik durchaus in Rechnung gestellt. Die erziehungswissenschaftliche Forschung hat es mit einem Gegenstand zu tun, der immer schon interpretiert ist. Die Welt der Erziehungstatsachen, der sich die Wissenschaft zuwendet, ist eine immer schon verstandene, gedeutete, interpretierte Welt. Sie hat es nie mit sinn- und bedeutungslosen Tatsachen zu tun. Deshalb wäre es von vornherein naiv, Prozesse des Verstehens, Deutens und Auslegens auszusperren. Aber statt an die Sinnkonstituiertheit der sozialen Welt methodisch und forschungslogisch anzuknüpfen, erhält die Hermeneutik einen »ehrenhaften«, aber methodisch und forschungslogisch unverbindlichen Stellenwert: »Interpretation wird als eine wichtige wissenschaftliche Aktivität anerkannt« (Brezinka 1971, 135). Aber die Wissenschaftlichkeit der erziehungswissenschaftlichen Forschung erweist sich nicht an ihr. So wird die Hermeneutik durch die »realistische Wende« ihres Forschungsanspruchs beraubt.

Die arbeitsteilige Logik dieser Argumentation besteht darin, dass die tatsachenwissenschaftliche Nüchternheit der Erziehungswissenschaft dem Normativitäts- und Verstehensproblem dadurch entgehen kann, dass beide an die Pädagogik delegiert werden. Diese hat nun den schwarzen Peter. Mit Max Weber gesprochen: das Werturteilsproblem (vgl. Weber 1917) löst die programmatisch neu konzipierte Erziehungswissenschaft, indem sie es der Pädagogik überlässt. Die »Verwandlung der Pädagogik in eine Erfahrungswissenschaft« soll sich dabei explizit gegen die hermeneutische Tradition im Kontext der Pädagogik vollziehen. »Pädagogik als Erziehungswissenschaft ist dann nicht mehr nur [!] die Hermeneutik von Texten« (Roth 1966, 75). Das ambitionierte Projekt einer wissenschaftlichen Neugründung der Disziplin weiß um seine hermeneutische Vergangenheit. Und die soll durchaus gewürdigt werden. Aber sie will sich zugleich von ihr lösen. Deshalb entschließt sie sich, die Hermeneutik aufs Altenteil einer interpretativen Begleitung des eigentlich empirischen Forschungsprogramms zu setzen. Sie wird zur geduldeten, mehr oder weniger geschätzten Begleitmusik der positivistischen Verwissenschaftlichungsambitionen.

Methodologisch hat dem die geisteswissenschaftliche, hermeneutisch orientierte Pädagogik kaum etwas entgegenzusetzen. Im Fokus ihres Selbstverständnisses stehen tatsächlich pädagogisch-handlungspraktische und normative Ansprüche. Von vornherein nimmt sie in Anspruch, »réflexion engagée« zu sein: ein gegenüber der Erziehungspraxis »verantwortliches Denken« (W. Flitner 1966, 23). Das geisteswissenschaftliche Erbe, aus dem heraus Wilhelm Flitner das »Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft« postuliert, impliziert eine unmittelbare ethische Bindung an die pädagogische Praxis. Gerade für die hermeneutisch-pragmatische Pädagogik, die Flitner zwischen der empirisch-tatsachenwissenschaftlichen und der philosophisch-ethischen Betrachtung ansiedelt, ist der Begriff der praktischen Verantwortung von zentraler Bedeutung: »Zwischen den Tatbeständen, auf welche die Empiriker blicken, und jenen, die durch die Wertphilosophie oder durch theologische oder politische Normierung gestützt scheinen, befindet sich eine Zwischenwelt, in der das erzieherische Geschehen mit seiner Verantwortung liegt. An dieser Stelle beginnt die selbständige Besinnung und Forschung der wissenschaftlichen Pädagogik« (Flitner 1966, 30).

Wir sehen hier zwar eine deutliche Tendenz einer hermeneutischen Hinwendung zu der Erziehungswirklichkeit: »Das Gewahrwerden der realen Sinngehalte in einer gegebenen historischen Situation und die Analyse der in dieser Lage pädagogisch wirkenden Strukturen wird ihr [der wissenschaftlich hermeneutischen Pädagogik; A.W.] Thema« (Flitner 1966, 30). Aber weder folgt aus dieser hermeneutischen Wissenschaftsauffassung der Pädagogik ein konturiertes Forschungsprogramm einer empirischen Hermeneutik, noch macht die geisteswissenschaftlich-hermeneutische Pädagogik sich erkenntnislogisch frei von den vorwissenschaftlichen Prämissen einer pädagogisch-praktischen Verantwortlichkeit. Ihr Selbstverständnis gründet sich letztlich nicht auf einem Erkenntnisanspruch, sondern »ihr wesentlicher Ertrag ist die wissenschaftliche pädagogische Bildung« (Flitner 1966, 43).12

Diese in der geisteswissenschaftlich-hermeneutischen Tradition pädagogischen Denkens angelegte Forschungs- und Methodenferne, die einhergeht mit einem von einem objektiven Erkenntnisanspruch ungeschiedenen pädagogisch-praktischen Anspruch – nichts anderes besagt ja die Formel von der réflexion engagée –, setzt sie dem Verdacht der »Unwissenschaftlichkeit« aus. Sie entwickelt keine empirisch-wirklichkeitswissenschaftlichen Forschungsverfahren und -methoden (und will dies wohl auch nicht) und sie geht nicht auf Distanz zu ihrem Gegenstand (und will dies wohl auch nicht).

Zugleich wird damit eine Gegenüberstellung empirischer und hermeneutischer Methoden und Verfahren akzeptiert und festgeschrieben, die bis heute noch nicht vollständig überwunden ist.13 Eine Forschungsorientierung, die eine hermeneutische Rekonstruktion der empirisch vorfindlichen Erziehungswirklichkeit anstrebt, bildet sich nicht aus. Der Empirieanspruch wird der quantitativen Forschung überlassen. Das ist deshalb besonders bemerkenswert, weil sich auch die hermeneutisch geisteswissenschaftliche Pädagogik in methodischem Zugzwang sieht. Sie kann die Ambitionen und Ergebnisse der tatsachenwissenschaftlichen Erziehungswissenschaft nicht ignorieren. So fehlt es durchaus nicht an Versuchen einer forschungsbezogenen Neuorientierung. Diese erfolgt unter der vielversprechenden programmatischen Formel einer »Hermeneutik der Erziehungswirklichkeit«14.

Christoph Lüth hat in einer profunden und überzeugenden Analyse die Grundmotive dieser »Hermeneutik der Erziehungswirklichkeit« herausgearbeitet.15 Dabei darf durchaus in Rechnung gestellt werden, dass das Interesse an der Erziehungswirklichkeit, d. h. an dem naturwüchsigen Ablauf von Bildungs-‍, Erziehungs- und Sozialisationsprozessen als solches gegeben ist. Es besteht eine grundsätzliche »Nähe zum Feld«. Aber gerade der hermeneutische Anspruch scheint der eigenständigen Entwicklung einer wirklichkeitswissenschaftlichen Methodologie im Wege zu stehen. Im Wesentlichen geht es dieser »Hermeneutik der Erziehungswirklichkeit« um eine Selbstpositionierung zur empirisch quantitativen erziehungswissenschaftlichen Forschung. Dabei kommt es zu einer eigentümlich »wirklichkeitsfernen« Zuständigkeitskonzeption hermeneutischer Analyse. Die hermeneutische Operation der Sinnauslegung bleibt forschungsabstinent. Die nicht-empirische Hermeneutik bezieht ihr Selbstverständnis einerseits aus der skriptualen Tradition, die sich in einem philologischen, ideengeschichtlichen und ideologiekritischen Interesse Ausdruck verschafft. Andererseits tritt sie gleichsam in eine hermeneutische Hilfsfunktion gegenüber der eigentlich als empirisch angesehenen und akzeptierten Forschung. Hermeneutik kann helfen, die Fragen der empirischen Forschung vorzubereiten und ihre Ergebnisse zu interpretieren. Sie soll dazu dienen, die nichthermeneutischen Prozeduren des empirischen Forschungsprozesses sinnauslegend zu begleiten. Und das heißt vor allem: die Hermeneutik soll im Prozess empirisch quantitativer Sozialforschung hypothesengenerierend und ergebnisinterpretierend mitwirken. Die forschungslogische Triftigkeit hypothesenüberprüfender Verfahren16 wird dabei grundsätzlich akzeptiert. Verkürzt, aber pointiert: Die Welt der Erziehungswirklichkeit soll tatsachenwissenschaftlich vermessen werden. Aber die Frage, was in welcher Hinsicht vermessen wird, und die Frage der Interpretation der Messergebnisse sollen den hermeneutischen Zuständigkeitsbereich ausmachen.

Kritikwürdig daran ist nicht das bezüglich der quantitativen Methodologie aufgeworfene Problem der Sinnauslegung. Die Daten und statistischen Zusammenhänge, die durch diese Forschungsprozeduren erzeugt und hergestellt werden, beziehen sich auf eine sinnstrukturierte Welt und sind darauf angewiesen, dass sich in ihnen sinnhafte Phänomene und sinnhafte Zusammenhänge dokumentieren. Deshalb ist ein quantitativer Forschungsprozess ohne Beteiligung hermeneutischer Operationen nicht denkbar. Aber sollte eine »Hermeneutik der Erziehungswirklichkeit« sich darauf beschränken, ihr methodologisches Selbstverständnis auf diese Begleitfunktion quantitativer Forschung zu gründen? Was dabei offensichtlich fehlt, ist eine forschungslogisch direkte Bezugnahme des Verstehens auf diejenigen Prozesse und Vorgänge, die sich in der erzieherischen Praxis unmittelbar beobachten lassen. Die notorische17