Herzblut: Du stirbst in meinem Herzen nicht - Simone Veenstra - E-Book

Herzblut: Du stirbst in meinem Herzen nicht E-Book

Simone Veenstra

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Beschreibung

Der Unfalltod ihres Vaters lässt der 18-jährigen Mara keine Ruhe. Was ist bei dem Busunglück vor einem Jahr wirklich passiert? In dem kleinen Dorf, in dem Mara noch nie heimisch war, wird sie mehr und mehr zur Außenseiterin. Nur ihre beste Freundin Sanna hält immer zu ihr. Bis der geheimnisvolle Jonah neu in die Klasse kommt. Mara fühlt sich zu ihm hingezogen. Doch auch Sanna verliebt sich in Jonah, weshalb Mara versucht, ihre eigenen Gefühle zu unterdrücken. Während Jonah Mara bei ihren Nachforschungen zum Tod ihres Vaters hilft, kommen sich die beiden langsam näher. Dabei stoßen sie auf Geheimnisse, die unter der scheinbar glücklichen Oberfläche der Dorfgemeinschaft lauern – und Mara selbst gerät mehr und mehr in Gefahr ...

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Seitenzahl: 284

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SIMONE VEENSTRA

KOSMOS

Umschlaggestaltung Henry’s Lodge, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von ©trevillionimages

Originalausgabe

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele

weitere Informationen zu unseren Büchern,

Spielen, Experimentierkästen, DVDs, Autoren und

Aktivitäten findest du unter kosmos.de

© 2015, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-14848-8

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Dieses Buch ist ein Roman. Auch wenn einige der Charaktere, Umgebungen, Orte, Ereignisse und Traditionen Vorbilder in der Realität haben, so bleiben sie dennoch fiktiv.

Zu großen Teilen in der Fränkischen Schweiz entstanden, durfte ich auf die Unterstützung vieler Fachleute unterschiedlichster Gebiete zurückgreifen. Besonders folgende Menschen haben mir mit Geschichten, Wanderungen, Informationen, Krautwürsten, Selbstgebrautem und -gebranntem, dem richtigen Schreibtischstuhl, passendem Tagesablauf, Lesestoff und ihrer Geduld weitergeholfen, ich danke:

Doris, Henk, Doro, Frau Lutter vom Gasthaus Mühlhäuser in Wannbach, Herrn Bauer vom Hofladen Böck, Herrn Dittrich vom Angushof Dittrich, »Peter und dem Wolf« vom Cateringunternehmen Hübschmann und der Buchhandlung Fränkische Schweiz, Klemmreisen (in Erinnerung an Josef Klemm), Katrin Kroll und Iris Schubert.

Für dich, Sanna, mein Ahörnchen.

Auf dich, Paps.

HERBST

The autumn leaves of red and gold The sun-burned hands I used to hold

Since you went away the days grow long And soon I’ll hear old winter’s song

Nat King Cole: »Autumn Leaves«

Prolog

So verdammt dunkel ist es hier, dass ich nicht einmal meine eigenen Füße erkennen kann. Dafür funktionieren meine Ohren umso besser: Äste knacken, ein Käuzchen schreit, irgendwoher scharrt und knurrt es. Und meine Schuhsohlen machen viel zu viel Lärm, während ich den kleinen Weg durch den Wald entlangstolpere.

Wo zum Henker steckt Piet? Eben war er noch da, er lässt mich doch sonst nicht allein! Nein, nicht mein Piet. Piet, den ich kaum mehr Paps nenne, seitdem wir beide so gut wie erwachsen sind. Piet, der mir Gutenachtgeschichten erzählte und das Auf-Bäume-Klettern beigebracht hat. Piet, der wild mit mir durch die Küche tanzte, weil ich doch noch den blöden Dreisatz kapiert habe. Oder neulich, als mich die Dramatisch- Gestalten-AG und unsere Lehrerin Frau Karst einstimmig zur Autorin für die Abitur-Theater-Produktion wählten.

Das ist … Moment mal … wie lange her?

Irgendetwas stimmt nicht. Ein Hund heult, Hühner gackern, eine Kuh schreit, wie ist das möglich, mitten im Wald? Vor mir erstreckt sich eine von Piets und meinen Joggingstrecken: einer der vielen Wanderwege, der mit dem gelben Strich an den Baumstämmen. Er führt an den Felsenkellern und der Wolfshöhle vorbei hinauf zum Rabenstein mit seiner Aussichtsplattform. Jeden Moment muss die Gabelung mit der Roten Marter auftauchen, einem Steinpfahl zum Gedenken an eine junge Erntehelferin, die vor Urzeiten hier ermordet wurde.

»Piet?« Langsam wird es mir unheimlich. »Piet, hörst du mich?« Der Wind stürzt durch die Blätter, wenn es so weitergeht, sind morgen alle Bäume kahl. Nur, warum sehe ich dann keinen Mond und keine Sterne?

Der Himmel ist rauchgrau, verschluckt das Licht, als würde ihn ein schwelendes Feuer einnebeln. Ich muss husten, es riecht seltsam. Nach Gummi und … Benzin?

Meine Zähne klappern. Was, wenn der Typ hier herumschleicht, der Brutus auf dem Gewissen hat? Jemand, der Hunde vergiftet, hört nicht einfach damit auf, oder? Was, wenn er sich als Nächstes an einem Menschen probieren will? »Piet? Bitte, sag was!« Mein Herz stolpert gegen meine Rippen und hetzt mir das Blut durch die Ohren, mir ist heiß und kalt, irgendetwas verbirgt sich dort vorne, etwas, das ich nicht sehen will. Doch meine Füße laufen wie ferngesteuert weiter.

»Piet?« Nur ein räudiges Krächzen, ich räuspere mich. Und dann bin ich am Rand des Waldes, die Bäume schließen sich hinter mir wie eine Wand. Neben mir fallen die Felsen hinab ins Färsbachtal, vor mir breitet sich die Umgehungsstraße aus, kommt mir entgegen wie ein Laufband im Fitnessstudio, immer schneller, der Asphalt sommerheiß, brandheiß, die Luft darüber, flirrend, trocknet meine Lungen aus. Ich kann nirgendwohin, nicht ausweichen, nur rennen muss ich, rennen und rennen.

Der Bus liegt auf der Seite, Menschen klopfen von innen gegen die Scheiben, der ganze Rauch, der leere Fahrersitz.

»Paps? Nein!! Papa!!!«

1

Ich schreckte hoch, setzte mich auf, würgte Rotz und Tränen. Die Bettfedern quietschten, ich zitterte noch immer, das Bild vor meinen Augen betoniert. Obwohl ich nicht einmal dabei gewesen war.

Der leere Fahrersitz, die leere Frontscheibe, das Schreien, das Blut, es musste Blut gegeben haben, richtig? – All das fantasierte mein Kopf zu Panorama-Aufnahmen zusammen, denen ich nicht entkam. Ich riss die Augen weit auf: Das Fenster meines Zimmers stand offen, die Vorhänge, tagsüber ekelhaft sonnengelb, wirkten im Mondlicht fahl. Draußen muhte die alte Kuh, der Opa hier ihr Gnadenbrot gab. Nachts wanderte sie gerne in der Nähe unseres Hauses herum.

Einatmen, ausatmen. Den Kopf leeren. Ich horchte ins stille Haus hinein. Nichts. Kein Türquietschen, kein besorgter Ruf meiner Mutter, nicht einmal laute Musik aus dem Wohnzimmer. Vermutlich war sie noch immer unterwegs.

Manchmal kam sie erst morgens früh nach Hause, kurz bevor ich aufstand. Als würde ich das nicht mitbekommen. Als wären die Rollen vertauscht.

Ich ließ den Kopf zwischen die Knie sinken. Fast ein Jahr war der Unfall meines Vaters jetzt her. Das Busunglück, das es sogar auf die Titelseite unserer kleinen Zeitung geschafft hatte – dreißig verletzt, einer tot: der Busfahrer, mein Vater. Derjenige, dem hinterher alle die Schuld gegeben hatten. Einige hatten sogar gemunkelt, er sei betrunken gewesen. Aber das war ausgemachter Quatsch. Piet trank nicht. Nicht mein sportlicher, jeden Tag trainierender Triathlon-Paps!

Zu all der Wut und den Tränen kam auch noch ein schlechtes Gewissen. Schon eine Weile hatte ich nicht mehr von ihm geträumt. Sicher ein paar Wochen. Dabei jährte sich bald sein Todestag. Anfangs war ich jede Nacht aus Albträumen hochgeschreckt. Die Tage hatte ich damit verbracht, jedem, der es hören wollte, und den viel Zahlreicheren, die es nicht hören wollten, zu erklären, dass irgendwas an diesem »Unfall« nicht stimmte.

Doch unser Arzt, Marc Karst, hatte Herzinfarkt diagnostiziert und fertig.

Ich fischte mein Tablet vom Nachttisch und loggte mich ein. An Schlaf war eh nicht zu denken. Mal sehen, was die anderen so veranstaltet hatten. Sicher irgendein spontanes Gelage, immerhin ging übermorgen die Schule wieder los. Wie man etwas Herbstferien nennen durfte, das eigentlich nur zwei freie Tage und ein Wochenende dauerte, überstieg mein Verständnis …

Tatsächlich. Meine beste und einzige Freundin Sanna hatte Fotos gepostet. Sah aus, als wäre sie an der Burgruine auf der anderen Seite des Berges. Oder doch am Druidenhain? Die Aufnahmen waren verwackelt und dunkel, das Einzige, was ich dank des Lagerfeuers erkennen konnte, waren ein paar Schatten mit Flaschen in der Hand. Aber bei so was war Verlass auf Sanna, sie hatte namentlich markiert, wer dabei gewesen war: Bens Entourage – Rosalie, Karen und Alex, der nirgends fehlte, wo es umsonst etwas zu trinken gab. Und dann war da natürlich noch der selbst ernannte König unserer Schule: Ben Greifenhohe, Sannas Ab-und-an-Freund – immer dann nämlich, wenn er nichts Besseres am Start hatte.

Die Greifenhohes waren so etwas wie alter Landadel und exakt so verhielt sich ihr Sohn. Es gab nur zwei Regeln: Ben widersprach man nicht. Und: Ben versuchte man alles recht zu machen. Selbst wenn das – wie in Sannas Fall – bedeutete, alle drei Wochen mit ihm auf einer Party zu knutschen, aber am nächsten Tag nicht mit dem Arsch angeschaut zu werden.

Sanna sah das anders. Ihr Mantra lautete: »Er kommt immer wieder zu mir zurück und das ist schließlich die Hauptsache.« Kein Tag, an dem ich meiner schlauen, netten und wirklich hübschen Freundin nicht einen anderen Typen wünschte. Aber ich schien keinen besonders guten Draht zum Liebesgott zu haben …

Das Tablet schaltete sich aus, königsblaue Flecken tanzten vor meinen Augen, verwandelten sich in ölige Schlieren und versickerten im Dunkel. Keine Bilder – gut. Vorsichtig ließ ich mich auf die Matratze sinken, rollte mich ein, die Decke bis zum Kinn gezogen. Wenn es mir gelang, eine Weile nichts zu denken, konnte ich mich vielleicht selbst überlisten und gefahrlos wieder einschlafen …

2

Als ich am nächsten Morgen gähnend in die Küche schlurfte, wirbelte meine Mutter wie aufgezogen herum.

»Du bist wach, genau rechtzeitig, willst du Eukalyptushonig oder Ahornsirup zu deinem Porridge?«

Ich blinzelte sie überrascht an. »Ähh, egal?«

»Gut, dann stell ich einfach beides auf den Tisch.«

Ihre Augen glitzerten verdächtig. Als stünde sie unter Strom, als hätte sie heute Nacht noch weniger geschlafen als ich. Gasthof Mühlbacher, der Mamas Kindergartenfreundin Daggi gehörte, machte spätestens um ein Uhr zu. Ich schluckte hart – was hatte sie den Rest der Nacht getan? – und versuchte, den Gedanken daran sofort wieder zu verscheuchen.

Paps war nicht einmal ein Jahr tot. Sie würde doch nicht … nein, sicher hatte sie nur etwas Ablenkung nötig, auch für sie konnte es nicht einfach sein, dass sich sein Todestag bald jährte.

Mama und ich sprachen nicht darüber. Anvertraut hatten wir uns nie viel, ich war ein echtes Papakind gewesen. Und dann, als wir ihn plötzlich verloren, hatten wir irgendwie verpasst, den Mund aufzumachen. Mit Opa Toni und Oma Erika redete Mama auch nicht, jedenfalls nicht über wichtige Dinge. Ich vermutete, die beiden waren noch immer sauer, dass Mama damals einfach so gegangen ist. Und dass sie, als sie dann zurückkam, es nicht wirklich freiwillig tat, sondern weil es nicht anders ging. Piets komplizierter Beinbruch hatte seine Sportkarriere beendet, das Einzige, was er sonst noch vorzuweisen hatte, war ein Busführerschein. Mamas Skulpturen wollte niemand kaufen und dann war da noch ich – gerade mal acht Jahre alt und immer hungrig.

Ich ließ mich auf meinen Platz fallen, gegenüber blieb der Stuhl leer. Immer dann, wenn sich ein argloser Besucher darauf häuslich einrichtete, wurde ich so wütend, dass ich an meinem Geisteszustand zweifelte. Aber viele Leute kamen zum Glück nicht bei uns vorbei. Nicht mehr. Oma und Opa sahen wir zum Essen im Haupthaus. Und wenn Bio-Micha hier einfiel, Mamas ehemaliger Schulfreund, dann setzte er sich immer auf den vierten Stuhl.

Ich schüttete kalte Milch in den Teller und löffelte die süße Pampe in mich hinein. Hunger hatte ich keinen, aber noch weniger Lust, darüber zu reden, warum. Außer unserem Pusten und Schlucken und dem Blubbern vom Herd unterbrach nichts die Stille. Ungemütlich rutschte ich hin und her und aß schneller.

Ein paar vollgehäufte Löffel später war ich endlich frei und rannte aus dem Hinterausgang in Richtung Wald. Früher hatte ich ganze Tage bei uns im Wohnzimmer auf dem Sofa gesessen und gelesen. Seit Piets Tod war ich ständig draußen unterwegs. Als wäre ich ihm dadurch irgendwie näher. Oder zumindest meiner Erinnerung an ihn.

Den Hang hinauf führte mein Weg an den »drei Schwestern« vorbei, jenen mächtigen Zwetschgenbäumen, die unser erst letztes Jahr geweißeltes kleines Häuschen perfekt vom Fachwerk-Hof meiner Großeltern abschirmten. Niemand sah, wie lange bei mir das Licht brannte oder ob ich mich durch die Hintertür stahl. Mein Urgroßvater hatte sie gepflanzt. Was wohl der Grund war, warum sie noch immer nicht abgeholzt waren, obwohl sie kaum mehr Früchte trugen. Das kleine Beet, das Piet und ich vorletztes Jahr am Rand zum Wald angelegt hatten, war inzwischen verschwunden.

Ein paar Vögel, die keine Lust auf Italienreisen hatten, zwitscherten. Der Nebel hing im Tal, hier oben schien die Sonne. Doch zwischen die Bäume des Mischwaldes reichte sie nicht. Als gäbe es dort eine unsichtbare Grenze. Oder mein Kopf spielte mir einen Streich und überlagerte die Realität mit den nächtlichen Traumbildern. Als ich bei dem Holzkruzifix auf den laubbedeckten Waldweg trat, wurde es mit einem Mal deutlich kälter. Ich schauderte.

Jetzt bloß nicht abergläubisch werden. Eigentlich mochte ich den Wald schon immer lieber als Strand und Meer oder schneebedeckte Gipfel. Und sehr viel lieber als die immer gleichen Grundstücke mit Obstbäumen, die sich rund um unseren Hof erstreckten – oder besser um den Hof meiner Großeltern. Selbst nach zehn Jahren fühlte es sich nicht an, als wäre er unserer. Oder meiner. Oder ein Zuhause.

Hinter mir standen hangauf, hangab Bäume in geraden Reihen – Kirschen, Birnen, Äpfel, Zwetschgen, Marillen, Quitten – bis hinunter ins Tal, wo die Färsbach vor der Umgehungsstraße entlangplätscherte wie eine natürliche Grenze: Achtung, Sie betreten jetzt die Zivilisation!

Ich folgte dem Pfad mit dem blauen Kringel. Seit ich nicht mehr joggte, war das meine Lieblings-Spaziergangsstrecke. Steil wie es sich für einen Wallfahrtsweg gehört, wandte sich der Pfad etliche Höhenmeter hinauf zu der nur noch an Feiertagen benutzten Kapelle. Auf halbem Weg, an der Kreuzung, ragte die Rote Marter auf. Angeblich hatten der Erntehelferin Maria hier Wegelagerer aufgelauert und sie mit ihrer eigenen Sichel … uh, nur nicht daran denken.

Piet hatte dazu seine eigene Interpretation: Er glaubte an einen hinterhältiger Mord und dass die junge Frau von jemandem schwanger gewesen war, der ihr Verhältnis geheim halten wollte. »Mara«, hatte er gesagt und mich angelächelt, als er mir das erste Mal von Maria erzählte, »Menschen machen komische Dinge aus Liebe. Und noch viel komischere aus Feigheit und Angst.«

An der Abzweigung zögerte ich. Rechts ging es weiter zum Friedhain. Der Platz, an dem all diejenigen ihre letzte Ruhe fanden, die es gerne biologisch hatten oder nicht daran glaubten, dass sie jemand regelmäßig besuchen wollte, wie Piet immer gegrinst hatte. Nun lag er selbst dort.

Der Weg geradeaus führte zum Rabenstein mit seiner steilen Aussichtsplattform, über die Frau Karst, meine Dramatisch- Gestalten-Lehrerin, letztes Jahr spaziert war, als könnte sie fliegen. Seitdem saß sie im Rollstuhl und sprach kein Wort mehr. Mein Vater hatte sie in seinen letzten Wochen trotzdem immer wieder besucht.

Ich schüttelte mich. Wenn all die Touristen diese Geschichte kennen würden, ob sie dann noch immer derart motiviert dort hinaufkeuchen würden, um … hinunterzugucken?

Das Prinzip hatte ich nie begriffen. Raufkraxeln, um ins Tal zu starren? Tolle Belohnung, wirklich! Aber nun gut, wer bei uns Urlaub machte, musste gerne Kilometer durch die freie Natur jagen, ob zu Fuß oder in einem Kanu. Was anderes gab es nicht. Vom Frühling (Kirschblüte, wie wunderbar) bis zu den letzten schönen Herbsttagen (was für eine Farbenvielfalt!) wurden wir überrannt von staunenden Städtern, die mit den Wanderweg-Infos aus dem Tourismusbüro vor der Nase durch die Gegend rasten. Derart konzentriert, dass sie weder die kleine Turmruine westwärts bemerkten noch die gut getarnten Eingänge der Bergkeller und der Wolfshöhle. Letztere war nicht mehr ausgeschildert, seit sich dort, ebenfalls letztes Jahr, unser angetütterter Reporter Eddie echt dumm zu Tode gestürzt hatte. Direkt auf einen der größten Stalagmiten …

Rennende Schritte rissen mich aus den Gedanken. Äste knackten, irgendetwas oder -jemand kam direkt auf mich zu, und das in einem Affenzahn. Wildschweine? Die gerieten um diese Zeit in den Brunftmodus und waren echt gefährlich. So ein ausgewachsener, wild gewordener Eber hätte mit mir leichtes Spiel. Eilig lief ich auf den nächsten Baum mit tief hängenden Ästen zu. Zur Not würde ich mich hochschwingen und abwarten. Doch da brach weiter oben eine dunkle Gestalt durch das Gebüsch – eine zweibeinige Gestalt. Ich erstarrte. Was tun? Verstecken oder sich mutig in den Weg stellen und sagen: »Hey, die Joggingroute geht da vorne lang, schon mal was von schützenswerten Waldpflanzen gehört?«?

Wohl kaum. Ich zog mich in den Schatten zurück. Vielleicht konnte ich unbemerkt bleiben. Plötzlich wurde es still. Ich spähte vorsichtig um den Baumstamm. Völlig bewegungslos stand er auf der kleinen Lichtung und lauschte. Dass es ein »Er« war, da war ich mir sicher, auch wenn sein Gesicht im Schatten der Kapuze lag. Die Klamotten waren verwaschen, aber prima in Schuss, und selbst auf die Entfernung waren breite, aber nicht zu breite Schultern zu erkennen. In Alarmbereitschaft wirkte er und durchtrainiert, nicht aufgepumpt wie Ben Greifenhohe.

Nein, der Typ war ungefähr in meinem Alter und eher Leichtathletiker als Fitnessstudiofuzzi oder vielleicht auch Kampfsportler? Dunkle Locken fielen ihm ins Gesicht, als er sich plötzlich argwöhnisch umblickte. Mit gerunzelter Stirn scannte er die Umgebung. Ich zog den Kopf ein. Drehte ich jetzt durch oder hatten seine Augen tatsächlich geglüht?

»Komm raus, ich hab dich gehört!«

Hatte der Fledermausohren? Ich hatte keinen Mucks von mir gegeben! Mist! Was tun? Aus meinem Versteck treten, freundlich winken und so was sagen wie: »Hallo, ich dachte ich versteck mich mal, nur für den Fall, dass du ein wilder Eber oder Mörder bist«? Was würde er von mir denken?

Und warum interessierte mich das überhaupt? Sicher war der mit seinen Eltern hier zum Urlaub und würde spätestens heute Nachmittag auf Nimmerwiedersehen verduften. Außerdem: Mir doch egal, was so ein Stadtfuzzi von mir dachte.

»Okay, dann komm ich eben nachsehen!« Er klang genervt.

Ich machte einen Schritt vorwärts. Mich wie ein ängstliches Reh erwischen zu lassen wäre peinlicher als alles andere.

»Sieh an, ein Wald-Mädchen, folgst du mir etwa?«

Ich schüttelte den Kopf und blitzte ihn möglichst herablassend an.

»Reden tut ihr hier nicht viel, was?« Er fuhr sich durch die Haare und schnaubte auf. »Verrückt«, grummelte er. »Verrücktes, beschissenes Kaff!«

Sauer stemmte ich die Hände in die Hüften – ja, auch ich hatte Hundsgrub verflucht, als wir hierhergezogen waren. Dieses Nest mit dem passenden Namen, in dem es hundertfach mehr Obstbäume als Einwohner (nämlich genau dreiundzwanzig) gab. Aber was bildete sich dieser Schnösel ein? Wohnte vermutlich auf der anderen Seite des Waldes in Oberstallen in einer neu gebauten Ferienwohnung und rümpfte die Nase, nur weil er aus Stuttgart kam oder aus München, aus Berlin oder … egal, woher auch immer. Pah!!!

Bevor ich allerdings irgendetwas Passendes, Ätzendes und besonders Schlagfertiges entgegnen konnte, war er schon weitergerannt, ohne sich noch einmal umzudrehen. Geschmeidig wie eine Katze, brachial wie ein Berserker: einfach drauflos. Er stolperte über eine Wurzel, knallte hart mit der Schulter gegen einen Baum. Ich zuckte zusammen, das musste wehgetan haben. Doch er knurrte nur und erhöhte das Tempo. Wie jemand, der vor etwas davonrannte. Oder jemand, der am Ende seiner Runde derart fertig sein wollte, dass er umfiel, ohne denken zu müssen.

Letzteres konnte ich gut verstehen.

3

Der darauf folgende Abend dürfte wohl als die mit Abstand ungemütlichste Veranstaltung des gesamten Jahrhunderts in mein eigenes, persönliches Rekordbuch eingehen. Dabei hatte es davon schon einige gegeben.

Nachmittags hatten Mama und ich meinen Großeltern geholfen, die letzten Quitten und etliche Birnen ab- und aufzuklauben.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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