Herz / Medizin - Jonas Janson - E-Book

Herz / Medizin E-Book

Jonas Janson

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Beschreibung

Die »Romandilogie« Herz/Medizin erzählt anhand zweier fiktiver Biografien – des Pankraz Hörmann und des Korbinian Scholl – von der deutschen Kardiologie und der deutschen Herzchirurgie, von ihren Entwicklungen, ihren Chancen und ihren Opfern.

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Seitenzahl: 209

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Die Ereignisse dieser Erzählungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und bedeutungslos.

Inhaltsverzeichnis

Um zu wissen

Korbinian Scholls letzter Schnitt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Um zu wissen

Alles, was lange währt, ist leise

(J. Ringelnatz)

Es war in jener Sommernacht des Jahres 2008, als ich mich endgültig entschloss, seine Geschichte zu erzählen.

Zwar ist im Umfeld des Bekanntenkreises ein literarisches Portrait problematisch, weil es Dinge zutage bringt, die auch dem kritischsten Blick eines Außenstehenden verborgen bleiben. Aber vor dem Hintergrund der klassischen Maxime, dass alles Vergängliche nur ein Gleichnis sei und das Individuelle sich im Strom der Zeit unwiederbringlich ins nicht mehr Abgrenzbare auflöst, ist es wohl zulässig, das vergänglich Individuelle aufzugreifen und an ihm exemplarisch das Allgemeinmenschliche herauszuarbeiten. Insbesondere dann, wenn es sich, wie im Falle des Pankraz Hörmann, um eine bizarre Traumfigur voll gegensätzlichster Charaktereigenschaften handelt, vorzüglich ausgestattet mit einer instinktiven, fast bestialisch zu nennenden sozialen Intelligenz und mit Spott gegen das zauderhaft Kunktatorische, selbst wenn es sich auf ethische Grundlagen berufen will.

Ein komplexes menschliches Geschöpf also, unser Pankraz Hörmann. Man weiß nicht, ob man ihn schätzen oder verabscheuen soll, das hängt von der Perzeption des Gegenübers ab wie eigentlich alles in dieser merkwürdigen Welt. Ziel unserer Schilderung ist es, dass jeder sich ein eigenes Urteil bilden möge. Ich weiß nicht, ob es gelingt. Dennoch: Das im sechsten Jahrzehnt befindliche Leben dieses Mannes wendet sich langsam seinem Ende zu. Es wird also Zeit, die Eindrücke einzufangen, bevor sie verwässern …

Seinen Vater mochte er, obwohl der trank und die Kinder schlug.

Abends kam der Vater zurück in das hölzerne Haus im Wald, erschöpft von einer primitiven körperlichen Arbeit, traurig und unzufrieden mit seinem Leben. Er setzte sich an den hölzernen Tisch in der Mitte des Raumes, und die drei Söhne gruppierten sich um ihn herum. Seine Frau, ihrer aller Mutter, eine dicke, ländliche Frau, kochte ihm das Abendessen und brachte das Bier. Wenn einer der Söhne, die Hubertus, Pankraz und (nach ihrem Großvater) Titus hießen, sich unnötig bewegte oder unnötig sprach, dann schlug er zu. Die Schläge wurden härter mit jedem Bier. Pankraz war der klügste der Brüder, des Vaters Liebling. Er hatte den Vater aufmerksam studiert, las jede der Launen an den grauen Gesichtszügen ab, und er wurde seltener geschlagen. Seine wasserblauen, von dunklen Brauen umrahmten Augen betrachteten den trinkenden Mann mit strategischem Interesse, sie betrachteten ihn mit ebenso viel kindlicher Neugier wie mit reifer Melancholie, sie lasen in dem ihm so nahe verwandten Mann wie in einem offenen Buch, lasen unverhohlen und beinahe genussvoll den Roman eines gescheiterten Lebens. Obwohl der Vater die seltsamen wasserblauen Augen spürte, obwohl er die berechnende Kraft dieses Blickes instinktiv empfand, liebte er seinen Sohn sehr. Pankraz würde, so wusste er, anders leben als er selbst, er würde sich befreien aus Umklammerung und quetschender Enge des Eifeler Hinterlandes, er würde nicht am Abend nach Hause kommen und über die vertanen Chancen seines kleinen Lebens nachdenken, er nicht, Pankraz nicht. Er würde sich durchsetzen: Pankraz mit »P« – wie »Power«.

Eines Tages verbrannte der Vater in der Scheune. Er hatte zu viel getrunken. Die Kerze, mit der er die Scheune ausleuchten wollte, fiel in das trockene Heu. Der zehnjährige Pankraz bewunderte zunächst das gewaltige Feuer und stand nachher vor der verkohlten Leiche und dachte über das Leben nach. Es war kurz und hart. Die einen gewannen, die anderen verloren, sein Vater hatte verloren, so einfach waren die Zusammenhänge. Pankraz weinte im Angesicht der schwarzen Leiche. Aber er weinte nach innen, er weinte ohne Tränen, und er weinte mehr über das Phänomen des Trinkers, über das Phänomen des Versagens an sich als über den Vater selbst, er weinte über die Niederlage viel mehr als über den Verlust.

Pankraz, dessen Intelligenz in der Schule schnell sichtbar geworden war, wurde nach dem Tode des Vaters vom Pfarrer des Dorfes in ein klösterliches Internat geschickt. Das war seine Chance, der erste große und entscheidende Schritt seines Lebens. Plötzlich saß er in einer Schulklasse, in der die Jungen auf eine gymnasiale und akademische Laufbahn vorbereitet wurden. Plötzlich zählte er zu einem elitären Kreis von Kindern, für die eine Zukunft bestimmt war, die außerhalb des Traktorfahrens und der Kartoffelernte lag. Ja, der Eintritt ins Internat war für Pankraz das Öffnen der Himmelspforte, der Weg in ein intellektuelles Paradies, das seinem Ehrgeiz und seinem Verstand Raum für Tätigkeit und Entfaltung lieferte. Natürlich war das Gymnasium eine jesuitische Gründung, und Pankraz wurde der Zielsetzung seines Aufenthaltes hier sehr schnell gewahr. Aber er besaß einen enormen Instinkt für taktisches Vorgehen, und er wusste bereits als zehnjähriger Junge, dass ihn am Ende seiner schulischen Laufbahn niemand zum Priesterdasein zwingen konnte. Er musste nicht erst lernen, dass die letztendlich nicht eingehaltene, aber konstant aufrechterhaltene Versprechung eine probate Überlebenstaktik war. Instinktiv, ohne wirkliche Bewusstwerdung, bestätigte er seine jesuitischen Lehrer in dem Glauben, der Ordensgemeinschaft ein lebenslanger Diener zu werden, während in seinem Inneren Absprung und Trennung zu gegebener Zeit längst beschlossene Sache war.

Über die Fairness dieses Vorgehens dachte Pankraz wenig nach. Er selbst wurde vom Leben auch nicht immer fair behandelt, und am Ende des Tages war das Maß aller Dinge nicht, wie man seine Ziele erreichte, sondern ob man sie erreichte. »Der Zweck heiligt die Mittel« – das war die unzweifelhafte Realität des Lebens. Pankraz strebte seiner persönlichen Bestimmung entgegen, und keine zaudernde Erwägung der Welt sollte ihre Erfüllung behindern.

Was war seine Bestimmung? Er hätte es zum damaligen Zeitpunkt nicht zu sagen vermocht.

Pankraz präsentierte sich in der Schule als ein kluges Kind, als ein sehr guter Schüler. Besonders in den Fächern Deutsch, Latein und Mathematik waren seine Leistungen ausgezeichnet. Und doch – wie immer und überall im Leben – gab es einen Besseren. Er hieß Gregor und war ein hübscher Junge aus einer wohlhabenden Familie. Gregor hatte sozusagen alles das, was Pankraz nicht hatte: Während Pankraz arm war, von hemdsärmeliger, bäuerischer Statur, und seine dünnen, dunkelblonden Haare glatt in die gewölbte Stirn hingen, war Gregor wohlhabend, feingliedrig, nobel und lockig. Oftmals stand Pankraz unauffällig und unscheinbar in einer Ecke, und seine schönen, seltsam wasserblauen Augen betrachteten Gregor aus der Tiefe des Raumes: Gregor – diesen blondlockigen Jungen, dem die Lehrer zulächelten und über den Kopf streichelten und den sie wegen seiner Schönheit ebenso sehr bevorzugten wie wegen seiner Intelligenz. Ihm fiel alles in den Schoß, alles flog ihm zu, während Pankraz kämpfen musste, während Pankraz langsam und mühsam die kleinen Puzzleteile der mitmenschlichen Sympathie aneinanderfügen musste, um mit dem strahlenden, begünstigten Gemüt seines Klassenkameraden einigermaßen mithalten zu können.

Auch die regelmäßig stattfindenden Besuche von Gregors Eltern, die immer nach demselben Schema abliefen, trafen den jungen Pankraz mitten ins Herz. Gregors Vater, ein gutaussehender, braunhaariger Arzt in den frühen Vierzigern, verließ einen schwarzen Mercedes und öffnete die Beifahrertür, aus der eine deutlich jüngere, blonde hübsche Frau ausstieg. Sie breitete die Arme aus, und Gregor, der das Auto bereits von seinem Zimmerfenster aus gesehen hatte, rannte aus der Eingangstür des Klosters in die süßen Arme seiner Mutter. Der Vater trat hinzu und legte die Hand auf Gregors Kopf. Pankraz beobachtete die Szene aus einem Fenster des oberen Stockwerkes, versteckt durch eine schräg zurückgezogene Gardine, und der Dorn der Eifersucht bohrte sich in sein Herz. Wo war seine eigener, wo war Pankraz’ Vater? Er war versoffen, verbrannt und tot. Wo war der Mercedes, dem er entstieg? Er hatte nie existiert und würde nie existieren? Wo war seine eigene hübsche junge Mutter? Sie war dick, hässlich und allein mit seinen beiden Brüdern, die Landwirte werden würden, Holzfäller oder Busfahrer.

Gemäß der allgemeinmenschlichen Wahrheit, dass der Neid die stärkste Triebfeder des Hasses ist, begann Pankraz Hörmann tatsächlich, den jungen Gregor zu hassen. Er hasste den jungen, schönen Gregor – aber: er ließ es sich nicht anmerken. Auch in diesem Moment verließ ihn jener taktische Instinkt nicht, der ihm sozusagen in die Wiege gelegt oder in die Erbsubstanz geschnitten war, auch in diesem Moment verstand Pankraz, dass er seinen Neid sehr geschickt verbergen musste, denn ein Gegner war um so leichter zu besiegen, je weniger er sich der Gegnerschaft bewusst wurde. Das gab die Chance auf den Angriff aus der Deckung. Man musste einfach nur freundlich sein, zugeneigt lächeln – und warten.

Pankraz schloss also mit Gregor Freundschaft, er buhlte um den jungen Ganymed des Internates mit dem ihm möglichen Charme, mit szenischen Raffinement im gymnasialen Alltag, er lieh ihm seine Stifte, er hielt ihm die Tür auf, er hielt einen Platz frei, um neben ihm zu sitzen. Und Gregor ging dem raffinierten Eifeler Knaben ins Netz. Jaja, der vorzügliche Gregor glaubte die Komplimente und nahm die Aufmerksamkeiten des Pankraz Hörmann dankbar und arglos entgegen, er freute sich an der neu gewachsenen Pflanze der Freundschaft und an der offenbar vorbehaltlosen Anerkennung durch den Klassenkameraden. Gregor war zu jung, um Pankraz zu durchschauen, um seine Motive zu verstehen, denn seine Erziehung war anders verlaufen als die seines vermeintlichen Verehrers. In seinem Elternhaus hatte die Wahrhaftigkeit eine Bedeutung, war die Grundlage des Zusammenlebens, während der junge Pankraz bereits im Kindesalter die Brutalitäten und Falschheiten des zwischenmenschlichen Lebens ertragen und überstehen musste. Hier trafen zwei intelligente zehnjährige Knaben aufeinander, die diametral entgegengesetzte Charaktere verkörperten, Produkte der unterschiedlichsten Erziehung waren und die schon als Kinder vom Leben in ganz verschiedener Weise bedacht wurden.

Mit Interesse wird man ihrer beider Lebensweg weiterverfolgen, mit Interesse wird man beobachten, welcher der Knaben sozusagen die Nase vorne haben und sich durchsetzen wird. Man wird sich ein Urteil über die Frage bilden können, ob ein prosperierendes Elternhaus die Bewegungen im Leben vereinfacht oder ob das zu überwindende Halbwaisentum und das frühe »Sichdurchschlagen-Müssen« als Erfolgsrezepte über die Jahre überlegen sind. Man wird aber auch feststellen, dass es eine wirkliche Gesetzmäßigkeit der individuellen Lebensentwicklung nicht gibt, da sie von viel zu vielen Zufällen abhängt. Erziehung ist nur ein Einfluss unter vielen anderen – und natürlich gerät die eine Person durch das Halbwaisentum von einer akzeptablen Bahn ab, während die andere Person den frühen Verlust in eine ebenso frühe menschliche Reife umzusetzen weiß. Und natürlich wird die eine Person ein bilderbuchhaftes Elternhaus zu ihrem Vorteil nutzen, während die andere Person in diesem Elternhaus der Verweichlichung und Dekadenz zum Opfer fällt. Eine menschliche, liebevolle Erziehung wird allerdings in der überwiegenden Zahl der Fälle auch nachdenkliche und menschliche Charaktere hervorbringen, vielleicht auch zaudernde und träge, aber eben keine brutalen und skrupellosen, während die Auseinandersetzung mit Brutalität und Skrupellosigkeit im frühen Kindesalter durchaus brutale und skrupellose Menschen hervorzubringen vermag. Was also geschah mit Gregor und Pankraz?

Gregor und Pankraz wurden Freunde.

Erlebten sie eine Freundschaft, die vorbehaltlos, altruistisch und liebend war, eine Freundschaft der Märchen, der Abenteuerromane und der Lyrik, nach der Bürgschaft Schillers und der Blutsbrüderschaft Karl Mays? Realitätsfern und träumerisch? Oder erlebten sie die Freundschaft der Erwachsenen – realitätsnah und berechnend, verräterisch, eifersüchtig und falsch? Jedenfalls erlebten sie eine Freundschaft auf dem braunen Boden der Eifel – und auch wenn diese Freundschaft Gregor und Pankraz in ungleicher Weise miteinander verband, auch wenn Gregor sie als eine Freundschaft der Märchen und Pankraz sie als eine Freundschaft des Verrates gestaltete, so kroch sie den beiden Knaben doch in gleicher Weise tief unter die Haut. Denn sie war ihrer beider erste wirkliche Freundschaft, von Junge zu Junge, von Mann zu Mann. Gregor war stolz auf seinen Freund, und er war es nicht zuletzt deshalb, weil Pankraz sich abhob aus dem Kreise seiner sonstigen Kontaktpersonen, weil er jene Andersartigkeit in sich trug, jenes Spannungsfeld aus sozialer Schwäche und Durchsetzungswillen, das die Visionen und Träume generiert, den Drang zum Erfolg, den unbedingten Willen zum Sieg, der vor wenigen Grenzen wirklich Halt macht oder gar zurückschreckt.

Unvergessliche Erlebnisse: die erste Einladung Gregors bei Pankraz’ Familie, Ellscheid, 200 Seelendorf irgendwo in den Höhenzügen der Eifel gelegen. Gregor lernte die Mutter kennen, jene korpulente ländliche Frau, die des Pankraz Vater bekocht und drei Söhne großgezogen hatte – und Gregor verstand kein einziges Wort. »Wat oss? Dou boss dem Bisalki seine? Dann jehn eisch jets hei rous«, kommentierte ein Ellscheider Bürger Gregors Besuch und Anwesenheit auf einem Dorffest, denn Gregors Vater, unschwer zu erkennen, hatte sich einen regionalen Ruf erworben, der ihm nicht nur Freundschaften, sondern auch viel Neid einbrachte.

Unvergessliche, prägende Erlebnisse, Prägung tatsächlich im Sinne der Biologie: die gemeinsame Silvesterfeier unter den kalten Eifelsternen, am Lagerfeuer in einer Lavahöhle. Und wenn man nach draußen trat, dann schnitt der Nebel die sichtbare Erde in zwei Hälften, die obere, gestirnte, in die nur die Gipfel der Eifelberge ragten, und die untere, umnebelte, undurchdringliche, düster-melancholische. Diese Nacht war ein Sinnbild des Lebens, »manche freilich müssen drunten sterben«, die Sterne waren nur oben sichtbar. Die Natur lehrte ihren eigenen evolutionären Erzeugnissen die Gesetze ihrer selbst. Pankraz betrachtete seinen Freund mit seinen schönen, von dunklen Brauen umrahmten wasserblauen Augen, und tatsächlich lag eine Art Liebe in diesem Blick. Die Liebe zu einem Menschen, der bereichert und der das eigene Fortkommen unterstützt.

Gregor und Pankraz wurden unzertrennliche Freunde. Sie lasen vierzehnjährig gemeinsam die großen Werke der Weltliteratur, lasen bei Tee und Kerzenschein im Elternhause Gregors den »Faust«, jenes divine Erzeugnis der deutschen Literatur, jene übermenschliche Allegorie des Menschseins, medias in res, vom Guten, vom Bösen, von den Sehnsüchten, der Schönheit und dem undurchdringlichen Sinn des Daseins. Diese mit tiefem Humor untermalte Tragödie, von Zeit zu Zeit seh’ ich den Alten gern und hüte mich, mit ihm zu brechen, mit tiefem Humor und ebenso tiefer Melancholie: Denn auch das Lied des Dichters ist nur ein anrührendes Sichaufbäumen im vorübergehenden Auftauchen aus dem unergründlichen Strom der Zeiten, ein anrührendes Ringen gegen das eherne Gesetz der gleichnishaften Vergänglichkeit. Wie klingt es rührend, wenn der Dichter singt, den Tod zu meiden, den das Scheiden bringt. Gregor verlor sich in diesen Versen, er sog sie in sich auf wie der trockene Sand den Regen, er sehnte sich nach der faustischen Erkenntnis der Welt, er verstand zutiefst, dass wir nichts wissen können, und sein Herz verbrannte in der umfassenden Wahrheit, dass das Schmachten nach den Quellen des Lebens ein ewig unerfüllbares Schmachten ist. Während Pankraz mit Interesse las, mit Neugier wohl – aber ohne jemals seine beobachtende Distanz aufzugeben, ohne jemals die Kontrolle zu verlieren, berauschte sich der vom Leben verwöhnte junge Gregor an den theoretischen Untiefen desselben, an der angesichts der Ewigkeit so anrührenden Vergeblichkeit aller menschlichen Bemühungen. Pankraz spürte Gregors leidenschaftliche Hingabe an die Literatur mit einer innerlichen Genugtuung. »Bücher machen lebensuntauglich«, hatte er irgendwo gelesen, und er teilte diese Wahrheit seinem introvertierten Freund in einem Überfall von wirklicher Zuneigung (oder war es das Spiel des Jägers mit der Beute?) auch eines Tages leise mit.

»Pankraz« antwortete Gregor, »warum sollte das so sein? Ist nicht das Gegenteil richtig, dass man sich nämlich über das Lesen von Büchern die tiefsten Einblicke in die menschliche Seele auf einfachem Wege verschaffen kann, indem man versteht, wie die großen Männer und Frauen der Vergangenheit mit einer sensiblen Seele empfanden?« Pankraz nickte. »Nur müssen diese Einblicke auch verkraftet werden, Gregor« dachte er im Stillen, aber diese Überlegung äußerte er nicht laut.

Gregor verkraftete die tiefen Einblicke in die Seele des Menschen nicht. Seltsames Phänomen des adoleszenten, übersensiblen Verfalls. Gregor arbeitete sich weiter und weiter in die Literatur hinein, er las wie in Trance, er las sie alle, die großen Dompteure der menschlichen Seele, las Goethe, Shakespeare, Nietzsche, Trakl, Dostojewski, Hesse, Hamsun, Brecht, Benn, Saint-Exupery und viele andere, und sein Wissen wurde immer größer, sein Wortschatz immer umfangreicher, und seine Seele wurde immer unkindlicher, unjugendlicher. Qui n’a pas l’esprit de son age, de son age a tous le malheur. Während sich die Altersgenossen Gregors, Pankraz nicht ausgeschlossen, mit Bitburger Bier, Fußball und hingebungsvollen Gesprächen über die Sexualität die Zeit vertrieben, absentierte sich Gregor zusehends, um nach der Wesen Tiefe zu trachten. Er ließ nur noch seinen Freund Pankraz an sich heran, nur mit ihm tauschte er sich aus, nur mit ihm wollte er seine neuesten Erkenntnisse aus den Versen Trakls, Benns, Nietzsches und Heines besprechen. Pankraz ließ sich auf diese Gespräche ein. Er beobachtete die pathologische Hingabe seines Freundes an die Literatur mit Interesse, er bestärkte Gregor in der naiven Glorifizierung ihrer Freundschaft – und ihres Glaubens an Liebe und Treue, jaja, ihre Freundschaft war in der Tat so groß, dass sie Räuberbanden besiegte und reißende Ströme ohne Furcht überwand.

Gregor lernte damals Eva kennen, ein hübsches blondes Mädchen, von der er Pankraz begeistert erzählte und mit der er zaghafte körperliche Berührungen austauschte. Er war beseelt von zurückhaltendem belletristischen Idealismus: Du musst mich zähmen, sagte der Fuchs. Er war so zurückhaltend, dass sich Eva irgendwann zu langweilen begann.

Die beiden Freunde waren mittlerweile achtzehn Jahre alt, und Gregor befand sich mit seinen Eltern in Rom. Pankraz lud Eva zu einem gemeinsamen Abend in eine Eifeler Diskothek ein, und die gelangweilte Eva nahm diese Einladung dankend an. Pankraz und Eva tranken sehr viel Alkohol, sie tanzten und lachten gemeinsam, sie lachten über den »Jungmann« Gregor und seine Neigung zur Literatur. Am Ende des Abends nahm Pankraz Eva in seine Arme, er küsste sie, er entkleidete sie und schlief mit ihr, er deflorierte sie im wahrsten Sinne des Wortes, nahm sich das ius primae noctis, wie er lächelnd sagte, und Eva langweilte sich nicht.

Als Gregor aus Rom zurückkehrte, erfuhr er zunächst nichts. Er war nur erstaunt darüber, dass Eva jetzt sehr viel wilder küsste als vor seiner Abreise, und ein paar Tage später gestand sie ihm dann lächelnd ihr Verhältnis zu seinem Freund Pankraz. Seltsames Phänomen des adoleszenten, übersensiblen Verfalls: Gregor wurde blass, er aß nichts mehr, er schottete sich von seinen Mitmenschen ab. Er saß wie in Trance im Unterricht, blickte aus halonierten Augen vor sich hin und reagierte nur auf direkte Ansprache. Am Nachmittag zog er sich in die Einsamkeit der Eifel zurück, in die Wälder und Hügel des Mittelgebirges, den Salmwald, den Ernstberg oder Riemerich. Eines Tages fand man ihn tot auf. Er war von einem Felsen gesprungen und hatte sich das Genick gebrochen, ganz in der Nähe seiner kleinen Heimatstadt.

Die Hintergründe dieses Selbstmordes blieben unklar. Pankraz und Eva wurden zwar gefragt, aber sie schwiegen. Des Pankraz wasserblaue, von dunklen Brauen umrahmte Augen betrachteten den toten Freund mit Interesse, mit einer kaum merklichen inneren Genugtuung. Er hatte gesiegt, das zu überwindende Halbwaisentum und das frühe »Sich-durchschlagen-Müssen« waren erfolgreicher als das prosperierende Elternhaus – Pankraz hatte nun fast Mitleid mit dem braunhaarigen, plötzlich sehr schnell alternden Arzt in den späten Vierzigern im schwarzen Mercedes und mit der deutlich jüngeren, geblondeten Frau, die in ihrer Verzweiflung nun nicht mehr ganz so hübsch aussah.

Pankraz und Eva schwiegen, und das Gras wuchs über dem Grab des Gregor Bisalski, auf jenem braunen Friedhof in der Eifel, hinter dem sich vor den Blicken des Betrachters das Maar ausbreitet.

Pankraz und Eva trennten sich bald wieder, sie hatten ja im Nüchternzustand nichts aneinander, und Eva lernte später noch viele Männer kennen, die ihr die Langeweile vertrieben. Pankraz hingegen wurde der Primus seines Jahrgangs (Gregor war ja nicht mehr da), und er erhielt einen Preis für das beste Abitur. Der jesuitische Schuldirektor würdigte in seiner Ansprache sowohl die treue Freundschaft des Pankraz zu dem armen Gregor Bisalski als auch seinen Impetus, aus »schwierigen« Verhältnissen bis zum Jahrgangsbesten des Internates aufzustreben. Dann trat Pankraz in Mainz das Studium der Medizin an.

Welches enorme Selbstvertrauen hatte sich dieses dunkelblonden jungen Mannes bemächtigt, welchen unverhofften Schwung hatte dieses ehemals so einfach angelegte Leben aufgenommen. Das Selbstvertrauen sprach aus jeder seiner Bewegungen, es kroch aus jeder Spalte seines Organismus, es duftete aus jeder Pore, es machte den bäuerischen Körper dieses jungen Mannes geradezu schön. Und wirklich! Pankraz war ein ausgezeichneter Student, er sog die Humanmedizin in sich auf, er verlor sich in den biochemischen Zyklen, chemischen und physikalischen Formeln, feingeweblichen Analysen, anatomischen Schnittpräparaten und physiologischen Experimenten des Grundstudiums, er schrieb hervorragende Klausuren, er wechselte die Universitäten, um verschiedene Lehrmeinungen kennenzulernen, er war ein humanmedizinischer Volltreffer im wahrsten Sinne des Wortes. Seine Freunde waren jetzt auch keine introvertierten Blässlinge mehr nach dem Strickmuster des Gregor Bisalski, keine verhätschelten Arztsöhne, keine Klassenbesten – nein, seine Freunde waren tatsächlich die Besten, unter den Besten die Besten. Sie waren starke, fleißige Studenten, die lernten und die Prüfungen mit Bravour bewältigten, und die auch sehr viel Spaß miteinander hatten.

Nein, nein, es waren keine introvertierten Blässlinge, die sich als Stützen der Gesellschaft aus diesem anspruchsvollen Studium herausschälten – es waren starke, sportliche, durchsetzungswillige junge Männer. In vielen zukünftigen Jahren sollten sie für und gegeneinander aktiv werden, die Jungs aus München, Köln und Freiburg, Pankraz, Richard, Harry und Hubert: der Erste ein Gewächs der Eifel, der Zweite Metzgersohn aus dem Schwarzwald, der Dritte Sohn eines Lübecker Kleinkaufmanns und der Vierte Sohn eines Ostallgäuer Bergbauern. Es war die Staffel der »Self-made-Men«, wie sie sich selber nannten. Sie übertrafen sich gegenseitig, und nach jeder bestandenen Klausur, nach jedem Schritt, der sie dem Ziel des Staatsexamens näher führte, klatschten sie sich gegenseitig ab.

Der »Selfmademan«: In diesen Zeiten war er der Gewinner, war populärer als der »Mann aus gutem Hause«, jener ewige Sohn. Und die Wertschätzung, die von außen auf die jungen Männer traf, vervielfältigte sich im Inneren auf wundersame Weise und generierte bizarre Pflanzen, die schwanger gingen mit übersteigertem Selbstvertrauen. Aber sie konnten auch bescheiden sein, wenn es ihnen nützte, auch vor der wohl platzierten Bescheidenheit machte ihre Intelligenz nicht Halt.

»Es ist eine große Ehre für mich, heute von Ihnen eingeladen worden zu sein«, sagte Pankraz, überreichte der Dame des Hauses einen Blumenstrauß und trat ein. Er war sehr aufgeregt, ohne dass man es ihm angemerkt hätte. Professor Vollmond war ein hochdekorierter Mann, der mit seinen wissenschaftlichen Untersuchungen bahnbrechende Erkenntnisse über die Zirbeldrüse und deren Bedeutung in der circadianen Rhythmik von Nagetieren erzielt hatte. »Wie erkennen Ratten, dass der Mond scheint?«, hatte Gottfried spöttisch zu Pankraz gesagt, als dieser ihm stolz von seiner Einladung erzählte. Gottfried, aber das nur nebenbei, war ein künstlerisch veranlagter, schlechter Student, der in der Medizin nicht viel erreichen würde, ein skrupulöser Zyniker. Professor Vollmond hingegen war ein Mann, der zählte, der in der Fakultät einen Stellenwert besaß.

Pankraz war tadellos gekleidet, als er in die Türe trat. Er hatte sich von staatlichen Geldern zur Begabtenförderung einen neuen Anzug gekauft, in dezentem Grau, und er trug dazu ein weißes Hemd mit einer dunkelblauen Krawatte, die mit seinen seltsamen, wasserblauen Augen in einem erfreulichen farblichen Einklang stand. Seine Manieren waren tadellos, sein Händedruck trocken und selbstbewusst. Frau Vollmond, eine exaltierte, stark geschminkte Frau, war ihm von Anfang an zugetan, und ihre zwanzigjährige, vollbusige, etwas stämmige Tochter ebenfalls. Jedem unbeteiligten Betrachter hätte sich an diesem Abend ein sehens- und anhörenswertes zwischenmenschliches Schauspiel offenbart, ein tiefenpsychologisches Gemenge, durchdrungen sowohl von der Fürsorge als auch von dem Neid der Generationen untereinander, von akademischer Eitelkeit und Devotismus, von unerfüllter und verheißungsvoller Erotik, aber auch von einer leisen Verachtung, einer sehr leisen opportunistischen und zynischen Verachtung.

»Darf ich fragen, wo Sie studiert haben, Herr Professor Vollmond?«, erkundigte sich Pankraz artig, nachdem sich die Familie an einem dekorativ gedeckten Tisch zum Abendessen niedergelassen hatte. Pankraz blickte sich um. Mit Erstaunen nahm er die geschmackvolle, moderne Einrichtung wahr, die schwarzen Möbel und die schönen modernen Wandgemälde. Professor Vollmond saß am Kopfende der Tafel.

»In München und Hamburg«, antwortete er und lächelte. »Ganz im Norden und ganz im Süden, ein Mann der Extreme.«

»Oh ja, das war er schon immer«, warf Frau Vollmond mit einem unterschwelligen, kaum unterdrückten Stolz ein, den Pankraz feinsinnig registrierte.

Professor Vollmond lächelte selbstgefällig vor sich hin. Das Gespräch begann mit einer Wendung, die ihm gefiel. Er blickte Pankraz wohlwollend an.

»Woher stammen Sie denn eigentlich?« fragte er.

»Aus der Eifel«, antwortete Pankraz. »Mein Vater war dort Holzfäller«.

Professor Vollmond und seine Gattin nickten anerkennend, und ihre vollbusige Tochter blickte Pankraz mit großen, bewundernden Augen an.

»Und trotzdem sind Sie Medizinstudent geworden – und Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes?«

»Ich wurde von meiner Schule für das Stipendium vorgeschlagen und musste im Auswahlverfahren einen Vortrag halten«.

»Als Ihr Vertrauensdozent weiß ich das natürlich«, unterbrach ihn Professor Vollmond. »Worüber haben Sie denn gesprochen?«

»Über den Selbstmord.«

»Ein sehr ausgefallenes Thema, oder nicht?« fragte der Professor.

»Es gibt viele Verbindungen zur Psychologie, Psychiatrie, zur Medizin«, antwortete Pankraz und fügte nach einer Pause hinzu. »Ein guter Freund von mir hat sich das Leben genommen, als wir in der dreizehnten Klasse waren.«

»Oh«, sagte Verena Vollmond, die etwas korpulente Tochter des Professors, »das war sicher schrecklich für Sie«.

»Das war es in der Tat«, antwortete Pankraz, und auch dem allwissenden Betrachter hätte sich in diesem Augenblick nicht erschlossen, welche Emotionen dieser Aussage in der Tiefe zugrunde lagen.

»Gregor Bisalski war mein bester Freund. Er hat mich sozusagen auf die akademische Straße gelenkt, er hat mir gezeigt, wie schön es sein kann, eine Familie zu haben, er hat mir die Literatur nahegebracht. Wie viele Bücher haben wir zusammen gelesen, wie viele Gespräche über Gott und die Welt haben wir miteinander geführt.«

Pankraz seltsame wasserblaue Augen trübten sich in Erinnerung an seinen Freund Gregor Bisalski. Professor Vollmond blickte ihn mitfühlend an und sagte dann: